Wel­ten und Zei­ten VIII

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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Auf­leuch­ten­de De­tails von Pé­ter Ná­das: ein un­ver­gleich­li­ches Buch. Kann man es mit ei­nem an­de­ren ver­glei­chen? Mir kommt Ca­na­le Mus­so­li­ni in den Sinn, der Do­ku­men­tar­ro­man des Ita­lie­ners An­to­nio Pen­n­ac­chi. Bei­de Bü­cher sind nicht pri­mär Fik­ti­on, bei­den geht es um kol­lek­ti­ve und in­di­vi­du­el­le Er­in­ne­rung, bei bei­den ist die Fa­mi­lie des Au­tors in­vol­viert, aber Fa­mi­li­en­ro­ma­ne im her­kömm­li­chen Sinn sind sie auch nicht. Es wur­de be­strit­ten, daß es so et­was wie kol­lek­ti­ve Er­in­ne­rung über­haupt ge­ben kön­ne: Er­in­nern kön­ne man sich nur an et­was, was man selbst er­fah­ren, was ei­nem per­sön­lich zu­ge­sto­ßen sei. Als ich mit dem Ar­gu­ment das er­ste Mal kon­fron­tiert war, schien es mir über­zeu­gend, mach­te mir aber Un­be­ha­gen, weil ich die Er­in­ne­run­gen, die ich aus Bü­chern, von Leh­rern, Groß­el­tern und an­de­ren Per­so­nen, aus den Me­di­en, nicht zu­letzt auch aus der Li­te­ra­tur, ob Fik­ti­on oder nicht, be­zo­gen ha­be, nicht ein­fach als Il­lu­si­on ab­tun und auf­ge­ben woll­te. Na­tür­lich gibt es ein kol­lek­ti­ves Ge­dächt­nis, und al­so auch kol­lek­ti­ve Er­in­ne­rung. Ob sie »zu­trifft«, ist ei­ne an­de­re Fra­ge. Das kol­lek­ti­ve Ge­dächt­nis ist Ver­än­de­run­gen un­ter­wor­fen, wie das in­di­vi­du­el­le Ge­dächt­nis auch. Nur funk­tio­niert das kol­lek­ti­ve Ge­dächt­nis an­ders als das in­di­vi­du­el­le. Aus ein­zel­nen Be­rich­ten wer­den öf­fent­li­che Er­zäh­lun­gen ge­bil­det, de­nen gro­ße Tei­le der Be­völ­ke­rung – nicht aber sämt­li­che In­di­vi­du­en – Glau­ben schen­ken. Wie bei fik­tio­na­len Tex­ten kommt es auch bei hi­sto­ri­schen, das heißt: Ge­schich­te kon­sti­tu­ie­ren­den Tex­ten auf ih­re Glaub­wür­dig­keit an.

