Der Wald und die Bäu­me (X)

Post­skrip­tum

»Auf­klä­rung ist der Aus­gang des Men­schen aus sei­ner selbst­ver­schul­de­ten Unmündig­keit.« Seit ich die­sen be­rühm­ten De­fi­ni­ti­ons­satz zum er­sten Mal las, und das ist nun schon ziem­lich lan­ge her, fra­ge ich mich im­mer aufs Neue, in­wie­fern die von Kant kon­sta­tier­te Un­mün­dig­keit denn selbst­ver­schul­det sei. Ich ha­be bis heu­te kei­ne Ant­wort ge­fun­den. Mit ei­ner zu­sätz­li­chen De­fi­ni­ti­on er­läu­tert der Au­tor das Wort »Un­mün­dig­keit«, aber »selbst­verschuldet«, die­ses selt­sa­me Epi­the­ton bleibt so ste­hen, oh­ne wei­te­ren Kom­men­tar. Zu Kants Zei­ten war es al­les an­de­re als selbst­ver­ständ­lich, daß al­le Bür­ger bzw. ih­re Kin­der ei­ne halb­wegs so­li­de Bil­dung er­hiel­ten, auch wenn die Auf­klä­rer und auf­ge­klär­te Für­sten wie Fried­rich der Gro­ße viel für die Eta­blie­rung der all­ge­mei­nen Schul­pflicht ta­ten. Ich hal­te al­so fest: Leu­te, die den ei­ge­nen Ver­stand, der ihm zu­nächst ein­fach ge­ge­ben ist, nicht zu ge­brau­chen ver­ste­hen oder ihn aus wel­chen Grün­den auch im­mer – Träg­heit, Ver­blen­dung... – nicht ge­brau­chen wol­len, sind sel­ber schuld, sie kön­nen kei­ne mün­di­gen – un­ter heu­ti­gen Be­din­gun­gen wür­de ich hin­zu­fü­gen: de­mo­kra­tie­fä­hi­gen – Bür­ger sein. Al­so wä­re die von Kant ins Vi­sier ge­nom­me­ne Un­fä­hig­keit ei­gent­lich ei­ne Denk­fault­heit? Ei­ne Wil­lens­schwä­che? Müß­te man dann, wenn man die Zu­stän­de än­dern woll­te, nicht nur durch päd­ago­gi­sche Maß­nah­men auf die her­an­wach­sen­den (und auch die erwach­senen) Bür­ger ein­wir­ken, son­dern gleich­zei­tig auf ih­ren Wil­len, ih­re Mo­ti­va­ti­on, ih­re Tä­tig­keits­be­reit­schaft? Im kon­su­mi­sti­schen Ka­pi­ta­lis­mus mit sei­ner quan­ti­fi­zie­ren­den, kurz­sich­ti­gen, po­pu­li­sti­schen Der-Kun­de-ist-Kö­nig-De­mo­kra­tie geht die Ten­denz in die ent­ge­gen­ge­setz­te Rich­tung, pas­si­ves Kon­su­mie­ren, di­ver­se Ar­ten von Süch­ten, schein­aktive Selbst­be­zo­gen­heit (sie­he Face­book & Co.), all­ge­mei­ne Träg­heit, sei es auch in Form von stän­di­ger, un­re­flek­tier­ter Lei­stungs­be­reit­schaft (sie­he Han­dys, sie­he »Erreichbar­keit«), Schwim­men in Main­streams (mit oder oh­ne Iro­nie) sind längst vor­herr­schend ge­wor­den, wäh­rend die stän­dig ge­for­der­ten, oft ein­ge­lei­te­ten und häu­fig wie­der zurückge­nommenen Re­for­men der Aus­bil­dungs­stät­ten die päd­ago­gi­sche Qua­li­tät, die sich in er­ster Li­nie in Ge­stalt von gu­ten Leh­rern er­wei­sen soll­te, nicht und nicht he­ben (oft ge­nug ist die­ser Re­form­wil­le oh­ne­hin blo­ßes Lip­pen­be­kennt­nis). Sind die Men­schen sel­ber schuld, die Mas­se der Ein­zel­nen, die ga­mer, die couch-po­ta­toes, die Face­book-Ak­ti­vi­sten? Was tun? Wir wol­len doch nie­man­den zu sei­nem Glück zwin­gen... Zu­mal die Kon­su­men­ten, we­nig­stens auf den er­sten Blick, oh­ne­hin glück­lich schei­nen. Bei Kant fin­de ich kei­ne Ant­wor­ten, und ich selbst kom­me nicht über mei­ne fra­gen­de Un­ru­he hin­aus.

© Leo­pold Fe­der­mair

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39 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Aber Kant schrieb doch mehr:

    »Auf­klä­rung ist der Aus­gang des Men­schen aus sei­ner selbst ver­schul­de­ten Un­mün­dig­keit. Un­mün­dig­keit ist das Un­ver­mö­gen, sich sei­nes Ver­stan­des oh­ne Lei­tung ei­nes an­de­ren zu be­die­nen. Selbst­ver­schul­det ist die­se Un­mün­dig­keit, wenn die Ur­sa­che der­sel­ben nicht am Man­gel des Ver­stan­des, son­dern der Ent­schlie­ßung und des Mu­tes liegt, sich sei­ner oh­ne Lei­tung ei­nes an­de­ren zu be­die­nen. Sape­re au­de! Ha­be Mut dich dei­nes ei­ge­nen Ver­stan­des zu be­die­nen! ist al­so der Wahl­spruch der Auf­klä­rung.

    Faul­heit und Feig­heit sind die Ur­sa­chen, war­um ein so gro­ßer Teil der Men­schen, nach­dem sie die Na­tur längst von frem­der Lei­tung frei ge­spro­chen (na­tu­ra­li­ter maio­rennes), den­noch ger­ne zeit­le­bens un­mün­dig blei­ben; und war­um es An­de­ren so leicht wird, sich zu de­ren Vor­mün­dern auf­zu­wer­fen. Es ist so be­quem, un­mün­dig zu sein. Ha­be ich ein Buch, das für mich Ver­stand hat, ei­nen Seel­sor­ger, der für mich Ge­wis­sen hat, ei­nen Arzt, der für mich die Di­ät be­ur­teilt, u.s.w., so brau­che ich mich ja nicht selbst zu be­mü­hen. Ich ha­be nicht nö­tig zu den­ken, wenn ich nur be­zah­len kann; an­de­re wer­den das ver­drieß­li­che Ge­schäft schon für mich über­neh­men. Daß der bei wei­tem größ­te Teil der Men­schen (dar­un­ter das gan­ze schö­ne Ge­schlecht) den Schritt zur Mün­dig­keit, au­ßer dem daß er be­schwer­lich ist, auch für sehr ge­fähr­lich hal­te: da­für sor­gen schon je­ne Vor­mün­der, die die Ober­auf­sicht über sie gü­tigst auf sich ge­nom­men ha­ben. Nach­dem sie ihr Haus­vieh zu­erst dumm ge­macht ha­ben und sorg­fäl­tig ver­hü­te­ten, daß die­se ru­hi­gen Ge­schöp­fe ja kei­nen Schritt au­ßer dem Gän­gel­wa­gen, dar­in sie sie ein­sperr­ten, wa­gen durf­ten, so zei­gen sie ih­nen nach­her die Ge­fahr, die ih­nen droht, wenn sie es ver­su­chen al­lein zu ge­hen. Nun ist die­se Ge­fahr zwar eben so groß nicht, denn sie wür­den durch ei­ni­ge­mal Fal­len wohl end­lich ge­hen ler­nen; al­lein ein Bei­spiel von der Art macht doch schüch­tern und schreckt ge­mein­hin von al­len fer­ne­ren Ver­su­chen ab. [...]«

  2. Bei den mei­sten Dis­kus­sio­nen um Bil­dung (und oh­ne ein Kon­zept wie Auf­klä­rung ist die­se nicht zu den­ken) wird ver­ges­sen, dass man je­man­den nur ver­su­chen kann in den Stand zu set­zen, die­sen Pro­zess zu be­gin­nen: Er selbst muss da­zu et­was bei­tra­gen, muss wol­len, sonst geht es nicht. Auch die De­mo­kra­tie be­nö­tigt die­ses Wol­len (da kann man hun­dert mal Bil­dung als Men­schen­recht be­zeich­nen, es bleibt falsch; rich­tig ist, dass Men­schen die Mög­lich­keit sich bil­den zu kön­nen of­fen­ste­hen muss, durch In­sti­tu­tio­nen un­ter­stützt, aber aus der Pflicht neh­men, kann man sie nicht, Bil­dung ist kein Recht, dass man ein­fach in An­spruch neh­men kann, das qua Ge­burt zu­ge­spro­chen wird).

