Die »Kritik der arabischen Vernunft« ist ein vierbändiges Werk: Der erste Teil erschien 1984 unter dem Titel »Die Genese des arabischen Denkens«, 1986 erschien »Die Struktur des arabischen Denkens«, 1990 »Die arabische Vernunft im Politischen« und 2001 dann »Die praktische arabische Vernunft«.
Mohammed Abed Al-Jabri* wurde 1935 in einer Berberfamilie im südlichen Marokko geboren. Er absolvierte eine Schneiderlehre, wurde Volksschullehrer und begann 1958 ein Philosophiestudium in Damaskus. 1970 promovierte er über den Historiker und »Vorläufer der modernen Soziologie«** Ibn Khaldun. Er unterrichtete islamische Ideengeschichte in Rabat. Anfang der 80er Jahre begann Al-Jabri Bücher zu publizieren und wurde damit unter arabischen Intellektuellen bekannt. Bis auf Band drei der Kritik, der 2007 unter dem Titel »Die politische Vernunft im Islam: Gestern und heute« in französischer Sprache publiziert wurde, sei Al-Jabris Hauptwerk bisher in keiner anderen Sprache veröffentlicht worden (so der Verlag), was durchaus Absicht des Autors war, der den innerarabischen Dialog befördern wollte statt in anderen Kulturkreisen zu reüssieren.
Die »editorische Notiz« des Verlags verwirrt den Leser mehr als das sie aufklärt. Der Verlag schreibt, daß die »synoptischen Texte, die in das vorliegende Buch eingegangen sind« nicht Teil der »Kritik« seien, sondern aus zwei anderen Texten Al-Jabris stammten. Ausgewählt wurden diese Texte von Ahmed Mahfoud und Marc Geoffroy, wobei Mahfoud, der als »Freund und Agent« Al-Jabris vorgestellt wird, die Übersetzung aller vier Bände der »Kritik« vom Arabischen ins Französische vorgenommen hat.
Textarrangement und Übersetzung
Wird so anfangs noch suggeriert, daß der vorliegende Band wenigstens teilweise Bestandteile der »Kritik«-Bände enthält, so erfährt man in der »Einleitung« von Mahfoud und Geoffroy, die auch die Fußnoten verfasst haben (was man leicht überlesen kann, sich aber im Laufe der Lektüre erschließt, da Al-Jabri mehrfach in der dritten Person genannt wird), daß es sich um eine Zusammenstellung zweier anderer Werke von Al-Jabri handelt: »Wir und die Tradition. Zeitgemäße Lesarten unseres philosophischen Erbes« von 1980 und »Tradition und Moderne« von 1991 (wobei unklar bleibt, wie kursorisch diese Zusammenfassungen sind und wann welcher Text zitiert wird).
Diese Zusammenstellung aus zwei Büchern hat Schwächen. Einige Kapitel sind sehr gut gegliedert – andere wirken eher improvisiert. So ist beispielsweise der Kern des Buches, die Ausführungen über den averroistischen Rationalismus, als monolithischer Block von 35 Seiten abgedruckt; auf eine Textgliederung, wie in anderen Kapiteln des Buches wurde leider verzichtet, was die Verständlichkeit mindestens erschwert.
Verzeihlich ist, daß in der »Einleitung« der »Einführung« durch Mahfoud und Geoffrey etliche Punkte aus dem Vorwort von Reginald Grünenberg und Sonja Hegasy wiederholt werden. Auch daß Mahfoud und Geoffrey die Interpretation Al-Jabris stellenweise sehr weit treiben und Zitate einbringen, die im nachfolgenden Buch nicht verzeichnet sind, mag vertretbar sein.
Problematisch erweist sich die Übersetzungsstrategie: Mahfoud/Geoffrey übersetzten vom Arabischen ins Französische. Dann wurde von Vincent von Wroblewsky und Sarah Dornhof vom Französischen ins Deutsche übersetzt. An vielen Punkten ist diese Problematik bemerkbar (Al-Jabri betreibt ja unter anderem Sprachkritik am Arabischen). Die Sätze taumeln zu oft vom Umständlichen ins Unverständliche (seltener gibt es auch Widersprüchliches), was durch ein sorgfältiges Lektorat mindestens teilweise vermeidbar gewesen wäre. Zudem scheint sich an einigen Stellen der Text-Eklektizismus zu rächen – manches wirkt redundant. (Dazu gibt es orthografische Fehler und falsche Zuordnungen in den Fußnoten).
