Józ­sef De­brec­ze­ni: Kal­tes Kre­ma­to­ri­um

József Debreczeni: Kaltes Krematorium

Józ­sef De­brec­ze­ni: Kal­tes Kre­ma­to­ri­um

Józ­sef De­brec­ze­ni wur­de 1905 als Józ­sef Bru­ner in Bu­da­pest ge­bo­ren. Die jü­di­sche Fa­mi­lie floh 1919 vor an­ti­jü­di­schen Po­gro­men in den un­ga­risch spre­chen­den Teil des da­ma­li­gen Kö­nig­reichs Ju­go­sla­wi­en. Un­ter dem Pseud­onym De­brec­ze­ni ver­fass­te Bru­ner Ar­ti­kel und Kom­men­ta­re, wur­de Re­dak­teur und Her­aus­ge­ber über­re­gio­na­ler un­ga­ri­scher Zei­tun­gen und Ma­ga­zi­ne, schrieb aber auch Ge­dich­te, Ro­ma­ne und Thea­ter­stücke. Die un­ga­ri­schen Ras­se­ge­set­ze des Hor­ty-Re­gimes, ei­nem Ver­bün­de­ten Hit­lers, be­en­de­ten 1938 die Mög­lich­keit der Pu­bli­ka­ti­on. Er zog in die Re­gi­on Bač­ka (Voj­vo­di­na), die al­ler­dings 1941 von Un­garn an­nek­tiert wur­de. De­brec­ze­ni und sei­ne Fa­mi­lie wur­den in das Ar­beits­la­ger Bač­ka To­pola de­por­tiert. Am 1. April 1944 stieg er ei­nen Wag­gon. Ge­rüch­te spra­chen von Ausch­witz als Ziel.

Mit die­sem Trans­port be­ginnt Kal­tes Kre­ma­to­ri­um. Es en­det ir­gend­wann An­fang Mai 1945. Józ­sef De­brec­ze­ni hat über­lebt. Er ist frei. Sein »Be­richt aus dem Land na­mens Ausch­witz« (so der deut­sche Un­ter­ti­tel) er­schien 1950 in Ju­go­sla­wi­en. Von da an dau­er­te es nur et­was mehr als sie­ben Jahr­zehn­te bis es in Eng­li­sche und nun von Ti­mea Tan­kó ins Deut­sche über­setzt wur­de.

Über die Grün­de der Miss­ach­tung des Bu­ches kann nur spe­ku­liert wer­den. Viel­leicht weil es in Un­ga­risch ge­schrie­ben war? Ahn­te De­brec­ze­ni die Re­ser­viert­heit, ja Ab­leh­nung, sich mit die­sen Men­schen­ver­bre­chen zu be­schäf­ti­gen? Dem Be­richt ist ein Ge­dicht vor­an­ge­stellt, dass ei­ner ge­wis­se Ah­nung Aus­druck ver­leiht. Da heißt es un­ter an­de­rem:

»Wo­zu die Jah­res­zei­ten,
Wenn die Fa­schi­sten blei­ben,
Le­ben wie Ma­den im Speck?

Ob mei­ner Mut­ter Mör­der
Noch lebt als bra­ver Bür­ger,
Nach sei­ner Sün­den Beich­te?«

Es en­det fa­ta­li­stisch:

»Ein be­kann­ter Wind weht,
Neue Uni­form trägt
Der Mör­der mei­ner Mut­ter.«

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Zwi­schen Traum und Wirk­lich­keit

