Heinz Strunk:
Zauberberg 2
Jede Zeit kreiert ihre Erzählungen und Romane, die entweder zu Klassikern werden, in Vergessenheit geraten oder irgendwann mit Emphase vom Klassikerthron gestoßen werden. Und wenn die zeitgenössische Literatur wieder einmal droht, in eine Gleichförmigkeit zu versinken, blühen die Revivals, Variationen von altbekannten, einst bereits als unzeitgemäß denunzierte Romane und deren Motive, transformiert in die Gegenwart. Einer der Romane der Zeit scheint Der Zauberberg von Thomas Mann zu sein, fast genau vor einhundert Jahren erschienen. Der Publizist Jens Nordalm erklärte kürzlich in einem fulminanten Text, warum man gerade heute den Zauberberg lesen muss. Inmitten all der Aufgeregtheiten entdecken Literaten plötzlich den Eskapismus als letzten Ausweg. Es ist der Wunsch nach Abgeschiedenheit von der zunehmend als kompliziert wahrgenommenen, überfordernden Welt mit der Möglichkeit der Überwindung von Lebens- und/oder Liebeskrisen. Olga Tokarczuk verlagerte 2023 ihr Zauberberg-Setting nach Niederschlesien, Timon Karl Kaleyta schickte seinen letzten Romanhelden in ein Sanatorium, Monika Zeiner ließ in Hans-Castorp-Manier das schwarze Schaf einer Industriellenfamilie am Ort seiner Kindheit seine Jugenderinnerungen auffrischen und Norman Ohler verfasste einen Klimawandel-Roman mit Zauberberg-Elementen (damit jeder darauf kommt, ist er im Titel schon erwähnt).
Und jetzt auch noch Heinz Strunk, der vor einigen Jahren bereits aus Thomas Manns Tod in Venedig einen Sommer in Niendorf häkelte. Sein neuestes Buch heißt Zauberberg 2. Der Held heißt Jonas Heidbrink, ist 1986 geboren. Er fährt mit 36 Jahren und rund 180 kg Gepäck in eine bis zum Schluss namenlos bleibende Klinik, 4 Stunden 52 Minuten Fahrzeit entfernt in der Nähe eines Sumpfgebiets in Mecklenburg-Vorpommern (womöglich in der Nähe von Botho Strauß’ Wohnsitz – Strunk ist Strauß-Aficionado). Heidbrinks Kontrakt läuft auf dreißig Tage, der Aufenthalt ist mit 823 Euro am Tag nicht gerade billig, aber er kann es sich leisten, weil sein Start-up wurde vor einiger Zeit aufgekauft wurde. Zwar bedeutet dies nach Lage der Dinge, das er ausgesorgt hat, aber die depressiven Zustände, bereits vor der Start-up-Gründung vorhanden, während der Zeit in dieser Firma jedoch ruhten, traten jetzt wieder hervor: Schlaflosigkeit, Lustlosigkeit gepaart mit Angst- und Panikzuständen.
Das 25 m²-Zimmer ist zunächst ein bisschen kalt, ansonsten oberer Standard. Die Mahlzeiten (»Deutsches Soulfood«) werden in einem Speisesaal eingenommen, der Tisch, an dem man sitzt, wird zugeteilt. Es gibt Aufnahmeuntersuchungen – zunächst die psychologische, dann die medizinische. Zu seiner eigenen Überraschung werden ein Nierentumor und ein Melanom festgestellt. Letzteres wird noch am gleichen Tag der Entdeckung entfernt. Am Ende wird für beide Fälle Entwarnung gegeben.
Heidbrink findet schwer Kontakt, was auch daran liegt, dass er meist alleine an seinem Sechsertisch sitzt und die Mahlzeiten serviert bekommt. Der Tag ist mit den Mahlzeiten, Untersuchungen und Therapie- und Gruppenterminen gut strukturiert. Ab und an gibt es einen »Kulturabend«. Eine Spielerunde der »Patienten« (die bevorzugte Bezeichnung der Bewohner) gibt es auch, aber Heidbrink kann kein Doppelkopf spielen.
Der Roman plätschert. Immerhin: In der Beschreibung der Heidbrink begegnenden Ärzte, Klinikangestellten und Patienten läuft Heinz Strunk zu großer Form auf. Mal ist jemand »so mager, dass sie wie ihr eigenes Röntgenfoto aussieht«, oder, eine andere Teilnehmerin, fällt durch ihre »spargelige, friedlich-freundlich-vegan/vegatarische« Erscheinung auf. Uwe aus Dormagen ist dick und »triefäugig«, sein Körper hat »Ähnlichkeit mit einer Kirchenglocke«, Simons Stirn »ist von einem Spiralnebel entzündlicher Pusteln übersät«. Weibliche Wangen haben die Durchsichtigkeit in »Sushi-Qualität«, ein anderes Gesicht sieht aus wie ein »Trockenpilz«, ein »liegendes Fünfeck« oder es »glänzt wie eine kalte Bratkartoffel«. Doreen hat Tränensäcke »wie geschmolzenes Kerzenwachs«. Große Phantasie braucht man bei der Vorstellung eines Körpergeruchs, »als hätte man Bleistiftspäne destilliert«.
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