Den Auf­leuch­ten­den De­tails eig­net, we­nig­stens für mich, ein ho­her Grad an Glaub­wür­dig­keit, und Pen­n­ac­chis Ca­na­le Mus­so­li­ni auch. War­um? Bei­de sind her­vor­ra­gend er­zählt und ge­schrie­ben. Ein we­sent­li­cher Wert sol­cher Ro­ma­ne liegt in ih­rer Zeu­gen­schaft, was viel­leicht ein bes­se­res Wort ist als »Do­ku­men­ta­ti­on«. Die Ro­man­haf­tig­keit, wohl auch die Not­wen­dig­keit, die Form des Ro­mans zu ver­wen­den, liegt in der Kom­ple­xi­tät des­sen, was es zu be­rich­ten gilt, und auch in der Viel­zahl der Stim­men, die zu Ge­hör ge­bracht wer­den müs­sen. Ná­das geht in sei­ner ti­ta­ni­schen Er­in­ne­rungs­tä­tig­keit von sich selbst aus, von ei­ge­nen Er­in­ne­run­gen, geht dann aber weit über sein in­di­vi­du­el­les Ge­dächt­nis hin­aus und gibt die münd­li­chen Er­zäh­lun­gen zahl­rei­cher Ver­wand­ter wie­der, ar­bei­tet dar­über hin­aus mit Ar­chiv­ma­te­ri­al, Ta­ge­bü­chern u. dgl. und setzt – das merkt man je­dem Satz an – sein ge­wal­ti­ges Vor­stel­lungs­ver­mö­gen ein. Pen­n­ac­chi hat da­ge­gen die Ge­schich­ten, von de­nen er er­zählt, gar nicht selbst er­lebt, ver­mut­lich aber Fa­mi­li­en­mit­glie­der und Be­kann­te be­fragt, Be­rich­te und Bü­cher ge­le­sen, denn er selbst, 1950 ge­bo­ren, war in La­ti­na auf­ge­wach­sen, der Haupt­stadt der Pon­ti­ni­schen Sümp­fe, die un­ter Mus­so­li­ni ur­bar ge­macht wur­den. Im Ver­gleich zu Auf­leuch­ten­de De­tails liest sich Ca­na­le Mus­so­li­ni mehr wie ein Ro­man mit Fi­gu­ren, die in dem ge­sell­schaft­li­chen und land­schaft­li­chen Raum le­ben, den er auf­baut, oh­ne daß man sich dau­ernd die Fra­ge stel­len müß­te, ob das al­les ei­ner Wirk­lich­keit ent­spre­che – ob­wohl die­se Sor­ge, der Wirk­lich­keit ge­recht zu wer­den, si­cher auch ein An­trieb für Pen­n­ac­chi war, viel­leicht so­gar der we­sent­li­che.

Pen­n­ac­chi war in ge­wis­ser Wei­se, durch die Gna­de oder Un­gna­de der spä­ten Ge­burt, zur Fik­ti­on ge­zwun­gen. Ná­das schreibt in sei­nem gro­ßen Er­in­ne­rungs­buch, daß sich über be­stimm­te Din­ge fik­tio­nal nicht schrei­ben las­se. Ich kann mich nun nicht mehr er­in­nern, wel­che Din­ge er nann­te, und be­sit­ze das Buch nicht mehr. No­tiert ha­be ich mir: S. 659f. Viel­leicht will ein Le­ser die­ser Zei­len das (feh­len­de) Zi­tat nach­le­sen. Ná­das selbst ver­wahrt nach ei­ge­nem Be­kun­den sei­ne Lek­tü­ren in ei­ner Art pho­to­gra­phi­schem Ge­dächt­nis; das heißt, er ist im­stan­de, gleich­sam zu se­hen, auf wel­cher Sei­te ein be­stimm­ter Satz steht. Viel­leicht leuch­ten die Sät­ze, auf die er sich kon­zen­triert, aus der Mas­se der Buch­sta­ben her­vor? – Bei mir ist da je­de Mü­he ver­geb­lich.

Ná­das be­schreibt ob­ses­siv je­nen Ort, der ihm am ver­trau­te­sten ist: Bu­da­pest. Das in­ten­si­ve Be­schrei­ben ist im­mer auch ein Ret­ten, denn die Städ­te und al­le an­de­ren Or­te ver­schwin­den, man­che ra­scher, man­che lang­sa­mer. In To­kyo zum Bei­spiel ver­schwin­den gan­ze Stadt­vier­tel auf Re­gie­rungs­be­schluß sehr rasch, eben­so rasch ent­ste­hen die neu­en. In Per­fect Days, dem Film von Wim Wen­ders, sieht man ei­nen al­ten Mann, der grü­belt, was in ei­ner be­stimm­ten Bau­lücke frü­her war, und kei­ne Ant­wort fin­det. Der Film ret­tet ein Stück von To­kyo, und mein Buch To­kyo Frag­men­te tut es auch (ei­ni­ges vom dort Be­schrie­be­nen ist in­zwi­schen auf Nim­mer­wie­der­se­hen ver­schwun­den). Ich ha­be mich schrei­bend an dem ab­ge­ar­bei­tet, was mir gar nicht ver­traut war, da­bei aber ein we­nig ver­traut wur­de. Das kann man auch »An­eig­nung« nen­nen, mit ei­nem in letz­ter Zeit eher ver­pön­ten Wort.