  3. Oje, der al­te Kno­chen...
    Ich hab den Text gar nicht gern, das muss ich ge­ste­hen.
    Kant steht ge­schicht­lich schon am En­de der Auf­klä­rung, er schreibt, was man »in der Fol­ge der Auf­klä­rung«, in der Be­her­zi­gung ih­rer An­lie­gen und de­ren lang­fri­sti­gen Wir­kung er­war­ten darf. Zen­tral ist für ihn der Kom­plex »Ra­tio­na­li­tät be­wirkt Herr­schafts­frei­heit«.
    Nach heu­ti­ger Er­fah­rung bei­na­he wi­der­sin­nig. Das ei­ne hat mit dem an­de­ren nicht das ge­ring­ste zu tun. Da­mals ei­ne Uto­pie! Heu­te ei­ne »über­trie­be­ne Idee«. Bür­ger­lich­keit hat doch mehr mit Herr­schaft in al­len Beu­gungs­for­men zu tun, als mit Herr­schafts­frei­heit.

  4. Hork­hei­mer und Ador­no ha­ben das in et­wa so ge­se­hen wie So­phie, der (die) ver­mut­lich die »Dia­lek­tik der Auf­klä­rung« ge­le­sen hat: Die abend­län­di­sche Ra­tio­na­li­tät – oder doch ihr Miß­brauch? – hat ih­ren – den we­sent­li­chen? – Bei­trag zum Hor­ror des 20. Jahr­hun­derts ge­lei­stet, un­ter des­sen un­mit­tel­ba­rem Ein­druck sie da­mals ih­re »Dia­lek­tik der Auf­klä­rung« schrie­ben. Mit ei­ni­gem Ab­stand zu die­sen Bü­chern und Fak­ten bin ich mir da nicht mehr so si­cher. Ge­ra­de die Na­zis ha­ben Ir­ra­tio­na­lis­mus und Ra­tio­na­lis­mus zu ver­bin­den ver­stan­den (»ver­stan­den« – man müß­te hier stän­dig al­les zwi­schen An­füh­rungs­zei­chen set­zen). My­stik fürs Volk, Ra­tio­na­li­tät fürs Sy­stem, wenn man das so über den Dau­men pei­len kann.

    Für Kant war Ra­tio­na­li­tät ein All­heil­mit­tel. Das wür­de er ver­mut­lich heu­te selbst ein­schrän­ken, oh­ne des­halb von sei­nen paar Grund­sät­zen ab­zu­las­sen.

    Die Er­klä­rung der Selbst­ver­schul­det­heit durch me­tep­si­lo­me­na kann ich gut nach­voll­zie­hen. Wäh­rend der ver­gan­ge­nen Wo­chen, wäh­rend ich dann doch wie­der über die­se Kant-Sät­ze nach­dach­te, ha­be ich mich vor al­lem ge­fragt, ob Kant viel­leicht doch die Mensch­heit als Gat­tung meint und nicht die ein­zel­nen In­di­vi­du­en. Im Grund ist die­se Stel­le von ei­ner ganz unk­an­ti­a­ni­schen Am­bi­va­lenz. Des­halb lockt sie zum In­ter­pre­tie­ren.

  5. Noch ein Post­skrip­tum: Daß Er­klä­run­gen wie die me­tep­si­lo­me­nas ei­nem bei al­ler Ein­sicht schwer im Ma­gen lie­gen, hat viel­leicht da­mit zu tun, daß für die Ge­mein­schaft, egal wo auf der Welt, we­nig Hoff­nung be­steht, wenn die Din­ge so lie­gen, wie sie (er?) sagt. Die­se Be­ur­tei­lung führt zwangs­läu­fig zum Eli­ta­ris­mus. Mit dem ich per­sön­lich lieb­äu­ge­le (wes­halb mir der von Keu­sch­nig mehr­fach kri­tisch be­spro­che­ne Bo­tho Strauß doch im­mer wie­der na­he ist).

  6. Er­freu­lich viel Ein­ver­neh­men, auch die un­ty­pi­sche Am­bi­va­lenz, die den Kant’schen Text prägt, kann ich (er) be­stä­ti­gen. Die Gat­tung Mensch­heit ist wohl am An­fang des Tex­tes ge­meint, ob­wohl die Per­spek­ti­ve so­fort wech­selt. Sehr »sty­lish«, aber nicht sehr klar.
    Ei­ne Kri­tik der abend­län­di­schen Ra­tio­na­li­tät à la Hork/Adorno ist schon gar nicht mehr durch­führ­bar. In­ter­es­sant ist Leopold’s Fest­stel­lung der Par­al­le­le bei den Na­zis. Poin­tiert: die Na­zis ha­ben et­was zu­stan­de ge­bracht (Sy­stem & Ir­ra­tio­na­li­tät), was die Phi­lo­so­phen ver­geb­lich zu de­kon­stru­ie­ren ver­such­ten, weil die Ra­tio­na­li­tät ih­ren An­ti­po­den gar nicht zu fas­sen kriegt. Als ob man dem Teu­fel nur in der Höl­le be­geg­net ...
    P.S.: Auch die Frank­fur­ter Schu­le light, die Er­zie­hung zur Ra­tio­na­li­tät bei der Teil­nah­me am Öf­fent­li­chen Dis­kurs muss ver­wor­fen wer­den, oder?! Nicht leicht zu be­grün­den, weil hier Grund­be­grif­fe wie »De­mo­kra­tie« im­mer zur Mo­ti­va­ti­on ei­ner ur­sprüng­li­chen Kol­le­gia­li­tät ver­wen­det wer­den, die man auch »bür­ger­li­che Ver­bun­den­heit« oder »end­lo­ses Wohl­wol­len« nen­nen könn­te. Ei­ne psy­cho­lo­gisch ver­deck­te Ak­ti­on.

  7. Hork­hei­mer und Ador­no ha­ben ja doch (noch) an der Auf­klä­rung fest­ge­hal­ten, als ei­ne selbst­auf­ge­klär­te, die »das Un­heil« zwar in sich trägt, aber nun dar­über be­scheid »weiß«. Bau­man, der ex­pli­zit an die bei­den an­knüpf­te, hat die Mo­der­ne, durch ih­re Schaf­fung von Ka­te­go­rien und Be­grif­fen, als Kampf ge­gen die Am­bi­va­lenz ver­stan­den, die ih­ren »Geg­ner« ge­ra­de durch die­ses Vor­ge­hen im­mer wie­der neu er­schafft und da­her schei­tern muss; auch dies ist si­cher nicht falsch; er ging dann noch wei­ter und hat den Mas­sen­mord der Na­tio­nal­so­zia­li­sten als ge­nau die­sen Kampf in­ter­pre­tiert, die Ju­den al­so als das zu ver­nich­ten­de Frem­de, Am­bi­va­len­te an­ge­se­hen und den Na­tio­nal­so­zia­lis­mus al­so als ge­nu­in mo­dern ver­stan­den.

    Die Post­mo­der­ne wur­de si­cher­lich ver­früht aus­ge­ru­fen, aber rein dia­gno­stisch kann man nicht um­hin be­stimm­te Phä­no­me­ne wie die Gleich­zei­tig­keit des Un­gleich­zei­ti­gen (oder die Un­ein­deu­tig­keit) als durch Me­di­en und Tech­nik ver­wirk­licht, an­zu­se­hen.

    Ra­tio­na­li­tät hat m.E. zwei Aspek­te: Ver­stand und/oder Ver­nunft. Der er­ste­re kann rei­ne Ver­fah­rens­lo­gik und ‑or­ga­ni­sa­ti­on be­deu­ten, oh­ne Ver­nunft, Ethik, usf. Die Ver­nunft selbst kann, wenn man an die Tu­gend denkt, ge­ra­de­zu dik­ta­to­risch sein, aber muss sie es, trotz des bis­lang Ge­schrie­be­nen? — Was kann al­so nach al­ler be­rech­tig­ten Kri­tik blei­ben? Was muss (viel­leicht) blei­ben (um zum Bei­spiel noch Ge­sprä­che zu füh­ren, wie die­ses hier)?

    Bei Kant muss man wohl auch im­mer die stren­ge und un­be­ding­te Pflicht zur Wahr­heit mit­be­den­ken.

