Wel­ten und Zei­ten IX

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

← Wel­ten und Zei­ten VIII

Das Prot­e­i­sche bei Yo­ko Ta­wa­da. Stän­di­ge Ver­wand­lung. Aber bei ihr er­ge­ben sich im­mer wie­der neue Ge­schich­ten, es ist kein Zer­fled­dern und Zer­hacken von vor­lie­gen­dem hi­sto­ri­schem oder bio­gra­phi­schem Ma­te­ri­al. »Das Bett ver­wan­delt sich in ei­nen Schlit­ten, der von schwar­zen Rat­ten durch ei­ne Wü­ste ge­zo­gen wur­de. Den Rat­ten wuch­sen Flü­gel. Sie wur­den zu Fle­der­mäu­sen.« (Das Bad) Das ist na­tür­lich ein biß­chen gar zu flott, aber so er­ge­ben sich bei ihr die Ge­schich­ten, ei­ne aus der an­de­ren.

Die Mul­ti­per­spek­ti­vik des Ge­sell­schafts­ro­mans. Im­mer wie­der führt ei­nen der Er­zäh­ler oder die Er­zäh­lung zu ei­ner an­de­ren Fi­gur, ei­ner an­de­ren Grup­pe, ei­nem an­de­ren Haus. Wie es Tol­stoi so groß­ar­tig vor­ge­macht hat. Be­äng­sti­gend groß­ar­tig, wenn man dar­an denkt, wie der Ro­man ge­macht ist. Frei­lich, als Le­ser soll­ten wir uns ein­fach der Lek­tü­re über­las­sen, die uns hier- und dort­hin führt. Wir sind an vie­len Or­ten gleich­zei­tig, das heißt na­tür­lich nach­ein­an­der, trotz­dem mit dem Ein­druck der Gleich­zei­tig­keit.

Es ist das Ge­gen­teil des Ich-Ro­mans und al­ler zen­trie­ren­den (ego­zen­tri­schen) Er­zäh­lun­gen, ob in er­ster oder drit­ter oder hun­dert­ster Per­son. Schat­ten­froh, ob­wohl so um­fang­reich, ist Ich-Ich-Ich, die Welt mit­samt ih­ren Pro­ble­men ein Ich-Ab­klatsch. Und ich, mein klei­nes be­schei­de­nes Ich, hat die­sel­be Ten­denz. Ei­nen Ro­man kann ich bis­her nur in die­ser, wie mir scheint, »na­tür­li­chen« (?) Ich-Form schrei­ben. Wenn wir le­ben – so­gar wenn wir schla­fen und träu­men und nach in­nen schau­en –, schau­en wir doch un­wei­ger­lich aus un­se­rem Ich-Fen­ster und kei­nem an­de­ren Fen­ster her­aus. Gut, wir kön­nen uns in an­de­re hin­ein­ver­set­zen, und in Er­zäh­lun­gen tue ich das gern und weid­lich, aber der Ro­man soll­te doch das Le­ben, wie es ist, ab- oder um- oder neu- oder sonst­wie bil­den. Das Le­ben im Ich-Haus mit Blick ins Of­fe­ne – aber un­wei­ger­lich durch das Ich-Fen­ster, mit den ent­spre­chen­den Per­spek­ti­ven und Tö­nun­gen und Ein­schrän­kun­gen.

Ein­wand: Li­te­ra­tur, ins­be­son­de­re ih­re Kö­nigs­dis­zi­plin, ist eben nicht Wie­der­ho­lung von Le­ben. Ist nicht »Ab­bil­dung« oder was im­mer hier an ver­al­te­ten Be­grif­fen her­an­drängt. Wer schreibt, muß sich erst ein­mal – und bis zu­letzt – von sich di­stan­zie­ren. Muß Ab­stand neh­men. Ein an­de­rer wer­den. Vie­le an­de­re. Muß sei­nen Näch­sten ver­ste­hen und auch sei­nen Fern­sten, sei­nen schlimm­sten Feind. Li­te­ra­tur ist per se Ver­wand­lung, al­so prot­e­isch. Nicht Iden­ti­täts­fi­xie­rung. Nicht ein­mal Iden­ti­täts­su­che. Wo­zu Iden­ti­tät su­chen? Man hat sie so­wie­so, sie bleibt dir ein­ge­brannt. Die Kunst be­steht eher dar­in, sie los­zu­wer­den.

Al­so Ich-Ro­man? Ge­sell­schafts­ro­man?