Da mit diesem Buch auch Leser angesprochen werden sollen, die mit den historischen Gegebenheiten und philosophischen Strömungen nicht umfassend vertraut sind, wäre ein Glossar und Personenverzeichnis zwingend notwendig gewesen. Die Fußnoten (die ja, wie erwähnt, nicht von Al-Jabri stammen) sind zwar vorteilhaft auf der jeweiligen Seite abgedruckt, aber extrem geschwätzig und für das Verständnis im jeweiligen Kontext oftmals störend (es gibt häufig ganze Lebensläufe von Gelehrten und Kurzzusammenfassungen von religiösen und/oder politischen Strömungen). Da Al-Jabri ein sehr komplexes Panorama der Philosophie und Geschichte von Al-Andalus entwirft und die Entwicklungen dieser Zeit für seine Argumentation zentral ist, wäre eine Chronologie der wichtigsten politischen und philosophischen Ereignisse am Ende des Buches vorteilhaft gewesen.
Dieses Buch existiert in dieser Form im arabischen Sprachraum nicht und eigentlich ist der Titel (streng genommen) eine Irreführung. Man sollte es dennoch freundlich als eine Art Prolegomenon auffassen. Immerhin wird hier endlich die Stimme eines bedeutenden zeitgenössischen arabischen Philosophen in deutscher Sprache publik. Der erste Band der »Kritik der arabischen Vernunft« soll im Perlen-Verlag im September 2009 erscheinen, die anderen drei Bände im Jahr 2010. Fast 1.400 Seiten soll die Gesamtausgabe haben.
Das vorliegende Buch liefert nicht nur einen Überblick über die Geschichte der »arabische Vernunft«, die Al-Jabri als »das Ensemble von Prinzipien und Regeln, nach denen sich das Wissen in der arabischen Kultur vollzieht« definiert, sondern zeigt auch Einblicke in die Überwindung der von ihm konstatierten Lähmung der arabischen Kultur. Trotz der ausführlich genannten Nachteile, die vielleicht in dieser Form nicht in den »Kritik«-Bänden virulent werden, lohnt die Lektüre der »Einführung« auch für den politisch interessierten Zeitgenossen, der sich mit den weltpolitischen Implikationen auseinandersetzt und den rasch urteilenden Apologeten eines mehr oder weniger zwangsläufigen »Clash of Civilizations« aus guten Gründen nicht folgen möchte.
Falsche Auffassungen von Tradition
Auf die detailreichen Einlassungen Al-Jabris der unterschiedlichen philosophischen Denkrichtungen und Denkschulen im Islam vom 8. bis ins 13. Jahrhundert hinein soll hier nicht weiter eingegangen werden. Für den Interessenten bieten sich hier reiche Einblicke, die sicherlich in den »Kritik«-Bänden noch vertieft werden dürften.
Al-Jabri treibt die Frage nach den Gründen für den »Niedergang der islamischen Kultur« um. Warum hat sich das arabische Denken in eine »Kultur der ’schlechten Universalismen’ verwandelt«? Wie konnte es zu diesem jahrhundertelangen, nur sporadisch unterbrochenen Denken der Finsternis überhaupt kommen?
Der Schlüssel liegt für Al-Jabri zunächst einmal im »subjektive[n] Erlebnis des Lesens [der] heiligen Texte«. Er zeigt, »wie Defizite in der arabischen Kultur damit zusammenhängen, daß die ‘Trennung von gelesenem Objekt und lesendem Subjekt nicht vollzogen wird’.« Dies ist, so Al-Jabri, eine Folge einer falschen Auffassung von Tradition, welche den zeitgenössischen arabischen Leser einschränke, ja ihn der Unabhängigkeit und Freiheit beraube. Vermittelt über…eingeimpfte Elemente erfasst er die Dinge, auf ihnen gründet er seine Meinungen und Betrachtungen. […] Vertieft sich der arabische Leser in die traditionellen Texte, so ist seine Lektüre erinnernd, keineswegs aber erforschend und nachdenkend. Hinzu kommt, daß die arabische Sprache seit mehr als vierzehn Jahrhunderte[n] unverändert blieb und damit zutiefst in der Tradition und in der Authentizität verwurzelt sei. Hieraus ergebe sich ihr sakraler Charakter. Die arabische Sprache absorbiere den Leser; wer einen Text in dieser Sprache liest, liest eher die Sprache als den Text. Anderereits lebe der zeitgenössische arabische Leser unter dem Zwang, unbedingt auf der Höhe seiner Zeit zu sein.