    Ich (er) woll­te oben ei­gent­lich kein Plä­doy­er für ei­ne Eli­te ver­fas­sen, son­dern nur dar­auf ver­wei­sen, dass der Bil­dungs­pro­zess auch ein Wil­lens­pro­zess ist (ich fän­de es auch bes­ser von Ver­ant­wor­tung zu spre­chen, zu mal ja an­de­re Fak­to­ren wie die Zeit oder die Le­bens­um­stän­de mit­spie­len; klar: Man kann ei­ner mit­tel­lo­sen al­lein­er­zie­hen­den Mut­ter oder ei­nem jun­gen Mus­lim, der von An­fang an in­dok­tri­niert wur­de, vor­wer­fen er oder sie sei­en un­ge­bil­det, aber Sinn hat das we­nig; man muss auch zu­ge­ste­hen: In ei­ner Welt wie der uns­ri­gen hat Bil­dung kei­ne oder kaum Re­le­vanz um gut und ge­sund durch das Le­ben zu kom­men.). Was ich an Eli­ten nicht mag, ist der her­ab­las­sen­de Duk­tus, zu­mal der vor­ge­tra­ge­ne An­spruch, selbst auch nicht im­mer er­füllt wird und das ex­klu­die­ren­de Ele­ment (et­was, das in­ner­halb der di­gi­ta­len Me­di­en zu­recht ero­diert).

  8. @die kal­te So­phie: Da ge­hen Sie doch aber deut­lich zu weit, wenn Sie Ra­tio­na­li­tät als sol­che als ver­werf­bar an­se­hen. Al­lein, dass hier in die­ser Kom­men­tar­spal­te ei­ne Dis­kus­si­on statt­fin­den kann, in wel­cher sich Dis­ku­tan­ten manch­mal ein we­nig ver­ste­hen, be­zeugt doch, dass es ein zu­min­dest lo­ses in­ter­sub­jek­ti­ves Band gibt. (Ich hof­fe se­hen dar­in kei­ne durch sprach­li­che Kon­ven­ti­on er­zeug­te Il­lu­si­on.)

    Si­cher­lich hat sich un­se­re Auf­fas­sung von Ra­tio­na­li­tät seit Pla­to oder Kant ge­wan­delt, aber mir ist nicht klar, wie man um die zwei Grund­prä­mis­sen her­um­kommt: 1) Es han­delt sich um ein Er­kennt­nis­ver­mö­gen, dass uni­ver­sell, prin­zi­pi­ell je­dem Men­schen ge­ge­ben ist. 2) Es er­mög­licht uns, un­se­re Welt zu er­schlie­ßen – so­zu­sa­gen im Buch der Na­tur zu le­sen (wel­ches wohl recht ma­the­ma­tisch ver­fasst ist?)

    Die Del­len, die Ra­tio­na­li­tät in der Mo­der­ne be­kom­men hat, könn­te man doch durch­aus auch als ver­tief­te Re­fle­xi­on se­hen, dass Ver­nunft ver­sucht, sich wei­ter zu durch­leuch­ten, zu er­wei­tern. Auch für Goog­le gilt doch Hil­berts Mot­to: Wir müs­sen wis­sen, wir wer­den wis­sen. Nur kann die­ser Er­kennt­nis­pro­zess eben wie bei Kant (und Pla­to) auch et­was schmerz­haft wer­den und nicht un­be­dingt, das er­war­te­te Er­geb­nis er­brin­gen.

  9. @Phorkyas
    Ich ha­be ver­sucht, die The­se »Ra­tio­na­li­tät be­wirkt Herr­schafts­frei­heit« zu be­leuch­ten. Und die­se wird im­mer, be­to­ne: im­mer über­spannt, wenn der Kon­text Ethik, bzw. Po­li­tik ins Spiel kommt.
    Das Er­kennt­nis­ver­mö­gen, aka der Ver­stand wird im­mer ei­ne neu­tra­le und (sta­ti­stisch) weit ver­brei­te­te Ei­gen­schaft des Men­schen sein. Das schließt die Kom­mu­ni­ka­ti­on ein. Selbst­ver­ständ­lich. Da­mit hat man aber noch kei­nen Bo­den für Ethik und Po­li­tik be­rei­tet.
    Ra­tio­na­li­tät er­setzt kei­ne Loya­li­tät (vor­al­lem nicht im Krieg, sehr ak­tu­ell!), er­zwingt kei­ne An­er­kenn­nung, ga­ran­tiert kei­ne »ewi­ge« Ko­ope­ra­ti­on. Das gan­ze Abend­land lei­det an ei­nem über­zeich­ne­ten Prag­ma­tis­mus, würd’ ich ganz lai­en­haft sa­gen, der die Gren­zen des Han­delns nicht ein­se­hen möch­te.
    Ich se­he des­halb kei­nen Sinn dar­in, die Ra­tio­na­li­tät zu »ver­tei­di­gen«.

  10. Kants Fe­ti­schi­sie­rung der Ver­nunft ent­sprang der Tat­sa­che, dass er die Re­li­gi­on (al­so das Chri­sten­tum) ent­zau­bern woll­te. Ein Chri­sten­tum, das für ihn durch­aus zur Un­mün­dig­keit bei­trug, weil sie das Le­ben an ein hö­he­res We­sen de­le­gier­te. Hier­für stell­te er die Re­li­gi­on auf die Sei­te (sich ge­gen sie aus­zu­spre­chen, wä­re al­lei­ne schon we­gen der Zen­sur nicht mög­lich ge­we­sen). Die In­stanz der Ethik ver­schob sich da­mit von Gott auf den Men­schen bzw. des­sen Ver­nunft. Dass die­se nicht all­um­fas­send ist und fehl­bar, war ihm na­tür­lich klar. Aber hier­in liegt eben die Ver­ant­wor­tung des Men­schen. Ver­nunft ist kein Selbst­läu­fer; Auf­klä­rung kein Fer­tig­ge­richt.

  11. @ Gre­gor
    Und da­mit er­fand Kant auch das klas­si­sche Di­lem­ma der Deut­schen Phi­lo­so­phie. Sie soll­te für un­be­stimm­te Zeit zwi­schen der christl. Re­li­gi­on und den em­pi­ri­schen Wis­sen­schaf­ten po­si­tio­niert sein, als hiel­te sie »Ak­ti­en« von bei­den Fel­dern.
    Dass die­se Mit­ten­po­si­ti­on im­mer hart­näcki­ger hin­ter­fragt wer­den wür­de, vor­al­lem von Leu­ten aus den ei­ge­nen Rei­hen, war klar. Die To­tal-Ab­sa­ge der Nutz­lo­sig­keit, das Ver­dikt von der Welt­flucht noch gar nicht ein­kal­ku­liert.
    Es stimmt: die je­der­zeit »be­eng­te Si­tua­ti­on« ei­nes Phi­lo­so­phen, das Go und No­Go des Den­kens, kann man an dem klei­nen Spie­ßer­chen K. sehr gut stu­die­ren. Ein Mu­ster­bei­spiel für die En­ge na­mens »Den­ken«.

  12. @die kal­te So­phie
    In­wie­fern ist der Ver­stand (das Er­kennt­nis­ver­mö­gen) neu­tral? Und war­um soll­te es kein Bo­den (oder an­ders: ein Bo­den) für Ethik oder Po­li­tik sein? Das Bild scheint mir durch­aus tref­fend, zu­mal der Bo­den oh­ne Was­ser, Son­ne (und Sa­men), noch kei­ne Pflan­ze (Po­li­tik) sprie­ßen lässt. — In­so­fern se­he ich Sinn dar­in, Ra­tio­na­li­tät zu ver­tei­di­gen und an­zu­er­ken­nen, man darf nur ih­re Män­gel und ih­re Un­voll­kom­men­heit nicht über­se­hen.

  13. Sie wi­der­spre­chen oh­ne Ar­gu­men­te. Das liest sich wie Ver­wun­de­rung.
    Je, nun. Ich ha­be die Spiel­re­geln nicht ge­macht. In­so­fern kann ich nichts dar­an än­dern. Der Ver­stand nach Kant ist rei­nes Er­kennt­nis­ver­mö­gen, da sind Ethik und Po­li­tik au­ßen vor.
    Na­tür­lich kön­nen Sie den Be­griff va­ri­ie­ren und al­les in­tel­li­gen­te Han­deln, Pla­nung, Or­ga­ni­sa­ti­on, Ko­ope­ra­ti­on, etc. eben­falls zur Ver­stan­des­tä­tig­keit rech­nen. Aber dann ist der Ver­stand nur noch In­fo- und Schalt­zen­trum, und die Er­kennt­nis­se Goog­le-Er­geb­nis­se. Dann sind wir weit weg von der Kant’schen No­men­kla­tur.
    Was ich auch nicht ver­ste­he: Sind Sie der An­sicht, dass die Ra­tio­na­li­tät ver­tei­digt wer­den müs­se, weil sie be­droht ist, oder tun Sie das nur um der De­bat­te wil­len? Wo­zu ver­tei­di­gen?!

