Schreib­fa­bri­ken und Sti­pen­dia­ten­pro­sa

Ei­ni­ge un­mass­geb­li­che Be­mer­kun­gen zu Tho­mas Meaneys The­sen über die Be­deu­tungs­lo­sig­keit der zeit­ge­nös­si­schen deut­schen Li­te­ra­tur

Man horcht auf. Schließ­lich ist von ei­nem un­aus­ge­spro­che­nen Skan­dal die Re­de. »Das wirt­schaft­lich be­deu­tend­ste Land des Kon­ti­nents lei­det so­wohl an man­geln­dem li­te­ra­ri­schem Ehr­geiz als auch an man­geln­der Prä­senz. Je­der weiß, dass die Er­ben der Spra­che von Kaf­ka, Brecht und Mann heu­te so we­nig ge­le­sen wer­den wie seit Jahr­zehn­ten nicht mehr.»1

Tho­mas Meaney liest im Vor­wort der ak­tu­el­len Aus­ga­be des bri­ti­schen »Granta«-Magazins der deut­schen Li­te­ra­tur die Le­vi­ten. »Der letz­te deut­sche Schrift­stel­ler, der ei­nen grö­ße­ren in­ter­na­tio­na­len Durch­bruch schaff­te, war WG Se­bald, der zwan­zig Mei­len von der öster­rei­chi­schen Gren­ze ent­fernt auf­wuchs, die mei­ste Zeit sei­nes Le­bens in Eng­land leb­te und sich selbst als Schü­ler von Pe­ter Hand­ke be­trach­te­te.« Wie kann es sein, dass aus Öster­reich, der Schweiz und Ru­mä­ni­en (!)2 bes­se­re deut­sche re­spek­ti­ve deutsch­spra­chi­ge Li­te­ra­tur ge­schrie­ben wur­de? Meaney er­klärt es da­hin­ge­hend, dass die »füh­ren­den Per­sön­lich­kei­ten« der öster­rei­chi­schen Nach­kriegs­li­te­ra­tur »In­ge­borg Bach­mann, Tho­mas Bern­hard, Pe­ter Hand­ke, Mar­len Haus­ho­fer, Frie­de­ri­ke May­röcker, El­frie­de Je­li­nek« sich nicht von ih­ren Vor­läu­fern der Mo­der­ne (Kaf­ka, Mu­sil, Do­de­rer, Broch) ab­ge­schnit­ten hät­ten wie die Deut­schen. »Als Böll nach dem Krieg be­gann, Ro­ma­ne zu ver­öf­fent­li­chen«, war es, so Meaney, »als hät­te es die Mo­der­ne nie ge­ge­ben.«

Die Er­klä­rung für die­sen (Neo-)Realismus deut­scher Trüm­mer­li­te­ra­tur, der in der Grup­pe 47 do­mi­nier­te, liegt vor al­lem dar­in, dass die Mo­der­ne – be­son­ders der deut­sche Ex­pres­sio­nis­mus – be­reits An­fang der 1930er Jah­re in Deutsch­land im ste­ti­gen Ver­schwin­den war. Die Na­zi-Zeit tat ihr üb­ri­ges. Ei­ne Ka­no­ni­sie­rung konn­te nicht statt­fin­den. Noch heu­te schreckt das Wort »Ex­pres­sio­nis­mus« ab. Al­len­falls »ex­pres­siv« wird ge­dul­det. Die Front­heim­keh­rer, die zur Grup­pe 47 stie­ßen, schu­fen ih­re Tex­te nicht in der Ab­sicht, die li­te­ra­ri­sche Mo­der­ne zu be­le­ben, son­dern zur Selbst­the­ra­pie. Frie­ren­de Sta­chel­tie­re such­ten nach Iden­ti­fi­ka­ti­ons­po­ten­ti­al. Exi­lan­ten stör­ten und Avant­gar­de kann­te man nicht.

Ein biss­chen un­ge­recht ist es trotz­dem. Der Preis der Grup­pe 47 wur­de neun Mal ver­ge­ben. Zwei Mal ging er nach Öster­reich – Il­se Ai­chin­ger und In­ge­borg Bach­mann (und ein­mal in die Schweiz an Pe­ter Bich­sel). Ei­ne man­geln­de Nä­he zur Mo­der­ne mag man den bei­den Öster­rei­che­rin­nen nun wirk­lich nicht nach­sa­gen. Und trotz­dem wirkt Meaneys Li­te­ra­ten­be­schimp­fung wie ei­ne ver­spä­te­te Va­ri­an­te des Weck­rufs von Pe­ter Hand­ke 1966, der von der »Be­schrei­bungs­im­po­tenz« sprach und die äs­the­ti­schen Struk­tu­ren der Ge­gen­warts­li­te­ra­tur wie auch der Li­te­ra­tur­kri­tik be­frag­te. Wo­bei Hand­ke dem län­ger schon tor­keln­den Rie­sen nur den letz­ten Stoß ver­setz­te.

Un­ter­des­sen wirk­ten be­reits seit mehr als ei­nem Jahr­zehnt in Wien H. C. Art­mann, Kon­rad Bay­er, Ger­hard Rühm, El­frie­de Gerstl, Frie­de­ri­ke May­röcker und Os­wald Wie­ner (um nur ei­ni­ge zu nen­nen). Mit­te der 1960er Jah­re kam in Graz noch das »Fo­rum Stadt­park« hin­zu. Die li­te­ra­ri­sche Avant­gar­de deut­scher Spra­che blüh­te. Und zwar in Öster­reich.

»Der Hö­he­punkt der west­deut­schen Li­te­ra­tur«, so Meaney, »war ein In­ter­re­gnum in den spä­ten 1970er Jah­ren, zwi­schen stren­ger Hoch­mo­der­ne und kon­sum­ori­en­tier­ter Post­mo­der­ne. Sie war selbst­be­wuss­ter als Hein­rich Böll, aus­ge­feil­ter als das ra­di­ka­le Ge­gen­kul­tur-Ex­pe­ri­ment von 1968, aber auch in­ten­si­ver, ern­ster und noch nicht zu iro­nisch.« Als Re­fe­renz für das En­de die­ser Epo­che wird dann der er­ste Film von Ot­to Waal­kes und der Er­folg von »Mo­dern Tal­king« aus­ge­ge­ben. Im­mer­hin ei­ne Poin­te.

Das »In­ter­re­gnum« der 1970er Jah­re be­stand vor al­lem in ei­nem Ge­ne­ra­tio­nen- und Stil­wech­sel. Man be­gann mit der hi­sto­ri­schen Be­wäl­ti­gung der Na­zi-Zeit und ent­deck­te in der so­zi­al-li­be­ra­len Ko­ali­ti­on un­ter Wil­ly Brandt ei­ne Per­spek­ti­ve. Zum er­sten und letz­ten Mal ver­mähl­ten sich Re­al- und Wunsch­po­li­tik. Wäh­rend sich die deut­sche Lin­ke un­si­cher war, ob die RAF le­gi­tim Pro­test be­trieb und sich zu­neh­mend an be­deu­tungs­ge­tränk­ter Ge­sin­nungs­li­te­ra­tur er­götz­te (und die we­ni­gen, die dies be­frag­ten, iso­lier­te wo es nur mög­lich war), über­sie­del­te die öster­rei­chi­sche Avant­gar­de in die Groß­ver­la­ge. Der Sei­ten­ein­stei­ger Tho­mas Bern­hard schimpf­te über die Nä­he von Na­tio­nal­so­zia­lis­mus und Ka­tho­li­zis­mus. Das hat­te bei al­ler Be­trof­fen­heit vor al­lem Hu­mor. Die Po­li­ti­sie­rung er­folg­te hier äs­the­tisch und we­ni­ger äthe­risch. Die DDR-Li­te­ra­tur, die ähn­li­ches ver­such­te, galt in Deutsch­land als re­ni­tent; die stör­te die Ge­müt­lich­keit.

In den 1980er Jah­ren ver­lor die Li­te­ra­tur ih­re Mas­sen­be­deu­tung und wur­de zur Ni­sche. Meaney macht da­für mehr oder we­ni­ger das Ki­no ver­ant­wort­lich. In Wahr­heit trug na­tür­lich das Fern­se­hen die Haupt­schuld. In Deutsch­land wur­de ab 1984 groß­flä­chig das Pri­vat­fern­se­hen ein­ge­führt, kaum spä­ter du­del­ten die pri­va­ten Ra­dio­sen­der. Der Un­ter­bie­tungs­wett­be­werb be­gann. Die Re­sul­ta­te sind be­kannt.

Li­te­ra­tur hat heu­te den Sta­tus des Exo­ti­schen. Da­bei trotzt die Buch­preis­bin­dung im­mer noch er­folg­reich dem Markt. Sie ist ei­ne der hei­li­gen deut­schen Kü­he, ver­gleich­bar mit dem Tat­ort am Sonn­tag oder In­ve­sto­ren­re­geln im deut­schen Pro­fi­fuß­ball. Der Kul­tur­be­trieb sieht sei­ne Rol­le als Be­wah­rer und an­ti­cham­briert bei der Po­li­tik als Geld­ge­ber. Füll­horn­mä­ssig wer­den in­zwi­schen Ver­la­ge un­ter­stützt, die aus lau­ter Ver­zweif­lung im­mer wei­ter und im­mer mehr ver­öf­fent­li­chen. Das Neu­erschei­nungs­ka­rus­sell dreht sich schwin­del­erre­gend. Quan­ti­tät schlägt längst Qua­li­tät. Stöh­nen ge­hört zum Kri­ti­k­er­hand­werk wäh­rend in Sonn­tags­re­den die »Viel­falt« ge­lobt wird.

Meaney cha­rak­te­ri­siert den deut­schen Li­te­ra­tur­be­trieb als selbst­re­fe­ren­ti­el­les Sy­stem: »Das Land ver­fügt über ei­nen aus­rei­chend gro­ßen Bin­nen­markt, ge­nü­gend För­der­mit­tel, ge­nü­gend Stel­len für Stadt­schrei­ber und Plät­ze in den bei­den Schreib­fa­bri­ken (in Hil­des­heim und Leip­zig), um ei­ne be­trächt­li­che An­zahl von Schrift­stel­lern ste­tig über Was­ser zu hal­ten, die sich mit Sti­pen­dia­ten­pro­sa3 und zahl­lo­sen wert­vol­len An­ge­bo­ten pro­fi­lie­ren.« Vie­le Au­toren sei­en zu­dem da­mit be­schäf­tigt, Feuil­le­tons oder Click­bait-Ar­ti­kel zu ver­fas­sen. »Jun­ge Schrift­stel­ler«, so der Be­fund, »wer­den in Deutsch­land in ein li­te­ra­ri­sches Sy­stem ein­ge­führt, das dar­auf aus­ge­rich­tet ist, sie in der Pro­vinz zu hal­ten.« Da­bei wä­re Pro­vin­zia­li­tät we­der ei­ne Sa­che des Wohn- noch des Hand­lungs­or­tes. Sie­he Yo­kna­pa­taw­pha Coun­ty. Oder Had­dam.

Liegt es nur am Geld? För­der­mit­tel und Prei­se gibt es, so möch­te man ent­geg­nen, in Öster­reich fast noch mehr. War­um ent­steht ge­ra­de dort ei­ne deut­lich an- wie auf­re­gen­de­re zeit­ge­nös­si­sche Li­te­ra­tur? Der Un­ter­schied zwi­schen öster­rei­chi­scher und deut­scher Li­te­ra­tur dürf­te dar­in lie­gen, dass man in Deutsch­land äs­the­ti­sche Fra­gen der pro­gres­siv-po­li­ti­schen Bot­schaft des Ge­schrie­be­nen un­ter­ord­net (Ro­bert Men­as­se mal aus­ge­nom­men). Die­se mo­ra­lin­saure Grund­hal­tung ist fast er­zwun­gen, um in­ner­halb des be­schrie­be­nen selbst­re­fe­ren­tu­el­len Netz­werks zu re­üs­sie­ren und den Kon­takt zu den Ent­schei­dern über die Preis- und För­der­töp­fe nicht zu ver­lie­ren. Das Re­sul­tat ist eben schreck­lich lang­wei­lig. Hier­in könn­te der Grund lie­gen, war­um so we­nig zeit­ge­nös­si­sche deut­sche Li­te­ra­tur über­setzt wird.

Im wei­te­ren be­schäf­tigt sich Meaney noch ei­ni­ger­ma­ßen sprung­haft mit der deut­schen In­nen­po­li­tik, was teil­wei­se an­re­gend ist, hier aber nicht kom­men­tiert wer­den soll. Um dann auf die Bei­trä­ge im Heft zu ver­wei­sen, Man ver­sam­me­le Tex­te, »die mit vol­ler Kraft in die ent­ge­gen­ge­setz­te Rich­tung der li­te­ra­ri­schen Träg­heit des Lan­des« gin­gen. Au­toren sind un­ter an­de­rem Leif Randt, Ju­dith Her­mann, Durs Grün­bein, Cle­mens Mey­er und Lutz Sei­ler. Er­gänzt um Alex­an­der Klu­ge und Jür­gen Ha­ber­mas. Al­les über­setzt ins Eng­li­sche. (Und es gibt es so­gar ei­ni­ge Ta­ge­buch­no­ta­te von Pe­ter Hand­ke, dem Öster­rei­cher.)

Für den Le­ser zeit­ge­nös­si­scher deut­scher Li­te­ra­tur sind die­se Na­men wohl­be­kannt. Man fragt sich den­noch ei­ni­ger­ma­ßen ver­wirrt: Was will man den bri­ti­schen Le­sern mit Klu­ge und Ha­ber­mas vor­stel­len? Wo sind denn die »mi­gran­ti­schen« Au­toren, die seit ei­ni­gen Jah­ren im­mer lau­ter (und in­ter­es­san­ter) wer­den? (Ihm fällt nur Emi­ne Sev­gi Öz­da­mar ein; Bei­trä­ger gibt es kei­ne.) Und wen meint Meaney ge­nau, wenn er von »Träg­heit« spricht? Zu­mal ei­ni­gen Schrei­bern vor­beu­gend auf­grund ih­rer po­li­ti­schen Rich­tung (»Neue Rech­te«) die Sa­tis­fak­ti­ons­fähgkeit ab­ge­spro­chen wird. Ins­ge­samt bleibt er lie­ber un­deut­lich und raunt. Deut­scher geht es kaum.

Die The­sen fin­den im deut­schen Feuil­le­ton bis auf ein In­ter­view mit Tho­mas Meaney (in der SZ; Be­zahl­text, mir da­her un­zu­gäng­lich) mei­nes Wis­sens kei­ne Be­rück­sich­ti­gung. Scha­de.


  1. Die nachfolgenden Übersetzungen des englischen Textes wurden mit DeepL und einem kleineren Eigenanteil erstellt. 

  2. Das Ausrufezeichen ist von mir. Ich nehme an, Meaney bezieht sich vor allem auf die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller. 

  3. "fellowship prose" steht im Original 

6 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Kann es sein, dass hier die Vor­lie­be der Eng­län­der für Sta­tus, Ran­king und Com­pe­ti­ti­on spricht? We’­re in the pre­mier Le­ague. Whe­re are you?

    Was ist mit dem deut­schen Film? Ei­ne Ka­ta­stro­phe, sa­gen vie­le deut­sche Film­leu­te. Und jetzt Hül­ler / Wen­ders / ‘Klas­sen­zim­mer’ bei den Os­cars – wie­der ei­ne Ver­an­stal­tung un­ter ame­ri­ka­ni­scher He­ge­mo­nie. Wird das was än­dern an der Do­mi­nanz?

    Ich wet­te, es gibt to­tal in­ter­es­san­te Li­te­ra­tur über­all in den klei­nen, un­be­deu­ten­den Län­dern, aber Leu­te wie Meaney hiel­ten trotz­dem das gro­ße Gan­ze im Au­ge. Soll sa­gen, von Gran­den ver­lie­he­ne Welt­gel­tung, Busi­ness und ‘Be­trieb’ (Über­set­zun­gen!) sind un­ge­mein ge­wich­ti­ger für sol­che Ein­schät­zun­gen als blo­ße äs­the­ti­sche Grün­de. Best­sel­ler als Bench­mar­king – nicht um­sonst An­glo-Be­grif­fe. Und aus pro­fes­sio­nel­ler (= im­mer auch sport­li­cher) Per­spek­ti­ve ist es ja wich­tig. Sie­he No­bel­preis: Wer wird Welt­mei­ster? (Und ja, was ist mit dem deut­schen Fuß­ball? Der in­ter­es­siert mich zwar nicht, aber ich be­kom­me mit, was für ei­nen kläg­li­chen Stel­len­wert er wohl ge­ra­de ge­nießt. (Und was ist mit den Hol­län­dern los? Wa­ren die nicht mal ... ?)

    Und so wei­ter.

    ***

    Schon vor Jahr­zehn­ten mitt­ler­wei­le (auch Kla­gen ge­hört zum Ge­schäft) gab es ernst­haf­te Stim­men, die be­haup­te­ten, dass der neue Kaf­ka heu­te gar kei­ne Chan­ce hät­te. (Er wür­de nicht er­kannt / er wä­re eben kei­ne Frau / die Lek­to­ren sei­en un­fä­hig / das Mar­ke­ting brau­che Les­bar­keit statt Ge­nie / Kunst ge­gen Zeit­geist bringt es nicht usw. Trotz­dem war­ten an­schei­nend al­le auf den gro­ßen Au­ßen­sei­ter, der die Kunst aus der all­ge­mei­nen Nicht­be­deu­tung reißt. )

    Al­ler­dings – ha­be ich schon vor Län­ge­rem fest­ge­stellt – le­se ich sel­ber auch viel we­ni­ger deut­sche Li­te­ra­tur als frü­her. Al­ler­dings le­se ich – in im­mer län­ge­ren Pha­sen und An­läu­fen des Wie­der-Le­sens – dann doch wie­der viel Be­währ­tes aus die­sem un­se­rem Lan­de. War­um? Was ist es denn, das fehlt? (Was an­de­res als der ehe­mals ver­bind­li­che Blick­punkt, die Au­to­ri­tät des Feuil­le­tons, ein Min­dest-Kon­sens?)

    Noch ein paar per­sön­li­che An­mer­kun­gen, mei­ner­seits oh­ne An­spruch auf Über­sicht oder ‘Be­deu­tung’.

    ‘Der Kopf des Vi­tus Be­ring’ war für mich als Schü­ler mal ei­ne be­gei­stert stu­dier­te Ent­deckung – ir­gend­wann hab ich das Buch, im­mer­hin ei­ne Ori­gi­nal­aus­ga­be der 1. Auf­la­ge, ein­fach ver­schenkt. Da­ge­gen ha­be ich, we­gen mei­ner an­hal­ten­den Sym­pa­thie für die Ver­fil­mung (durch Her­bert Ve­se­ly, wie­der so ein in­spi­rier­ter Ösi, der auch ei­ne pro­mi­nen­te Rol­le spiel­te beim Ober­hau­se­ner Ma­ni­fest) neu­lich noch mal Bölls Er­zäh­lung »Das Brot der frü­hen Jah­re« ge­le­sen, und fand sie ei­ne gut ge­bau­te, psy­cho­lo­gisch über­zeu­gen­de, mir viel Zeit­ko­lo­rit & ