Mar­len Ho­brack: Schrö­din­gers Grrrl

Marlen Hobrack: Schrödingers Grrrl

Mar­len Ho­brack:
Schrö­din­gers Grrrl

Ma­ra Wolf ist zu Be­ginn von Mar­len Ho­bracks Ro­man Schrö­din­gers Grrr 23 Jah­re alt. Der Ti­tel ist Ma­ras Pseud­onym auf In­sta­gram; ih­re Fas­zi­na­ti­on zur po­pu­lä­ren Deu­tung des Quan­ten­phy­sik-Pro­blems »Schrö­din­gers Kat­ze« ist der­art, dass sie schon auf der er­sten Sei­te ih­ren Brief­ka­sten zu »Schrö­din­gers Gift­box« er­klärt – mit all den Rech­nun­gen, Mah­nun­gen und Be­hör­den­schrei­ben, die re­al sind und zu­gleich ir­re­al er­schei­nen, so­bald der Ka­sten ge­schlos­sen ist. Ma­ra Wolf ist mit 15 als Ein­ser-Schü­le­rin von der Schu­le ge­gan­gen (war­um, er­fährt der Le­ser ge­gen En­de) und ver­bringt ih­ren Tag mit ei­nem merk­wür­di­gen Ka­ter, den sie »Psy­ka­ter« nennt, in ei­ner klei­nen Woh­nung in Dres­den. Der Va­ter ist tot, ih­re Mut­ter führt ei­ne Art Mes­sie-Da­sein; ge­le­gent­li­che Be­su­che der Toch­ter er­schöp­fen sich in ge­gen­sei­ti­gem Ein­an­der­vor­bei­re­den beim Fern­seh­kon­sum und der Fest­stel­lung des Mot­ten­be­falls bei den Le­bens­mit­teln der Mut­ter. Ma­ras Le­ben ist »ein täg­li­ches Schei­tern«. Es sind Zei­chen ei­ner ve­ri­ta­blen All­tags­de­pres­si­on, die zeit­wei­se von bor­der­li­ne­ähn­li­chen Eu­pho­rien ab­ge­löst wer­den. Aber die De­pres­sio­nen sind das ein­zi­ge, was Ma­ra Wolf tat­säch­lich ge­hört, wie sie keck be­tont und da­her Hil­fe ab­lehnt.

Ihr Traum ist ei­ne In­fluen­cer­kar­rie­re bei In­sta­gram, aber vor­erst ist sie eher sel­ber Kun­din und lei­det dar­un­ter, die an­ge­sag­ten Makeups aus Geld­man­gel nicht kau­fen zu kön­nen. Die bil­li­ge­ren Sa­chen klaut sie bis­wei­len mit ei­nem cle­ve­ren Trick aus dem Su­per­markt. Alarm ist bei ihr, wenn sie sich zu ei­nem Ter­min beim Job­cen­ter ein­zu­fin­den hat, aber Frau Kra­mer ist ver­ständ­nis­voll und um­gäng­lich. Be­son­ders be­sorgt ist Ma­ra um ihr Aus­se­hen; je­de Haut­un­rein­heit stürzt sie in Re­pa­ra­tur­ar­bei­ten; Deh­nungs­fal­ten ver­set­zen sie in Schrecken. Das Kör­per­ge­wicht möch­te sie der­art re­gu­lie­ren, dass sie von Grö­ße 38 auf 36 kommt; die Becken­kno­chen zei­gen ihr ir­gend­wann an, dass das Ziel er­reicht hat und dem­nächst un­ter­schrei­ten wird.