  14. @die kal­te So­phie
    Kant trennt zwar Ver­stand und Ver­nunft, aber nur um fest­zu­stel­len, dass sie beim Men­schen nicht von­ein­an­der zu tren­nen sind bzw. der Mensch das Ver­mö­gen zur »prak­ti­schen Ver­nunft« hat, al­so das, was man ge­mein­hin Ethik nennt. Es geht am En­de um die »höch­ste Ein­heit des Den­kens«. Nur »Ver­stand« wä­re ein Af­fekt­we­sen, ein Ap­pa­rat. Kant, ob Spie­ßer­chen oder nicht, spricht dem Men­schen die Mög­lich­keit und die Fä­hig­keit zu, den rei­nen Af­fek­ten zu ent­kom­men.

    Viel­leicht wä­re es hilf­reich den Be­griff Ra­tio­na­li­tät erst ein­mal zu de­fi­nie­ren.

  15. Die En­ge der Ver­nunft

    @diekalteSophie Ihr Kant-Bild deckt sich nicht mit mei­ner Er­fah­rung. Neh­men Sie nur die Vor­wor­te der KdrV oder obi­ges Zi­tat (ist der auf­klä­re­ri­sche Ge­stus dar­in nicht auf­rüh­re­risch, zeugt das Bild des Hr­rum­stol­perns und der Bles­su­ren, die man sich bei der Er­kennt­nis­ge­win­nung holt, nicht da­von dass Ver­nunft hier nicht als blo­ßes Kal­ku­lie­ren ver­stan­den wird?) In den Tei­len der KdrV, die ich las, war so­viel Be­we­gung, Su­che nach den Er­kennt­nis­gren­zen, dass mir das tran­szen­den­ta­le Sub­jekt bei­spiels­wei­se im Ver­gleich zu den Re­flek­ti­ons­mög­lich­kei­ten der ana­ly­ti­schen Sprach­phi­lo­so­phie so an­mu­tet als sei man vom Kampf­jet wie­der auf die Drai­si­ne um­ge­stie­gen.

    Ge­ra­de Kant grün­det sei­ne Ethik doch auf Ver­nunft (wor­auf auch sonst? Was wür­den Sie vor­schla­gen, wenn wir Gott au­ßen vor las­sen?)

    Keu­sch­nig hat ver­mut­lich Recht, wenn er die feh­len­de Ra­tio­na­li­täts­be­griffs­be­stim­mung mo­niert. Zwei Grund­an­nah­men schei­nen mir zen­tral: 1) Die Welt ist so ver­fasst, dass es Ge­set­ze, Re­gel­mä­ßig­kei­ten gibt, die wir er­fas­sen kön­nen. 2) Die Ga­be die­se Ge­setz­mä­ßig­kei­ten zu erfassen,ist prin­zi­pi­ell al­len Men­schen ge­ge­ben.

  16. Die Kant’sche Un­ord­nung ist mir be­wusst. Ich straf­fe die Be­grif­fe da­hin­ge­hend, dass ich die­ses spe­zi­fi­sche Schwan­ken bei­sei­te las­se. Ich ver­bes­se­re ihn, wenn ich darf.
    Ich ha­be den Be­griff »Ra­tio­na­li­tät« des­halb ger­ne be­nutzt, weil er mir mo­der­ner schien. Für mich fällt er mit dem (sub­li­mier­ten) Kant-Be­griff »Ver­stand« zu­sam­men.
    Iden­ti­fi­zie­re: Ra­tio­na­li­tät = Ver­stand (Kant+)
    Streit­punkt jen­seits be­griff­li­cher Un­si­cher­hei­ten (die­se sind im­mer ge­ge­ben): Auf wel­cher Fä­hig­keit fußt die Ethik und die Po­li­tik?!
    Ich bin der Mei­nung, auf Bin­dun­gen, Ko­ope­ra­ti­on, Vor­teils­er­ken­nung, Em­pa­thie, Kom­mu­ni­ka­ti­on.
    Das setzt den Ver­stand vor­aus, mo­nier­te Phor­k­yas.
    Ich bin der Mei­nung: Nein, das ist ir­re­füh­rend. Der Ver­stand spielt auf der Ebe­ne des kom­ple­xen So­zi­al­ver­hal­tens ei­ne Ne­ben­rol­le. Es wä­re ra­bu­li­stisch, zu sa­gen: kei­ne Rol­le. Aber die gro­ße tran­zen­den­ta­le Ab­lei­tung, am An­fang war der Ver­stand, und der Ver­stand war bei... ‘m Men­schen, und al­le hat­ten dar­an An­teil... Die­ser Tran­szen­den­ta­lis­mus ist ver­al­tert und rein aka­de­misch. Dar­über zu re­den, glau­be ich, lohnt sich nicht mehr. Oder?!

  17. @die kal­te So­phie
    Mir war bzw. ist Ihr Kom­men­tar oben un­klar ge­we­sen, des­we­gen die Fra­gen oder wie Sie schrie­ben: der »Wi­der­spruch oh­ne Ar­gu­men­te«.

    Da wir Ver­nunft­kri­tik nach Kant the­ma­ti­sier­ten (Ador­no, usw.), bin ich nicht da­von aus­ge­gan­gen, dass wir uns ex­pli­zit auf ihn be­zie­hen (es stimmt na­tür­lich, dass wir auch über Kant dis­ku­tier­ten, in­so­fern ent­stan­de­nen viel­leicht Un­klar­hei­ten). Ich ver­wen­de Be­grif­fe meist mei­nem ei­ge­nen Ver­ständ­nis nach, an­son­sten füh­re ich es an oder man klärt es im Zwei­fels­fall (da seit Kant viel Zeit ver­gan­gen ist, ge­dacht und vor al­lem ge­forscht wur­de, könn­te man De­fi­ni­tio­nen und Kon­zep­te falls not­wen­dig über­den­ken und er­wei­tern). Wenn ich die Dia­lek­tik der Auf­klä­rung rich­tig im Kopf ha­be, dann ging es dort auch dar­um, dass Ra­tio­na­li­tät auch Ver­wal­tungs- und Ver­fah­rens­lo­gik be­deu­ten und da­mit Mas­sen­mor­den dienst­bar sein kann (et­wa wie Sie oben vor­schla­gen »intelligente[s] Han­deln, Pla­nung, Or­ga­ni­sa­ti­on, Ko­ope­ra­ti­on, etc.«).

    Ein er­ster, spon­ta­ner De­fi­ni­ti­ons­ver­such (auf Phor­k­yas Grund­an­nah­men be­zo­gen): Ka­te­go­ri­sie­rung, Lo­gik, Struk­tu­rie­rung, Sy­ste­ma­ti­sie­rung, Ord­nung, Re­fle­xi­on, das be­deu­tet in mei­nem Ver­ständ­nis Ra­tio­na­li­tät (oder eben Ver­stand).

    Po­li­tik und Ethik kom­men oh­ne Lo­gik aus? Oh­ne Ord­nung? Oh­ne Ka­te­go­rien? Oh­ne Theo­rie? Oh­ne Pro­gram­me? Oh­ne Kon­zep­te für die Zu­kunft? Oh­ne Er­ken­nen der Wirk­lich­keit? Ich muss schon sehr bit­ten!