Re­fle­xio­nen wie die­se, wenn sie äs­the­ti­schen Phä­no­me­nen auf die Spur kom­men wol­len, müs­sen sich auch mit durch­schnitt­li­chen Wer­ken be­schäf­ti­gen. Mit Kon­fek­ti­ons­li­te­ra­tur. Wie wird sie ge­macht? Säu­ber­lich und rou­ti­niert kon­stru­iert, im­mer auf den Ein­druck, auf Wir­kung be­dacht. Viel Dia­log, das gibt ei­ne süf­fi­ge Lek­tü­re, wie bei Ha­ru­ki Mu­ra­ka­mi. Dia­log ge­mixt mit klei­nen All­tags­be­ob­ach­tun­gen, von de­nen der Au­tor je­der­zeit ein gan­zes Ar­se­nal be­reit hat. »Leicht zu trin­ken«, sa­gen die Ja­pa­ner, wenn sie aus­drücken wol­len, daß der Wein schmeckt. Die Stadt, in der man lebt, ist in der Re­gel nicht atem­be­rau­bend schön, son­dern su­mi­ya­sui, leicht zu be­woh­nen, dar­auf kommt es an. Al­so, der Wein ist no­mi­ya­sui, Und das Buch yo­mi­ya­sui, leicht zu le­sen. Wo­ge­gen a prio­ri nichts spricht.

Oder doch? Ju­lio Cor­tá­zar echauf­fier­te sich hin und wie­der über den Ty­pus des lec­tor hembra. Das Wort »hembra« wird man in den mei­sten Kon­tex­ten mit »Weib­chen« über­set­zen. Cor­tá­zar meint da­mit, auf Le­ser be­zo­gen, den Ty­pus des pas­si­ven Le­sers, der bei der (Re-)Konstituierung des Ro­mans oder der Er­zäh­lung oder des Ge­dichts nicht ak­tiv mit­wirkt. Le­sen soll nach Cor­tá­zar (und vie­len an­de­ren) ein schöp­fe­ri­scher Akt sein, im Prin­zip nicht an­ders als Schrei­ben. Das kann na­tür­lich mit­un­ter an­stren­gend sein. Daß Cor­tá­zar hier den Frau­en un­recht tut, ist ei­ne Sa­che. Frau­en kön­nen sehr wohl ak­tiv sein und sind es seit Men­schen­ge­den­ken. Im Ge­schlech­ter­ver­hält­nis sind sie die ei­gent­lich krea­ti­ven. Aber hal­ten wir fest: Wün­schens­wert ist ei­ne ak­ti­ve An­eig­nung (!) des äs­the­ti­schen und er­zäh­le­ri­schen Po­ten­ti­als von sprach­li­chen Kunst­wer­ken. Dar­über, daß die­ser Zu­gang in ei­ner Kon­sum­ge­sell­schaft, zu­mal in ei­ner, in der die viel­fäl­tig­sten An­ge­bo­te über­quel­len, aber gleich­zei­tig al­les dem Main­stream nach­läuft, nicht son­der­lich be­liebt ist, muß man sich nicht wun­dern. Selt­sa­mer­wei­se scheint je­ne Epo­che, in der die end­gül­ti­ge Aus­ge­stal­tung des Ka­pi­ta­lis­mus zur Kon­sum­ge­sell­schaft er­folg­te, zu­gleich ei­ne Zeit zu sein, in der das all­ge­mei­ne Pu­bli­kum noch viel eher be­reit war, mit den kul­tu­rel­len An­ge­bo­ten sich wirk­lich aus­ein­an­der­zu­set­zen, statt sie pas­siv zu kon­su­mie­ren. Im­mer wie­der hö­re ich von Leu­ten mei­nes Al­ters: Die­ses Buch, die­ser Film wür­de heu­te wahr­schein­lich gar nicht mehr ver­öf­fent­licht wer­den. Zu­letzt bei ei­ner Ver­an­stal­tung zu Franz Tum­ler, ei­nem schwer ein­zu­ord­nen­den öster­rei­chi­schen Au­tor, der zu­nächst in der Na­zi-Zeit und dann nach dem zwei­ten Welt­krieg ziem­lich er­folg­reich war. Sein Vers­epos Sät­ze von der Do­nau, erst­mals 1965 er­schie­nen, er­fuhr meh­re­re Auf­la­gen, bis weit in die acht­zi­ger Jah­re hin­ein. An­de­rer­seits: Auch An­ne We­ber hat­te mit ei­nem Vers­epos un­längst Er­folg, mit ih­rem Hel­din­nen­epos An­net­te er­hielt sie den deut­schen Buch­preis. Gibt es et­wa im­mer noch ei­ne grö­ße­re Zahl krea­ti­ver Le­ser und Le­se­rin­nen?