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»Ich kann in den Tod ge­hen«

Amina Handke: Mein Satz

Ami­na Hand­ke: Mein Satz

1966 sorg­te der da­mals 24jährige öster­rei­chi­sche Schrift­stel­ler Pe­ter Hand­ke mit dem Thea­ter­stück Pu­bli­kums­be­schimp­fung für Fu­ro­re. We­ni­ge Mo­na­te zu­vor hat­te er auf der Ta­gung der »Grup­pe 47« in sei­ner be­rühmt ge­wor­de­nen Ein­las­sung von der »Be­schrei­bungs­im­po­tenz« ei­ne kon­tro­ver­se Kri­tik am »Neu­en Rea­lis­mus« der deutsch(sprachig)en Nach­kriegs­li­te­ra­tur ge­übt, wel­che Spra­che nur be­nut­ze, »um zu be­schrei­ben, oh­ne daß aber die Spra­che sel­ber et­was rührt«. Hand­ke at­tackier­te in dem Thea­ter­stück mit po­le­misch-skur­ri­len Aus­sa­gen von vier Schau­spie­lern das gän­gi­ge, für ihn über­kom­me­ne, in Kon­ven­tio­nen fest­stecken­de Mo­dell des Dra­ma­tur­gie­thea­ters (und, ge­gen En­de, auch der Re­zep­ti­on des sich sa­tu­riert dem Kon­sum hin­ge­ben­den Pu­bli­kums). In­mit­ten der Em­pö­rung hat­te man über­se­hen, dass er das Thea­ter nicht zer­stö­ren, son­dern re­ani­mie­ren woll­te.

Zwei Jah­re spä­ter, am 11. Mai 1968, fand die Ur­auf­füh­rung von Kas­par an zwei Or­ten zu­gleich statt; ein Kom­pro­miss, um die bei­den um Hand­kes Stücke kon­kur­rie­ren­den Re­gis­seu­re Claus Pey­mann (Frank­furt) und Gün­ter Büch (Ober­hau­sen) zu­frie­den zu stel­len. Mehr als die Pu­bli­kums­be­schimp­fung ent­sprach Kas­par Hand­kes li­te­ra­ri­scher So­zia­li­sa­ti­on in der avant­gar­di­sti­schen »Gra­zer Grup­pe« (be­kannt auch als »Fo­rum Stadt­park«), in der neue li­te­ra­ri­sche For­men ge­sucht und die Spra­che der zeit­ge­nös­si­schen Li­te­ra­tur ra­di­kal be­fragt wur­de.

Trotz der weit­hin be­kann­te­ren Pu­bli­kums­be­schimp­fung dürf­te Kas­par je­nes Thea­ter­stück Hand­kes sein, wel­ches bis­her am mei­sten von Kri­ti­kern, Li­te­ra­tur- und Thea­ter­wis­sen­schaft­lern, Re­gis­seu­ren und Schau­spie­lern re­zen­siert, ge­deu­tet, ana­ly­siert, in­sze­niert und ge­spielt wur­de. Es ist da­her ein dop­pel­tes Wag­nis, wenn die Künst­le­rin Ami­na Hand­ke sich in ei­nem Film die­ses Stückes mehr als 50 Jah­re da­nach an­nimmt. Zum ei­nen ist der Au­tor ihr Va­ter und die Haupt­rol­le, die »Kas­pe­ra«, wur­de be­setzt mit ih­rer Mut­ter, der Schau­spie­le­rin Libgart Schwarz, die im Film als »Ich« auf­tritt. Und zum an­de­ren fragt man sich, wel­che neu­en Be­trach­tungs­wei­sen sich durch den Film er­ge­ben wer­den. Am En­de, so­viel sei ver­ra­ten, ist man ziem­lich über­rascht.

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Uwe Neu­mahr: Das Schloss der Schrift­stel­ler