  18. @ me­tep­si­lo­n­e­ma
    Ex­akt, Po­li­tik und Ethik kom­men oh­ne Lo­gik aus, Oh­ne Ord­nung, Oh­ne Ka­te­go­rien, Oh­ne Theo­rie, Oh­ne Pro­gram­me, Oh­ne Kon­zep­te für die Zu­kunft, Oh­ne Er­ken­nen der Wirk­lich­keit...
    Sie­he Bun­des­re­gie­rung bei Ukrai­ne-Kri­se!
    Na­tür­lich sind das so­phi­sti­sche Nö­ti­gun­gen, de­nen nie­mand Fol­ge lei­sten wird. Ei­ne not­wen­di­ge Be­din­gung ist nicht die »ab­so­lu­te Ba­sis« ge­mein­sa­men Han­delns, weil die Welt je­ne lä­sti­ge Ei­gen­schaft, kon­kret zu sein auf­weist. Und des­halb muss man nicht nur sa­gen, was man vor­hat, wis­sen, was man braucht, son­dern auch in wes­sen Na­men und mit wel­chem Recht man es tut. Sprich: der al­te Über­flie­ger-Prag­ma­tis­mus, ge­kenn­zeich­net durch ein Han­deln »im Na­men der Mensch­heit, ge­treu den Re­geln des Völ­ker­rechts und der Char­ta der U.N.« hat sich er­le­digt. Nie­mand hat das Recht, im Na­men der Mensch­heit zu han­deln. Ein­deu­tig: post-kan­ti­a­nisch.
    We­der ist der Ver­stand ei­ne ab­so­lu­te Ba­sis, die Vor­be­din­gung des An­fangs, noch ist es ir­gend­ei­nem Men­schen mög­lich, im Na­men der Mensch­heit Ethik zu trei­ben.
    Ich weiß, das ist ein Stecken­pferd der »Phi­lo­so­phen«, aber ich seh’ dar­in nur ei­ne Über­heb­lich­keit.

  19. Wenn die Ka­te­go­rie »Mensch« nicht in mei­nem Ge­hirn exi­stiert oder ge­schaf­fen wer­den kann, wer­de ich sie (die Men­schen) nicht er­ken­nen und nicht mit ih­nen in­ter­agie­ren kön­nen; wenn in mei­nem Ge­hirn kei­ne Ka­te­go­rien wei­te­rer Le­be­we­sen exi­stie­ren oder sich bil­den kön­nen, wer­de ich kei­ne Ethik den­ken oder prak­ti­zie­ren kön­nen, weil ich nicht weiß wer die Adres­sa­ten sind und wel­che Be­hand­lung ih­nen zu teil wer­den soll, wer wel­che Rech­te ge­nie­ßen soll, usw., kurz­um: Ob das Han­deln nun kon­kret sein soll oder ab­strak­te Schlüs­se ge­zo­gen, die Welt muss er­kannt wer­den (durch­aus im ba­na­len Sinn des Worts). Von ei­ner ab­so­lu­ten Ba­sis ha­be ich nicht ge­schrie­ben, son­dern vom Bo­den, der das Wachs­tum ei­ner Pflan­ze mit er­mög­licht.

    Be­schrei­ben Sie doch ei­ne all­täg­li­che Si­tua­ti­on (wa­ches Be­wusst­sein) von der Sie mei­nen, dass Ra­tio­na­li­tät nicht be­nö­tigt wird, z.B. kei­ne ba­sa­len Ka­te­go­rien, kei­ne Ord­nung der Welt, usw., kei­nes­wegs in er­kennt­nis­theo­re­ti­schem Sinn.

  20. @Metepsilomena
    Tut mir leid, aber Ka­te­go­rien ge­hö­ren zu den sim­pel­sten Ver­stan­des-Funk­tio­nen über­haupt. Ei­ne ge­wis­se Kör­per­tem­pe­ra­tur ist si­cher auch wich­tig, wenn’s um Eh­tik und Po­li­tik geht.
    Wie weit wol­len Sie die Grund­la­gen des Den­kens ins Ba­na­le ver­schie­ben?!
    Da Sie es of­fen­bar ge­wohnt sind, ethi­sche Pro­ble­me mit er­kennt­nis­theo­re­ti­schen Pro­ble­men »kurz zu schlie­ßen«, weiß ich nicht recht, was ich noch sa­gen soll.
    Ich wer­de jetzt erst mal mei­ne Kom­men­ta­re noch­mals durch­le­sen. An­geb­lich steht da ir­gend­wo, dass ich auf Ra­tio­na­li­tät ver­zich­ten möch­te.
    Das muss ich mir mal ganz ge­nau an­schau­en. Man soll sich ja im­mer selbst über­prü­fen.

  21. @die kal­te So­phie
    Wo schrieb ich denn, dass Sie ge­schrie­ben ha­ben, dass Sie auf Ra­tio­na­li­tät ver­zich­ten wol­len? Ich ha­be vor­ge­schla­gen, dass Sie ei­ne Si­tua­ti­on be­schrei­ben in der Ra­tio­na­li­tät nicht be­nö­tigt wird, weil ich ger­ne ver­ste­hen wür­de war­um sie nicht ver­tei­di­gens­wert ist (et­was das ich nicht be­nö­ti­ge, ist wo­mög­lich nicht der Ver­tei­di­gung wert).

    Ethik hat mit er­ken­nen zu tun: Je­mand der ein my­sti­sches Ein­heits­er­leb­nis hat­te, kommt wo­mög­lich zu ei­ner an­de­ren Ethik als je­mand der sich auf die Na­tur­wis­sen­schaft be­ruft, weil der Aus­gangs­punkt ein je­weils an­de­rer ist.

  22. Viel­leicht noch zur Er­klä­rung: Wenn wir dar­über über­ein­kom­men soll­ten, dass der Ver­stand grund­sätz­lich wich­ti­ge Funk­tio­nen er­füllt und oh­ne ihn die Welt nicht er­kannt wer­den kann, ha­ben wir ei­ne Ba­sis auf der wir wei­ter dis­ku­tie­ren kön­nen: Er­stens stün­de au­ßer Streit, dass der Ver­stand wich­ti­ge Funk­tio­nen er­füllt, und zwei­tens könn­te man wei­ter über­le­gen war­um die sy­ste­ma­ti­sche Er­fas­sung der Welt durch den Ver­stand (Wis­sen­schaft) und ein Pri­mat des­sel­ben (Mo­der­ne) pro­ble­ma­tisch sind (sein könn­ten) und was dar­an nicht ver­tei­di­gens­wert ist (was mir im­mer noch un­klar ist).

  23. @metepsilomena
    Be­schrei­ben Sie ei­ne Si­tua­ti­on, in der Ra­tio­na­li­tät nicht be­nö­tigt wird...

    Ich weiß nicht, ob wir noch deutsch mit­ein­an­der re­den, aber ich wüss­te wirk­lich nicht, war­um ich das tun soll­te!
    Da­zu ha­be ich be­reits ge­sagt: ei­ne not­wen­di­ge Be­din­gung stellt kei­ne Ba­sis für ei­ne uni­ver­sel­le Ethik dar. 37° Kör­per­tem­pe­ra­tur, Stimm­bän­der, etc.
    Oder noch deut­li­cher: mir fällt kei­ne Si­tua­ti­on ein.
    Na und?!

  24. Ich schrieb war­um, aber ger­ne noch­mal: Der Ver­stand (Ra­tio­na­li­tät) ist an der Ba­sis simp­ler Welt­erfah­rung für uns not­wen­dig; als in­sti­tu­tio­na­li­sier­tes Prin­zip, als Pri­mat (Wis­sen­schaft und De­mo­kra­tie) er­scheint er (mög­li­cher Wei­se) pro­ble­ma­tisch, Ih­nen ei­ne Ver­tei­di­gung als nicht sinn­voll. Ist das kei­ne Dis­kre­panz (oder kein Pa­ra­dox) über das nach­zu­den­ken wä­re? Das zu be­grün­den wä­re?

    Ich wür­de von Ih­nen ger­ne et­was an­de­res als Be­haup­tun­gen le­sen, ich wie­der­ho­le mich auch hier noch ein­mal: Ei­ne my­sti­sche Ein­heits­er­fah­rung kann zu ei­ner an­de­ren Ethik füh­ren als na­tur­wis­sen­schaft­li­che Er­kennt­nis; die Er­fah­rung das al­les ei­nes ist, bil­ligt so­gar ei­nem Stein ein Exi­stenz­recht zu; wer die Neu­ro­wis­sen­schaf­ten als Ba­sis nimmt, nur be­wusst (al­so Leid emp­fin­den­den) Le­be­we­sen. Schrei­ben Sie doch ein­fach, ob das ei­ne (in Ih­rem Sinn) not­wen­di­ge Ba­sis ist oder war­um es sonst ethisch ir­rele­vant sein soll­te!