Wo­bei zu­ge­ge­be­ner­ma­ßen die Sät­ze über die Do­nau we­ni­ger leicht zu le­sen sind. An­de­rer­seits kann man sich auch fra­gen, ob die Käu­fer des Buchs es auch wirk­lich al­le ge­le­sen ha­ben. Es war eben schick, der­glei­chen im Bü­cher­schrank ste­hen zu ha­ben. Die Bü­cher Frie­de­ri­ke May­röckers schie­nen frü­her nur we­ni­gen zu­gäng­lich zu sein: Au­ßen­sei­ter­li­te­ra­tur, wenn nicht gar: et­was für Spin­ner (sol­che Zu­schrei­bun­gen muß­te ich mir als ju­gend­li­cher Le­ser ge­fal­len las­sen). Heu­te ist May­röcker ei­ne Iko­ne, für ihr letz­tes Buch er­hielt sie neun­zig­jäh­rig den öster­rei­chi­schen Buch­preis. Aber wird sie auch ge­le­sen? Ge­kauft, ja, zu­min­dest im Au­gen­blick des Er­folgs.

Nun gut, so ver­lau­fen die We­ge der Ka­non­bil­dung. An­de­res The­ma: Wie wird ei­ner zum Klas­si­ker? Näch­stes Mal.

Ich fra­ge mich, ob der Groß­ro­man noch ir­gend et­was Zu­kunfts­wei­sen­des hat? Vor zwan­zig Jah­ren hat­te ich noch über Je­li­nek, Lo­bo An­tu­nes etc. ge­schrie­ben, un­ter die­ser Klam­mer: Der gro­ße eu­ro­päi­sche Ro­man. In­zwi­schen sind sol­che Kon­zep­te nicht zu­letzt auch von Mi­gran­ten durch­kreuzt wor­den: von Zu­wan­de­rern, Fremd­sprach­lern, Leu­ten mit un- oder ran­d­eu­ro­päi­schem Back­ground. Ich glau­be, es geht nicht nur mir so: Hat man von den Mon­ster­bü­chern von Lo­bo An­tu­nes ein­mal ein paar ge­le­sen, hat man wirk­lich ge­nug da­von. So viel, so über­quel­lend schrei­ben, an­geb­lich sech­zehn Stun­den am Tag, was soll das? Bei 16 Stun­den Ar­beit kann sich doch kein Mensch mehr kon­zen­trie­ren, da kann nur seich­tes Bla­bla her­aus­kom­men, mei­net­we­gen in tief­grün­di­gem Ge­wand: Oh, seht, die Ab­grün­de der Er­in­ne­rung!