Uwe Neumahr: Das Schloss der Schriftsteller

Uwe Neu­mahr: Das Schloss der Schrift­stel­ler

Ich ge­ste­he, dass ich den Ti­tel von Uwe Neu­mahrs neue­stem Buch, Das Schloss der Schrift­stel­ler, we­nig ge­lun­gen fin­de. Es klingt mir zu sehr nach Puz­zle­spiel, Dis­ney-World und Sans­sou­ci. Ge­meint ist das Schloss Fa­ber-Ca­stell in Stein (Post­an­schrift Nürn­berg), in dem vom 20. No­vem­ber 1945 an Kor­re­spon­den­ten, Jour­na­li­sten und eben auch Schrift­stel­ler aus al­len mög­li­chen Län­dern (au­ßer aus Deutsch­land – sie hat­ten Ein­tritts­ver­bot) mehr schlecht als recht in ei­nem »Pres­se­la­ger« leb­ten. Sie wa­ren zu je­ner ein­zig­ar­ti­gen Ver­an­stal­tung an­ge­reist, die die un­fass­ba­ren Ver­bre­chen des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus auf­klä­ren und ih­re (noch le­ben­den) Haupt­prot­ago­ni­sten rich­ten soll­ten. Schließ­lich zeigt der Un­ter­ti­tel die rich­ti­ge Rich­tung: Nürn­berg ’46 – Tref­fen am Ab­grund.

Die Al­li­ier­ten hat­ten das Schloss der Blei­stift­fa­mi­lie man­gels an­de­rer Mög­lich­kei­ten (die Stadt war schwer bom­bar­diert wor­den) re­qui­riert. Da die Ame­ri­ka­ner den Pro­zess in ih­rer Be­sat­zungs­zo­ne ab­hal­ten woll­ten, wur­de die am 18. Ok­to­ber in Ber­lin be­gon­ne­ne Be­weis­auf­nah­me nach Nürn­berg ver­legt. Der neue Ort be­saß ei­ne ho­he Sym­bol­kraft – hat­ten doch die Na­zis hier ih­re pom­pös-kit­schi­gen Par­tei­ta­ge ab­ge­hal­ten.

Zeit­wei­se wa­ren 250 Pres­se­ver­tre­ter in der Stadt, 100 da­von aus den USA. Die Un­ter­brin­gung war kom­pli­ziert, die hy­gie­ni­schen Zu­stän­de grenz­wer­tig. Bis zu zehn Per­so­nen teil­ten sich ein Zim­mer. Neu­mahr zi­tiert aus Brie­fen von Er­nest Ce­cil Dea­ne (1911–1991) an sei­ne Frau. Dea­ne war als As­si­stent des ame­ri­ka­ni­schen Pres­se­of­fi­ziers er­ste An­lauf­stel­le und fun­gier­te als Fak­to­tum für die Da­men und Her­ren der Pres­se. Die Be­schwer­den lie­ßen nicht auf sich war­ten; die Jour­na­li­sten wa­ren, wie Neu­mahr an­merkt, oft ge­nug Bes­se­res ge­wöhnt. Wer konn­te und von den Ame­ri­ka­nern zu­ge­las­sen wur­de, ging ins Nürn­ber­ger Grand Ho­tel am Haupt­bahn­hof.

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Hof­fen, Er­in­nern, Se­hen

Esther Kinsky: Rombo

Esther Kin­sky: Rom­bo

Vor ei­nem Jahr ver­öf­fent­lich­te Esther Kin­sky den po­ly­pho­nen Ro­man Rom­bo, der von den ver­hee­ren­den Erd­be­ben im Mai und Sep­tem­ber im ita­lie­ni­schen Fri­aul, na­he dem da­ma­li­gen Ju­go­sla­wi­en und heu­ti­gen Slo­we­ni­en, er­zählt. Der Ti­tel er­klärt sich durch ein Zi­tat von 1838, in dem »Rom­bo« als Be­zeich­nung für das Ge­räusch an­ge­ge­ben wird, wel­ches sich kurz vor ei­nem Erd­be­ben »aus dem rol­len­den To­ne ei­ner an­ein­an­der hän­gen­den Rei­he von klei­nen Ex­plo­sio­nen« ein­stellt. Be­mer­kens­wert an Kin­skys Ro­man ist der Dua­lis­mus in­ter­mit­tie­ren­der Land­schafts- und Na­tur­er­zäh­lun­gen ei­ner­seits und den Fi­gu­ren­re­den von sie­ben Prot­ago­ni­sten an­de­rer­seits (fünf Frau­en und zwei Män­ner), die ihr Schick­sal wäh­rend und nach der Ka­ta­stro­phe und, ge­gen En­de, auch Kind­heits­er­in­ne­run­gen be­rich­te­ten und ihr Le­ben über­blick­ten.

