Transversale Reisen durch die Welt der Romane
Das Proteische bei Yoko Tawada. Ständige Verwandlung. Aber bei ihr ergeben sich immer wieder neue Geschichten, es ist kein Zerfleddern und Zerhacken von vorliegendem historischem oder biographischem Material. »Das Bett verwandelt sich in einen Schlitten, der von schwarzen Ratten durch eine Wüste gezogen wurde. Den Ratten wuchsen Flügel. Sie wurden zu Fledermäusen.« (Das Bad) Das ist natürlich ein bißchen gar zu flott, aber so ergeben sich bei ihr die Geschichten, eine aus der anderen.
Die Multiperspektivik des Gesellschaftsromans. Immer wieder führt einen der Erzähler oder die Erzählung zu einer anderen Figur, einer anderen Gruppe, einem anderen Haus. Wie es Tolstoi so großartig vorgemacht hat. Beängstigend großartig, wenn man daran denkt, wie der Roman gemacht ist. Freilich, als Leser sollten wir uns einfach der Lektüre überlassen, die uns hier- und dorthin führt. Wir sind an vielen Orten gleichzeitig, das heißt natürlich nacheinander, trotzdem mit dem Eindruck der Gleichzeitigkeit.
Es ist das Gegenteil des Ich-Romans und aller zentrierenden (egozentrischen) Erzählungen, ob in erster oder dritter oder hundertster Person. Schattenfroh, obwohl so umfangreich, ist Ich-Ich-Ich, die Welt mitsamt ihren Problemen ein Ich-Abklatsch. Und ich, mein kleines bescheidenes Ich, hat dieselbe Tendenz. Einen Roman kann ich bisher nur in dieser, wie mir scheint, »natürlichen« (?) Ich-Form schreiben. Wenn wir leben – sogar wenn wir schlafen und träumen und nach innen schauen –, schauen wir doch unweigerlich aus unserem Ich-Fenster und keinem anderen Fenster heraus. Gut, wir können uns in andere hineinversetzen, und in Erzählungen tue ich das gern und weidlich, aber der Roman sollte doch das Leben, wie es ist, ab- oder um- oder neu- oder sonstwie bilden. Das Leben im Ich-Haus mit Blick ins Offene – aber unweigerlich durch das Ich-Fenster, mit den entsprechenden Perspektiven und Tönungen und Einschränkungen.
Einwand: Literatur, insbesondere ihre Königsdisziplin, ist eben nicht Wiederholung von Leben. Ist nicht »Abbildung« oder was immer hier an veralteten Begriffen herandrängt. Wer schreibt, muß sich erst einmal – und bis zuletzt – von sich distanzieren. Muß Abstand nehmen. Ein anderer werden. Viele andere. Muß seinen Nächsten verstehen und auch seinen Fernsten, seinen schlimmsten Feind. Literatur ist per se Verwandlung, also proteisch. Nicht Identitätsfixierung. Nicht einmal Identitätssuche. Wozu Identität suchen? Man hat sie sowieso, sie bleibt dir eingebrannt. Die Kunst besteht eher darin, sie loszuwerden.
Also Ich-Roman? Gesellschaftsroman?
Wiedermal beides. Das ewige Hin und Her. Auf die Spannung kommt es an. Geh aus, mein Herz, und suche Freud: Wo Er, Sie, Es und Wir war, soll Ich werden. Und umgekehrt.