Und war­um sagst du das­sel­be nicht von Pé­ter Ná­das?

Weiß ich nicht. Die Er­in­ne­rungs­tä­tig­keit und das Schrei­ben, das Fest­hal­ten von Ná­das schei­nen mir viel här­ter, nicht so schwam­mig, Ná­das ver­mei­det den Schmerz nicht, suhlt sich nicht in Ver­gan­gen­heit, son­dern hält den Schmerz noch ein­mal aus. Aber ich weiß es wirk­lich nicht. Wahr­schein­lich bin ich un­ge­recht. Un­ver­meid­li­cher­wei­se. Lo­bo An­tu­nes ist jetzt 83 Jah­re alt. Ná­das ein Jahr jün­ger. Bei die­sen Leu­ten wird jah­re­lang von No­bel­preis­ver­dacht ge­schwa­felt. Dann ver­schwin­det die Re­de wie­der von der Bild­flä­che. Der ei­ne oder die an­de­re be­kommt ihn über­ra­schend dann doch.

Ja, und?

Nichts wei­ter. Wir le­ben im Me­di­en­zeit­al­ter.

Bei an­de­ren Im­mer-noch-Groß­ro­man-Schrei­bern sto­ße ich auf die­se Be­lie­big­keit und schein­ba­re Not­wen­dig­keit, doch ir­gend­was hin­zu­schrei­ben, hin­schrei­ben zu müs­sen aufs wei­ße oder schwar­ze Pa­pier, Haupt­sa­che es klingt ir­gend­wie in­ter­es­sant. Rä­son­ne­ments, gan­ze Theo­rien hin­kleck­sen, die nicht Hand und Fuß ha­ben. Tho­mas Mann hat das auch ge­tan, hat sich an En­zy­klo­pä­dien und In­for­man­ten (wie Ador­no) be­dient, aber doch sehr ge­wis­sen­haft, ernst­haft, skru­pel­haft. Da­ge­gen das heu­ti­ge Drauf­lo­schrei­ben, des­sen Er­geb­nis man nach der Lek­tü­re so­gleich ver­gißt. Ei­gent­lich kein Pro­blem des Ro­mans, son­dern des Un­ern­stes der »Avan­cier­ten« des 21. Jahr­hun­derts, egal in wel­chem Gen­re. »Oh­ne Spra­che kein Schmerz. Un­sinn. Oh­ne Spra­che nur das Wort ›Schmerz‹ nicht.« (Mi­cha­el Lentz, Schat­ten­froh, Sei­te 223.) Wenn ein Ge­dan­ke Un­sinn ist, war­um streicht er ihn nicht ein­fach? Je­der Furz bleibt ste­hen, so wach­sen die Bü­cher schnell auf 1000 Sei­ten an. Ich könn­te hier noch an­de­re Na­men nen­nen. Tu ich nicht.

Al­te Weis­heit: Auf das Wie kommt es an. Will hei­ßen: so ku­ri­os, skur­ril, ver­blüf­fend wie mög­lich. Man will ver­blüf­fen und über­bie­tet sich dar­in. Épa­ter le bour­geois. Mais il n’y a plus de bour­geois

Eben­so unfun­diert die post­ko­lo­nia­len »Theo­rien« ei­nes Va­rat­ha­ra­jah. (Die­sen Satz ha­be ich 2021 ge­schrie­ben, un­ge­fähr zwei Jah­re vor dem Ok­to­ber 2023, als die post­ko­lo­nia­len Theo­rien so­wohl in den me­dia­len Vor­der­grund ge­spült als auch ver­mehrt in ih­rer Frag­wür­dig­keit er­kannt wur­den.)