Da­bei bleibt die Spra­che in den zum Teil be­tö­ren­den Land­schafts­er­zäh­lun­gen streng bei den Din­gen, die sich los­ge­löst von mensch­li­chen Wahr­neh­mun­gen und Ka­te­go­rien von sel­ber er­zäh­len und da­bei ei­nen kon­zi­sen geo­mor­pho­lo­gisch-bo­ta­ni­schen Über­blick auf­fä­chern, der bis hin­ein in die mensch­li­chen lo­ka­le Na­tur- und Sa­gen­my­stik reicht. Zu­wei­len schim­mert ei­ne Schick­sals­me­ta­pho­rik her­vor, et­wa wenn vom »Kalk­stein­bo­den« als dem »Bo­den der Ar­mut« die Re­de ist. Di­ver­gie­rend da­zu die Er­in­ne­run­gen der Dorf­be­woh­ner (de­ren Schil­de­run­gen sich teil­wei­se über­schnei­den, weil sie al­le aus der Re­gi­on um Ven­zo­ne stam­men), die sich im Lau­fe des Ro­mans zu fa­mi­liä­ren Auswanderer‑, Da­blei­ber- und Ver­rückt­wer­der-Ge­schich­ten aus­wei­ten und die ein­sti­gen und zu­künf­ti­gen Hoff­nun­gen der Prot­ago­ni­sten re­flek­tie­ren. Nach­träg­lich ist es emp­feh­lens­wert, die­se zwei Bü­cher – Na­tur- und Mär­chen­welt und Er­in­ne­run­gen – se­pa­rat zu le­sen.

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Bin­ge­ner / Weh­ner: Die Mos­kau
Con­nec­tion

Bingener / Wehner: Die Moskau Connection

Bin­ge­ner / Weh­ner: Die Mos­kau Con­nec­tion

Seit dem Über­fall Russ­lands auf die Ukrai­ne im Fe­bru­ar 2022 steht die deut­sche Po­li­tik un­ter Schock. Be­glei­tet wird er mit dem Be­griff der »Zei­ten­wen­de«, der we­ni­ge Ta­ge nach dem Kriegs­be­ginn von Bun­des­kanz­ler Scholz als Pfla­ster ver­schrie­ben und in­zwi­schen bis zur Un­kennt­lich­keit stra­pa­ziert wur­de. Deutsch­land lie­fert der Ukrai­ne Waf­fen zur Selbst­ver­tei­di­gung, wo­bei die Sprün­ge von Hel­men bis hin zum Kampf­pan­zer bin­nen ei­nes Jah­res be­acht­lich sind. Die Bun­des­wehr soll wie­der in­stand­ge­setzt wer­den, die En­er­gie­ver­sor­gung durch Russ­land wur­de ge­stoppt, Pu­tins Re­gime mit Sank­tio­nen be­legt und dies im Ver­bund mit der EU und den USA. So­viel Ei­nig­keit war sel­ten.

Au­ßer in ei­ni­gen Do­ku­men­ta­tio­nen in Spar­ten­fern­seh­sen­dern er­fährt man je­doch in den Leit­me­di­en we­nig dar­über, wie es zu der deut­schen (und teil­wei­se auch eu­ro­päi­schen) Ab­hän­gig­keit von Russ­lands Gas und Öl und der Fehl­ein­schät­zung von Pu­tin über­haupt kom­men konn­te. Das liegt zum ei­nen dar­an, dass so­wohl die Uni­ons­par­tei­en, die mit An­ge­la Mer­kel 16 Jah­re die Re­gie­rungs­chefin stell­ten als auch der Fast-Dau­er­ko­ali­ti­ons­part­ner SPD (zwi­schen 1998 und 2021 re­gier­te die SPD bis auf vier Jah­re min­de­stens mit) we­nig In­ter­es­se an Auf­ar­bei­tun­gen ih­rer po­li­ti­schen Ver­säum­nis­se und Blind­hei­ten ha­ben. In den Me­di­en be­schränkt man sich zu­meist auf die Ak­ti­vi­tä­ten von Ex-Kanz­ler Ger­hard Schrö­der. Des­sen bis­wei­len drei­ste Vor­teils­nah­me durch di­ver­se, gut do­tier­te Po­sten in rus­si­schen En­er­gie­un­ter­neh­men scheint den mei­sten Jour­na­li­sten zu ge­nü­gen, wäh­rend sie bei­spiels­wei­se An­ge­la Mer­kel nach wie vor hof­fie­ren. Und in­wie­fern an­de­re ak­ti­ve SPD-Po­li­ti­ker noch lan­ge Zeit nach Schrö­ders Kanz­ler­schaft, teil­wei­se bis heu­te, mit ih­rer Ge­stal­tungs­macht in bis­wei­len du­bio­se Russ­land­ge­schäf­te ver­wickelt wa­ren bzw. sind, wird kaum er­schöp­fend the­ma­ti­siert.

Da kommt das Buch Die Mos­kau Con­nec­tion der bei­den FAZ-Kor­re­spon­den­ten Rein­hard Bin­ge­ner und Mar­kus Weh­ner ge­ra­de Recht. Als gün­sti­ges Pa­per­back ver­legt, fin­det es, wie der Ver­kaufs­zah­len zei­gen, re­ges In­ter­es­se beim dur­sti­gen Pu­bli­kum. Da­bei schrei­ben die Au­toren zum größ­ten Teil nur auf, was man ir­gend­wann auf den hin­te­ren Sei­ten der Zei­tung zwar schon ein­mal ge­le­sen, aber im Al­ler­lei an­de­rer Mel­dun­gen rasch wie­der ver­ges­sen hat. In der akri­bi­schen Er­fas­sung des­sen, was sich seit 1998 in Be­zug auf En­er­gie­po­li­tik und Russ­land er­eig­net hat, wer­den die Ab­grün­de deut­lich sicht­bar. Dass sie sich fast aus­schließ­lich mit der SPD be­schäf­ti­gen, ist Pro­gramm; in ei­nem klei­nen Ka­pi­tel wer­den die Ver­strickun­gen der Uni­on er­wähnt, u. a. vom ver­stor­be­nen Phil­ipp Miß­fel­der und CSU-Po­li­ti­kern wie Ram­sau­er und Glos. Die Kanz­le­rin kommt in dem Ma­ße vor, wie sie sich in die SPD-Po­li­tik ein­schal­tet bzw. die­se wal­ten lässt.

Den voll­stän­di­gen Text »Kom­plett ver­rech­net« bei Glanz und Elend le­sen.

Ben­ja­min von Stuck­rad-Bar­re: Noch wach?

Benjamin von Stuckrad-Barre: Noch wach?

Ben­ja­min von Stuck­rad-Bar­re: Noch wach?

Der pas­sen­de­re Ti­tel für die­sen Ro­man fin­det sich ganz hin­ten im Buch: »ei­ne män­ner­i­ge Män­ner­ge­schich­te« sei das, so So­phia, je­ne Re­dak­teu­rin, der sich der na­men­los blei­ben­de Schrift­stel­ler-Er­zäh­ler an­nimmt (nicht so, wie Sie das viel­leicht ver­ste­hen!). Der hat näm­lich seit fünf­zehn Jah­ren die­sen Freund, al­so ei­nen ech­ten Freund, so ei­ner mit dem man, wie Lo­ri­ot in der Zoo­hand­lung, durch Dick und Dünn geht, was sich dar­an zeigt, dass sie ein ein­ge­rahm­tes Ori­gi­nal­re­zept von Gott­fried Benn be­sit­zen, je­nem Dich­ter und »Arzt für Haut- und Ge­schlechts­krank­hei­ten«, ei­ne Re­li­quie, die je nach see­li­scher Ver­fasst­heit zwi­schen den bei­den hin- und her­wan­dert. Und na­tür­lich ha­ben sie auch ein Lied, ein ge­mein­sa­mes Lied, Keep on Dancing von Pa­rov Stelar, und das tan­zen sie manch­mal zu­sam­men und dann ver­sinkt der Kopf des Er­zäh­lers im Jackett des Freun­des und er »weint Creme auf sein Hemd« und der Freund strei­chelt dann sei­nen Kopf.

Der eben­falls na­men­los blei­ben­de Freund ist der Chef ei­nes Fern­seh­sen­ders, so ein deut­scher Fox-News-»Brüllsender«, ei­ne wah­re »Hetz­ma­nu­fak­tur«, mit bös­ar­ti­gen Schlag­zei­len im Stun­den­takt, oh­ne Rück­sicht auf Pri­vat­sphä­ren. Der Freund be­schäf­tigt dort die­sen »wut­maß­li­chen Chef­re­dak­teur«, ei­nen ehe­ma­li­gen Kriegs­re­por­ter, der »prak­tisch al­les durf­te«, wie »rum­schrei­en, bloß­stel­len, ver­höh­nen, het­zen« und sich im Krieg mit »links­grün­ver­sifft« be­fin­det, und so wei­ter.

Es ist un­mög­lich, den Ro­man Noch wach? von Ben­ja­min von Stuck­rad-Bar­re oh­ne die Be­haup­tung, dass es sich um ei­nen »Schlüs­sel­ro­mans« han­de­le, zu le­sen. Schon ist man rein­ge­fal­len. Und da­mit man wirk­lich al­les GANZ GENAU so ver­steht, wie es der Er­zäh­ler möch­te, sind ge­fühlt ein Vier­tel des Ro­man­tex­tes in Ver­sa­li­en, par­don: GROSSBUCHSTABEN, ge­setzt – das gibt beim Le­sen so ein Sit­com-Ge­fühl, wenn die künst­li­chen La­cher für das als blö­de ein­ge­schätz­te Pu­bli­kum ein­ge­blen­det wer­den, da­mit sie wis­sen, wann es lu­stig ist, denn an­son­sten wür­de man ver­mut­lich schnell ein­nicken und ir­gend­wann vom Le­bens­part­ner ge­fragt wer­den, ob man noch wach ist (der Ti­tel des Ro­mans ist al­ler­dings an­ders ge­meint).

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Ma­ria Lass­nig: Am Fen­ster klebt noch ei­ne Fe­der

Maria Lassnig: Am Fenster klebt noch eine Feder

Ma­ria Lass­nig: Am
Fen­ster klebt noch ei­ne Fe­der

Wenn man über das Le­ben der öster­rei­chisch-kärnt­ne­ri­schen Ma­le­rin und Gra­phi­ke­rin Ma­ria Lass­nig (1919–2014) liest, kommt ei­nem das Wort der »spä­ten Ent­deckung« in den Sinn – und dies in je­der Hin­sicht. Erst 1980, mit 61 Jah­ren, er­hielt sie ei­nen Ruf an die Uni­ver­si­tät und war da­mit die er­ste Frau, die an ei­ner deutsch­spra­chi­gen Hoch­schu­le Ma­le­rei un­ter­rich­te­te. Auch ihr Werk fand erst spät grö­ße­re An­er­ken­nung. In den 1980ern ver­trat sie Öster­reich auf der Bi­en­na­le, 1982 und 1997 war sie auf der do­cu­men­ta zu se­hen, 1985 gab es die er­ste gro­ße Ma­le­rei-Re­tro­spek­ti­ve in Wien. Wäh­rend der 1990er Jah­ren nah­men ih­re Aus­stel­lun­gen auch au­ßer­halb des deutsch­spra­chi­gen Rau­mes zu (Am­ster­dam, Pa­ris und, kurz vor ih­rem Tod, New York). Ge­schätzt wur­de Las­sig vor al­lem we­gen ih­rer so­ge­nann­ten »Kör­per­be­wusst­seins­bil­der«, die sich jeg­li­cher Ka­te­go­ri­sie­rung ver­wei­gern.