Erforderlich sei (in einem ersten Schritt), das Subjekt von seiner Tradition zu lösen. Al-Jabri plädiert dafür, den Sinn eines Textes nicht [zu] interpretieren, bevor man nicht seine Materie erfasst habe – Materie verstanden als ein Netz von Relationen zwischen den Sinneinheiten und nicht als ein Ensemble isolierter Sinneinheiten. Man müsse sich von einem Verständnis befreien, das auf traditionsgeleiteten Vorurteilen oder auf…aktuellen Wünschen basiere. Die einzige Aufgabe bestehe darin, die Bedeutung eines Textes aus dem Text selbst zu entnehmen, ihn gegebenenfalls einer minuziösen Sezierung [zu] unterziehen, die den Text tatsächlich zu einem Objekt für ein lesendes Subjekt macht, zu einem Stoff der Lektüre.
Weder islamischer Fundamentalismus noch in den Schoß der westlichen Moderne
Keine Frage: Der Text, von dem hier (zunächst einmal) die Rede ist, ist der Koran, der von den Interpretations»texten« der »Gelehrten« der letzten Jahrhunderte zu befreien ist und aus sich heraus gelesen werden soll. Die Intention des Gesamten soll entscheidend werden, nicht die Ausdeutung des einzelnen Wortes. Die Lektüre, wie sie Al-Jabri »selbst als Kind in der Koranschule erfahren hat«, ist zu verwerfen, da sie die Subjekt-Objekt-Perspektive umkehrt, den Text anthropomorphisiert und zu blindem und seelenlosem Repetieren führt. Ohne das es Al-Jabri erwähnt, greift diese These auch unmittelbar in unseren Kulturkreis ein: Ist nicht gleichfalls der Dogmatismus insbesondere der katholischen Kirche eine unzulässige »Subjektivierung« der christlichen Botschaft (insbesondere des Neuen Testaments)?
Die Forderung an eine »neue Lesart« der heiligen Texte geht dabei ausdrücklich nicht in Richtung der vom Westen häufig gewünschten Implementierung einer absoluten islamischen Instanz (ähnlich etwa dem Papsttum), die eine allgemeinverbindliche Deutung postuliert. Al-Jabris Gedanke ist, weil er sich konkret an das einzelne Individuum richtet, sehr viel »moderner«, wenn auch fragil. Denn wenn seine Diagnose stimmt (und vieles spricht dafür), dürfte die Loslösung von den »heillosen Überlieferungen« (Peter Sloterdijk) sehr schwierig sein, da die Veränderungen auch von den Intellektuellen und Politikern getragen werden müssten, die vom jetzigen System geprägt wurden, und vielleicht sogar profitieren. Zudem droht eine Mobilisierung der Massen durch die restaurativen Kräfte, die jegliche Veränderung als Gefährdung ihrer Legitimation ansehen und ein Interesse an der Aufrechterhaltung des Status quo haben. Kants Diktum wird tatsächlich paraphrasiert: Der zeitgenössische arabische Leser bedarf des Ausgangs aus seiner »historischen« Unmündigkeit (Grünenberg/Hegasy treffend im Vorwort).
Hierfür entwickelt Al-Jabri die Idee vom Neudenken der Traditionen. Statt die Produktion von neuen Diskursen zu befeuern, erschöpft sich die arabische Kultur seit dem 13. Jahrhundert mehr oder weniger in der Reproduktion des Alten. Seither habe sich in der arabisch-islamischen Kultur das herausgebildet, was wir ein »Verständnis der Tradition, das in der Tradition eingeschlossen ist« genannt haben und das noch heute dominiert. Unter diesen Umstände bestünde die Moderne eher darin, dieses Verständnis der Tradition, das in der Tradition eingeschlossen ist, zu überwinden, um ein modernes Verständnis und eine aktuelle Sichtweise der Traditionen zu entwickeln.
Der Clou in Al-Jabris Denken ist, daß Moderne bei ihm nicht bedeutet, die Tradition abzulehnen noch mit der Vergangenheit zu brechen, sondern vielmehr die Art, in der wir uns zur Tradition verhalten, auf ein Niveau anzuheben, das wir »Zeitgenossenschaft« nennen und das darin bestehen muss den Lauf des Fortschritts, der sich auf globaler Ebene vollzieht einzuholen. Es geht nicht um ein plattes »übernehmen oder fallen lassen«, sondern um Verstehen und Aneignen – oder, das ist auch eine Option, ein Verwerfen. Letzteres sollte jedoch nicht aufgrund opportunistischer Erwägungen erfolgen, sondern im jeweiligen Kontext.