Wie­der­mal bei­des. Das ewi­ge Hin und Her. Auf die Span­nung kommt es an. Geh aus, mein Herz, und su­che Freud: Wo Er, Sie, Es und Wir war, soll Ich wer­den. Und um­ge­kehrt.

Wei­ter­le­sen

He­le­na Ad­ler: Mi­se­re­re

Helena Adler: Miserere

He­le­na Ad­ler: Mi­se­re­re

Oh­ne das klei­ne Nach­wort von Tho­mas Stad­ler sind es noch nicht ein­mal sieb­zig Sei­ten, die­se drei Er­zäh­lun­gen, die den (vor­läu­fi­gen?) Nach­lass der im Ja­nu­ar ver­stor­be­nen öster­rei­chi­schen Schrift­stel­le­rin He­le­na Ad­ler aus­ma­chen und die jetzt bei Jung und Jung, ih­rem Ver­lag, er­schei­nen. Sie wa­ren als Tei­le ei­nes Er­zähl­ban­des vor­ge­se­hen und ei­ne da­von, Mi­se­re­re Me­lan­cho­lia, woll­te He­le­na Ad­ler beim Bach­mann­preis 2023 le­sen, aber da­zu kam es nicht mehr, denn bei der Schrift­stel­le­rin wur­de ein Ge­hirn­tu­mor dia­gno­sti­ziert, der so­for­ti­ge Be­hand­lung ver­lang­te.

Lan­ge soll Ad­ler ge­schwankt ha­ben, Mi­se­re­re Me­lan­cho­lia als Bei­trag aus­zu­wäh­len oder die Er­zäh­lung, die zu Be­ginn ab­ge­druckt wird, Ein gu­ter Lapp in Un­ter­joch, die­ses herr­lich kom­po­nier­tes Schel­men­stück aus der öster­rei­chi­schen Pro­vinz, über ei­nen Jo­sef, von Be­ruf Mau­rer, der auch Hoch­zeits­la­der ist, ei­ne Art Ze­re­mo­nien­mei­ster. Jo­sef hat seit ge­rau­mer Zeit Kopf­schmer­zen, bis­wei­len Gleich­ge­wichts­pro­ble­me und vor ei­ni­gen Wo­chen sei­ne er­sten Be­strah­lun­gen im »Kalk­stein­sar­ko­pharg« er­hal­ten. Er ist »ei­ner, der nicht wi­der­spricht«, sei­ne Auf­ga­ben ge­wis­sen­haft er­füllt, und so wird es auch sein, als die Hoch­zeit des Bür­ger­mei­ster­soh­nes mit ei­ner Ma­ria an­steht, die schwan­ger ist. Jo­sefs Ver­pflich­tun­gen sind klar und doch hat er ne­ben sei­nem Tu­mor »ei­nen Plan« im Kopf. Zu­nächst gibt es aber noch ein paar def­ti­ge Schil­de­run­gen des »Brueghel’schen Hoch­zeit­s­pan­ora­mas«; es ist ei­ne Freu­de, dies zu le­sen, vor al­lem beim zwei­ten oder drit­ten Mal. Und das, ob­wohl man dann die wun­der­schö­ne Poin­te schon kennt, die hier na­tür­lich nicht ver­ra­ten wird.

Zwi­schen den bei­den grö­ße­ren Er­zäh­lun­gen fin­det sich mit Über die Er­de ei­ne noch nicht ein­mal drei­sei­ti­ge, stark ex­pres­sio­ni­sti­sche Skiz­ze von ho­her Kön­ner­schaft, in der ein »Nacht­schat­ten­ge­wächs im Ute­rus der Mut­ter« von ih­rer Tot­ge­burt (oder ist es ei­ne Ab­trei­bung?) er­zählt, die so­fort »un­ter die Er­de« führt und sie »verfault…und doch in al­ler Mun­de« führt.

Und dann das Hu­sa­ren­stück, das Zen­trum die­ses Ban­des, Mi­se­re­re Me­lan­cho­lia, ei­ne Er­zäh­lung, die in Kla­gen­furt für ei­nen hi­sto­ri­schen Mo­ment ge­sorgt hät­te (wie zu­letzt viel­leicht Ma­ja Ha­der­lap, oder, sehr lan­ge zu­rück­lie­gend, Her­mann Bur­ger), ein Text »wie ein Un­glück, das…schmerzt, wie der Tod ei­nes, den wir lie­ber hat­ten als uns«, ei­ne Pro­sa, die man mit En­thu­si­as­mus und De­mut und im Wis­sen um das Schick­sal der Au­torin mit Trau­er und Weh­mut le­sen wird und gleich­zei­tig im­mer wie­der neu an­fängt, gar nicht auf­hö­ren möch­te, im­mer neue Nu­an­cen ent­deckt.