Dem Ver­le­ger Lo­j­ze Wie­ser ge­lang es nun in Zu­sam­men­ar­beit mit der Ma­ria Lass­nig Stif­tung aus den zahl­rei­chen schrift­li­chen Do­ku­men­ten Lass­nigs (in der Haupt­sa­che No­tiz­bü­cher) ei­ne, wie es im kur­zen Nach­wort heißt, »knap­pe Text­aus­wahl« mit dem schö­nen Ti­tel Am Fen­ster klebt noch ei­ne Fe­der (ein Zi­tat aus dem Buch) zu pu­bli­zie­ren. Mit­her­aus­ge­ber sind Bar­ba­ra Mai­er und Pe­ter Hand­ke.

Letz­te­rer kommt – fast möch­te man sa­gen: na­tür­lich –in den No­ta­ten vor. »Hand­kevor­rat« war zwar von ihr er­wünscht, und sie be­wun­der­te, wie er »al­les bis­her Un­be­schrie­be­ne« auf­stö­bert, aber als er das Wort »phan­ta­sie­ren« ver­wen­det, dann glaub­te sie ihm nicht – au­ßer »wenn er über den Cé­zan­ne spricht«. Lass­nig pfleg­te, wie sie schrieb, ei­ne »un­glück­li­che Lie­be« zur Li­te­ra­tur, was sie nicht da­von ab­hielt, ei­ne wun­der­ba­re Hom­mage an Paul Ce­lan zu ver­fas­sen und ih­re Lie­be zu »I. B.« (In­ge­borg Bach­mann) zu be­kun­den. Witt­gen­stein ver­or­te­te sie in die »Op-Art«.

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Fe­lix Au­stria

Klaus Kastberger: Alle Neune

Klaus Kast­ber­ger:
Al­le Neu­ne

Klaus Kast­ber­ger, der in die­sem Jahr 60 Jah­re alt wird, be­kam un­längst (ver­dien­ter­ma­ßen) den Öster­rei­chi­sche Staats­preis für Li­te­ra­tur­kri­tik zu­ge­spro­chen. Nie­mand, der sich mit deutsch­spra­chi­ger Ge­gen­warts­li­te­ra­tur be­schäf­tigt, kann auf Dau­er dem queck­silb­ri­gen Geist Kast­ber­gers ent­kom­men. Als or­dent­li­cher Pro­fes­sor der Karl-Fran­zens-Uni­ver­si­tät in Graz steht er nicht nur am Ka­the­der, son­dern ku­ra­tiert Le­sun­gen, Dis­kus­si­ons­ver­an­stal­tun­gen und Sym­po­si­en, mo­de­riert zu­sam­men mit Da­nie­la Stri­gl ei­ne Li­te­ra­tur­show mit dem zu­kunfts­wei­sen­den Ti­tel Ro­bo­ter mit Senf, be­gibt sich in die Nie­de­run­gen der Li­te­ra­tur­kri­tik, stellt und ent­facht li­te­ra­risch-äs­the­ti­sche De­bat­ten und sitzt in di­ver­sen Ju­rys. Recht­zei­tig zur Leip­zi­ger Buch­mes­se mit ih­rem Schwer­punkt Öster­reich prä­sen­tiert der Son­der­zahl-Ver­lag in ei­nem schick de­sign­ten Buch (die Hap­tik des Co­vers!) zehn Auf­sät­ze zur öster­rei­chi­schen Li­te­ra­tur un­ter dem zünf­ti­gen Ti­tel Al­le Neu­ne. Das Pa­ra­do­xon wird rasch auf­ge­löst. Neun öster­rei­chi­sche Au­torin­nen und Au­toren wer­den werk­ge­ne­tisch skiz­ziert. Ein wei­te­rer Text wid­met sich ei­ner (in­for­mel­len) Au­toren­grup­pie­rung. Die Aus­wahl der Schrift­stel­ler ori­en­tiert sich an den For­schungs­schwer­punk­ten des Au­tors in den letz­ten Jah­ren. Er­schie­nen sind die Tex­te zwi­schen 2009 und 2021 in Bü­chern, Fest­schrif­ten oder als Sym­po­si­ums­pu­bli­ka­tio­nen. Für Al­le Neu­ne wur­den sie noch ein­mal »gründ­lich über­ar­bei­tet«, was man auch an den An­mer­kun­gen sieht, die als ro­te Mar­gi­na­li­en ge­setzt wur­den, für die in die Jah­re ge­kom­me­ne Le­ser wie ich zwar ei­ne Lu­pe be­nö­ti­gen, aber das macht nichts.