In der Pas­sa­ge über Vi­tru­vi­us, De ar­chi­tec­tu­ra, wird ein »Buch­stein« er­wähnt (zwei­fel­los ei­ne li­te­ra­ri­sche Er­fin­dung, oder ei­ne rea­le Skulp­tur), dann: »wo­bei mich der Buch­stein neu­gie­rig macht, viel­leicht ist ei­ne Stadt­mau­er, ge­baut al­lein aus al­len Bü­chern der Welt, be­son­ders wehr­haft und von här­te­rem Stoff als Stein.« (Schat­ten­froh) Ein Bei­spiel für den Un­ernst, die wil­lent­li­che (?) Al­bern­heit der Groß­spre­cher. Bi­blio­the­ken ha­ben noch nie be­waff­ne­te Fein­de fern­ge­hal­ten. Das weiß der Dich­ter na­tür­lich. Trotz­dem schreibt er es.

Schat­ten­froh ist ein prot­e­i­sches Buch, wie Was­ser, es ver­wan­delt sich stän­dig in al­les, ein un­ge­zü­gel­tes Wer­den, un­greif­bar. Anything goes, ein Ro­man ist (wie) ein Schwein. Ein biß­chen wie Ali­ce in Won­der­land, phan­ta­sti­sche Ge­schich­ten die­ser Art. Aber die phan­ta­sti­schen Ge­schich­ten ha­ben dann doch im­mer ir­gend­ei­nen Halt, ei­nen Kern, Fi­gu­ren, mit de­nen der Le­ser mit­ge­hen kann. Ro­man Bu­che­li, Li­te­ra­tur­kri­ti­ker der NZZ, nennt das »form­los«. Le­wis Ca­roll wird üb­ri­gens von Lentz ge­nannt, in der Bi­blio­gra­phie auf S. 574 (ja ja, wenn ei­nem sonst nichts ein­fällt, stellt man schnell mal ei­ne Li­ste von in den letz­ten Jah­ren ge­le­se­nen Bü­chern zu­sam­men).

Ein an­de­rer Kri­ti­ker, Mat­thi­as Fried­rich, be­strei­tet auf der aka­de­misch grun­dier­ten Web­site Literaturkritik.de die­se Kri­tik und er­kennt an Schat­ten­froh das ge­naue Ge­gen­teil, ei­nen rhe­to­risch ge­wirk­ten, mit Sprach­spiel und Fa­bu­lier­lust an­ge­füll­ten Groß­ro­man. An Bu­che­lis Kom­men­tar be­män­gelt Fried­rich den Man­gel an Ar­gu­men­tier­be­reit­schaft. Sei­ne ei­ge­nen Ar­gu­men­te fin­de ich aber auch nicht so über­zeu­gend, sie sind gar zu – nun ja: rhe­to­risch. Was soll es mit der Lentz’schen Spät­theo­lo­gie in gott­fer­nen Zei­ten auf sich ha­ben? Dar­auf be­kom­me ich auch bei ihm kei­ne Ant­wort.

Daß es um die Zeit, die man mit sol­chen Lek­tü­ren zu­bringt, scha­de ist, schreibt Lentz selbst, Sei­te 549 un­ten. Aber glück­li­cher­wei­se gibt es die smar­te Tech­nik des Quer­le­sens, und die ge­nügt in sol­chen Fäl­len voll­auf!

Wenn vom Spiel­trieb die Re­de ist, gut und schön, seit Fried­rich Schil­ler ist die Er­kennt­nis vom Ho­mo lu­dens, der die Welt ge­stal­tet, mehr oder min­der ge­si­chert. Mitt­ler­wei­le ha­ben uns die di­gi­ta­len Tech­no­lo­gien die Ga­mi­fi­zie­rung sämt­li­cher Le­bens­be­rei­che be­schert, man ent­kommt der Spie­le­rei – dem Spiel­zwang – ja über­haupt nicht mehr. Erst ge­stern ha­be ich in der U‑Bahn ei­nen Va­ter mit Sohn im Kin­der­wa­gen ge­se­hen, der Klei­ne schau­te sich am Smart­phone Zei­chen­trick­fi­gu­ren an, der Gro­ße hat­te das so­li­tä­re Kar­ten­spiel auf sei­nem Dis­play. So kommt man kon­flikt­frei durchs Le­ben, und Mi­cha­el Lentz wärmt die al­te Spiel­theo­rie auf.