New York, Diens­tag, 25. Mai 1982

Bis ca. 12h Schlaf. Traum­aus­tausch mit S. Ich hat­te ein selt­sa­mes Traum­er­leb­nis – ei­ne Re­pa­ra­tur­hal­le, dar­in gro­ße Ma­schi­nen, ganz ver­ro­stet, gro­ße Au­tos, Last­wa­gen, Lo­ko­mo­ti­ven, al­les to­tal ver­ro­stet. Und un­ge­fähr 6 Män­ner, die die Me­cha­ni­ker wa­ren, al­te Män­ner, in ir­gend­wel­chen Staats­uni­for­men, die Re­pa­ra­tur­werk­stät­te of­fen­bar ein Staats­be­trieb. Aber al­le Ma­schi­nen, die man hier­her brach­te, be­kam man erst Mo­na­te spä­ter, oder aber nie­mals wie­der. Und ich soll­te her­aus­fin­den, war­um al­les so lan­ge dau­er­te bzw. ver­kom­men war. Stell­te fest, daß die 6 al­ten Me­cha­ni­ker ei­gent­lich über­haupt nicht ar­bei­te­ten, höch­stens ein­mal ei­ne Lo­ko­mo­ti­ve von ei­nem Werk­stät­ten­en­de zum an­de­ren scho­ben, nur das, nur das Hin- und Her­schie­ben ver­ro­sten­der Ma­schi­nen. Sehr ei­gen­ar­tig das Gan­ze. Die At­mo­sphä­re dort! Und die Män­ner in ih­ren Uni­for­men. Kap­pen wie Bahn­be­am­te. (…) Wir früh­stücken, d.h. die lie­be S. be­rührt vor dem Abend kei­ne Nah­rungs­mit­tel. Nur schwar­zen Kaf­fee. Beim Fort­ge­hen be­mer­ke ich, daß ich mei­nen Schlüs­sel­bund ver­lo­ren ha­be. Ge­stern. Beim Tan­zen? Ru­fe über­all an. Nein, nir­gend­wo ge­fun­den. Bin mü­de – bin schlecht bei­sam­men. Zum Post­amt, schlaf­trun­ken – 14. Stra­ße. Sen­de mein Hör­spiel1 an Jo­chen Scha­le2 und den Fi­scher Ver­lag. Bin froh, es end­lich ab­ge­sandt zu haben…Dann Fahrt zur Ver­mie­te­rin, sie wirkt nicht hoch­er­freut, gibt mir die 4 Schlüs­sel, die ich ko­pie­ren las­se.

Da­nach Sub­way nach Hau­se. Schla­fe. G. will mich se­hen – und S.? Was sa­ge ich S.? Ge­he um 20h30 zur G., brin­ge ihr das Hör­spiel. Din­ner in ei­nem lu­sti­gen fran­zö­si­schen Lo­kal, zu laut, aber sym­pa­thisch. (…) Ta­xi, ein Ber­li­ner Ju­de, ca. 60 Jah­re alt, wir re­den, nach­dem wir G. ab­ge­setzt ha­ben. Er spricht von der Kriegs­ge­fahr auf Er­den. Und daß »die Sa­che« mit Is­ra­el nicht gut ge­hen wer­de. Das Un­recht, das den Pa­lä­sti­nen­sern wi­der­fährt, wer­de sich rä­chen. Sein Stolz auf ei­ne Vi­si­ten­kar­te, die ihm vor we­ni­gen Ta­gen ein Fahr­gast in die Hand drück­te: Fürst von Ester­ha­zy steht dar­auf in schwar­zen Let­tern. Der Fürst lebt in Brook­lyn. / Te­le­pho­nie­re dann noch mit S. Bin ir­gend­wie froh, daß ich al­lein bin – Re­la­tiv frü­her Schlaf.

Mitt­woch, 26. Mai

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  1. Das Hörspiel ›Suchkraft‹, Regie von Heinz von Cramer, wurde am 4. 12. 1983 erstmals im WDR gesendet 

  2. Hans-Jochen Schale, Hörspieldramaturg, 1925 – 2013 

Die­ter Lie­wer­scheidt: Kon­struk­ti­ve
De­kon­struk­tio­nen

Dieter Liewerscheidt: Konstruktive Dekonstruktionen

Die­ter Lie­wer­scheidt:
Kon­struk­ti­ve De­kon­struk­tio­nen

Der Ti­tel klingt zu­nächst et­was kom­pli­ziert: Kon­struk­ti­ve De­kon­struk­tio­nen. Es ist ein de­zen­tes Wort­spiel über die vom Au­tor Die­ter Lie­wer­scheidt eher skep­tisch be­trach­te­ten De­kon­struk­ti­vi­sten. In sieb­zehn »Stu­di­en zur deut­schen Li­te­ra­tur« (die mei­sten da­von in den 2010er Jah­ren ent­stan­den und in di­ver­sen Pu­bli­ka­tio­nen ver­öf­fent­licht) liest der 1946 ge­bo­re­ne Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­ler mar­kan­te Wer­ke vom 18. bis 20. Jahr­hun­dert noch ein­mal, und zwar »kon­struk­tiv«. Es gilt, »Re­zep­ti­ons­kli­schees« zu durch­bre­chen, ver­gan­ge­ne Les­ar­ten zu be­fra­gen. Im Auf­satz zu Franz Kaf­kas Der Pro­ceß wird das Her­an­ge­hen auch pro­gram­ma­tisch um­ris­sen: »Die Un­ver­meid­lich­keit des Deu­tens, auch des psy­cho­ana­ly­ti­schen, ist ei­ne Kon­se­quenz aus dem Ver­ste­hens­an­spruch, den ei­ne her­me­neu­tisch ge­präg­te Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft wei­ter­hin auf­recht­erhält, wenn sie sich nicht auf Fra­gen der Text­ent­ste­hung, des Stils, der Mo­tiv­erhel­lung, der In­tra- und In­ter­tex­tua­li­tät be­schränkt«. Im Nach­wort schreibt Lie­wer­scheidt, dass sich ein »wirk­li­ches Kunst­werk« erst im Lau­fe sei­ner Re­zep­ti­ons­ge­schich­te als sol­ches her­aus­stel­le. »Je mehr ana­ly­ti­sche Be­mü­hun­gen an ihm ge­schei­tert sind« ist dann ei­nes der Kri­te­ri­en, wel­ches hier­für ins Feld ge­führt wird.

