Anmerkungen zu einer Handvoll legendärer Sätze
8 – Denken ist vor allem Mut.
Der Satz stammt stammt in dieser Form zwar von Ludwig Hohl, aber man kann ihn fast wortgleich schon bei Immanuel Kant in dessen Schrift Was ist Aufklärung lesen. Das Subjekt, von dem Kant dort spricht, ist »der Mensch«. Der Königsberger Philosoph beansprucht mithin, für alle zu sprechen (und bei jemandem, der die Schritte und Begriffe seines Denkens so genau zu durchdenken gewohnt war, kann man annehmen, daß er sich des Sinns seiner Äußerungen bis in die Einzelheiten bewußt war). Dumm sind die Menschen dann, wenn es ihnen an Mut mangelt, den eigenen Verstand zu gebrauchen. Den eigenen Verstand zu gebrauchen setzt jedoch voraus, daß im Prinzip jeder fähig ist, dies auch zu tun und dadurch zu mehr oder minder vernüftigen Schlüssen zu gelangen. Ernst Cassirer betont in seiner Erläuterung der Kritik der reinen Vernunft, das Kantsche Subjekt sei identisch mit der menschlichen Vernunft. Ob diese Behauptung – oder doch eher Forderung? – im praktischen Sinn zu verstehen ist, muß man sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts fragen. Im Grunde genommen trifft sich Adorno in seiner anthropologischen Erklärung der Dummheit mit Kant, denn wenn man weiter nachfragt, wie es denn zur beanstandeten Mutlosigkeit kommen konnte, so wird man früher oder später auf das Phänomen der Angst stoßen. Freilich, im Zeitalter der allmächtigen Kulturindustrie, die Adorno als erster systematisch zu beschreiben unternahm, besteht in den sogenannten entwickelten Ländern für die große Mehrheit der Bürger wenig Grund zur Denk- und Sprechangst. Ihre Trägheit ist eher darauf zurückzuführen, daß sie machtvollen Strategien der Einlullung, der vorsätzlichen Verdummung, der medienbedingten Infantilisierung zum Opfer fallen. Oder muß man gar, im Widerspruch zu Kant, annehmen, es gebe so etwas wie eine menschliche Grundeigenschaft der Trägheit als individualpsychologische Entsprechung zum anthropologischen Todestrieb, den Freud »entdeckte«? So daß nicht nur die Neugier dem Menschen angeboren wäre, sondern auch ein gegenläufiges Streben, das ihn, wenn es überhand nimmt, unmündig macht. Die Kulturindustrie – zu dieser Feststellung bedarf es keiner ausführlichen Argumentation – fördert die Trägheit, stimuliert Süchte, reduziert die Individuen auf eine Anzahl von Reflexen und schwächt die Neugier, den selbsttätigen Forschungsgeist.