  25. Nun, der ho­he Wert des Ver­stan­des steht au­ßer Fra­ge. Die Ab­sicht, Ra­tio­na­li­tät zu ver­tei­di­gen, er­scheint mir den­noch prä­po­tent. Sie wird we­der mehr noch we­ni­ger. Über die Ab­stu­fun­gen der Ga­ben zwi­schen den In­di­vi­du­en kann man treff­lich spe­ku­lie­ren, aber die Sum­me bleibt kon­stant.
    Ver­tei­di­gen, hie­ße mei­ner Be­griffs­stut­zig­keit nach: ei­ner dro­hen­den Min­de­rung (in sum­ma) ent­ge­gen tre­ten. Oder seh’ ich das zu ma­the­ma­tisch?!

    Die letz­te For­mu­lie­rung vom »in­sti­tu­tio­na­li­sier­ten Ver­stand« kom­pri­miert ver­mut­lich das Pro­blem, auf das Sie mich auf­merk­sam ma­chen möch­ten. Die De­mo­kra­tie und das Staats­we­sen sind hoch­gra­dig ra­tio­na­li­stisch, for­ma­li­stisch und le­ga­li­stisch, schlam­pig ge­spro­chen. Den Ver­stand, die Ra­tio­na­li­tät nicht mehr zu »ver­tei­di­gen«, hie­ße in die­sem Kon­text, po­li­tisch die Se­gel zu strei­chen, und al­le west­li­chen Ein­rich­tun­gen der il­le­gi­ti­men Will­kür zu be­zich­ti­gen.
    Im Ernst: ich bin mir höchst un­si­cher, ob sie mir ein er­kennt­nis­theo­re­ti­sches oder ein rechts­phi­lo­so­phi­sches Pro­blem vor­le­gen möch­ten. Ich ak­zep­tie­re bei­des, kei­ne Fra­ge, aber ich kann nur ein Pro­blem nach dem an­de­ren be­grei­fen.
    Ei­ne (leicht pro­vo­kan­te) Ver­ständ­nis­fra­ge: Wür­den Sie sa­gen, De­mo­kra­tie und Ra­tio­na­li­tät sind ver­ein­bar oder un­ver­ein­bar?!

  26. Mir ist erst wäh­rend der Dis­kus­si­on be­wusst ge­wor­den, dass da zwei Ebe­nen exi­stie­ren, die zwar (ir­gend­wie) zu­sam­men­ge­hö­ren, aber auch wie­der ge­trennt sind (man könn­te sa­gen: ei­ne bio­lo­gi­sche oder na­tür­li­che und ei­ne künst­li­che vom Men­schen ge­schaf­fe­ne). Im All­tag ge­brau­chen wir un­se­ren Ver­stand ganz un­be­wusst (in dem wir z.B. Ge­gen­stän­de klas­si­fi­zie­ren und un­ter­schei­den oder sy­ste­ma­tisch auf­li­sten was wir er­le­di­gen wol­len), un­zwei­fel­haft kom­men wir oh­ne ihn nicht aus (in die­sem Sinn wür­de ich Phor­k­yas Ein­wand »Al­lein, dass hier in die­ser Kom­men­tar­spal­te ei­ne Dis­kus­si­on statt­fin­den kann, in wel­cher sich Dis­ku­tan­ten manch­mal ein we­nig ver­ste­hen, be­zeugt doch, dass es ein zu­min­dest lo­ses in­ter­sub­jek­ti­ves Band gibt« ver­ste­hen); ein »Un­ter­neh­men« wie die Wis­sen­schaft ist et­was an­de­res, da ist Ra­tio­na­li­tät das ein­zig gül­ti­ge (Erkenntnis)kriterium (im All­tag nicht), hat aber den­noch mit den bio­lo­gi­schen Ver­stan­des­funk­tio­nen (et­wa der Fä­hig­keit zur Ka­te­go­ri­sie­rung oder Sy­ste­ma­ti­sie­rung) zu tun. Ähn­lich ver­hält es sich mit ethi­schen oder rechts­phi­lo­so­phi­schen Er­ör­te­run­gen (wir nut­zen un­se­re bio­lo­gi­schen Ver­stan­des­fä­hig­kei­ten in künst­li­chen und so­zia­len Un­ter­neh­mun­gen oder In­sti­tu­tio­nen). So weit so klar, hof­fe ich.

    Wenn man Ra­tio­na­li­tät nicht ver­tei­di­gen möch­te, so ha­be ich es ver­stan­den und ich bin mir fast si­cher, Sie ha­ben et­was an­de­res ge­meint, möch­te man »Un­ter­neh­mun­gen« wie Wis­sen­schaft, Auf­klä­rung oder Mo­der­ne, ver­wer­fen oder sieht sie als nicht wich­tig an (das gin­ge dann in die Rich­tung des­sen, was un­ter dem Be­griff Post­mo­der­ne ver­stan­den wird, im Ex­trem ein iro­ni­sches Spiel mit al­lem, ei­ne Gleich­gül­tig­keit von al­lem, das Kon­zept der gro­ßen Er­zäh­lun­gen, eben je­ner »Un­ter­neh­mun­gen«, die nun am En­de sind, und eben nur Er­zäh­lun­gen wa­ren, usw.). — Sie schei­nen die Ver­tei­di­gung als nicht sinn­voll zu er­ach­ten, weil die Be­fä­hi­gung da­zu nicht weit ge­nug ver­brei­tet ist, oder?

    Das Pro­blem, das ich mein­te, war und das ist nicht ganz von der Hand zu wei­sen, dass der Ver­stand auch ei­ne Form von Herr­schaft ist oder Herr­schaft aus­übt, über Ka­te­go­rien, Sy­ste­me, Be­grif­fe, usw. (Ador­no hat auf das Aus- und Ein­schlie­ßen­de der Be­grif­fe hin­ge­wie­sen); in der Auf­klä­rung steckt im Grund­satz et­was Im­pe­ria­li­sti­sches, das lan­ge nicht be­merkt wor­den ist und der Wahr­heits­be­griff der Wis­sen­schaft und ihr al­lei­ni­ger An­spruch auf Welt­erklä­rung, las­sen al­les an­de­re als min­der oder un­ge­eig­net er­schei­nen (ich for­mu­lie­re et­was pla­ka­tiv). Et­was da­von kann man in den Evo­lu­ti­ons­dis­kus­sio­nen fin­den, im Streit über die Re­li­gi­on; ich glau­be auch, dass sich die Käl­te der Ra­tio­na­li­tät in wis­sen­schaft­li­chen Ex­pe­ri­men­ten an Tie­ren zeigt; und letzt­lich ist die Wis­sens- und In­for­ma­ti­ons­ex­plo­si­on un­se­rer Zeit ei­ne Fol­ge der Ver­stan­des­tä­tig­keit, der Ka­te­go­ri­sie­rung, der Be­nen­nung und Lö­sung von Pro­ble­men und ih­rer Neu­erschaf­fung; über De­mo­kra­tie als Staats­form lie­ße sich vom An­spruch her ähn­li­ches sa­gen, s.u. (wir ken­nen das Schei­tern di­ver­ser Ver­su­che im Irak, in Af­gha­ni­stan, usw.).

    Man kann sich nun von all dem ver­ab­schie­den oder ver­su­chen die Kri­tik auf­zu­neh­men und ei­ner re­fle­xiv ge­wor­de­nen Ra­tio­na­li­tät »die Stan­ge zu hal­ten« (das meint ich mit Ver­tei­di­gung).

    De­mo­kra­tie be­deu­tet ein Pri­mat des Ver­stan­des für die Lö­sung und Ver­hand­lung po­li­ti­scher Pro­ble­me, die­se Pri­mat spie­gelt sich, ge­nau wie Sie schrei­ben, in den In­sti­tu­tio­nen wi­der (es zäh­len Ar­gu­men­te und die be­sten Ar­gu­men­te tra­gen den Sieg da­von). Wir al­le wis­sen, dass die Rea­li­tät ei­ne an­de­re, sehr viel ge­misch­te­re, ist, wie Wahl­kämp­fe ge­won­nen und In­ter­es­sen durch­ge­setzt wer­den, wie me­di­al ma­ni­pu­liert wird, usw. (Stich­wort Post­de­mo­kra­tie).