Das Buch lädt ein, all­zu lieb­ge­wor­de­ne Deu­tun­gen, die dem je­wei­li­gen Werk vor­aus­ei­len, ab­zu­le­gen. Da­bei stellt Lie­wer­scheidt in je­der Stu­die zu­nächst die gän­gi­gen Les­ar­ten (und mit­un­ter ih­re »Sai­son«) vor. Hier­für wird auf ein mehr als 150 Sei­ten um­fas­sen­des Li­te­ra­tur­ver­zeich­nis für aus­gie­bi­ge Stu­di­en von Mo­no­gra­phien und ins­ge­samt 1074 An­mer­kun­gen zur Ver­fü­gung ge­stellt. Schließ­lich be­ginnt das Neu-Le­sen Lie­wer­scheidts, zu­meist als »Durch­gang durch die fik­ti­ve Er­eig­nis-Ober­flä­che« ei­nes Ro­mans, Ge­dichts oder Dra­mas. Der Fo­kus bleibt auf den (die) Prot­ago­ni­sten ge­rich­tet. Ziel ist der theo­rie­ar­me Zu­gang, was häu­fig ge­lingt. Lie­wer­scheidt ver­steht sei­ne Aus­füh­run­gen nicht als ab­so­lu­te und gar ein­zig mög­li­che Ge­gen­po­si­ti­on, son­dern als zu­sätz­li­ches An­ge­bot, mit dem an­de­re Deu­tungs­fä­den ge­ge­be­nen­falls neu ver­spon­nen wer­den kön­nen.

Den voll­stän­di­gen Text »Ver­such der Be­frei­ung« bei Glanz und Elend wei­ter­le­sen.

Wel­ten und Zei­ten XV

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

← Wel­ten und Zei­ten XIV

So­wohl als Le­ser wie auch als Schrei­ber glau­be ich bei be­stimm­ten Tex­ten et­was wie Dring­lich­keit zu spü­ren. Selt­sa­mer­wei­se oft bei äl­te­ren Tex­ten, und beim Schrei­ben so­zu­sa­gen: im­mer sel­te­ner. In der ge­gen­wär­ti­gen Li­te­ra­tur fin­de ich sol­che Dring­lich­keit kaum. Auch und ge­ra­de dann, wenn sich Au­toren um mög­lichst ak­tu­el­le The­men be­mü­hen, ent­steht der Ein­druck von Dring­lich­keit nicht, statt des­sen ein an­de­rer, näm­lich daß sie ein selbst auf­er­leg­tes Pro­gramm er­fül­len, ei­ne Pflicht er­le­di­gen. Vie­le wol­len die Be­dro­hung der Um­welt in den Tex­ten »un­ter­brin­gen«. In den Er­zäh­lun­gen wird es im­mer hei­ßer, dort und da bre­chen Brän­de aus, aber die Sät­ze bren­nen nicht un­ter den Nä­geln.

War­um? Li­te­ra­tur – soll ich sa­gen: ech­te Li­te­ra­tur? – ist in­ak­tu­ell, manch­mal so­gar an­ti­ak­tu­ell. Je­ne Dring­lich­keit, die ich mei­ne, ist zum Bei­spiel bei An­nie Er­naux zu spü­ren, die sich, je­den­falls in ih­ren li­te­ra­ri­schen Tex­ten (was sie über Pa­lä­sti­na denkt, hat da­mit we­nig zu tun), nicht um ak­tu­el­le The­men küm­mert. Ernst­haf­tig­keit ist ein ver­wand­ter Be­griff, ei­ne ähn­li­che Hal­tung. Ernst­haft kann hei­ßen: durch den Schlei­er der Spra­che zur Wirk­lich­keit durch­drin­gen wol­len. Dring­lich­keit und Durch­drin­gen. Weil Spra­che, weil un­se­re Er­zäh­lun­gen, un­se­re My­then, die all­ge­mei­nen wie die pri­va­ten, das Ge­sche­he­ne eher ver­decken als ent­hül­len. Au­toren wie Er­naux geht es um das Ent­hül­len: die Spra­che so weit wie mög­lich zu­rück­schrau­ben, in­ter­pre­ta­ti­ons­los schrei­ben, was war. Wahr­schein­lich kann es da im­mer nur An­nä­he­rung zei­gen. Bei Er­naux be­steht das Er­zäh­len im Mit­schrei­ben die­ser An­nä­he­rung.

