Der Wil­le zum Nicht­wis­sen (8/9)

An­mer­kun­gen zu ei­ner Hand­voll le­gen­dä­rer Sät­ze

8 – Den­ken ist vor al­lem Mut.

Der Satz stammt stammt in die­ser Form zwar von Lud­wig Hohl, aber man kann ihn fast wort­gleich schon bei Im­ma­nu­el Kant in des­sen Schrift Was ist Auf­klä­rung le­sen. Das Sub­jekt, von dem Kant dort spricht, ist »der Mensch«. Der Kö­nigs­ber­ger Phi­lo­soph be­an­sprucht mit­hin, für al­le zu spre­chen (und bei je­man­dem, der die Schrit­te und Be­grif­fe sei­nes Den­kens so ge­nau zu durch­den­ken ge­wohnt war, kann man an­neh­men, daß er sich des Sinns sei­ner Äu­ße­run­gen bis in die Ein­zel­hei­ten be­wußt war). Dumm sind die Men­schen dann, wenn es ih­nen an Mut man­gelt, den ei­ge­nen Ver­stand zu ge­brau­chen. Den ei­ge­nen Ver­stand zu ge­brau­chen setzt je­doch vor­aus, daß im Prin­zip je­der fä­hig ist, dies auch zu tun und da­durch zu mehr oder min­der ver­nüf­ti­gen Schlüs­sen zu ge­lan­gen. Ernst Cas­si­rer be­tont in sei­ner Er­läu­te­rung der Kri­tik der rei­nen Ver­nunft, das Kant­sche Sub­jekt sei iden­tisch mit der mensch­li­chen Ver­nunft. Ob die­se Be­haup­tung – oder doch eher For­de­rung? – im prak­ti­schen Sinn zu ver­ste­hen ist, muß man sich zu Be­ginn des 21. Jahr­hun­derts fra­gen. Im Grun­de ge­nom­men trifft sich Ador­no in sei­ner anthropo­logischen Er­klä­rung der Dumm­heit mit Kant, denn wenn man wei­ter nach­fragt, wie es denn zur be­an­stan­de­ten Mut­lo­sig­keit kom­men konn­te, so wird man frü­her oder spä­ter auf das Phä­no­men der Angst sto­ßen. Frei­lich, im Zeit­al­ter der all­mäch­ti­gen Kul­tur­in­du­strie, die Ador­no als er­ster sy­ste­ma­tisch zu be­schrei­ben un­ter­nahm, be­steht in den so­ge­nann­ten ent­wickel­ten Län­dern für die gro­ße Mehr­heit der Bür­ger we­nig Grund zur Denk- und Sprech­angst. Ih­re Träg­heit ist eher dar­auf zu­rück­zu­füh­ren, daß sie macht­vol­len Stra­te­gien der Ein­lul­lung, der vor­sätz­li­chen Ver­dum­mung, der me­di­en­be­ding­ten In­fan­ti­li­sie­rung zum Op­fer fal­len. Oder muß man gar, im Wi­der­spruch zu Kant, an­neh­men, es ge­be so et­was wie ei­ne mensch­li­che Grund­ei­gen­schaft der Träg­heit als in­di­vi­du­al­psy­cho­lo­gi­sche Ent­spre­chung zum an­thro­po­lo­gi­schen To­des­trieb, den Freud »ent­deck­te«? So daß nicht nur die Neu­gier dem Men­schen an­ge­bo­ren wä­re, son­dern auch ein ge­gen­läu­fi­ges Stre­ben, das ihn, wenn es über­hand nimmt, un­mün­dig macht. Die Kul­tur­in­du­strie – zu die­ser Fest­stel­lung be­darf es kei­ner aus­führ­li­chen Ar­gu­men­ta­ti­on – för­dert die Träg­heit, sti­mu­liert Süch­te, re­du­ziert die In­di­vi­du­en auf ei­ne An­zahl von Re­fle­xen und schwächt die Neu­gier, den selbst­tä­ti­gen For­schungs­geist.