Wes­sen ist nun der Schmerz bei der Lek­tü­re? Ei­ne Ich-Er­zäh­le­rin, sich selbst cha­rak­te­ri­sie­rend als »ab­ar­ti­ge Sün­de­rin«, ist be­ses­sen oder, bes­ser: wird be­herrscht von ei­nem Dä­mon, ei­ner Mi­schung aus Wol­per­tin­ger, Gnom und Me­phi­sto (er zi­tiert im­mer­hin Ho­mer und Dan­te). Er do­mi­niert sie »schlim­mer als der Va­ter und die Mut­ter zu­sam­men«, zwingt sie, ihr Le­ben zu re­ka­pi­tu­lie­ren, auch ih­re Lauf­bahn als Schrift­stel­le­rin, und da­bei stellt sie fest, dass der El­fen­bein­turm ein »Faul­turm« ge­we­sen war, »dort gär­te al­les vor sich hin« und sie wur­de »trä­ge und schwach«. Aus ih­rem Mund er­gießt sich ein­mal »Brack­was­ser«, sie wacht auf »mit dem Meer in mir, das mich ver­wäs­sert«. Kaf­kas Axt fin­det da­nach kein Eis mehr vor, aber zu­gleich be­kennt sie, in den »gro­ßen Tex­ten« da­heim zu sein.

Wei­ter­le­sen

Wel­ten und Zei­ten VIII

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

← Wel­ten und Zei­ten VII

Auf­leuch­ten­de De­tails von Pé­ter Ná­das: ein un­ver­gleich­li­ches Buch. Kann man es mit ei­nem an­de­ren ver­glei­chen? Mir kommt Ca­na­le Mus­so­li­ni in den Sinn, der Do­ku­men­tar­ro­man des Ita­lie­ners An­to­nio Pen­n­ac­chi. Bei­de Bü­cher sind nicht pri­mär Fik­ti­on, bei­den geht es um kol­lek­ti­ve und in­di­vi­du­el­le Er­in­ne­rung, bei bei­den ist die Fa­mi­lie des Au­tors in­vol­viert, aber Fa­mi­li­en­ro­ma­ne im her­kömm­li­chen Sinn sind sie auch nicht. Es wur­de be­strit­ten, daß es so et­was wie kol­lek­ti­ve Er­in­ne­rung über­haupt ge­ben kön­ne: Er­in­nern kön­ne man sich nur an et­was, was man selbst er­fah­ren, was ei­nem per­sön­lich zu­ge­sto­ßen sei. Als ich mit dem Ar­gu­ment das er­ste Mal kon­fron­tiert war, schien es mir über­zeu­gend, mach­te mir aber Un­be­ha­gen, weil ich die Er­in­ne­run­gen, die ich aus Bü­chern, von Leh­rern, Groß­el­tern und an­de­ren Per­so­nen, aus den Me­di­en, nicht zu­letzt auch aus der Li­te­ra­tur, ob Fik­ti­on oder nicht, be­zo­gen ha­be, nicht ein­fach als Il­lu­si­on ab­tun und auf­ge­ben woll­te. Na­tür­lich gibt es ein kol­lek­ti­ves Ge­dächt­nis, und al­so auch kol­lek­ti­ve Er­in­ne­rung. Ob sie »zu­trifft«, ist ei­ne an­de­re Fra­ge. Das kol­lek­ti­ve Ge­dächt­nis ist Ver­än­de­run­gen un­ter­wor­fen, wie das in­di­vi­du­el­le Ge­dächt­nis auch. Nur funk­tio­niert das kol­lek­ti­ve Ge­dächt­nis an­ders als das in­di­vi­du­el­le. Aus ein­zel­nen Be­rich­ten wer­den öf­fent­li­che Er­zäh­lun­gen ge­bil­det, de­nen gro­ße Tei­le der Be­völ­ke­rung – nicht aber sämt­li­che In­di­vi­du­en – Glau­ben schen­ken. Wie bei fik­tio­na­len Tex­ten kommt es auch bei hi­sto­ri­schen, das heißt: Ge­schich­te kon­sti­tu­ie­ren­den Tex­ten auf ih­re Glaub­wür­dig­keit an.