Ernst­haf­tig­keit ist aber nicht al­les, sie hat ei­nen eh­ren­wer­ten Op­po­nen­ten: die Ver­spielt­heit. »Ver­spielt­heit« klingt ab­wer­tend, ist aber nicht so ge­meint. Spie­le­ri­sche Er­zähl­li­te­ra­tur, und nicht nur sprach­spie­le­ri­sche, son­dern mit Er­zähl­ele­men­ten und Bil­dern spie­len­de, trägt ih­re rai­son d’être in sich, sie ist Selbst­zweck, man muß sie nicht recht­fer­ti­gen. Kunst ist ih­rer Ge­ne­se nach ei­ne Form des Spiels, oh­ne das mensch­li­che Ent­wick­lung nicht mög­lich ist. Wer Künst­ler wird oder bleibt, ist bloß mehr Kind ge­blie­ben als an­de­re Er­wach­se­ne. Die­ses spie­le­ri­sche Mo­ment ent­hal­ten auch zahl­lo­se ernst­haf­te Er­zäh­lun­gen, et­wa die von Pe­ter Ste­phan Jungk, wo­bei ich an den au­to­bio­gra­phisch-sur­rea­len Ro­man Die Rei­se über den Hud­son eben­so den­ke wie an das li­te­ra­risch-eth­no­gra­phi­sche Kunst­werk Markt­ge­flü­ster. In der öster­rei­chi­schen Li­te­ra­tur gibt es ei­ne be­son­ders stark aus­ge­präg­te Nei­gung zum spie­le­ri­schen und ver­spiel­ten Schrei­ben: Ne­stroy, Herz­ma­nov­sky-Or­lan­do, die Wie­ner Grup­pe, Ernst Jandl, Franz­obel, He­le­na Ad­ler – um hier nur an­zu­deu­ten, was und wen ich im Blick ha­be. Auch Frie­de­ri­ke May­röcker. Sur­rea­lis­mus bringt die Ord­nun­gen und Ebe­nen durch­ein­an­der und baut neue Ord­nun­gen auf, die wir nicht im­mer so­fort nach­voll­zie­hen kön­nen oder wol­len. Dann las­sen wir uns vom Cha­os strei­cheln. Das nen­ne ich »Spiel«. »Cha­os­mos«, der von De­leu­ze ge­präg­te, je­doch von Ja­mes Joy­ce ge­klau­te Be­griff ge­fällt mir im­mer noch, ob­wohl der Phi­lo­soph mitt­ler­wei­le recht in­ak­tu­ell ge­wor­den ist. Zeit, ihn wie­der zu le­sen. Cha­os­mos: die Welt im Zu­stand ih­rer Ent­ste­hung.

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Heinz Strunk: Zau­ber­berg 2

Heinz Strunk: Zauberberg 2

Heinz Strunk:
Zau­ber­berg 2

Je­de Zeit kre­iert ih­re Er­zäh­lun­gen und Ro­ma­ne, die ent­we­der zu Klas­si­kern wer­den, in Ver­ges­sen­heit ge­ra­ten oder ir­gend­wann mit Em­pha­se vom Klas­si­ker­thron ge­sto­ßen wer­den. Und wenn die zeit­ge­nös­si­sche Li­te­ra­tur wie­der ein­mal droht, in ei­ne Gleich­för­mig­keit zu ver­sin­ken, blü­hen die Re­vi­vals, Va­ria­tio­nen von alt­be­kann­ten, einst be­reits als un­zeit­ge­mäß de­nun­zier­te Ro­ma­ne und de­ren Mo­ti­ve, trans­for­miert in die Ge­gen­wart. Ei­ner der Ro­ma­ne der Zeit scheint Der Zau­ber­berg von Tho­mas Mann zu sein, fast ge­nau vor ein­hun­dert Jah­ren er­schie­nen. Der Pu­bli­zist Jens Nord­alm er­klär­te kürz­lich in ei­nem ful­mi­nan­ten Text, war­um man ge­ra­de heu­te den Zau­ber­berg le­sen muss. In­mit­ten all der Auf­ge­regt­hei­ten ent­decken Li­te­ra­ten plötz­lich den Es­ka­pis­mus als letz­ten Aus­weg. Es ist der Wunsch nach Ab­ge­schie­den­heit von der zu­neh­mend als kom­pli­ziert wahr­ge­nom­me­nen, über­for­dern­den Welt mit der Mög­lich­keit der Über­win­dung von Le­bens- und/oder Lie­bes­kri­sen. Ol­ga Tok­ar­c­zuk ver­la­ger­te 2023 ihr Zau­ber­berg-Set­ting nach Nie­der­schle­si­en, Ti­mon Karl Ka­ley­ta schick­te sei­nen letz­ten Ro­man­hel­den in ein Sa­na­to­ri­um, Mo­ni­ka Zei­ner ließ in Hans-Cas­torp-Ma­nier das schwar­ze Schaf ei­ner In­du­stri­el­len­fa­mi­lie am Ort sei­ner Kind­heit sei­ne Ju­gend­er­in­ne­run­gen auf­fri­schen und Nor­man Oh­ler ver­fass­te ei­nen Kli­ma­wan­del-Ro­man mit Zau­ber­berg-Ele­men­ten (da­mit je­der dar­auf kommt, ist er im Ti­tel schon er­wähnt).