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Car­sten Gan­sel: Li­te­ra­tur im Dia­log

Carsten Gansel: Literatur im Dialog
Car­sten Gan­sel:
Li­te­ra­tur im Dia­log

38 Ge­sprä­che von Car­sten Gan­sel mit Schriftsteller­innen und Schrift­stel­lern zwi­schen 1989 und 2014 sind im von Nor­man Ächt­ler im Ver­bre­cher-Ver­lag her­aus­ge­brach­ten Band »Li­te­ra­tur im Dia­log« chro­no­lo­gisch ab­ge­druckt. Gan­sel, 1955 in Gü­strow ge­bo­ren und mit de­zi­diert ost­deut­scher Akademiker­vita, ist seit 1995 Pro­fes­sor für Neue­re Deut­sche Li­te­ra­tur und Ger­ma­ni­sti­sche Li­te­ra­tur- und Me­di­en­di­dak­tik an der Ju­stus-Lie­big-Uni­ver­si­tät Gie­ßen. Die mei­sten Ge­sprä­che aus dem Band wur­den in der DDR- Wo­chen­zeit­schrift »Sonn­tag« bzw. spä­ter in »Der Deutsch­un­ter­richt« ver­öf­fent­licht; ei­ni­ge sind al­ler­dings erst­ma­lig pu­bli­ziert. Das 39. Ge­spräch ist bi­lan­zie­rend und fin­det zwi­schen Car­sten Gan­sel und Nor­man Ächt­ler, wis­sen­schaft­li­cher Mit­ar­bei­ter am Gie­ße­ner In­sti­tut für Ger­ma­ni­stik, statt.

In der in­ter­es­san­ten Ein­lei­tung Ächt­lers, die ei­ni­ge grund­sätz­li­che Fra­gen be­han­delt, et­wa ob es sich um In­ter­views oder Ge­sprä­che han­delt und wie es um die Selbst­in­sze­nie­run­gen der Be­frag­ten be­stellt sein mag, wer­den die »drei Ge­ne­ra­tio­nen« vor­ge­stellt, die Gan­sel in und mit sei­nen In­ter­views zu DDR und Li­te­ra­tur be­frag­te: Die Grün­dungs­ge­nera­ti­on nach 1945, die »Hein­ein­ge­bo­re­nen« (ein Wort von Uwe Kol­be) und die heu­te um die 40jähr­igen, »Hin­ein­ge­schrie­be­nen«. Es kom­men so un­ter­schied­li­che Au­toren wie Ste­fan Heym, Her­mann Kant, Chri­stoph Hein, Chri­sta Wolf, Erich Loest, Ul­rich Plenz­dorf aber auch »west­deut­sche« Stim­men wie Pe­ter Kurz­eck, Nor­bert Gst­rein, Pe­ter Härt­ling, Gün­ter Grass oder Ale­xa Hen­nig von Lan­ge zum Span­nungs­feld von Er­in­ne­rung und Li­te­ra­tur und Po­li­tik und Pu­bli­zi­tät (vor al­lem aber nicht nur im Hin­blick auf die »ge­schlos­se­nen Ge­sell­schaft« der DDR) be­fragt.

Es gibt meh­re­re Grün­de, war­um man die­ses Buch nicht mehr so schnell aus der Hand le­gen mag. So wir­ken Gan­sels Sach- und Fach­kennt­nis­se der je­wei­li­gen Pu­bli­ka­tio­nen der be­frag­ten Au­toren auf ei­ne be­rücken­de Wei­se alt­mo­disch. Man ist es vom dröh­nen­den Feuil­le­ton-Ge­schwa­fel ein­fach nicht mehr ge­wohnt, dass da je­mand tat­säch­lich die Bü­cher ge­le­sen hat und kun­dig (Lektüre-)Eindrücke zu for­mu­lie­ren und ein­zu­brin­gen weiß.

