Chri­sti­an Schwep­pe: Zei­ten oh­ne Wen­de

Christian Schweppe: Zeiten ohne Wende

Chri­sti­an Schwep­pe: Zei­ten oh­ne Wen­de

Fast zwei­ein­halb Jah­re be­ob­ach­te­te der Jour­na­list Chri­sti­an Schwep­pe das, was man »Zei­ten­wen­de« nann­te: Die Re­ak­tio­nen der deut­schen Re­gie­rung auf den Über­fall Russ­lands auf die Ukrai­ne. Schwep­pe weiß, dass es vom Kanz­ler­stuhl der Re­gie­rungs­bank zum Red­ner­pult sie­ben Schrit­te sind. Am 27. Fe­bru­ar 2022 rief Bun­des­kanz­ler Olaf Scholz ei­ne »Zei­ten­wen­de« aus. Spä­ter er­fährt man von Schwep­pe, dass Scholz sich mit dem Be­griff der Zei­ten­wen­de selbst pla­gi­iert hat­te; er ver­wen­de­te ihn be­reits 2017 in ei­nem Buch, frei­lich oh­ne Ver­bin­dung mit mi­li­tä­ri­schen Fra­gen. An je­nem Fe­bru­ar 2022 kün­dig­te er ei­ne In­stand­set­zung der längst ma­ro­de ge­wor­de­nen Bun­des­wehr mit­tels ei­ner als Son­der­ver­mö­gen de­kla­rier­ten Ver­schul­dung von 100 Mil­li­ar­den Eu­ro an und ver­sprach, zu­künf­tig 2% des BIP für die Bun­des­wehr aus­zu­ge­ben. Die Ukrai­ne soll­te mit Waf­fen un­ter­stützt wer­den, um sich ge­gen den rus­si­schen Ag­gres­sor zu weh­ren. Mit die­ser Re­de und den er­sten Schrit­te da­nach brach man mit meh­re­ren Ta­bus der Bun­des­re­pu­blik, die spä­te­stens seit der Ver­ei­ni­gung 1990 in ei­nen geo­po­li­ti­schen Däm­mer­schlaf ver­fal­len war. Vie­le Me­di­en wa­ren be­ein­druckt, ei­ni­ge an­de­re zeig­ten sich pflicht­schul­dig schockiert, sa­hen den ag­gres­si­ven Deut­schen wie­der auf­le­ben.

Zei­ten oh­ne Wen­de heißt das Buch von Schwep­pe über die­se Zeit, das An­fang Ok­to­ber er­schie­nen ist. Ein Wort­spiel. Der Un­ter­ti­tel nimmt das im Früh­jahr bei Druck­le­gung sich ab­zeich­nen­de Re­sul­tat be­reits vor­weg: »Ana­to­mie ei­nes Schei­terns«. Man liest die 350 Sei­ten trotz­dem, in ei­nem Rutsch, in ei­ner Mi­schung aus Fas­zi­na­ti­on und Wi­der­wil­len.

Schwep­pe schreibt ei­ne Lang­zeit­re­por­ta­ge, Stil und Am­bi­ti­on er­in­nern an Ste­phan Lam­by. Im­mer wie­der wer­den ei­ni­ge aus­ge­such­te Prot­ago­ni­sten be­sucht. Be­son­ders häu­fig spricht er mit Ma­rie-Agnes Strack-Zim­mer­mann (»Flak-Zim­mer­mann«), je­ner FDP-Frau, die in hib­be­li­ger Un­ge­duld und mit en­er­gi­schem me­dia­len Auf­tre­ten den bei Waf­fen­lie­fe­run­gen für die Ukrai­ne chro­nisch stocken­den und zö­gern­den Scholz mehr­mals her­aus­for­der­te. Er be­glei­tet Da­ni­el An­drä, zu Be­ginn 43, Oberst­leut­nant, zu­nächst Kom­man­dant ei­nes in­ter­na­tio­na­len Ge­fechts­ver­bands in Li­tau­en. Man lernt Mat­thi­as Leh­na ken­nen, Mit­te 30, ei­nen ehe­ma­li­gen Ge­birgs­jä­ger, der in Ma­li war. Bei­de wer­den am En­de über die Bun­des­wehr und den Um­gang in ihr und mit ihr des­il­lu­sio­niert sein.