Und jetzt auch noch Heinz Strunk, der vor ei­ni­gen Jah­ren be­reits aus Tho­mas Manns Tod in Ve­ne­dig ei­nen Som­mer in Nien­dorf hä­kel­te. Sein neue­stes Buch heißt Zau­ber­berg 2. Der Held heißt Jo­nas Heid­brink, ist 1986 ge­bo­ren. Er fährt mit 36 Jah­ren und rund 180 kg Ge­päck in ei­ne bis zum Schluss na­men­los blei­ben­de Kli­nik, 4 Stun­den 52 Mi­nu­ten Fahr­zeit ent­fernt in der Nä­he ei­nes Sumpf­ge­biets in Meck­len­burg-Vor­pom­mern (wo­mög­lich in der Nä­he von Bo­tho Strauß’ Wohn­sitz – Strunk ist Strauß-Afi­ci­o­na­do). Heid­brinks Kon­trakt läuft auf drei­ßig Ta­ge, der Auf­ent­halt ist mit 823 Eu­ro am Tag nicht ge­ra­de bil­lig, aber er kann es sich lei­sten, weil sein Start-up wur­de vor ei­ni­ger Zeit auf­ge­kauft wur­de. Zwar be­deu­tet dies nach La­ge der Din­ge, das er aus­ge­sorgt hat, aber die de­pres­si­ven Zu­stän­de, be­reits vor der Start-up-Grün­dung vor­han­den, wäh­rend der Zeit in die­ser Fir­ma je­doch ruh­ten, tra­ten jetzt wie­der her­vor: Schlaf­lo­sig­keit, Lust­lo­sig­keit ge­paart mit Angst- und Pa­nik­zu­stän­den.

Das 25 m²-Zim­mer ist zu­nächst ein biss­chen kalt, an­son­sten obe­rer Stan­dard. Die Mahl­zei­ten (»Deut­sches Soul­food«) wer­den in ei­nem Spei­se­saal ein­ge­nom­men, der Tisch, an dem man sitzt, wird zu­ge­teilt. Es gibt Auf­nah­me­un­ter­su­chun­gen – zu­nächst die psy­cho­lo­gi­sche, dann die me­di­zi­ni­sche. Zu sei­ner ei­ge­nen Über­ra­schung wer­den ein Nie­ren­tu­mor und ein Me­la­nom fest­ge­stellt. Letz­te­res wird noch am glei­chen Tag der Ent­deckung ent­fernt. Am En­de wird für bei­de Fäl­le Ent­war­nung ge­ge­ben.

Heid­brink fin­det schwer Kon­takt, was auch dar­an liegt, dass er meist al­lei­ne an sei­nem Sech­ser­tisch sitzt und die Mahl­zei­ten ser­viert be­kommt. Der Tag ist mit den Mahl­zei­ten, Un­ter­su­chun­gen und The­ra­pie- und Grup­pen­ter­mi­nen gut struk­tu­riert. Ab und an gibt es ei­nen »Kul­tur­abend«. Ei­ne Spie­le­run­de der »Pa­ti­en­ten« (die be­vor­zug­te Be­zeich­nung der Be­woh­ner) gibt es auch, aber Heid­brink kann kein Dop­pel­kopf spie­len.