  27. Groß­teils ein­ver­stan­den. Sie wol­len ei­ne fle­xi­ble Ra­tio­na­li­tät »re­prä­sen­tie­ren«, Sie dach­ten wohl nicht an die Leh­re, der be­rühm­te Teu­fels­fuß.
    Ich bin kein Pro­fi in Sa­chen Phi­lo­so­phie, aber ich glau­be, Sie ha­ben ein sehr gut ver­pack­tes, ein »in­testi­na­les« Pro­blem be­schrie­ben, da Sie die Herr­schaft der Be­grif­fe, die Zwän­ge der Sy­ste­ma­tik und die Un­ter­drückung der In­tui­ti­on (über Ador­no) er­wäh­nen. Es gibt das struk­tu­rel­le Un­gleich­ge­wicht, die Pro­fes­so­ren, die Prü­fun­gen, etc. Das ist leicht zu er­ken­nen. Es gibt aber auch noch ei­ne no­men­kla­to­ri­sche Ge­walt, die sub­ti­ler ist. In der Tat fin­det man dort ei­ne in­fle­xi­ble Spra­che, ge­le­gent­lich bi­zarr, im­mer end­fer­tig, selt­sam feh­ler­los und un­per­sön­lich. Der Ver­stand zeigt hier deut­lich sei­ne kal­te un­mensch­li­che Sei­te, und selbst das kann noch Fas­zi­na­ti­on er­zeu­gen. Ich fürch­te, die­se An­mu­tung er­in­nert tasäch­lich an die ra­tio­na­li­stisch durch­ge­führ­ten Grau­sam­kei­ten der Ge­schich­te, aber ich wür­de kei­ne »in­ne­re Lo­gik«, al­so ei­ne We­sens­ver­schwandt­schaft zwi­schen den kal­ten Den­kern und den Hen­kern ver­mu­ten. Das gin­ge zu weit. Das gin­ge in Rich­tung »Chri­stus­kom­plex« (Psy­cho­ana­ly­se).

  28. Was die Fol­ge­rung aus dem Gan­zen sein kann weiß ich nicht; viel­leicht hilft es Ra­tio­na­li­tät mehr als Me­tho­de denn als Selbst­zweck zu be­grei­fen, der Ver­stand ist kein Hei­lig­tum, die Wär­me kommt aus an­de­ren Be­zir­ken (ich ha­be mich vor ein paar Jah­ren ein­mal mit In­ge­borg Bach­manns Re­de »Die Wahr­heit ist dem Men­schen zu­mut­bar« be­schäf­tigt, da ging es um ähn­li­ches, dort [pdf]).

    Die Ab­strak­ti­on von der Sie schrei­ben, ver­rät und ver­neint das Kon­kre­te, das In­di­vi­du­el­le, in dem es über De­tails hin­weg­geht und die­se da­mit ne­giert (Sta­ti­stik ist auch ein gu­tes Bei­spiel). Das ist ei­ner­seits not­wen­dig (Wis­sen­schaft), an­de­rer­seits be­ginnt dort die Käl­te (ei­nen Mas­sen­mord or­ga­ni­siert man mit der sel­ben Me­tho­dik wie ei­nen Trans­port von Ei­sen­erz). Es ist gar nicht die Käl­te des­sen, der letzt­end­lich tö­tet, über die wir ge­ra­de dis­ku­tie­ren, son­dern die Lo­gik, die das or­ga­ni­siert und le­ga­li­siert (die ist min­de­stens ge­nau­so es­sen­ti­ell wie die Leu­te die am En­de tö­ten, ab­ge­se­hen da­von sind es oft schon die Be­din­gun­gen der La­ger und der Trans­port­zü­ge, Hun­ger, Käl­te, Krank­heit, die ei­ne im­mense Zahl an Op­fern for­dern und si­cher­lich kal­ku­liert sind).

    Die Ma­the­ma­tik wä­re der Gip­fel der Ab­strak­ti­on und da kommt dann, Sie deu­ten es an, wie­der Schön­heit ins Spiel (die ich nie nach­voll­zie­hen konn­te, aber ich glau­be es ein­mal). Und ganz selt­sam wird es, wenn man die Mu­sik be­trach­tet, die man als rei­ne Ma­the­ma­tik auf­fas­sen kann und die uns doch wie­der beim Hö­ren oder Spie­len in un­be­kann­te Ge­fühls­wel­ten führt.

  29. Ich möch­te den Bo­gen noch ein­mal zum Aus­gangs­the­ma zu­rück­span­nen: dem In­ter­net als An­ti­auf­klä­rungs­in­stru­ment. Ideen­ge­schicht­lich ist es doch ge­nau an­ders­her­um. Am An­fang steht doch nicht nur der Miss­brauch von Hee­res­ge­rät son­dern auch die Ideen des frei­en, un­ge­hin­der­ten Aus­tausch von Wis­sen (s. Bar­ners-Lee, Use­net, Open-Source-Ideo­lo­gien etc). Ge­ra­de auch die Wi­ki­pe­dia setzt doch auf of­fen­sicht­li­che Wei­se das Werk der En­zy­klo­pä­di­sten, Di­de­rots fort; durch die Samm­lung von Wis­sen und Fak­ten müs­se die Welt sich schon ver­bes­sern las­sen. Goog­le und sei­ne di­gi­ta­le Ver­mes­sung der Welt wür­de ich in­iti­al auch eher in die­sen Kon­text stel­len (z.B. Goo­gle­books, Street­view).
    Letzt­lich ist es ein­fach zu kom­pli­ziert: bei der Viel­zahl von Dien­sten und Com­mu­ni­ties die auf dem In­ter­net auf­set­zen kön­nen, ist ei­ne pau­scha­le Aus­sa­ge über de­ren Kul­tur oder Ge­sin­nung schwie­rig. (Da ich bei­spiels­wei­se seit ca. 2003 pri­vat kein pro­pie­tä­res Be­triebs­sy­stem mehr ein­set­ze, mag mei­ne Wahr­neh­mung, Prio­ri­sie­rung da auch nicht ganz un­vor­ein­ge­nom­men sein)

  30. Es wird auch von der wei­te­ren Ent­wick­lung ab­hän­gen; wenn sich ein re­prä­sen­ta­ti­ver Quer­schnitt der Be­völ­ke­rung im Netz auf­hält, wä­re hin­sicht­lich des an­ti­auf­klä­re­ri­schen Mo­ments die Fra­ge zu be­ant­wor­ten, war­um sich hier ei­ne Ver­hal­tens­än­de­rung ein­stel­len soll­te.

  31. @ Phor­k­yas
    Stimmt, ge­setzt die »Auf­klä­rung« als po­si­ti­ves Pro­jekt wä­re fort­setz­bar, rein hy­po­the­tisch... selbst dann kom­men wir nicht mehr um ei­ne Er­ör­te­rung der Ver­fah­ren her­um: En­zy­klo­pä­die, Vor­le­sun­gen, ak­tu­el­le Zei­tungs­ar­ti­kel, Fo­rums­bei­trä­ge, Emails, Vi­deo-Pod­casts, etc.
    Selbst wenn man oh­ne per­sön­li­che Prä­fe­ren­zen an die Ana­ly­se geht (nicht leicht!), wird man sehr deut­lich die be­grenz­te Wir­kung und ei­ne ge­wis­sen An­teil von un­er­wünsch­ten Wir­kun­gen er­ken­nen. Die vol­le Wir­kung be­sten Wis­sens und Ge­wis­sens wird man nie ha­ben, ge­setzt es hät­te je ei­nen sol­chen »Auf­klä­rer« ge­ge­ben. Ich bin der Mei­nung, je­der Auf­klä­rer in Per­son hat­te auch sei­nen ganz per­sön­li­chen Schat­ten. Selbst Ador­no. Na­tür­lich auch Ador­no.

  32. @mete: Das klingt ein biss­chen.. eli­ti­stisch, an­ti­de­mo­kra­tisch: der Pö­bel sol­le das Netz nicht wei­ter mit ih­rem Müll ver­stop­fen? Wie lie­ße sich denn ei­ne De­mo­kra­tie oh­ne das Volk ma­chen? Nicht dass ich die­se An­wand­lun­gen nicht auch kenn­te – es reicht ja ein Blick in die Bild- oder Kro­nen­zei­tung – und auch in obi­gem Kant­zi­tat schim­mert Un­gläu­big­keit bis Ver­zweif­lung über den Auf­klä­rungs­un­wil­len der mei­sten Men­schen durch, und man kann sie ja auch nicht zwin­gen, schon die frem­de An­lei­tung da­zu (Päd­ago­gik?) führt ja in ei­ne klei­ne Apo­rie, aber wenn wir nicht noch die Hoff­nung hät­ten, wie gin­ge das dann?

    @sophie: Ador­no hat­te ei­nen Schat­ten, da stim­me ich zu.