Averroes und die Notwendigkeit der »andalusischen Wiedergeburt«
Der Begriff der Zeitgenossenschaft ist klug gewählt. Dennoch zeigt sich auch hier die Fragilität des Projekts. Al-Jabri ist kein Revolutionär, der mit den »alten Zöpfen« brechen will, sondern versucht, die guten von den schlechten Traditionen zu differenzieren. Eine einfache »Anpassung« an die europäische Moderne kommt nicht infrage. Da die europäische Moderne im Kontext einer besonderen kulturellen Geschichte Europas steht, kann sie der arabischen Kultur und ihrer Geschichte gegenüber keinen Diskurs etablieren. Die Fremdheit zwischen beiden Kulturräumen ist zu gross. Aus diesem Grund müssen wir unseren eigenen Weg zur Moderne zwangsläufig auf Elemente des kritischen Geistes stützen, die ihren Ausdruck in der arabischen Kultur selbst finden, um im Inneren dieser Kultur eine Dynamik der Veränderung in Gang zu setzen.
Aber wie das Verständnis von der Tradition von ideologischen und affektiven Last[en] befreien? Al-Jabris Dreh- und Angelpunkt der »Reformation« hin zu einem (neuen) arabischen Rationalismus ist Abu al-Walid Muhammad Ibn Ahmad Ibn Muhammad Ibn Rushd, latinisiert Averroes (1126–1198); er ist für ihn der zentrale Aufklärer und Ausdruck der Blütezeit eines arabisch-islamische[n] Denken[s] in der Zeit der Almohaden im Maghreb und in Al-Andalus, eines »europäisch«-arabischen Denkens fern vom ost-orientalischen Gelehrtentum, welches eine krude Mischung zwischen vor-islamischem Heidentum und dogmatischer Koraninterpretation zum Zwecke ihrer eigenen Machtpositionen betrieben.
Averroes gilt zuerst als ausführlicher und detailgenauer Kommentator von Aristoteles. Indem Averroes das aristotelische Denken aber nicht nur kommentiert, sondern auch analytisch in die arabische Philosophie eingebracht und weitergeführt habe, setzte er wesentliche Impulse, die weit über die Grenzen auch das Denken und die Philosophie des Abendlandes beeinflusst habe. Nach Averroes haben wir Araber am Rande der Geschichte gelebt (in Trägheit und Niedergang) (kursorisch werden mit Abu Ishaq Ibn Musa al-Shatibi [† 1388] und ´Abd al-Rahman Muhammad Ibn Khaldun [1332–1406] zwei Ausnahmen vorgestellt). Die Europäer, so Al-Jabri, lebten ihrerseits die Geschichte, aus der wir herausgetreten waren, weil sie es verstanden, sich Averroes anzueignen und bis zum heutigen Tag das averroistische Moment zu leben.
Salopp formuliert: Wenn Tradition, dann bitte die von Averroes. Al-Jabri geht soweit, daß er von der Erfordernis einer andalusischen Wiedergeburt spricht (wobei es sich natürlich nicht um die erneute Okkupation Spaniens handelt, sondern dies als philosophischer Akt zu verstehen ist).
Trennung zwischen Religion und Philosophie
Averroes sprach sich für ein religiöses Verständnis von der Religion aus, das nicht über die Fakten der Religion selbst hinausging, und ein philosophisches Verständnis der Philosophie, das ausschließlich auf den Prinzipien und Intentionen der Philosophie gegründet war. Diese Methode sollte es nach Averroes möglich machen, sowohl die Philosophie als auch die Religion zu erneuern. Übernehmen wir auch von ihm diese Methode, um eine Art und Weise zu definieren, in der wir zugleich unser Verhältnis zur Tradition und unser Verhältnis zum heutigen globalen Denken, das für uns das darstellt, was für Averroes die griechische Philosophie darstellte, auf uns nehmen zu können. Werden wir unserem Verhältnis zur Tradition gerecht, indem wir sie in ihrem eigenen Kontext verstehen, und werden wir in gleicher Weise dem globalen heutigen Denken gerecht. Ziel soll es laut Al-Jabri sein, unsere Authentizität in der Moderne und unserer Moderne in der Authentizität zu begründen.