Den Auf­leuch­ten­den De­tails eig­net, we­nig­stens für mich, ein ho­her Grad an Glaub­wür­dig­keit, und Pen­n­ac­chis Ca­na­le Mus­so­li­ni auch. War­um? Bei­de sind her­vor­ra­gend er­zählt und ge­schrie­ben. Ein we­sent­li­cher Wert sol­cher Ro­ma­ne liegt in ih­rer Zeu­gen­schaft, was viel­leicht ein bes­se­res Wort ist als »Do­ku­men­ta­ti­on«. Die Ro­man­haf­tig­keit, wohl auch die Not­wen­dig­keit, die Form des Ro­mans zu ver­wen­den, liegt in der Kom­ple­xi­tät des­sen, was es zu be­rich­ten gilt, und auch in der Viel­zahl der Stim­men, die zu Ge­hör ge­bracht wer­den müs­sen. Ná­das geht in sei­ner ti­ta­ni­schen Er­in­ne­rungs­tä­tig­keit von sich selbst aus, von ei­ge­nen Er­in­ne­run­gen, geht dann aber weit über sein in­di­vi­du­el­les Ge­dächt­nis hin­aus und gibt die münd­li­chen Er­zäh­lun­gen zahl­rei­cher Ver­wand­ter wie­der, ar­bei­tet dar­über hin­aus mit Ar­chiv­ma­te­ri­al, Ta­ge­bü­chern u. dgl. und setzt – das merkt man je­dem Satz an – sein ge­wal­ti­ges Vor­stel­lungs­ver­mö­gen ein. Pen­n­ac­chi hat da­ge­gen die Ge­schich­ten, von de­nen er er­zählt, gar nicht selbst er­lebt, ver­mut­lich aber Fa­mi­li­en­mit­glie­der und Be­kann­te be­fragt, Be­rich­te und Bü­cher ge­le­sen, denn er selbst, 1950 ge­bo­ren, war in La­ti­na auf­ge­wach­sen, der Haupt­stadt der Pon­ti­ni­schen Sümp­fe, die un­ter Mus­so­li­ni ur­bar ge­macht wur­den. Im Ver­gleich zu Auf­leuch­ten­de De­tails liest sich Ca­na­le Mus­so­li­ni mehr wie ein Ro­man mit Fi­gu­ren, die in dem ge­sell­schaft­li­chen und land­schaft­li­chen Raum le­ben, den er auf­baut, oh­ne daß man sich dau­ernd die Fra­ge stel­len müß­te, ob das al­les ei­ner Wirk­lich­keit ent­spre­che – ob­wohl die­se Sor­ge, der Wirk­lich­keit ge­recht zu wer­den, si­cher auch ein An­trieb für Pen­n­ac­chi war, viel­leicht so­gar der we­sent­li­che.

Wei­ter­le­sen

Ste­fan Gey­er: Der Stadt­wan­de­rer

Stefan Geyer: Der Stadtwanderer

Ste­fan Gey­er:
Der Stadt­wan­de­rer

»Denn tat­säch­lich ist es nicht mög­lich, län­ge­re Zeit zu ge­hen und zu den­ken in glei­cher In­ten­si­tät, ein­mal ge­hen wir in­ten­si­ver, aber den­ken nicht so in­ten­siv, wie wir ge­hen, dann den­ken wir in­ten­siv und ge­hen nicht so in­ten­siv wie wir den­ken…«, so Oeh­ler, Tho­mas Bern­hards Prot­ago­nist aus Ge­hen, aber da ist je­mand, der da­mit nichts an­fan­gen kann, und das ist Ste­fan Gey­er. Er dockt eher bei Ro­bert Wal­ser, Carl Se­lig oder Erich Käst­ner an, be­kennt, einst von ei­nem Buch des Nor­we­gers Er­ling Kag­ge zum Ge­hen an­ge­regt wor­den zu sein und be­schäf­tigt sich mit der »Spa­zier­gangs­wis­sen­schaft« von Lu­ci­us Bur­ck­hardt.

»Ich ge­he, um zu ge­hen«, so lau­tet der ober­ste Grund­satz der Geh-Phi­lo­so­phie des ehe­ma­li­gen Suhr­kamp-Mit­ar­bei­ters, der mehr die Vo­ka­bel des Spa­zie­rens als die des Wan­derns be­vor­zugt, auch wenn es schon mal 20 km sind, die da in und um Frank­furt her­um zu­rück­ge­legt wer­den. Und das un­ab­hän­gig vom Wet­ter; manch­mal reg­net es und ge­ra­de das mo­ti­viert ihn, auch, wenn er viel­leicht mit ei­nem Ka­ter auf­wacht. Dann fin­det sich bei ihm in den so­zia­len Netz­wer­ken die fast me­di­ta­ti­ve Ein­tra­gung à la »Schu­he schnü­ren, her­um­ge­hen, Kopf lüf­ten« (im Som­mer viel­leicht noch er­gänzt um ein »Hut auf«) – nicht sel­ten, wenn man sel­ber froh ist, bei die­sem Wet­ter nicht vor die Tür zu müs­sen.