  33. @Phorkyas
    Nein, ganz im Ge­gen­teil: Ich mein­te, dass sich ein re­prä­sen­ta­ti­ver Aus­schnitt der Be­völ­ke­rung im Netz auf­hält, und im All­ge­mei­nen so han­delt, wie sonst auch (zu zei­gen wä­re al­so, dass das Netz die­se Ge­wohn­hei­ten zum Schlech­ten ver­än­dert).

  34. @phorkyas
    Ist es ei­gent­lich an­ti­de­mo­kra­tisch und/oder eli­ti­stisch, wenn ich nicht je­den der möch­te in mei­ne Woh­nung las­se?

    Es nicht dar­um geht, dem Pö­bel das Netz nicht zu­zu­ge­ste­hen, son­dern nur dar­um, ihm nicht mit Wid­mung zu be­geg­nen.

    Was zu­meist ver­ges­sen wird: Auf­klä­rung ist kei­ne Ein­bahn­stra­ße. Um es knapp zu ma­chen kann man Ga­da­mer, den gro­ßen Her­me­neu­ti­ker, pa­ra­phra­sie­ren. Ein Ge­spräch kommt nur zu­stan­de, wenn zu­ge­stan­den wird, dass der an­de­re auch Recht ha­ben könn­te. Auf­klä­rung setzt ei­ne Be­reit­schaft vor­aus – auf bei­den Sei­ten. Hin­zu kommt das Pro­blem, dass der ver­meint­li­che Auf­klä­rer nicht sel­ber ideo­lo­gisch agiert. Das In­ter­net als Auf­klä­rungs­in­stru­ment be­deu­tet, dass es in ei­nem dis­kur­si­ven Pro­zess zu Er­kennt­nis­sen kommt, die über das hin­aus ge­hen, was es vor­her gab. (So ein mög­li­ches Ide­al; uto­pisch.) Statt­des­sen hat man oft ge­nug das Ge­fühl im Netz ste­hen sich Ar­meen mit ri­va­li­sie­ren­den Mei­nungs­sol­da­ten ge­gen­über, die al­les mög­li­che be­ab­sich­ti­gen, aber eben nicht Er­kennt­nis­ge­win­ne. Das ist üb­ri­gens kei­ne spe­zi­fi­sche Ei­gen­schaft des Net­zes, wird aber da­durch so­zu­sa­gen po­ten­ziert.

  35. @Gregor Keu­sch­nig: In Ih­ren Blog müs­sen Sie das Ge­sin­del na­tür­lich nicht las­sen, aber da steht ja auch kei­ne Wahl­ur­ne.

    »Statt­des­sen hat man oft ge­nug das Ge­fühl im Netz ste­hen sich Ar­meen mit ri­va­li­sie­ren­den Mei­nungs­sol­da­ten ge­gen­über, die al­les mög­li­che be­ab­sich­ti­gen, aber eben nicht Er­kennt­nis­ge­win­ne.«
    Das bringt mich auch im­mer häu­fi­ger zum Ab­bruch der Lek­tü­re. – Neh­men wir aber die­ses Bei­spiel Ukrai­ne-Kon­flikt; was da die Re­ak­tio­nen im Netz aus­ge­löst ha­ben, an Ver­un­si­che­rung (bei Herrn Gniff­ke u.a.), wie die Her­umei­ern, sich Win­den, Mos­kau­er Hack-At­tacken wit­tern und wie im­mer noch die Ob­jek­ti­vi­tät und Un­vor­ein­ge­nom­men­heit der ei­ge­nen Be­richt­erstat­tung be­schei­nigt wird, das ist für mich als Zu­schau­er doch un­ter­halt­sam, wenn an­de­re sich so­zu­sa­gen auf ih­rem ideo­lo­gisch blin­den Fleck dre­hen – beim ei­ge­nen wä­re das schon was schmerz­haf­ter. (In ei­nem an­de­ren Kom­men­tar­strang mein­ten Sie die neue Mel­dung der Süd­deut­schen, ich den­ke zu Pu­tins Dro­hun­gen, sei er­wie­sern­ma­ßen die Un­wahr­heit – das wür­de mich noch in­ter­es­sie­ren, falls Sie Zeit und Lust hät­ten dar­auf ein­zu­ge­hen.)

  36. @phorkyas
    Zur Ukrai­ne/­Pu­tin-Sa­che wer­de ich nichts schrei­ben; es ist ver­min­tes Ge­län­de. Es gibt ei­ni­ge Ar­ti­kel, die sich um ei­ne et­was dif­fe­ren­zier­te­re Sicht be­mü­hen, oh­ne gleich wie­der in Pro­pa­gan­da ab­zu­drif­ten (bspw. hier und hier). Im ver­link­ten Blog ist auch ak­tu­ell ein Ar­ti­kel, der mit dem Be­ginn der US-ame­ri­ka­ni­schen Bom­bar­die­rung der IS in Sy­ri­en das En­de der Ukrai­ne-Kri­se so­zu­sa­gen aus­ruft. Da­hin­ter steht der Ge­dan­ke, dass sich der We­sten über die völ­ker­rechts­wid­ri­ge An­ne­xi­on der Krim auf­regt (hier steht das sie streng ge­nom­men nicht un­be­dingt völ­ker­rechts­wid­rig ist, aber das sind Pe­ti­tes­sen, über die schon nie­mand mehr re­det) aber die Bom­bar­die­rung in Sy­ri­en gou­tiert, ob­wohl die dor­ti­ge Re­gie­rung wohl kein Ein­ver­ständ­nis ge­ge­ben hat. Man könn­te es Dop­pel­mo­ral nen­nen. Wenn man es so nennt, kommt man so­fort in Ver­dacht: Ent­we­der man gilt als Putin­ver­ste­her oder man wird so­fort in die Ecke der Be­für­wor­ter des Dik­ta­tors As­sad ge­rückt. So be­quem geht in­zwi­schen die­ses Mei­nungs­thea­ter. Ei­gent­lich gibt es kaum ei­nen Un­ter­schied bspw. zum 1. Welt­krieg in Deutsch­land. Wer da­mals nicht für die­sen Krieg war, galt so­fort als Va­ter­lands­ver­rä­ter. Es ist le­sens­wert, wie die SPD sich da­mals ge­wun­den hat, der Stig­ma­ti­sie­rung aus dem Weg zu ge­hen: Die Ab­ge­ord­ne­ten, die ge­gen den Krieg wa­ren, hat­ten vor der Ab­stim­mung die Sit­zung ver­las­sen. So war die SPD dann of­fi­zi­ell ei­ner Mei­nung.

    Um den Fa­den des Th­reads ein biss­chen auf­zu­neh­men: Die­se Ge­sin­nungs­hu­be­rei hat das Netz nicht ver­hin­dert, eher im Ge­gen­teil.

  37. Ich hab da noch ne Fra­ge:
    Gibt es ei­gent­lich ei­ne ernst zu neh­men­de Ab­hand­lung, wel­che die »kom­mu­ni­ka­ti­ve Auf­ga­be« von den im­mer un­strit­ti­gen wis­sen­schaft­li­chen Fort­schrit­ten trennt?!
    Phor­k­yas brach­te Ga­da­mer ins Spiel, der wohl ver­stan­den hat, dass sich »Wahr­heits­an­sprü­che« bzw »Wahr­heits­be­haup­tun­gen« nicht ein­fach sy­ste­ma­tisch sor­tie­ren, prü­fen und te­stie­ren las­sen, dass es mit­hin al­so um et­was an­de­res geht als die Ver­län­ge­rung der Wis­sen­schaft bis in die so­zia­le In­ter­ak­ti­on hin­ein.
    Die Ein­tei­lung wird aber auch flei­ßig zu­ge­schüt­tet von Leu­ten, die ih­re dis­pa­ra­ten Ein­sich­ten zu all­ge­mein gül­ti­gen Ent­schei­dungs­kri­te­ri­en hoch­sti­li­sie­ren möch­ten. An­ders ge­fragt: müs­sen wir uns wirk­lich die­ser Ver­ein­heit­li­chung des Wahr­heits­be­griffs beu­gen, der wiss.Erkenntnis, simp­le Tat­sa­chen und ar­gu­men­ta­ti­ve Be­haup­tun­gen im Mei­nungs­streit zu­sam­men fas­sen möch­te?!

  38. @Keuschnig: Ein kur­zer Kom­men­tar, ein paar Links, war al­les wo­nach ich ge­fragt ha­ben woll­te. Dan­ke.

    @Sophie: Ga­da­mer wur­de von Keu­sch­nig ins Spiel ge­bracht.