Schwep­pe zeich­net Por­traits von Al­fred Mais, Deutsch­lands ober­stem Hee­res­ge­ne­ral und In­go Ger­hartz, dem »Chef« der Luft­waf­fe – bei­de könn­ten nicht un­ter­schied­li­cher sein. Aber auch Ar­min Pap­per­ger, der Vor­stands­vor­sit­zen­de von Rhein­me­tall, wird be­äugt. Er schaut dem Haus­häl­ter To­bi­as Wald­hü­ter über die Schul­ter (da­bei be­kommt man in­ter­es­san­te Ein­blicke in die so­ge­nann­te »Nacht der lan­gen Mes­ser«, in der »der fi­na­le Haus­halt für das neue Jahr aus­ge­dealt« wird), be­glei­tet den Nach­rücker Nils Grün­der, der »in der FDP-Ar­beits­grup­pe Ver­tei­di­gung« ar­bei­tet, zi­tiert den ehe­ma­li­gen Wehr­be­auf­trag­ten Hans-Pe­ter Bartels und er­lebt die am­tie­ren­de Wehr­be­auf­trag­te Eva Högl, die zwar al­les zu wis­sen scheint, was die Man­gel­la­ge der Bun­des­wehr an­geht, aber ir­gend­wie wir­kungs­los bleibt.

Man­che Tref­fen wir­ken wie pflicht­schul­di­ge Pro­to­kol­le, weil sie kei­ner­lei Er­kennt­nis­ge­winn lie­fern. Et­wa bei Agnieszka Brug­ger, die über­zeugt ist, dass die Bun­des­wehr im »Ernst­fall« bes­ser funk­tio­nie­ren wür­de, als man­che Schlag­zei­le ver­mu­ten las­se. Dass es nicht »Ernst­fall« heißt, wis­sen bei­de an­schei­nend nicht, was ein biss­chen pein­lich ist, wenn man sich gleich­zei­tig dar­über amü­siert, dass Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ste­rin wie Bun­des­kanz­ler von »Luft­ab­wehr« (statt Flug­ab­wehr oder Luft­ver­tei­di­gung) spre­chen. Er scheint auch Brug­ger zu­zu­stim­men, die meint, dass die »Zei­ten­wen­de« zu sehr von Män­nern do­mi­niert wür­de. Ei­ne merk­wür­di­ge Fest­stel­lung, schließ­lich ist zu die­sem Zeit­punkt Chri­sti­ne Lam­brecht Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ste­rin, Eva Högl Wehr­be­auf­trag­te, An­na­le­na Baer­bock ist om­ni­prä­sent und sieht sich auch schon ein­mal mit Russ­land im Krieg und Strack-Zim­mer­mann be­herrscht die in­nen­po­li­ti­schen Schlag­zei­len.

Wei­ter­le­sen

Phil­ipp Thei­sohn: Den­ken nach Bo­tho Strauß

Philipp Theisohn: Denken nach Botho Strauß

Phil­ipp Thei­sohn:
Den­ken nach Bo­tho Strauß

Phil­ipp Thei­sohn ist Pro­fes­sor für Neue­re Deut­sche Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft an der Uni­ver­si­tät Zü­rich, gibt die Ge­samt­aus­ga­be von Je­re­mi­as Gott­helf her­aus, ver­ant­wor­tet Sam­mel­bän­de zu Ge­org Tra­kl und Gott­fried Kel­ler, sitzt der Theo­dor Storm-Ge­sell­schaft vor und schreibt über »au­ßer­ir­di­sche Li­te­ra­tur«, was zu­gleich ei­ner sei­ner For­schungs­schwer­punk­te ist. Und jetzt er­scheint in der Rei­he Fröh­li­che Wis­sen­schaft bei Matthes & Seitz sein Buch Den­ken nach Bo­tho Strauß – pas­send zum 80. Ge­burts­tag des Dich­ters am 2. De­zem­ber.

Nein, Thei­sohn ver­fällt nicht der Un­sit­te, sei­ne ver­streu­ten Auf­sät­ze und Es­says zu­sam­men­ge­fasst zu ha­ben. Das Buch ist ak­tu­ell. Zwei Mal be­such­te er Strauß in der Ucker­mark, un­ter­nahm Wan­de­run­gen mit ihm. Er traf Edith Cle­ver in Ber­lin, schau­te sich ei­ne Auf­zeich­nung von Strauß’ Tri­lo­gie des Wie­der­se­hens an (von nun galt er als ar­ri­viert) und gibt Un­ter­hal­tun­gen mit Freun­din­nen und Freun­den über Strauß wie­der, un­ter an­de­rem mit Frank Wit­zel.

Der Ver­lag be­wirbt das knapp 150 Sei­ten um­fas­sen­de Buch als »sehr per­sön­li­chen Es­say«. Man be­fürch­tet da­bei zu­nächst Schlim­mes, ein Schwär­men oder Schwel­gen, ei­ne Kom­pli­zen­schaft oder gar Ver­tei­di­gungs­re­de mit dem als schwie­rig und – wie könn­te es an­ders sein? – »um­strit­ten« ge­kenn­zeich­ne­ten Au­tor.