Der Ro­man plät­schert. Im­mer­hin: In der Be­schrei­bung der Heid­brink be­geg­nen­den Ärz­te, Kli­nik­an­ge­stell­ten und Pa­ti­en­ten läuft Heinz Strunk zu gro­ßer Form auf. Mal ist je­mand »so ma­ger, dass sie wie ihr ei­ge­nes Rönt­gen­fo­to aus­sieht«, oder, ei­ne an­de­re Teil­neh­me­rin, fällt durch ih­re »spar­gel­i­ge, fried­lich-freund­lich-ve­gan/­ve­ga­ta­ri­sche« Er­schei­nung auf. Uwe aus Dor­ma­gen ist dick und »trief­äu­gig«, sein Kör­per hat »Ähn­lich­keit mit ei­ner Kir­chen­glocke«, Si­mons Stirn »ist von ei­nem Spi­ral­ne­bel ent­zünd­li­cher Pu­steln über­sät«. Weib­li­che Wan­gen ha­ben die Durch­sich­tig­keit in »Su­shi-Qua­li­tät«, ein an­de­res Ge­sicht sieht aus wie ein »Trocken­pilz«, ein »lie­gen­des Fünf­eck« oder es »glänzt wie ei­ne kal­te Brat­kar­tof­fel«. Do­reen hat Trä­nen­säcke »wie ge­schmol­ze­nes Ker­zen­wachs«. Gro­ße Phan­ta­sie braucht man bei der Vor­stel­lung ei­nes Kör­per­ge­ruchs, »als hät­te man Blei­stift­spä­ne de­stil­liert«.

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Mo­ni­ka Zei­ner: Vil­la Stern­bald oder
Die Un­schär­fe der Jah­re

Monika Zeiner: Villa Sternbald oder Die Unschärfe der Jahre

Mo­ni­ka Zei­ner:
Vil­la Stern­bald oder
Die Un­schär­fe der Jah­re

Früh­jahr 2014, leich­ter Schnee­fall. Der 42jährige freie Dreh­buch­au­tor Ni­ko­las Fin­ck reist mit dem Zug von Ber­lin über Nürn­berg in den fik­ti­ven frän­ki­schen Ort Gründ­lach. Über dem An­we­sen der Schrift­zug »STERNBALD«, der Ort sei­ner Kind­heit, in­zwi­schen et­was her­un­ter­ge­kom­men, ver­mut­lich dem Un­der­state­ment der El­tern ge­schul­det. An­lass des Be­su­ches ist der 103. Ge­burts­tag des Groß­va­ters Hein­rich Chri­sti­an Theo­bald, ge­nannt Hen­ry. Ni­ko­las hat­te die letz­ten Jah­re im­mer ab­ge­sagt, muss­te sich auch jetzt über­win­den, sucht aber den Ab­stand, weil sei­ne Be­zie­hung mit Ele nach de­ren Fehl­ge­burt in ei­ner Kri­se steckt. Zu­dem ste­hen Ver­hand­lun­gen mit dem Baye­ri­schen Rund­funk in Mün­chen an, der In­ter­es­se am Skript ei­ner neu­en, von ihm ge­schrie­be­nen Se­rie, ge­zeigt hat.

Erst spä­ter wird der Le­ser von Mo­ni­ka Zein­ers Ro­man Vil­la Stern­bald oder Die Un­schär­fe der Jah­re die er­sten Im­pres­sio­nen des Ich-Er­zäh­lers Ni­ko­las nach all den Jah­ren ein­zu­ord­nen wis­sen. Sei­ne am­bi­va­len­ten Ge­füh­le und die ge­spür­te Ent­täu­schung der Mut­ter zur An­kunft des Soh­nes. Vor­erst wird der Ju­bi­lar vor­ge­stellt. Er sitzt im Roll­stuhl, wird rund um die Uhr von ei­ner Be­treue­rin um­sorgt. Mit neun­zig hat­te er an­schei­nend auf­ge­hört zu al­tern und ver­mut­lich seit­dem auch das Spre­chen ein­ge­stellt. Statt­des­sen ein Dau­er­lä­cheln, »als wä­re es üb­rig ge­blie­ben von ei­nem Er­eig­nis, das vor sehr vie­len Jah­ren statt­ge­fun­den ha­ben muss­te, et­was wie Weh­mut war dar­in, wie im Nach­hall ei­nes Mu­sik­stücks oder dem letz­ten Schein ei­nes Son­nen­un­ter­gangs«. Oder ist es nur ei­ne »Mas­ke der Fröh­lich­keit«, ei­ne Ver­stel­lung?

Über­all ent­deckt Ni­ko­las, das schwar­ze Schaf der Fa­mi­lie, Mas­ken, Ver­bor­ge­nes. Et­wa auf den Fo­tos im Gang, die die Ah­nen in selbst­be­wuss­ten Po­sen zei­gen. Früh be­gann bei ihm das Zwei­feln. »Erz­gau­ner« nann­te Ka­tha­ri­na, die Toch­ter ei­nes Bau­un­ter­neh­mers, sei­ne Fa­mi­lie. Ni­ko­las kann­te nur »Erz­engel«. Was soll ein Erz­gau­ner sein? »Al­le Fin­cks lügn wie ge­druckt. Ihr seid doch nur so reich, weil ihr al­les zu­sam­meng­stohln habt!«, schrie ihm Ed­die ins Ge­sicht und man prü­gel­te sich da­für auf dem Schul­hof. Über­ra­schend er­griff dann Ka­tha­ri­na für Ni­ko­las Par­tei. Ed­die wur­de be­straft; er hat­te kei­ne Chan­ce ge­gen die Fin­cks. Spä­ter wird man er­fah­ren, dass Ed­die jetzt im Ge­mein­de­rat sitzt. Ni­ko­las’ Fra­gen konn­te der Groß­va­ter da­mals noch mit den üb­li­chen Text­scha­blo­nen von Fleiß, Pflicht­ge­fühl, De­mut und Ver­ant­wor­tung be­schwich­ti­gen. Was den En­kel nicht da­von ab­hält, Ge­schen­ke für Ka­tha­ri­na und sei­ne Schul­ka­me­ra­den zu kau­fen, um sich bes­ser mit ih­nen zu stel­len. Das Geld hier­für stiehlt er pa­ri­tä­tisch und ge­recht aus den Geld­bör­sen der Mut­ter und des Groß­va­ters.

Den voll­stän­di­gen Text »Ob­duk­ti­on ei­ner deut­schen Fa­mi­lie« bei Glanz und Elend wei­ter­le­sen.

Lang­wei­lig oder Of­fen­ba­rung?

Al­tes und Neu­es zum Werk von Pe­ter Hand­ke

Janko Ferk: Peter Handke

Jan­ko Ferk: Pe­ter Hand­ke

Der Kärnt­ner Jan­ko Ferk ist Ju­rist, Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­ler (Schwer­punkt Franz Kaf­ka), Über­set­zer, In­itia­tor ei­nes Le­xi­kons Kärnt­ner slo­we­ni­scher Li­te­ra­tur, Au­tor von Sach­bü­chern, Rei­se­füh­rern, No­vel­len, Ro­ma­nen, Es­says und Li­te­ra­tur­kri­ti­ken. Im LIT-Ver­lag wer­den re­gel­mä­ssig sei­ne Li­te­ra­tur­kri­ti­ken aus un­ter­schied­li­chen öster­rei­chi­schen Me­di­en ge­bün­delt pu­bli­ziert. Neu er­schie­nen sind nun sei­ne »Be­gleit­schrei­ben, Ge­sprä­che und Zu­stim­mun­gen« (so der Un­ter­ti­tel des Büch­leins) zu (und auch über) Pe­ter Hand­ke. Der Band ist merk­wür­di­ger­wei­se, was die Hand­ke-Re­zen­sio­nen Ferks an­geht, nicht voll­stän­dig. So fin­det man et­wa die Sam­mel­re­zen­si­on zu Zdeněk Ada­mec und der Dä­mo­nen- und Mai­ge­schich­te Hand­kes in ei­nem an­de­ren Band. Zu­mal es im neu­en Band Be­spre­chun­gen zu jün­ge­ren Wer­kes Hand­kes gibt. Völ­lig ent­fes­selt zeig­te sich Jan­ko Ferk in ei­ner ver­nich­ten­den Re­zen­si­on von Ge­org Pich­lers Hand­ke-Bio­gra­phie Die Be­schrei­bung des Glücks von 2002. Hier bleibt kein Stein auf dem an­de­ren. Zur spä­te­ren Bio­gra­phie von Mal­te Her­wig fin­det sich nichts.

Vie­le die­ser Tex­te sind kei­ne klas­si­schen Re­zen­sio­nen, wie der Auf­satz zu Wunsch­lo­ses Un­glück zeigt, der Er­zäh­lung von 1972 über den Frei­tod von Hand­kes Mut­ter und die Schwie­rig­keit, dar­über li­te­ra­risch zu schrei­ben. Ferk nimmt die Tat­sa­che, dass Hand­kes Mut­ter Kärnt­ner Slo­we­nin war zum An­lass sich ge­ne­rell mit dem Schick­sal der Min­der­heit der Kärnt­ner Slo­we­nen und ih­rer stei­ni­gen jün­ge­ren po­li­ti­schen Ge­schich­te in Öster­reich zu be­schäf­ti­gen. Was na­tür­lich kaum ver­wun­dert, denn er ge­hört die­ser Min­der­heit sel­ber an und hat vie­les sel­ber er­lebt. Hand­kes Rol­le bei­spiels­wei­se im Orts­ta­fel­streit wird er­wähnt, auch sein Über­set­zungs-En­ga­ge­ment von Au­toren wie Gu­stav Ja­nuš und Flor­jan Li­puš.

Wei­ter­le­sen

Wel­ten und Zei­ten XIV

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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Zwei Bü­cher über die Trau­er. Nicht ir­gend­ei­ne Trau­er, son­dern die Trau­er nach dem Tod ei­nes ge­lieb­ten Men­schen. Das ei­ne ist ein Ro­man, das an­de­re läßt sich gen­re­mä­ßig kaum zu­ord­nen, läuft aber chro­no­lo­gisch, da­bei mehr­schich­tig, wie ein Ta­ge­buch ab. Bei­de Bü­cher wur­den un­ge­fähr zur glei­chen Zeit ge­schrie­ben und ver­öf­fent­licht; der Ro­man stammt von Sa­bi­ne Gru­ber, das Trau­er­ta­ge­buch, fast ei­ne Art An­ti-Ro­man, von Ol­ga Mar­ty­n­o­va. Hier ein klei­ner Ent­wick­lungs­ro­man, der er­zählt, wie je­mand durch die Pha­sen der Trau­er geht und die Trau­er letzt­lich über­win­det. Dort die Ge­schich­te ei­ner Ver­wei­ge­rung, in­so­fern die Be­trof­fe­ne in ih­rer Trau­er als in ei­nem Zu­stand zwi­schen Tod und Le­ben ver­harrt und die­sen im Grun­de gar nicht ver­las­sen will.

Die bei­den Bü­cher sind al­so trotz des ge­mein­sa­men The­mas gar nicht ver­gleich­bar. Viel­leicht kann man so­wie­so kei­ne Bü­cher ver­glei­chen, aber ne­ben­ein­an­der­stel­len kann man sie wohl: mit­ein­an­der be­kannt­ma­chen. Nicht Er­kennt­nis, nicht Be­kennt­nis, son­dern Be­kannt­nis.

Ol­ga M. hat mich ein­mal nach dem shis­ho­setsu ge­fragt, ja­pa­nisch für »Ich-Ro­man»1. Ob ich so et­was schrei­ben wür­de? Ich ha­be im­mer noch kei­ne Lust, dar­auf zu ant­wor­ten, aber die Fra­ge geht mir nicht aus dem Kopf. Ich ver­su­che, mich schrei­bend von mei­nem Ich zu lö­sen, doch es ge­lingt nie­mals. Es kann nicht ge­lin­gen, das weiß ich, und ver­su­che es trotz­dem, im­mer wie­der: Si­sy­phus auf dem Pla­teau. An­ders ge­sagt: ein über sich selbst re­flek­tie­ren­der Si­sy­phus. Da ist kein Berg, kein im­mer schnel­ler wer­den­der Stein oder Schnee­ball, nur ei­ne end­lo­se Ebe­ne, wei­te­ster Ho­ri­zont, mit stram­men Grä­sern und Sin­nes­täu­schun­gen, aben­teu­er­lich wie die Pam­pa. Aben­teu­er der Phan­ta­sie, des Ritts über den Bo­den­see.

Ich woll­te nicht von mir er­zäh­len, we­nig­stens jetzt nicht. Sträu­ben wir uns ge­gen den Ich-Ro­man. Das Er­leb­te, das ei­nem na­he­geht, und tief­geht, kann man durch Fik­tio­na­li­sie­rung nur lä­cher­lich ma­chen, aber nicht ver­ste­hen, schon gar nicht über­win­den. Man muß ihm in die Au­gen se­hen, wie es ist. Des­halb hat der Ro­man aus­ge­dient, ein­schließ­lich der so­ge­nann­ten Au­to­fik­ti­on. Der Ro­man bleibt nicht auf der Hö­he der rea­len Er­fah­run­gen und Ge­füh­le, er kann die­se nur ab­schwä­chen, und wenn es um den Tod geht, wür­de ich so­gar das Wort wa­gen: ent­wei­hen.

Wei­ter­le­sen


  1. Musterbeispiel ist für mich Eine persönliche Erfahrung von Kenzaburō Ōe, der in diesem Roman von den Tagen um die Geburt seines, wie sich herausstellt, schwer behinderten Sohnes erzählt.