Transversale Reisen durch die Welt der Romane
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Die Entstehung eines Schriftstellers. Er oder sie entdeckt für sich die Literatur, mit Hilfe von Eltern oder Großeltern oder der Bibliothek des Vaters oder der Schulbibliothek, meist frühzeitig, liest Bücher, sondert sich ab, versucht selbst zu schreiben, man braucht dazu nur einen Bleistift, Papier, eine Schreibmaschine. Talentiert oder stümperhaft, in jedem Fall ehrgeizig, wird sie oder er langsam besser (außer Rimbaud, der war von Anfang an – aber nur für drei Jahre – der, der er war), eine Zeitschrift oder Zeitung oder heute er selbst, im Internet, veröffentlicht seinen ersten Text.
Ganz anders Thomas Bernhard. In seiner Jugend schwer erkrankt, mit dem Überlebenskampf ausgelastet, dann Musik, Gesang, Journalismus. Eigenes Schreiben relativ spät, und zwar Gedichte. Die wurden veröffentlicht, im Otto Müller Verlag. Wir schreiben 1957, 1958, im damaligen Kontext klingen seine Gedichte etwas altertümlich, sie riechen nach Georg Trakl (dessen Werk ebenfalls im Otto Müller Verlag erschien). In hora mortis, ein barocker Titel, lateinisch wie damals noch die katholische Liturgie, wie sie in Österreich in zahllosen Barockkirchlein durchgeführt wurde. Und dann plötzlich Frost, 1963, etwas ganz anderes, ein Roman, der alle stilistischen, thematischen und motivischen Eigenschaften aufweist, die bis zuletzt das Werk Bernhards kennzeichneten. Das Interessante, für mich jedenfalls: Bernhard hat das lyrische Frühwerk hinter sich gelassen. Es ist, als hätte Frost eine andere Person geschrieben als der Verfasser von In hora mortis. Zwischen beiden Phasen gibt es keinen Zusammenhang.
Wie so oft regt sich auch hier ein: And yet… Und doch. Denn erstens bleibt der Tod, die Vergänglichkeit, Hinfälligkeit, Nichtigkeit des menschlichen Lebens und Treibens Bernhards thematische Quelle – ich könnte auch sagen: Erfahrungsquelle –, die überreich sprudelte. Auch seine spätere Komik, auf dem Theater wie beim Erzählen, bezieht daraus ihre Kraft. Und zweitens hat Bernhard auf radikalste Weise dichterische Techniken auf seine Prosa übertragen: Antithetik, obsessive Wiederholung, verbunden mit Steigerung (die Rhetorik nennt das »amplificatio«). Im wesentlichen also genau jene sprachstilistischen Verfahren, die Roman Jakobson dem zuordnete, was er als »poetische Funktion« des Sprechens definierte.
Für mich sind bis heute jene Romane und Erzählungen am anziehendsten – oder literarisch am stärksten, falls es denn noch erlaubt ist, ästhetische Wertungen übers Geschmäcklerische hinaus zu äußern –, die aus dem solcherart definierten Poetischen schöpfen, sich diesem immer wieder nähern und eine erzählend poetische Sprache kreieren. (»Kreieren« wie create, auf deutsch »schöpfen«; die alten Griechen, die uns immer noch nachhängen, sprachen von »Poiesis«.) Natürlich gibt es auch die Kunst des Erzählens als solche, es gibt hervorragende, schöpferische mündliche Erzähler, die nie auf die Idee kämen, etwas vom Erzählten niederzuschreiben. Aber auch in diesen spontanen Erzählungen, die sich um Sprachliches gar nicht bewußt kümmern, wirkt und werkt die poetische Funktion. Es ist nicht nur Sprache, nicht nur Rhetorik, die dabei zur Anwendung kommen, es ist auch ein Hantieren und Komponieren mit erzählerischen Einheiten, Blöcken, kleineren narrativen Elementen. Das alles wurde längst bemerkt und erforscht, im akademischen Raum mit oft wahnwitziger, abgehobener Begrifflichkeit (Gérard Genette!), die mit dem tatsächlichen Erzählen nicht mehr viel zu tun hat und den Erzählern selbst, sollten sie je davon Kenntnis erhalten, nichts nützt.
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