Pro­blem: in Schat­ten­froh hat der sinn­li­che Trieb die Vor­herr­schaft, und der zieht je­ne Dau­er­ver­än­de­rung nach sich. Al­les schwankt, bebt, ent­grenzt, fließt, ufert aus, schwappt zu­rück. Wie wer­de ich die ge­ru­fe­nen Gei­ster wie­der los? Egal wie, man schwappt das Buch zu. Das heißt, man schlägt es zu (Ent­schul­di­gung!). Pan­ta rhei. Al­les ufert aus. Da kann man durch­aus von Form­lo­sig­keit spre­chen. Nicht, daß es an Spiel­lust man­geln wür­de, aber Form­ge­ben hat auch mit de­fi­ni­ti­ven Ent­schei­dun­gen, mit Be­schrän­kung zu tun.

Die »Selbst­be­züg­lich­keit«, auch ein­mal ein Stecken­pferd der Avant­gar­den, wird aus­ge­reizt, über­reizt und dann bald lang­wei­lig. Un­ern­ste Theo­lo­gie, un­ern­ste Blas­phe­mie. Auch die Iden­ti­täts­spie­le, ein wei­te­res Stecken­pferd der Avant­gar­den, bis zum Ekel aus­ge­reizt. »Der Drit­te, der ich bin…« Ja ja, schon gut, je­der So­cial-Me­dia-Freak ist heu­te ei­ne zwei­te, drit­te, zehn­te, tau­send­ste Per­son! An­dern­orts spricht man von Cos­play. Das Ich ko­stü­miert sich zum täg­li­chen Fa­sching. »Ego ant­wor­tet, nicht Al­ter« – und ähn­lich mat­te Scher­ze. Al­les aufs Scherz­ni­veau her­ab­ge­zo­gen. Kor­rek­tur (im Scherz): »Ego ant­wor­tet nicht, Oida!«

»Da­bei ist die Vor­stel­lung ›Buch‹ selbst schon ver­al­tet, es ist ei­ne Me­ta­pher für Kom­pakt­heit und Über­blick, für ei­ne über­schau­ba­re Grö­ße, die in der Vor­stel­lung ein klar kon­tu­rier­tes Bild ent­ste­hen läßt.« Al­so, Zu­kunft ist: Un­über­schau­bar­keit. Form­lo­sig­keit. Die­ses »letz­te« Buch weist in die Zu­kunft, ins Un­kon­tu­rier­te. Das ist Lent­zens ei­ge­ner An­spruch!

Nietz­sche zer­schnip­selt – aber wo­zu? Hi­ma desu ka­ra? Weil dem Au­tor fad ist?

Das fre­che Ab­schrei­ben, die Iden­ti­fi­ka­ti­on mit Tho­mas Münt­zer usw. Vor­sätz­li­che Ver­let­zun­gen des Co­py­rights – an­de­re spre­chen be­wun­dernd von In­ter­tex­tua­li­tät. »Sau­ber ab­ge­schrie­ben sei das und mit Si­cher­heit vol­ler Feh­ler, er wer­de das über­prü­fen las­sen«: Nichts leich­ter als das, man goo­gelt sich durch den Wör­ter­dschun­gel. Die­se con­di­ti­on tech­no­lo­gi­que hat ei­nen neu­en Be­ruf her­vor­ge­bracht, den des Pla­gi­ats­jä­gers.

Aber auch das ist ein al­ter, sehr al­ter Hut: Li­te­ra­tur hat im­mer schon ab­ge­schrie­ben. Oh­ne In­ter­tex­tua­li­tät ent­steht gar kei­ne Li­te­ra­tur. Das Co­py­right ist ei­ne Ob­ses­si­on der pro­fit­ori­en­tier­ten Kul­tur­kon­zer­ne, wei­ter nichts. Und der Au­tor des Groß­ro­mans der Held, der ver­schmitzt grin­send mit je­der Sei­te, die er schreibt, den un­glei­chen Kampf auf­nimmt, den er freu­dig ver­liert, weil er ihn nur ver­lie­ren kann und die ei­gent­li­che, die äs­the­ti­sche Wahr­heit oh­ne­hin ganz wo­an­ders ver­han­delt wird.

Schat­ten­froh leibt her­me­tisch ver­schlos­sen. Kein be­deu­ten­der Sinn geht her­aus, kei­ne sinn­haf­te Be­deu­tung geht hin­ein. Sagt das Buch selbst und lacht über die »sie­ben Her­me­neu­ten«, die ab­sur­den Sinn­schürfer.

Skur­ri­li­tät an­de­rer Art: das Ver­blüf­fen­wol­len, die Ver­wand­lung, das blo­ße Spiel bei Yo­ko Ta­wa­da, et­wa in ih­rem Ce­lan-Ro­man. Lie­bens­wür­di­ge Skur­ri­li­tät, wür­de ich sa­gen. Sag ich mal.

»Der Gip­fel der Schön­heit ist sei­ne Zer­stö­rung.« War­um denkt der Au­tor da­bei an Rui­nen und nicht ans Feu­er? We­gen Vi­tru­vi­us viel­leicht, dem al­ten eu­ro­päi­schen Stein­mei­ster. Bei Yu­kio Mishi­ma, Der Gol­de­ne Pa­vil­lon, ist das ein­fach nur rasch da­hin­be­haup­tet, es wird viel­mehr er­zählt. Mit Ge­duld, Struk­tur, Über­zeu­gungs­kraft. Nach­voll­zieh­bar, in­dem sich die Au­ßen- und In­nen­welt der Haupt­fi­gur er­schließt. – Bei Lentz ist es nur Ge­re­de.

Vie­le Ro­ma­ne, Pro­sa ge­ne­rell, im 21. Jahr­hun­dert, ha­ben kei­ne Ar­chi­tek­tur mehr, die Au­toren glau­ben, auf Ar­chi­tek­tur ver­zich­ten zu kön­nen. Sie schrei­ben für den Mo­ment, für den Satz, prot­e­isch wie Was­ser. Lentz, aber auch Cot­ten, so­gar bei Ta­wa­da kommt es mir manch­mal so vor.

Ta­wa­da: die­ser schö­ne Un­ernst, wie bei Cé­sar Ai­ra, dem Ar­gen­ti­ni­er. Wi­told Gom­bro­wicz hat­te das auch, aber schwe­rer, schwer­fäl­li­ger.

Schat­ten­froh, end­lich. Erst ge­gen En­de wird’s halb­wegs in­ter­es­sant, wo der Au­tor auf all das Zi­tie­ren und Theo­lo­gi­sie­ren, die selbst­re­fe­ren­ti­el­len und ana­gram­ma­ti­schen Spie­le­rei­en und die aus­ge­walz­ten Sa­do­mas­ophan­ta­sien ver­zich­tet, ab Sei­te 900 zir­ka, da er­zählt er ein­fach, gut und be­schwingt, über Va­ter, Bru­der und Knei­pen­be­su­cher. Wo­zu das gan­ze Brim­bo­ri­um vor­her? Neun Zehn­tel strei­chen! (hat der Lek­tor nicht ge­ru­fen).

Wie man sich in ei­ne Sack­gas­se schreibt. Viel­leicht ist die Zu­kunft heu­te ei­ne Sack­gas­se. Ge­stern war sie of­fen.

Das Ele­ment des Teu­fels ist nicht das Feu­er, son­dern das Was­ser. Mit dem Weih­was­ser zieht man ihn an.

© Leo­pold Fe­der­mair

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