
Szczepan Twardoch:
Die Nulllinie
Koń ist 45, Historiker, lebte in Warschau und wie er in der anderen Welt, »die es nicht mehr gibt«, geheißen hat, werden wir nie erfahren. Er hatte seine Wohnung der großen Schwester Ewa übergeben und war aufgebrochen in den Krieg. Da war er 43. Koń liegt zu Beginn des Romans Die Nulllinie von Szczepan Twardoch zusammen mit jemandem, der Ratte gerufen wird. Den Namen kennt der aufmerksame Twardoch-Leser aus einer Reportage, die im Oktober 2023 in der NZZ erschienen war. Koń und Ratte sitzen in einem Erdloch, euphemistisch Unterstand genannt, auf der »falschen Seite« von »Vater Dnipro«, wenige Kilometer entfernt von der Nulllinie. Dort sind sie, die »Russacken«, oder, verächtlicher: »Pädorussen«. Eine Kammerspielszene zu Beginn, mit dem erzählenden Koń, dem lustlos am toten Handy daddelnden Ratte. Dem erzählt Koń von seinem Großvater, der ukrainische Wurzeln hatte und unbedingt wollte, dass der Enkel ukrainisch sprach und, der, wie sich später herausstellte, bei der SS-Galizien war. Er erzählt von seinem polnischen Vater, der sich als Europäer fühlte, die Nationalismen ablegen wollte und seiner verknöcherten Mutter. 2016 war Koń, der damals noch nicht Koń war, zum ersten Mal in der Ukraine, ein »city break« in Kiew, hier: Kyjiw (was merkwürdig ist, zwischen den Lembergs und Krakaus). Eine Stadt »wie ein Freilichtmuseum«, er schaute sich noch die Spuren vom Maidan an und machte Bekanntschaft mit einem allgegenwärtigen Nationalismus.
Wer ist hier Robert Jordan?
Später, kurz vor der Unterschrift, der Verpflichtung, wieder in Kyjiw, sah er die umtriebigen Geschäftsleute in den Luxushotels in ihren »großen, gepanzerten Land Cruisern«, während er wenig später in einem alten, klapprigen Nissan Navara zu den Stellungen fahren musste, was nicht einfach gewesen war. Vor dem Einsatz ein Besuch in einem Luxusrestaurant, das »Piccolino«, nichts Ukrainisches war hier, außer auf den Krawatten der Kellner, dort war ein »aufgesticktes Folkloremotiv« zu sehen, ansonsten blieb hier der Nationalismus, der Patriotismus, draußen und man raspelte am Tisch dem Gast den Trüffel auf das »ideal gehackte Rindfleisch«.
Und nun sitzt im anderen, im »guten Keller« dieser Stellung, Jagoda, der auch nicht Jagoda heißt, der mehrere Sprachen spricht, ein Leser, mit Kindle im Rucksack, mehrsprachig, der fünf Jahre in Berlin gelebt und studiert hatte, davor und danach dann jeweils die Verwandlung zum Krieger, inklusive dreimonatiger Gefangenschaft bei den Russen in Donezk. Jagoda ist es, der an Hemingways Wem die Stunde schlägt denkt, an Robert Jordan, der eine Brücke sprengen soll, »damit die Faschisten nicht durchkommen«. Wenigstens wäre das etwas Sinnvolles gewesen, meint er, während sie hier in einem Loch sitzen, festsitzen, nur dass »Selenskyj mit seiner Sorgenmiene im kackgrünen Hemd auf den Konferenzen davon faseln kann, dass ihr einen Brückenkopf auf dieser Seite eures Vaters Dnipro haltet, ohne genauer zu erklären, wozu das gut sein soll.«
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