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Im­ma­nu­el Kant: Kö­che oh­ne Zun­ge (Hrsg.: Jens Ku­len­kampff)

Immanuel Kant: Köche ohne Zunge (Hrsg.: Jens Kulenkampff)
Im­ma­nu­el Kant:
Kö­che oh­ne Zun­ge
(Hrsg.: Jens Ku­len­kampff)
»Kant ist kein Apho­ri­sti­ker ge­we­sen.« So be­ginnt Jens Ku­len­kampff sein Vor­wort zu dem Bänd­chen »Kö­che oh­ne Zun­ge«, wel­ches dann doch ir­gend­wie ein apho­ri­sti­sches Buch wer­den soll – und ge­wor­den ist. Ku­len­kampff be­schreibt de­tail­liert und in­struk­tiv das Vor­ge­hen, die be­hut­sa­me und oft ge­nug schwie­ri­ge Entkontex­tualisierung aus dem »Hand­schrift­li­chen Nach­lass« Kants, den Bän­den 14 bis 20 der Ge­samt­aus­ga­be. Je­des der ver­wen­de­ten Zi­ta­te wird aus­ge­wie­sen und phi­lo­lo­gisch be­legt. Man glaubt ei­ner­seits das schlech­te Ge­wis­sen des Her­aus­ge­bers förm­lich zu spü­ren, an­de­rer­seits je­doch auch das gro­ße Ver­gnü­gen, mög­lichst au­then­tisch lo­se Ge­dan­ken des Phi­lo­so­phie­ge­nies auf die­se po­pu­lä­re Art und Wei­se her­aus­zu­brin­gen.

Um es vor­weg zu sa­gen: Es ist wun­der­bar ge­lun­gen; scho­nend und rück­sichts­voll in Be­zug auf Kants Ge­dan­ken­ge­bäu­de, die durch ver­zerr­tes Zi­tie­ren nicht zu put­zi­gen Baum­häu­sern de­gra­diert wer­den. Da­mit ist die­ses Buch – dem Au­tor ent­spre­chend – eben trotz der kur­zen Form kei­ne leich­te Lek­tü­re. Wer glaubt, die knapp ein­hun­dert Sei­ten schnell kon­su­mie­ren zu kön­nen, irrt. Das Tem­po gibt wei­ter­hin Kant vor. Man­che No­ta­te be­schäf­ti­gen den Le­ser und las­sen ihn für lan­ge Zeit nicht mehr in Ru­he, so ver­wickelt sind sie. Es gibt dann ei­ne so­li­de 50:50 Chan­ce, dem Ge­dan­ken­gang Kants auf die Spur zu kom­men. Bei an­de­ren Aus­sprü­chen nickt man hin­ge­gen so­fort; ge­le­gent­lich zu früh.

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Der Wald und die Bäu­me (X)

Post­skrip­tum »Auf­klä­rung ist der Aus­gang des Men­schen aus sei­ner selbst­ver­schul­de­ten Unmündig­keit.« Seit ich die­sen be­rühm­ten De­fi­ni­ti­ons­satz zum er­sten Mal las, und das ist nun schon ziem­lich lan­ge her, fra­ge ich mich im­mer aufs Neue, in­wie­fern die von Kant kon­sta­tier­te Un­mün­dig­keit denn selbst­ver­schul­det sei. Ich ha­be bis heu­te kei­ne Ant­wort ge­fun­den. Mit ei­ner zu­sätz­li­chen De­fi­ni­ti­on er­läu­tert ...

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Der Wald und die Bäu­me (V)

Sape­re au­de! Auch Kri­ti­ker sind über­zeugt, daß es kein Zu­rück gibt, und wün­schen sich kei­nes. Wer die di­gi­ta­len Ge­brauchs­tech­ni­ken und die alt­her­ge­brach­ten Kul­tur­tech­ni­ken wie Le­sen und Schrei­ben, Er­ken­nen und Ver­ste­hen, Wer­ten und Ur­tei­len, Ar­gu­men­tie­ren und Gelten­lassen be­herrscht und mit­ein­an­der zu ver­bin­den ver­steht, ist im Vor­teil. Nicht unbe­dingt im Wett­be­werbs­vor­teil um das schleu­ni­ge­re Wis­sen und die ...