»Innerarabisch« nahm Averroes unter anderem eine scharfe Gegenposition zu Avicenna ein (Abu Ali al Hussein Ibn Sina; 980‑1037), der, so Al-Jabri, einer spiritualistischen und gnostischen Strömung (hier steht Gnostizismus für einen Glauben an die Existenz einer anderen Erkenntnisquelle als der Vernunft) die Weihe gegeben habe, deren Wirkung entscheidend wurde für die Regressionsbewegung und durch die das arabische Denken sich von einem offenen Rationalismus […] zu einem verderblichen, das Denken der Finsternis fördernden Irrationalismus zurückentwickelte. (Al-Jabri erwähnt nicht, daß Averroes’ Denken von den meisten arabischen Gelehrten nicht nur nicht akzeptiert, sondern verfolgt und der Autor sogar verbannt wurde.)
Die Möglichkeit einer Versöhnung zwischen Vernunft und Überlieferung lehnt Al-Jabris (mit Averroes) ab. Anschaulich zeigt er, wie diese »Versöhnung« von den Theologen ausgestaltet wurde (bzw. wird): Eben in dem bereits angesprochenen spiritualistischen und gnostischen Sinn. Heftig sträubt sich Al-Jabri Averroes zitierend gegen ein »Sammelsurium von…erfundenen Behauptungen und neuen Interpretationen« was die offenbarte Schrift (den Koran) betrifft. Die »Eingemeindung« der Religion in die Philosophie wird strikt abgelehnt, weil die Philosophie damit unterhöhlt wird. Religion sei nicht durch Wissenschaft erklärbar (und auch nicht erklärbar sein soll) und die Wissenschaft benötige auch keine von außen kommende Beschränkung (vulgo: Religion).
Al-Jabri plädiert für die Re-Vitalisierung des averroistischen Geistes, auf dem aufzubauen wäre. Mit Averroes zeichne sich eine radikal neue Auffassung vom Verhältnis Religion/Philosophie ab: Man muss auf diesen beiden Gebieten die Rationalität innerhalb des jeweiligen Gebiets feststellen. Die Rationalität in der Philosophie gründet auf der Beobachtung der Ordnung und der Artikulation der Welt, und somit auf dem Gebiet der Kausalität, während die Rationalität der Religion sich auf der Berücksichtigung der »Intention des Gesetzgebers« gründet, dessen letzter Zweck darin besteht, die Tugend zu befördern.
Deutlicher wird er nicht. Wer allerdings die Begriffe »Philosophie« und »Wissenschaft« durch »Politik« ersetzt, wird die Dynamik dieses Denkens erkennen. Zwar hält Al-Jabri an arabische Traditionen fest, distanziert sich von »liberalen« und marxistischen Oktroyierungen (natürlich auch von fundamentalistischen) und betont, daß eine »Übernahme« oder bloße Imitation des europäischen Liberalismus eine Art Traditionenvergessenheit bedeute, die eine Entfremdung vom arabischen Erbe darstellen würde.
Reich der Vernunft und der Gerechtigkeit
Wie aber eine Neuorientierung eines Denkens ohne einen mindestens indirekten Rekurs auf die Prinzipien der europäischen Aufklärung? Al-Jabri wendet eine »Flucht nach vorne«-Taktik an, in dem er zwischen kognitiven und ideologischen Inhalten unterscheidet. Die kognitiven Gehalte in der Philosophie verwirft Al Jabri: Der kognitive Inhalt der Gesamtheit [der aristotelischen] Philosophie stürzte mit der Ausbreitung der modernen Wissenschaften zusammen. Descartes gründete seine Philosophie auf die Physik von Galilei. […] Doch der kognitive Gehalt des Cartesianismus hörte mit der Durchsetzung der Newtonschen Physik auf, operativ zu sein. Auf diese gründete Kant seine eigene Philosophie, die ihrerseits überholt war, als die Newtonsche Physik von der Quantentheorie und der Relativitätstheorie überholt wurde usw. Die Geschichte der Wissenschaft ist…die Geschichte der Irrtümer der Wissenschaft. Deshalb stirbt der kognitive Gehalt jeder Philosophie ein für alle mal: er geht in die Geschichte als Summe von »Irrtümern« ein. Er stirbt und stürzt in sich zusammen ohne Hoffnung, wieder aufzuerstehen, weil der Irrtum keine Geschichte hat.
Dagegen setzt er den ideologischen Gehalt der Philosophie, der für ihn die Zeit des »Künftig-Mögliche[n]« darstellt, jedoch in der Form eines Traumes. Das, was im abendländischen Sprachgebrauch als »Vision« übersetzt würde, wird hier energische Rede für den Traum: Der Traum ignoriert von Natur aus die räumlich-zeitlichen Parameter, im Gegensatz zur Wissenschaft, deren Zeit das »Jetzt-Gegenwärtige« ist, das sie in ihrer Gegenwart lebt. Das ist natürlich kein antiwissenschaftlicher Gestus. Al-Jabri wehrt sich nur gegen die Infiltration der Philosophie einerseits durch die Religion und andererseits durch eine Verwissenschaftlichung, die, so führt er aus, systemimmanent nur eine begrenzte »Lebensdauer« hat. Eine Argumentation, die zum Beispiel in Anbetracht des neurobiologischen Diskurses in der zeitgenössischen (westlichen) Philosophie eine interessante Dimension eröffnet.
Der Begriff des Ideologischen ist hier per se nicht negativ konnotiert, allerdings heißt es: Eine Ideologie, die ihre »Zukunft« in der Vergangenheit lebt, ist folglich eine Ideologie, die fortfährt, einen jener Momente zu leben, der durch den Prozess des Werdens des Denkens, dem sie verbunden ist, bereits beseitigt wurde. Dagegen steht eine Ideologie die…ihre Zukunft nach dem Künftigen ausrichtet, […] eine Ideologie, die ein – oder mehrere – vom Prozess des Werdens noch nicht beseitigte Moment lebt.
Indem Al-Jabri die Philosophie als dynamisch-visionär und eigenständig postuliert und einen averroistischen Geist ausruft, greift er auch den Status quo des Universalismus westlichen Denkens an. Der averroistische Geist als soll unserem Denken, unserem Blick und unseren Bestrebungen so gegenwärtig sein wie der kartesische Geist dem französischen Denken, oder der von Locke und Hume eingeführte empiristische Geist dem englischen Denken gegenwärtig ist. [...] Errichten wir also unsere Besonderheit auf dem, was uns eigen ist, uns zukommt, uns nicht fremd ist. Der averroistische Geist kann unserer Epoche angepasst werden, weil er mit ihr in mehr als einer Hinsicht einhergeht; dem Rationalismus, dem Realismus, der axiomatischen Methode und dem kritischen Herangehen. Den averroistischen Geist annehmen heißt brechen mit dem »orientalischen« avicennischen Geist, der…das Denken der Finsternis fördert.
Das Traum des Künftig-Mögliche[n] ist es, ein Reich der Vernunft und der Gerechtigkeit zu errichten, um ein freies, arabisches, demokratisches und sozialistisches Gemeinwesen aufzubauen.
Auf dem Cover des Buches zeigt ein Vexierbild sowohl eine Darstellung von Averroes als auch von Immanuel Kant; beide miteinander verflochten. Die »Anmaßung«, sich »mit dem Titel ‘Kritik’« in der Nachfolge Kants zu »schmücken« sei, so sagt das Vorwort, »selten…so berechtigt wie bei dieser profunde[n] und hochgradig originelle[n] Fundamentalanalyse arabischer Wissensproduktion«. Dies zu beurteilen müssen andere vornehmen und ist sicherlich erst nach Vorlage des gesamten Korpus möglich. Sicher ist, daß es sich auch um ein politisch wichtiges Buch handelt, welches alleine schon aus Gründen der Verständlichkeit auch für den nicht-philosophisch vorgebildeten (und vielleicht weniger interessierten) Leser im Rahmen des Möglichen zugänglich sein sollte.
* Die Scheibweise der arabischen Namen erfolgt gemäß dem vorliegenden Buch.
** Zitate aus Vorwort und Einführung des Buches, d. h. Texte, die nicht von Al-Jabri direkt stammen, werden in »französischen« Anführungszeichen gesetzt: » und «. Zitate von Al-Jabri sind kursiv geschrieben. Dabei wurden Zeichensetzung und Orthografie aus dem vorliegenden Buch übernommen. Gelesen wurde ein »Vorabdruck« eines Rezensionsexemplars des Verlags, welches mit dem Vermerk »Geringfügige Änderungen und Korrekturen vorbehalten« versehen ist.
Braver wackerer aber hoffnungloser Versuch
scheint mir dieser Versuch mit oder durch Averroes einen Neuanfang der Moderne zu versuchen nachdem Aristotel doch laengst nicht mehr der der er zu der Zeit war. Was mich vielmehr interessiert ist in wiefern und warum es in der Zeit damals [circa 1000 a.d.] die Islamische Kultur, die Obrigkeiten dort sich fuer die Griechische Ueberlieferung interessierte, offen war.
Was die islamische Kultur vom Mahgreb bis Pakistan betrifft, inwiefern ich ihr superficiell da ein bisschen ausgesetz war als ich mich da ein bisschen rumgetrieben habe: die Musik, sowie die visuelle Kunst, gefiehlen mir sehr; auch fuehlte ich mich dort wohl als Reisender unter den Menschen mit denen ich Bekanntschaft machte, aber auch das nur superficiell.
Fromme Wünsche?
„Aus diesem Grund müssen wir unseren eigenen Weg zur Moderne zwangsläufig auf Elemente des kritischen Geistes stützen, die ihren Ausdruck in der arabischen Kultur selbst finden, um im Inneren dieser Kultur eine Dynamik der Veränderung in Gang zu setzen“.
Ich kann nicht beurteilen, inwiefern der gute Al-Jabri damit allein steht bzw. wie viele Intellektuelle diesen Ansatz teilen. So weit es meine Beobachtung betrifft – aber etwa auch den „Glauben“ eines Albert Camus in die durchaus gegebene Anknüpfungsfähigkeit arabischer Kultur – scheint mir in diesem Satz ein Kardinalfehler bei ihm zu liegen (oder eben Wunschdenken, die Idee, mit einer arabischen Utopie die historische Kränkung durch das Abgehängtsein und den Kolonialismus überkommen zu müssen). [Ich weiß, dass ich hier unzulässig vereinfache.]
Mit sämtlichen arabischen Intellektuellen, mit denen ich je gesprochen habe (hier und in Frankreich, dazu in diversen Ländern vor allem Nordafrikas, aber auch etwa in den Emiraten), war der allergrößte Teil geradezu durchdrungen von europäischem Denken und Kultur (und das fast mehr als Europäer, denen Vieles ihrer Errungenschaften so selbstverständlich vorkommt, dass sie aufgehört haben, es weiterzudenken und es hochmütig doch stillschweigend als eine Art Weltnorm der Vernunft ansehen).
Der andere Teil war „radikal“ in dem Sinne, dass der Islam als absolut und Container sämtlicher Lösungen und Heilsbringungen angesehen wurde. Politisch war das oft zweideutig. Aber immer galt es als Fixpunkt, dass die Diktaturen und korrupten Systeme – nach m.E. überall am verhasstesten: Ägypten – zu überkommen seinen. Und selbst wenn es um die Wiedereinführung der Scharia ging, war das Werkzeug dahin ein europäisches. Und nicht zuletzt: Auch die „Revolution“ ist seit 1789 etwas Europäisches.
Mir scheint, die Ideen an sich – etwa ja auch der Panarabismus eines Nassers oder eines Gaddhafis – haben im Moment einfach nicht genug starke Wirkungskraft.
Die Bildung des Konsens, dass der Islam an der fehlenden Phase der Aufklärung leidet, hatte nicht wenig Raum und Zeit in den Publikationen nach 9/11 erfordert (und in der breiteren Öffentlichkeit überhaupt erst seit dem). Wenn jetzt dem Islam eine Art Aufklärung durch Averroës ermöglicht werden soll, könnte man fragen, wo Ursache und wo Wirkung ist. Soll jetzt eine Aufklärung aufgedeckt werden, die es eigentlich ja gegeben hat, aber wirkungslos blieb? Wird das Auslassen einer Möglichkeit beklagt? Sicherlich war Averroës für seine Zeit ein außergewöhnlicher Geist. Ihn aber zu einem möglichen Wendepunkt zu stilisieren, erscheint mir sehr fragwürdig.
Was mir nicht ganz klar wird, ist der Abschnitt über die Trennung zwischen Religion und Philosophie. Wenn Averroës als glühender Verehrer Aristoteles Religion und Philosophie methodisch trennen wollte, auf welcher Basis hätte dies geschehen sollen? Wenn sowohl Logik, als auch Mystik ausgeschlossen sind, auf welcher Basis soll dann die »Intention des Gesetzgebers zur Förderung der Tugend« befördert werden?
Allgemein halte ich die zeitgemäße Paraphrasierung eines religionsstifenden Werkes für zweifelhaft. Wenn die christliche Kirche z.B. passend zur ökologischen Bewegung die Bewahrung der Schöpfung als immanentes Ziel aus dem Hut zaubert, frage ich mich auf welcher Basis diese Interpretation stattfinden sollte. Nehmen wir mal an, dass keinem heutigen Menschen diese Fähigkeit zugebilligt wird, bleiben nur Populismus oder Hybris als Erklärung. Ich finde das so fadenscheinig und unmoralisch, dass mir jeder Erklärungsversuch fehlt.
Wenn schon Offenbarung, dann aber richtig könnte man sagen. Also eine Quelle, mehr nicht.
Kursorisches zu den bisherigen Kommentaren
Ob der Versuch Al-Jabris hoffnungslos – ich weiß es nicht, bin allerdings auch eher skeptisch. Tatsächlich trifft man im arabischen Raum als Westler auf vollkommen auf den Westen fixierte Leute (bspw. Geschäftsleute aber auch Intellektuelle), die sich nur noch einige eigene Nischen erhalten haben. Ich weiss allerdings nicht, wo dies nur Fassade ist, d. h. als »notwendige Anpassung« vorgenommen wird.
Natürlich ist der Nasserismus immer noch eine schlummernde Option, obwohl der Panarabismus mangels ökonomischer und auch politischer Unterschiede, die sich in den letzten Jahrzehnten aufgetan haben, schwierig scheint. Es gibt auch keine charismatische Figur, die hier einigend handeln könnte. Beim Lesen von Al-Jabris Buch wurde ich eher an den Kemalismus à la Atatürk erinnert, weil doch vieles auf eine laizistische Trennung nicht nur zwischen Staat und Religion sondern auch zwischen Religion und dem »weltlichen Alltagsleben« herausläuft. In einem kurzen Brief an den Verleger schreibt Al-Jabri u.a., dass er von der aktuellen türkischen Regierung (der Brief stammt von 2005) als Berater konsultiert wurde. Ministerpräsident war damals Gül, obwohl Erdogan wohl schon die Fäden gesponnen hatte. Insofern ist es interessant, weil Erdogan/Gül im Westen eine Abkehr vom Kemalismus unterstellt wird, was sich ja u. a. an der Kopftuchfrage an Universitäten zeigt bzw. zeigen soll.
Al-Jabris Idee geht dahin, nicht dem Westen nachzulaufen um nicht die Fundamentalisten damit zu munitionieren. Da sich jedoch über Jahrhunderte keine nur halbwegs säkularen Strukturen entwickelt haben (höchstens ansatzweise in Jordanien und Marokko, aber auch dort nur oktroyiert), erscheint eine »arabischer dritter Weg« tatsächlich schwierig, zumal wenn er auf diesem intellektuellen Niveau wie von Al-Jabri daherkommt.
Der Verlag schreibt, dass die Bücher Al-Jabris gut verkauft werden und spricht von 7000–8000 Auflagen im arabischen Raum. Verglichen mit der Bevölkerung ist dies natürlich lächerlich, wobei man berücksichtigen muss, dass das Buch dort nicht die Rolle spielt wie bei uns (was wiederum mit dem Lesen zu tun haben könnte).
Al-Jabri will den Koran nicht zeitgemäss paraphrasieren; das wäre ein elementares Missverständnis. Wenn er schreibt, dass die heiligen Texte im Kontext zu lesen sind, so ist das ein Angriff gegen die Hadithe, die Interpretationen vornehmen und diese in den Koran einbauen bzw. eingebaut haben. Generell plädiert er für ein tatsächlich laizistisches System (s. o.).
Gerne gestehe ich, dass mir der Bogen zwischen Averroes und seiner aristotelischen Interpretationen und der Zeitbezug zu heute auch nicht ganz klar ist – was allerdings an mir liegen kann. tatsächlich scheint mir Al-Jabri Averroes als einen Aufklärer hervorzubringen, an dem die arabisch-muslimische Welt sich zu orientieren vermag. Ich möchte nicht soweit gehen und von einer »Krücke« sprechen (hierzu verehrt Al-Jabri Averroes zu sehr), aber er ist ein »Instrument«, der einen dritten Weg aufzeigen soll.
Tatsächlich bleibt die Frage, warum eine Aufklärung, die vor rd. 600 Jahren in der Versenkung verschwunden ist (warum auch immer) heute einen Reiz bieten soll. Womit wir wieder bei den Reizen des Westens angekommen sind...