Der Band be­ginnt leb­haft mit dem »letzte[n] Mo­hi­ka­ner des sechs­fa­chen Dak­ty­lus«, An­ton Wild­gans. Die­ser sei zu Recht ver­ges­sen, so spot­tet Kast­ber­ger und am En­de des Auf­sat­zes glaubt man ihm. Man lernt, dass Wild­gans’ Kunst un­ter an­de­rem dar­in be­stand, »aus der Plat­ti­tü­de ei­ne At­ti­tü­de zu ma­chen«. Die ur­teil­stüt­zen­de Re­fe­renz auf Karl Kraus, der Wild­gans nicht moch­te, er­scheint hin­ge­gen nicht zwin­gend, denn Kraus moch­te à la longue nie­man­den (und vice ver­sa). In­ter­es­san­ter ist die Be­schäf­ti­gung mit Ri­chard Bil­lin­ger, zu dem Kast­ber­ger zu­sam­men mit Da­nie­la Stri­gl 2014 ein Sym­po­si­um ver­an­stal­te­te. Zu­nächst als ex­pres­sio­ni­sti­scher Ly­ri­ker be­gon­nen und sich im Um­feld von Carl Zuck­may­ers »Henn­dor­fer Kreis«, ent­schied er sich in den 1930er Jah­ren zum »Reichs­bau­ern­dich­ter« der Na­zis zu wer­den. Bil­lin­ger wur­de 1932 mit dem Kleist-Preis aus­ge­zeich­net und schrieb nicht nur dem Blut und Bo­den-Den­ken ver­haf­te­te, be­lieb­te Stücke son­dern auch Dreh­bü­cher, wie zum Bei­spiel für Veit Harlans Die gol­de­ne Stadt von 1942.

Kast­ber­ger zi­tiert aus ei­ner »Ho­me­sto­ry« des spä­te­ren Feuil­le­ton­chefs und Chef­re­dak­teurs der Wo­chen­zei­tung Die Zeit, Jo­sef Mül­ler-Marein, der 1937 ne­ben sei­nen Tex­ten zum Völ­ki­schen Be­ob­ach­ter für ein Me­di­um mit dem Na­men Lo­kal An­zei­ger den kör­per­li­chen Hü­nen Ri­chard Bil­lin­ger be­such­te und sei­ne Dich­ter-In­sze­nie­run­gen ver­brei­te­te. Spä­te­stens mit Zuck­may­ers Ein­ord­nun­gen im so­ge­nann­ten Ge­heim­re­port, ist deut­lich, dass Bil­lin­ger ein »par­fü­mier­ter Groß­städ­ter« war, »der in sei­nem Werk den Bau­ern nur spiel­te«. Dass Bil­lin­ger bei den Na­zis re­üs­sie­ren konn­te, war ei­gent­lich un­ge­wöhn­lich. Denn er war 1935, zwei Jah­re vor Mül­ler-Mareins In­au­gu­ra­ti­on, we­gen sei­ner Ho­mo­se­xua­li­tät für meh­re­re Wo­chen in­haf­tiert und ins Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger Dach­au ver­bracht wor­den. Ei­ni­gen Funk­tio­nä­ren war er des­we­gen dau­er­haft ein Dorn im Au­ge, aber sei­ne Po­pu­la­ri­tät schüt­ze ihn und er er­hielt in den 1940er Jah­ren wei­te­re Prei­se, be­vor er dann nach dem Krieg dem Ver­ges­sen über­ge­ben wur­de.

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