Das al­les trifft glück­li­cher­wei­se nicht zu. Zu Be­ginn re­ka­pi­tu­liert Thei­sohn sei­ne Zeit­ge­nos­sen­schaft, als Strauß’ An­schwel­len­der Bocks­ge­sang 1993 durch die Feuil­le­tons gei­ster­te und ab­ge­kan­zelt wur­de. Er war da­mals Stu­dent, ent­zog sich weit­ge­hend dem öf­fent­li­chen Ent­set­zen und voll­zog die in­zwi­schen aus­geu­fer­te De­bat­te erst Jah­re spä­ter nach. Wer nun die x‑te In­ter­pre­ta­ti­on er­war­tet, geht fehl. Statt­des­sen ei­ne knap­pe Fest­stel­lung: »Bis heu­te er­ach­te ich den Text vor­ran­gig als Schau­spiel, die Feuil­le­ton­le­ser und ‑schrei­ber als Chor.« Da ist es nur fol­ge­rich­tig, wenn Thei­sohn die im­mer wie­der­leh­ren­de Dis­kus­si­on um die »po­li­ti­sche Ver­or­tung« von Bo­tho Strauß »in­tel­lek­tu­ell we­nig frucht­bar« fin­det.

Wei­ter­le­sen

Pe­ter R. Neu­mann: Die Rück­kehr
des Ter­rors

Peter R. Neumann: Die Rückkehr des Terrors

Pe­ter R. Neu­mann: Die Rück­kehr des Ter­rors

In Zei­ten der in­fla­tio­nä­ren Ver­wen­dung des »Experten«-Begriffs wird es zu­neh­mend schwie­rig, wirk­li­che Spe­zia­li­sten zu fin­den, die zu mehr in der La­ge sind, als nur Schlag­wor­te und Phra­sen an­ein­an­der­zu­rei­hen. Ei­ner der we­ni­gen deutsch­spra­chi­gen Ex­per­ten für in­ter­na­tio­na­len Ter­ro­ris­mus ist Pe­ter R. Neu­mann. Er ist Pro­fes­sor für Si­cher­heits­stu­di­en am King’s Col­lege Lon­don und lei­te­te dort das In­ter­na­tio­nal Cent­re for the Stu­dy of Ra­di­cal­i­sa­ti­on (ICSR). Da­her war­te­te man ge­spannt auf sein neu­es Buch mit dem be­un­ru­hi­gen­den Ti­tel Die Rück­kehr des Ter­rors. Ge­meint ist, wie der Un­ter­ti­tel na­he­legt, der dschi­ha­di­sti­sche Ter­ror. Eu­ro­pa ste­he, so die The­se, »am An­fang ei­ner neu­en ter­ro­ri­sti­schen Wel­le […], die den Kon­ti­nent noch jah­re­lang be­schäf­ti­gen wird.«

Nun ist Neu­mann nie­mand, der fahr­läs­sig Pa­nik schürt. Im Ge­gen­teil. Sein Buch ist ei­ne nüch­ter­ne, wenn auch ein­dring­li­che Mah­nung, un­ter­legt mit wis­sen­schaft­li­chen und geo­stra­te­gi­schen For­schungs- und kri­mi­na­li­sti­schen Er­mitt­lungs­er­geb­nis­sen (er konn­te so­gar ei­ni­ge Prot­ago­ni­sten von Si­cher­heits­be­hör­den be­fra­gen), um das Phä­no­men und die neue Be­dro­hungs­la­ge zu er­fas­sen. Der Quel­len­ap­pa­rat be­steht aus fast 300 An­mer­kun­gen, mehr als drei Vier­tel da­von aus dem eng­lisch­spra­chi­gen Raum. Wer sich vor­wie­gend aus deutsch­spra­chi­gen Leit­me­di­en in­for­miert, er­hält hier ei­ne ve­ri­ta­ble und, wie sich zeigt, drin­gend not­wen­di­ge Er­wei­te­rung des Ho­ri­zonts, wenn nicht gar ei­ne ganz an­de­re Sil­hou­et­te des Ho­ri­zonts.