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Mo­ham­med Abed Al-Ja­bri: Kri­tik der ara­bi­schen Ver­nunft – Ein­füh­rung

Kritik der arabischen VernunftDie »Kri­tik der ara­bi­schen Ver­nunft« ist ein vier­bän­di­ges Werk: Der er­ste Teil er­schien 1984 un­ter dem Ti­tel »Die Ge­ne­se des ara­bi­schen Den­kens«, 1986 er­schien »Die Struk­tur des ara­bi­schen Den­kens«, 1990 »Die ara­bi­sche Ver­nunft im Po­li­ti­schen« und 2001 dann »Die prak­ti­sche ara­bi­sche Ver­nunft«.

Mo­ham­med Abed Al-Ja­bri* wur­de 1935 in ei­ner Ber­ber­fa­mi­lie im süd­li­chen Ma­rok­ko ge­bo­ren. Er ab­sol­vier­te ei­ne Schnei­der­leh­re, wur­de Volks­schul­leh­rer und be­gann 1958 ein Phi­lo­so­phie­stu­di­um in Da­mas­kus. 1970 pro­mo­vier­te er über den Hi­sto­ri­ker und »Vor­läu­fer der mo­der­nen So­zio­lo­gie«** Ibn Khal­dun. Er un­ter­rich­te­te is­la­mi­sche Ideen­ge­schich­te in Ra­bat. An­fang der 80er Jah­re be­gann Al-Ja­bri Bü­cher zu pu­bli­zie­ren und wur­de da­mit un­ter ara­bi­schen In­tel­lek­tu­el­len be­kannt. Bis auf Band drei der Kri­tik, der 2007 un­ter dem Ti­tel »Die po­li­ti­sche Ver­nunft im Is­lam: Ge­stern und heu­te« in fran­zö­si­scher Spra­che pu­bli­ziert wur­de, sei Al-Ja­bris Haupt­werk bis­her in kei­ner an­de­ren Spra­che ver­öf­fent­licht wor­den (so der Ver­lag), was durch­aus Ab­sicht des Au­tors war, der den in­ner­a­ra­bi­schen Dia­log be­för­dern woll­te statt in an­de­ren Kul­tur­krei­sen zu re­üs­sie­ren.

Die »edi­to­ri­sche No­tiz« des Ver­lags ver­wirrt den Le­ser mehr als das sie auf­klärt. Der Ver­lag schreibt, daß die »syn­op­ti­schen Tex­te, die in das vor­lie­gen­de Buch ein­ge­gan­gen sind« nicht Teil der »Kri­tik« sei­en, son­dern aus zwei an­de­ren Tex­ten Al-Ja­bris stamm­ten. Aus­ge­wählt wur­den die­se Tex­te von Ah­med Mah­foud und Marc Ge­off­roy, wo­bei Mah­foud, der als »Freund und Agent« Al-Ja­bris vor­ge­stellt wird, die Über­set­zung al­ler vier Bän­de der »Kri­tik« vom Ara­bi­schen ins Fran­zö­si­sche vor­ge­nom­men hat.

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Frei­heit

Da­ge­gen ver­ste­he ich un­ter Frei­heit, im kos­mo­lo­gi­schen Ver­stan­de, das Ver­mö­gen, ei­nen Zu­stand von selbst an­zu­fan­gen, de­ren Kau­sa­li­tät al­so nicht nach dem Na­tur­ge­set­ze wie­der­um un­ter ei­ner an­de­ren Ur­sa­che steht, wel­che sie der Zeit nach be­stimm­te. Die Frei­heit ist in die­ser Be­deu­tung ei­ne rei­ne tran­szen­den­ta­le Idee, die erst­lich nichts von der Er­fah­rung Ent­lehn­tes ent­hält, zwei­tens de­ren Ge­gen­stand ...

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