Der Ex­trakt sei­ner Spa­zier­gän­ge liegt nun un­ter dem Ti­tel Der Stadt­wan­de­rer vor, fünf­zehn Tex­te mit Schil­de­run­gen durch be­kann­tes und un­be­kann­tes Ter­rain, quer­stadt­ein durch Stra­ßen­zü­ge, Klein­gar­ten­an­la­gen, Ein­kaufs­pas­sa­gen, Feld- und Wie­sen­we­ge, ir­gend­wann zwi­schen En­de 2021 und der un­mit­tel­ba­ren Ge­gen­wart. Wer wie ich als ge­le­gent­li­cher Buch­mes­sen­be­su­cher nur das Mes­se­ge­län­de und die Ge­gend um den zur ex­ter­ri­to­ria­len Dro­gen­sze­ne mu­tier­ten ver­wahr­lo­sten Frank­fur­ter Haupt­bahn­hof kennt, soll ei­nes Bes­se­ren be­lehrt wer­den.

Wei­ter­le­sen

Jan­ko Ferk: Mit dem Blei­stift in der Hand

Janko Ferk: Mit dem Bleistift in der Hand

Jan­ko Ferk: Mit dem Blei­stift in der Hand

Der Kärnt­ner Jan­ko Ferk ist ein Tau­send­sas­sa: Rich­ter (im Ru­he­stand), Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­ler mit Schwer­punkt Franz Kaf­ka, Über­set­zer, In­itia­tor ei­nes Le­xi­kons Kärnt­ner slo­we­ni­scher Li­te­ra­tur, Au­tor von Sach­bü­chern Rei­se­füh­rern, No­vel­len, Ro­ma­nen, Es­says und Li­te­ra­tur­kri­ti­ken. Letz­te­re wer­den in un­re­gel­mä­ssi­gen Ab­stän­den in ei­ner Art Sam­mel­band im LIT-Ver­lag zu­sam­men­ge­fasst. Durch den Ti­tel Mit dem Blei­stift in der Hand (ein Hand­ke-Zi­tat) wur­de ich auf den drit­ten, ak­tu­el­len Band sei­ner Re­zen­si­ons­samm­lung auf­merk­sam, der ins­ge­samt 33 Kri­ti­ken von 2018 bis 2021 so­wie zwei Ori­gi­nal­bei­trä­ge ent­hält.

Ferks Tex­te er­schei­nen haupt­säch­lich in öster­rei­chi­schen Me­di­en, ins­be­son­de­re sind hier die »Wie­ner Zei­tung«, »Die Pres­se« und das »Li­te­ra­tur­haus« aus Wien zu nen­nen, wo­bei im Nach­weis des Buchs lei­der der Web­sei­ten-Um­zug des Li­te­ra­tur­hau­ses nicht be­rück­sich­tigt wur­de. Die Kri­ti­ken ha­ben fast al­le »zei­tungs­ge­rech­tes« Kurz­for­mat, sel­ten sind es mehr als drei Sei­ten. Er­staun­li­cher­wei­se fin­det sich trotz­dem noch ge­nü­gend Platz für die gen­der­ge­mä­ße Dop­pel­nen­nung; mein Fa­vo­rit: »Nicht­kärnt­ne­rin­nen und Nicht­kärnt­ner.« Die Be­schäf­ti­gung mit dem Rechts­an­walt, Schrift­stel­ler und Do­zen­ten Al­fred Jo­han­nes Noll fällt aus­führ­li­cher aus, wo­bei es hier auch um fünf Wer­ke geht, die Ferk hym­nisch fei­ert (und zu­gibt, ei­nes der Bü­cher nur quer­ge­le­sen zu ha­ben).

Fünf Tex­te be­schäf­ti­gen sich di­rekt oder in­di­rekt mit Franz Kaf­ka, was nicht ganz ver­wun­dert, gilt doch Ferk als »Kaf­ko­lo­ge« von Rang. Hier ist er in sei­nem Ele­ment, por­trai­tiert grif­fig Ma­ria-Lui­sa Ca­pu­to-Mayrs Ver­dien­ste um die Kaf­ka-For­schung, spürt den Kaf­ka-Schwe­stern nach, kri­ti­siert die im Sam­mel­band von Orth­mann und Schul­ler »an den Haa­ren her­bei­ge­zo­ge­nen« Auf­sät­ze und be­merkt süf­fi­sant, dass in Rei­ner Stachs Kaf­ka von Tag zu Tag ein Hin­weis auf die ähn­lich ge­la­ger­te Chro­nik von Chris Bez­zel aus dem Jahr 1975 fehlt. Zur ju­ri­sti­schen Fra­ge, wem denn nun Kaf­kas Nach­lass ge­hö­re, po­si­tio­niert sich der Ferk ein­deu­tig (was für ei­nen Ju­ri­sten be­mer­kens­wert ist).

Wei­ter­le­sen

Jen­ny Er­pen­beck: Kai­ros

Jenny Erpenbeck: Kairos

Jen­ny Er­pen­beck: Kai­ros

An­fang des Jah­res konn­te man in ei­nem bri­ti­schen Ar­ti­kel ei­ni­ges über die Ur­sa­chen des Be­deu­tungs­ver­lusts der deut­schen Ge­gen­warts­li­te­ra­tur le­sen. Ein Ar­gu­ment war, dass es kaum noch zeit­ge­nös­si­sche deutsch(sprachig)e Au­toren ge­be, die über­setzt wür­den (ge­meint war na­tür­lich die Über­set­zung ins Eng­li­sche). Nach­träg­lich stellt sich her­aus, dass min­de­stens ei­ne deut­sche Au­torin über­se­hen wur­de, die seit Jah­ren flei­ßig über­setzt wird. Der eng­li­sche Wi­ki­pe­dia-Ar­ti­kel weist 22 Spra­chen aus, was höchst be­acht­lich ist. Na­he­zu al­le Pro­sa von und ih­re vier Thea­ter­stücke sind zeit­nah ins Eng­li­sche über­setzt wor­den.

Die Au­torin heißt Jen­ny Er­pen­beck, wur­de 1967 in Ost-Ber­lin ge­bo­ren und ge­wann vor ei­ni­gen Wo­chen für ih­ren 2021 er­schie­ne­nen Ro­man Kai­ros den In­ter­na­tio­nal Boo­ker-Pri­ze. Es ist nicht so, dass Er­pen­beck in Deutsch­land un­be­kannt wä­re – die Rei­he ih­rer Prei­se und Aus­zeich­nun­gen ist an­sehn­lich, dar­un­ter der Tho­mas-Mann- und der In­ter­na­tio­na­le Ste­fan-Heym-Preis. 2015 stand Er­pen­beck auf der Short­list des Deut­schen Buch­prei­ses. Ehr­li­cher­wei­se muss man aber zu­ge­ben, dass das Feuil­le­ton bis­her nicht un­be­dingt sehn­süch­tig ih­re neu­en Ro­ma­ne und Er­zäh­lun­gen er­war­tet hat. Die Aus­nah­me ist Vol­ker Wei­der­mann, der seit min­de­stens vier Jah­ren re­gel­mä­ßig er­klärt, dass Er­pen­beck bald den Li­te­ra­tur­no­bel­preis er­hal­ten wird. An­son­sten sind die Re­zen­sio­nen zu­meist wohl­wol­lend bis freund­lich; Ver­ris­se gab es sel­ten. Die auf­merk­sam­keits­för­dern­den und all­seits an­ge­se­he­nen deut­schen Li­te­ra­tur­prei­se hat Er­pen­beck al­ler­dings noch nicht be­kom­men.

Gilt al­so aber­mals, dass die Pro­phe­tin nichts im ei­ge­nen Land gilt? Und ist es ein deut­sches Spe­zi­fi­kum, dass ei­ne Au­torin, die in­ter­na­tio­nal Er­fol­ge vor­wei­sen kann, nicht ge­fei­ert, son­dern mit selbst­ge­fäl­li­ger Ar­ro­ganz, in der auch ei­ne ge­wis­se Por­ti­on Neid mit­schwin­gen dürf­te, be­dacht wird? So ver­fass­te Il­ko-Sa­scha Ko­wal­c­zuk ei­nen dif­fus an­kla­gen­den, fast zor­ni­gen Text, der ver­mut­lich ent­stand, weil sich Er­pen­beck in In­ter­views über ih­re man­geln­de li­te­ra­ri­sche An­er­ken­nung in Deutsch­land be­klagt hat­te (den Bun­des­ver­dienst­or­den der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land er­hielt sie im­mer­hin be­reits). Es wür­den, so soll sich Er­pen­beck ge­äu­ßert ha­ben, zu we­ni­ge ost­deut­sche Ju­ro­ren in den Ju­rys sit­zen. Ko­wal­c­zuk be­kennt mit gön­ner­haf­ter At­ti­tü­de, er le­se Er­pen­becks »Schrei­be« »nicht un­gern«, um dann sei­ne Vor­be­hal­te mit Er­pen­becks So­zia­li­sa­ti­on in der DDR zu be­grün­den. Et­li­che »ost­deut­sche« Preis­trä­ger wür­den zu­dem der The­se wi­der­spre­chen, dass es nicht an den Ju­ry-Be­set­zun­gen lie­gen wür­de und sug­ge­riert zwi­schen den Zei­len, dass die Zu­rück­hal­tung mit ei­ner ge­wis­sen »Ost­deutsch­tü­me­lei« in Er­pen­becks Li­te­ra­tur zu tun ha­ben könn­te, ei­ner »Sehn­sucht nach dem Ge­stern«. Dass auch an­de­re preis­ge­krön­te Au­toren aus der ehe­ma­li­gen DDR gibt, die ost­al­gisch schrei­ben, wird nicht the­ma­ti­siert.

Er­pen­beck sei in ei­ne kom­mu­ni­sti­sche Fa­mi­lie hin­ein­ge­bo­ren wor­den, El­tern und Groß­el­tern hät­ten für DDR-Ver­hält­nis­se in ei­ner »Par­al­lel­welt« Pri­vi­le­gi­en ge­habt, so Ko­wal­c­zuk, der auch noch gleich ei­ge­ne Er­leb­nis­se ein­bringt, die ei­nen gro­ßen Kon­trast zu de­nen der Er­pen­becks dar­stel­len. Weil Er­pen­becks DDR-Bild nicht dem (wohl be­gründ­ba­ren) Ver­dam­mungs­ur­teil ent­spricht und sich die Au­torin ent­ge­gen den Usan­cen des Li­te­ra­tur­be­triebs über man­geln­de Wert­schät­zung be­klagt hat, sieht sich ein se­riö­ser Au­tor ge­nö­tigt, ei­ne Schrift­stel­le­rin – ja, was?, zu maß­re­geln? Es geht al­so nicht um Li­te­ra­tur, son­dern um ei­ne ab­stru­se Form von Sip­pen­haft. Grund ge­nug für mich, der au­ßer Er­pen­becks Text vom Bach­mann­preis 2001 noch nie et­was von ihr ge­le­sen hat­te, jetzt Kai­ros, das aus­ge­zeich­ne­te Buch, zu le­sen.

Wei­ter­le­sen

Wel­ten und Zei­ten VII

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

← Wel­ten und Zei­ten VI

Es gibt ein Er­zäh­len oh­ne Fik­ti­on. Selbst­ver­ständ­lich. Wahr­schein­lich ist Fik­ti­on die spä­te­re Er­fin­dung, er­zählt wur­de seit Men­schen­ge­den­ken. Man kann nicht le­ben oh­ne Er­zäh­lung, des­we­gen brauch­te Ro­bin­son sei­nen Frei­tag. Aber viel­leicht trifft die­se Aus­sa­ge über­haupt nicht zu und bei­des, Er­zäh­len und Fik­ti­on, ist gleich­ur­sprüng­lich. Wenn er­zählt wird, wird auch ge­lo­gen, selbst dann, wann der Er­zäh­ler nichts als die Wahr­heit im Sinn hat.

All die vie­len zeit­ge­nös­si­schen Er­zäh­ler, die nichts er­fin­den oder vor­ge­ben, nichts zu er­fin­den. Die Rei­se­be­richt­erstat­ter, Re­por­ter, Bio­gra­phen, Do­ku­men­tar­schrift­stel­ler. Hi­sto­ri­ker wie Ju­les Mi­che­let, die Ge­schich­te in Ge­schich­ten er­zäh­len. Die Den­kend-Er­zäh­len­den, Es­say­isten à la Mon­tai­gne. In un­se­ren Brei­ten, ich nen­ne nur zwei, aus der sel­ben Schul­klas­se (in Salz­burg) her­vor­ge­gan­gen, recht un­ter­schied­li­chen Na­tu­rells: Pe­ter Ste­phan Jungk und Karl-Mar­kus Gauß.

Da­ge­gen je­ne, die sich ver­krampft um Fik­ti­on be­mü­hen. Als wä­ren Er­fin­dun­gen bes­ser als die Wirk­lich­keit. Da­ge­gen das – auch nicht sehr tief­grün­di­ge – Bon­mot, die Wirk­lich­keit sei phan­ta­sti­scher als die Pro­duk­te der Phan­ta­sie. »Kannst ned er­fin­den.«

Jean Paul, noch ein­mal: zu prall sein Sack – der Sprach­sack näm­lich, wo die Rea­li­en eher spär­lich sind. Zu we­nig Lee­re in den Er­zäh­lun­gen; zu we­nig Luft, zu we­nig Schwei­gen. Zu ba­rock? Die wah­ren Er­zäh­ler sind – Bo­la­ño sprach von Luft­poe­ten, ich möch­te, im hie­si­gen Kon­text, sa­gen: – die wah­ren Er­zäh­ler sind Aereo­nar­ra­to­ren. Wie hei­ßen sie? Ei­ni­ge ha­be ich schon ge­nannt.

Hier noch ein Na­me: Die Er­zäh­lun­gen des Dich­ters Dy­lan Tho­mas sind Schnitz­wer­ke der Sprach­kunst, und zu­gleich las­sen sie, nein, schaf­fen sie Luft­räu­me gleich je­nen Leer­stel­len in ei­ner gu­ten fran­zö­si­schen Ba­guette. Das könn­te ein Ide­al des Er­zäh­lens sein.

Wei­ter­le­sen

Zur gü­ti­gen Aus­lö­schung

Delfi 02

Del­fi 02

Es muss­te ja so kom­men. Nach der an­spre­chen­den Aus­ga­be 01 mit zwei her­aus­ra­gen­den Tex­ten wirkt die zwei­te Aus­ga­be von Del­fi eher ma­ger. Wo­bei man in­di­rekt beim The­ma die­ses Hef­tes ist: Fleisch. Fleisch sei, so klin­gelt es im Edi­to­ri­al der Her­aus­ge­ber Fat­ma Ay­d­emir, Hen­g­ameh Yag­hoo­bi­fa­rah, En­ri­co Ip­po­li­to und Miryam Schell­bach, »in Wort und Sub­stanz fos­si­les Be­geh­ren. Es ist Ver­füh­rung und Pro­jek­ti­ons­flä­che.« Fleisch ist dem­nach nicht nur »ein Stück Le­bens­kraft« (© CMA-Wer­bung 1967ff), son­dern »schafft Sinn­lich­keit«. Und wei­ter heißt es, leicht heid­eg­gernd: »Fleisch ist…die Leit­me­ta­pher für den wo­gen­den, tä­ti­gen, sor­gen­den Leib der Be­ru­hi­gung, wir drücken uns an Brü­ste und le­gen den Kopf auf Schö­ßen ab.« Wie pro­gres­siv Kitsch for­mu­liert sein kann.

Mir hin­ge­gen fiel zu­nächst nur der Film von Rai­ner Er­ler aus 1979 mit dem Ti­tel Fleisch ein, in­dem es um Or­gan­han­del ging, und mit ihm be­gann die sehr lan­ge kol­por­tier­te Fa­ma vom ge­kid­napp­ten Mann aus dem Au­to oder vor dem Su­per­markt, der Stun­den spä­ter mit ei­ner gro­ßen Nar­be und oh­ne ei­ne Nie­re in ir­gend­ei­ner Ka­schem­me auf­wacht. Und nun al­so Fleisch als Mot­to, was, wenn man es nicht wüss­te, wäh­rend der Lek­tü­re ei­ni­ger­ma­ßen über­rascht. Zwar gibt es hier und da ei­ni­ge fleisch­li­che, zu­meist ho­mo­ero­ti­sche Epi­so­den (sie sind meist ähn­lich lang­wei­lig wie die Schil­de­run­gen he­te­ro­se­xu­el­len Ak­tio­nen in der deut­schen Li­te­ra­tur; wer will, kann das bei Rai­ner Mo­ritz nach­schla­gen), aber die wir­ken zum Teil ein biss­chen pflicht­schul­dig, et­wa in der Ge­schich­te um den Tod ei­ner Groß­mutter (Bur­çin Te­tik mit Se­hers Gar­ten) und den Evo­ka­tio­nen der Er­zäh­le­rin von ih­ren di­ver­sen Som­mern in Groß­mutter-Gar­ten. War­um frau dort nicht nä­her drauf- oder bes­ser noch: auf­ge­schaut hat? Die­se Groß­mutter hat mich so­fort in­ter­es­siert; sie starb viel zu früh. Scha­de.

Wei­ter­le­sen