Zu­nächst stellt Neu­mann die Zehn-Jah­re-Wel­len­theo­rie des un­längst ver­stor­be­nen ame­ri­ka­ni­schen Ex­tre­mis­mus­for­schers Da­vid C Ra­po­port vor und un­ter­sucht die »Ter­ror­wel­len« der ver­gan­ge­nen Jahr­zehn­te, die in die west­li­che Welt (USA und Eu­ro­pa) schwapp­ten. Im Ge­gen­satz zu Ra­po­port macht Neu­mann meh­re­re, kur­ze »Mi­ni­wel­len« aus, die zeit­lich teil­wei­se in­ein­an­der­grei­fen. Un­ter dem Ober­be­griff Is­la­mis­mus (»Is­la­mi­sten be­grei­fen den Is­lam nicht nur als Re­li­gi­on, son­dern vor al­lem als po­li­ti­sche Ideo­lo­gie, nach der al­le Aspek­te des ge­sell­schaft­li­chen Le­bens ge­stal­tet wer­den sol­len«) wer­den Un­ter­grup­pen de­fi­niert. Die re­le­van­te­ste und be­droh­lich­ste wird un­ter dem Be­griff Dschi­ha­dis­mus zu­sam­men­ge­fasst. Dschi­ha­di­sten sind »der Über­zeu­gung, dass zur Er­rich­tung is­la­mi­sti­scher Herr­schaft der Ein­satz ge­walt­sa­mer Mit­tel nicht nur not­wen­dig, son­dern ver­pflich­tend ist«.

Wei­ter­le­sen

»Beim Ver­las­sen der Spra­che bit­te die Tür hin­ter sich schlie­ßen.«

Lek­tü­re­ein­drücke zu Bo­tho Strauß

In den letz­ten zehn Jah­ren, nach Her­kunft 2014, ei­ner ein­drucks­vol­len Be­schwö­rung und Ma­ni­fe­sta­ti­on der Kind­heit und Ado­les­zenz, ist es um Bo­tho Strauß zu­neh­mend ru­hi­ger ge­wor­den. Strauß be­trieb nach die­sem Er­folg ei­ne er­staun­li­che Selbst­frag­men­tie­rung sei­nes Werks. In gleich zwei Bü­chern stell­te er sei­ne Thea­ter­stücke, Ro­ma­ne und Es­says als Stein­bruch zur Ver­fü­gung. Zum ei­nen in der von Heinz Strunk her­aus­ge­ge­be­nen An­tho­lo­gie Der zu­rück in sein Haus ge­stopf­te Jä­ger und we­nig spä­ter bei der als »Ge­dan­ken­buch« apo­stro­phier­ten Text- und Gen­re­col­la­ge Al­lein mit al­len, her­aus­ge­ge­ben und kom­pi­liert von Se­ba­sti­an Klein­schmidt. Al­lein mit al­len ist in 17 the­ma­tisch sor­tier­ten Ka­pi­teln ge­glie­dert, die bei­spiels­wei­se »Vom Geist: Ver­ste­hen, Ge­stimmt­heit«, »Tech­nik, Me­di­en, Künst­lich­keit», »Von der Er­zie­hung« oder »Au­tor­schaft, Spra­che» über­schrie­ben sind. Hier wur­den nun ein­zel­ne Ab­sät­ze, Sze­nen, No­ta­te, Wahr­neh­mungs- und Ge­dan­ken­split­ter aus mehr als 30 Wer­ken des Au­tors er­gänzt um 87 da­mals neu­er, bis da­hin un­pu­bli­zier­ter Ein­trä­ge zu ei­nem neu­en Text­ge­bil­de zu­sam­men­ge­fügt. In bei­den Bü­chern wer­den im An­hang je­der ein­zel­ne Text­ein­trag dem ent­spre­chen­den Werk zu­ge­ord­net.

Botho Strauss: Allein mit allen

Bo­tho Strauss: Al­lein mit al­len

Im Nach­wort nennt Klein­schmidt das ent­stan­de­ne Buch ei­ne »poe­ti­sche En­zy­klo­pä­die Strauß­scher Wis­sens­kunst«, die als »Kunst des in­tui­ti­ven Ge­dan­ken­baus und der re­fle­xi­vem Un­mit­tel­bar­keit« ein­ge­ord­net wird. Tat­säch­lich er­schei­nen be­kann­te Zi­ta­te in ei­nem an­de­ren Zu­sam­men­hang ste­hend mit­un­ter treff­li­cher und schär­fer. Die Ent­ber­gung aus dem Kon­text des Ur­sprungs­tex­tes hin zu ei­ner neu­en Kon­tex­tua­li­sie­rung in ei­nen the­ma­ti­schen Be­reich er­ge­ben neue, teil­wei­se über­ra­schen­de Zu­sam­men­hän­ge.

Ein Jahr zu­vor be­reits hat­te Strauß mit Lich­ter des To­ren ei­nen hy­per­ven­ti­lie­rend-zeit­kri­ti­schen Es­say in Form von Ge­dan­ken­split­tern und Apho­ris­men ver­sucht, in dem er für den no­to­ri­schen Ein­zel­gän­ger und Di­gi­tal­ver­wei­ge­rer nicht nur ei­ne Lan­ze bricht, son­dern sich in ei­ne Form grim­mi­ger Un­ver­söhn­lich­keit der Ge­sell­schaft ge­gen­über ver­steigt, die er in ei­nem schnö­den Mit­mach­rausch sieht. Nicht we­ni­ge nah­men die­se bis­wei­len wü­ten­den Aus- und Ein­fäl­le als eli­tär wahr, at­te­stier­ten ein »prun­ken­des Den­ken« (Tho­mas Schmid) und tat­säch­lich ver­stör­te die­ses Buch mit sei­ner bis­wei­len mür­ri­schen Selbst­ge­wiss­heit.

Wei­ter­le­sen

Wel­ten und Zei­ten XII

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

← Wel­ten und Zei­ten XI

Tschechows Ge­wehr. Wenn zu Be­ginn ei­ner Er­zäh­lung ein Ge­wehr an der Wand hängt, muß es ir­gend­wann los­ge­hen, sei es auch erst auf der letz­ten Sei­te. Die­ser Satz wird oft als Re­gel pro­pa­giert. Öko­no­mi­sches Er­zäh­len, jahr­zehn­te­lang das li­te­ra­tur­kri­ti­sche Ide­al und Heil­mit­tel des deut­schen Feuil­le­tons. Bloß nichts Über­flüs­si­ges in die Ge­schich­ten!

Was, wenn das Ge­wehr nicht los­geht? In ei­nem Film kann es mehr oder we­ni­ger zu­fäl­lig an der Wand hän­gen, ein ver­ges­se­nes Re­likt, ir­gend­wer hat es ir­gend­wann dort auf­ge­hängt. Doch der Schrift­stel­ler muß es wil­lent­lich und ei­gen­hän­dig be­schrei­ben oder we­nig­stens evo­zie­ren, al­so gleich­sam selbst auf­hän­gen, sonst ist es nicht da. Der Schrift­stel­ler wählt im­mer aus, selbst wenn er Rea­li­en in gro­ßer Fül­le liebt, die Fül­le der Nich­tig­kei­ten. Er ent­schei­det – si­cher oft un­be­wußt, aber in ei­nem fort –, was zur Exi­stenz kommt und was nicht. Das­sel­be gilt für Ma­ler, nicht aber für Pho­to­gra­phen. Gött­li­che Dich­ter!

2002 sag­te ein ame­ri­ka­ni­scher Film­kri­ti­ker im Ge­spräch mit Ha­yao Mya­za­ki, dem Zeich­ner und Re­gis­seur zahl­rei­cher Zei­chen­trick­fil­me, er lie­be die »gra­tui­tous mo­ti­on«, die un­mo­ti­vier­ten Be­we­gun­gen – schwer zu über­set­zen – in des­sen Fil­men. Grund- und zweck­lo­se klei­ne Sze­nen, oh­ne Be­grün­dung oder not­wen­di­ge Funk­ti­on im Er­zähl­ver­lauf. Din­ge, die sind, weil sie sind, und sich ein­fach nur ih­rer Exi­stenz er­freu­en (oder zu ihr ver­dammt sind). Und den Be­trach­ter er­freu­en (oder be­un­ru­hi­gen), weil sie exi­stie­ren. Hin und wie­der sitzt ei­ne Fi­gur bloß da oder seufzt oder schaut auf ei­nen da­hin­flie­ßen­den Fluß, oder tut zu­sätz­lich ir­gend­was, das die Hand­lung nicht wei­ter­bringt, »ein­fach nur, um ein Ge­fühl für die ver­ge­hen­de Zeit und für den Ort, an dem sie ge­ra­de sind, zu ver­mit­teln.« Adal­bert Stif­ter hat das auch ge­macht, fast ein biß­chen ex­zes­siv in sei­nem letz­ten gro­ßen Werk, dem Wi­ti­ko. Er­zäh­len – und Le­sen, viel­leicht so­gar noch mehr als Er­zäh­len – heißt auch, sich in Ge­duld zu üben. Ei­ne wich­ti­ge Übung, auf die wir nicht ver­zich­ten soll­ten. Ja, ja, lie­be Tik­To­ker!

Wei­ter­le­sen

Cle­mens Mey­er: Die Pro­jek­to­ren

Clemens Meyer: Die Projektoren

Cle­mens Mey­er:
Die Pro­jek­to­ren

Tau­send­sei­ti­ge Ro­ma­ne ha­ben et­was von Ex­pe­di­tio­nen oder Berg­be­stei­gun­gen. Man geht los, vol­ler Vor­freu­de und schwung­voll, sam­melt sorg­sam Ein­drücke und ge­rät in Stim­mung. Hier und da bleibt man ste­hen und be­wun­dert ein schö­nes Pan­ora­ma oder ei­ne be­son­de­re Stel­le. Ir­gend­wann wird die Kon­di­ti­on ge­for­dert. Man un­ter­bricht die Tour, ist er­schöpft; noch über­wiegt die Neu­gier auf den wei­te­ren Weg. In wei­te­rem Ver­lauf wird man ver­zagt, schleppt sich über die Strecke, ge­nießt die ein oder an­de­re schö­ne Aus­sicht, die zum Wei­ter­ma­chen ani­miert. Die Etap­pen­zie­le wer­den kür­zer, aber schließ­lich er­reicht man das Ziel, ist ein we­nig stolz aber auch gleich wie­der in Sor­ge um den Rück­weg. Jetzt zeigt sich, ob die Ori­en­tie­rung aus­reicht.

Ori­en­tie­rung braucht man in dem Kon­vo­lut der No­ti­zen, die sich der Le­ser wäh­rend der Lek­tü­re von Cle­mens Mey­ers Die Pro­jek­to­ren ge­macht hat. Zu­mal es nicht ei­nen durch­gän­gi­gen Plot gibt, son­dern meh­re­re, ver­schach­tel­te und häu­fig in skur­ri­ler Art in­ein­an­der ver­wo­be­ne Hand­lungs­ebe­nen. Den­noch ver­sucht man am En­de ei­ne Glie­de­rung zu fin­den. Ja, da ist die Ge­schich­te des we­gen sei­nes John-Way­ne-Hals­tuchs all­ge­mein »Cow­boy« ge­nann­ten Man­nes, 1929 ge­bo­ren, der als Kind den Ein­marsch der Deut­schen in Ju­go­sla­wi­en und das Mas­sa­ker von No­vi Sad mit den in der Do­nau schwim­men­den To­ten haut­nah mit­er­lebt. Auf ei­nen Schlag – es ist da­tier­bar – bricht die hei­le Welt des schö­nen »Sonn­tags­lichts« zu­sam­men, die Spa­zier­gän­ge und Ki­no­be­su­che mit dem Va­ter, der ein Ex­per­te der ame­ri­ka­ni­schen Stumm­film­dar­stel­ler war. Der Jun­ge, der­art »mut­ter­los und va­ter­su­chend« ge­wor­den, schließt sich den Par­ti­sa­nen an, wird Mel­de­gän­ger aber der Sieg des Mar­schalls bringt kei­ne Bes­se­rung. Er eckt an, gilt als ab­trün­nig, wird auf Ti­tos »In­sel« de­por­tiert, ein La­ger für po­li­ti­sche Ge­fan­ge­ne, wird ge­fol­tert, aber er lernt, zu über­le­ben. Die­ser Cow­boy kommt nun mit ei­nem »Land­ar­rest« 1957 an den Tul­ove gre­de, ins Ve­le­bit-Ge­bir­ge, quar­tiert sich bei ei­nem Schä­fer ein und will ein­fach nur sei­ne Ru­he ha­ben. Ein paar Jah­re spä­ter kom­men die Deut­schen wie­der, dre­hen ge­nau an die­sem Ort zwi­schen 1963 und 1968 neun We­stern­fil­me nach Dr. May, den der Cow­boy schon aus der Bi­blio­thek des Va­ters kann­te.

Wei­ter­le­sen

Wel­ten und Zei­ten XI

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

← Wel­ten und Zei­ten X

Herz­klap­pen von John­son & John­son von Va­le­rie Frit­sch: ein Buch, das ich gern mö­gen und als »neu­ar­tig« her­vor­he­ben wür­de. Ganz oh­ne Dia­lo­ge, auch oh­ne in­ne­re Mo­no­lo­ge, ganz ge­schrie­be­ne Spra­che, ge­feilt und aus­ge­feilt, des­halb im­mer (nur?) schön. An­de­rer­seits ist die Ge­schich­te frag­wür­dig, sie wird ver­nach­läs­sigt, un­ernst er­zählt. Der Groß­va­ter im Krieg als Mör­der, wirk­lich? Al­le die­se la­tent oder auch ma­ni­fest vor­wurfs­vol­len Kriegs­ge­schich­ten, auf­ge­spürt und aus­ge­gra­ben von En­keln und Ur­en­keln, die von der Ge­schich­te, die sich ih­nen ver­wei­gert, be­trof­fen sein wol­len. Je­der Sol­dat ein Mör­der? Ja, si­cher, aber das müß­te man dann kon­se­quent so schrei­ben und nicht den ei­nen Groß­va­ter an­kla­gen. Sol­da­ten sind Mör­der, von den Vor­ge­setz­ten und letzt­lich vom Staat zum Mord ver­pflich­tet. Wei­gern sie sich zu tö­ten, wer­den sie selbst ge­tö­tet.

Und die Mut­ter der Er­zäh­le­rin ist auch was Be­son­de­res, näm­lich Schlaf­wand­le­rin. Der Va­ter kommt fast gar nicht vor, viel­leicht zu nor­mal? Die Ka­pi­tel set­zen die Fi­gu­ren kaum mit­ein­an­der in Be­zie­hung, viel­mehr wid­met sich je­des je­weils ei­ner Fi­gur, der Rei­he nach, wie Wä­sche auf der Lei­ne. Und dann blei­ben sie mehr oder we­ni­ger aus dem Buch fort. Ein­fa­cher ge­sagt: Die Ge­schich­te ist nicht durch­ge­hal­ten. Auch der Lieb­ha­ber der Er­zäh­le­rin und spä­te­re Ehe­mann bleicht aus. Und der schmerz­un­emp­find­li­che Emil. Gibt es das über­haupt, Men­schen, die gar kei­nen Schmerz emp­fin­den? An­schei­nend ja, sehr sel­ten. An­al­ge­sie heißt das. Laut Wi­ki­pe­dia sind bis­her drei­ßig da­von be­trof­fe­ne Per­so­nen be­kannt. Drei­ßig welt­weit, oder wo? Steht nicht in dem Ar­ti­kel. Nach der Lek­tü­re des Buchs kann ich mir die­sen Zu­stand nicht vor­stel­len. Kei­ne Bo­den­haf­tung, die Er­zäh­le­rin stellt sie nicht her.

Vö­gel schau­en zum Fen­ster her­ein, und die Men­schen schau­en hin­aus. Die Vö­gel woh­nen drau­ßen, des­halb schau­en sie manch­mal her­ein; die woh­nen her­in­nen, des­halb schau­en sie hin­aus. Nein, die Vö­gel flie­gen so­fort weg, wenn sie se­hen, daß sich et­was be­wegt. Aber das Bild von den her­ein­schau­en­den Vö­geln ist hübsch. Die Ge­fähr­dung Emils, des Schmerz­un­emp­find­li­chen, wird ei­ne Zeit­lang aus­gie­big be­schrie­ben, dann kommt es zu ei­ner Au­to­rei­se nach Ka­sach­stan, die meh­re­re Wo­chen dau­ert, das al­les kur­so­risch er­zählt, zu­sam­men­fas­send, por­trät­haft um­grei­fend. Aber, Fra­ge des Le­sers mit sei­ner Wirk­lich­keits­sor­ge: Ist das nicht völ­lig ver­ant­wor­tungs­los, auf ei­ner Rei­se in ein fer­nes Land, na­he an Kriegs­ge­bie­ten, wo kei­ne ärzt­li­che Ver­sor­gung zu er­war­ten ist – ist es nicht ge­fähr­lich, ja, ver­ant­wor­tungs­los, ein sol­cher­art ge­fähr­de­tes Kind mit­zu­neh­men? Ei­nen An­al­ges­iker! Die Fra­ge platzt aus dem Rea­li­täts­be­wußt­sein in die Fik­ti­on her­ein. Die Schrei­be­rin stellt sie nicht (mehr). Und die Tei­le der Ge­schich­te grei­fen nicht (mehr) in­ein­an­der.

Die­ses Buch bie­tet ei­ne Va­ri­an­te des Um-je­den-Preis-ori­gi­nell-sein-Müs­sens. Die­se be­son­ders au­ßer­ge­wöhn­li­chen Fi­gu­ren, mit be­son­ders ge­schärf­ten oder auch, an­ders­rum, feh­len­den Sin­nen. Va­ri­an­ten der Be­müht­heit. Und dann ver­ebbt der Schwung, reicht nicht aus bis zum Schluß. Kei­ne Dra­ma­tik. An­ge­neh­mes Da­hin­schnur­ren der Er­zäh­lun­gen, man liest sie gern. Wenn man sich nicht ge­ra­de über ein De­tail är­gert, ein, zwei Mal pro Sei­te. Da­hin­schnur­ren – Är­gern – Da­hin­schnur­ren – Är­gern…

Wei­ter­le­sen

Sieg­fried Un­seld zum 100.

Zeitschrift für Ideengeschichte - Unternehmen Unseld

Zeit­schrift für Ideen­ge­schich­te – Un­ter­neh­men Un­seld

Un­ter­neh­men Un­seld ist das ak­tu­el­le Heft der Zeit­schrift für Ideen­ge­schich­te über­schrie­ben. Es gilt den 100. Ge­burts­tag von Sieg­fried Un­seld zu fei­ern. Da die Kon­vo­lu­te pri­va­ter Kor­re­spon­den­zen in­zwi­schen zwar ar­chi­viert, aber ge­sperrt sind, bleibt der Le­ser glück­li­cher­wei­se mit mo­ra­li­sie­rend ver­pack­ten Schlüs­sel­loch­ge­schich­ten ver­schont und man kon­zen­triert sich im Schwel­gen und Rä­so­nie­ren auf das Le­bens­werk, dem Ver­lag­s­im­pe­ri­um rund um den Suhr­kamp-Ver­lag. Jan Bür­ger und Ste­phan Schlak prä­sen­tie­ren als Her­aus­ge­ber mehr als ein Dut­zend Auf­sät­ze und Es­says. Man soll­te sie zu­sam­men mit Hun­dert Brie­fe le­sen, ei­ner so­eben er­schie­ne­nen chro­no­lo­gi­schen Samm­lung von ein­hun­dert Brie­fen Un­sel­ds zwi­schen 1947 und 2002. Ne­ben Ul­ri­ke An­ders fun­giert auch hier Jan Bür­ger als Her­aus­ge­ber.

Siegfried Unseld: Hundert Briefe

Sieg­fried Un­seld: Hun­dert Brie­fe

Zwei Tex­te in der Zeit­schrift für Ideen­ge­schich­te stam­men von Schrift­stel­lern – ein Ge­dicht von Durs Grün­bein und die Elo­ge von Rai­nald Goetz aus dem Jahr 2014, in der er so gran­di­os den Gang Un­sel­ds schil­dert. Jan Bür­ger ent­wickelt dann in der Do­ku­men­ta­ti­on ei­ner Lek­to­ren­be­spre­chung am Chiem­see zwi­schen Pe­ter Suhr­kamp, Sieg­fried Un­seld und dem Ly­ri­ker und Über­set­zer Ru­dolf Alex­an­der Schrö­der im Jahr 1957 ei­ne Art »In­itia­ti­on« Un­sel­ds zwei Jah­re vor des­sen of­fi­zi­el­ler In­au­gu­ra­ti­on und weist auf die Rich­tungs­än­de­rung hin, die da­mit ein­her ging. Im Ge­gen­satz zur Grup­pe 47 hat­te Pe­ter Suhr­kamp die Exi­lan­ten mit of­fe­nen Ar­men auf­ge­nom­men. »Für ra­di­ka­le Spiel­ar­ten der Mo­der­ne, die in­ter­na­tio­na­le Avant­gar­de oder avan­cier­te neue Theo­rien öff­ne­te sich der Ver­lag al­ler­dings erst un­ter Sieg­fried Un­seld«, so Bür­ger. Aber kei­ne Aus­nah­me oh­ne Re­gel: Im Brief­band er­fährt man et­was über­ra­schend, dass sich Pe­ter Suhr­kamp be­reits 1954 um den Avant­gar­di­sten Sa­mu­el Beckett er­folg­reich be­müh­te. Mit Brecht und Hes­se stan­den Un­seld ab 1959 zwei »Por­tal-Fi­gu­ren« (Mi­cha­el Krü­ger) zur Ver­fü­gung. 1967 mach­te Brecht 50% des Um­sat­zes des Ver­lags aus.

Wie der Ti­tel na­he­legt, wird häu­fig auf das Un­ter­neh­mer­tum des Ver­le­gers re­kur­riert. Man merkt auch heu­te noch sub­ku­tan Spu­ren gut ge­pfleg­ter Res­sen­ti­ments, wenn es um Un­sel­ds Ge­schäfts­tüch­tig­keit und Durch­set­zungs­fä­hig­keit geht, sei­ne Ideen, auch not­falls ge­gen Wi­der­stän­de um­zu­set­zen. Bür­ger und An­ders schrei­ben im Nach­wort zum Brief­band, Un­seld ha­be »Geist und Ge­schäft« zu­sam­men­ge­führt und die im­mer wie­der pro­pa­gier­te Un­ver­ein­bar­keit schlicht­weg igno­riert. Ver­ges­sen darf man da­bei al­ler­dings nicht, dass die Ge­sell­schaft hung­rig nach Lek­tü­re war und sich in den 1960er Jah­ren suk­zes­si­ve po­li­ti­sier­te. Der Bo­den für Spiel­for­men der li­te­ra­ri­schen Avant­gar­de war be­stellt.

Den voll­stän­di­gen Text »Die Zeit, als sich noch al­les um Li­te­ra­tur dreh­te« bei Glanz und Elend wei­ter­le­sen.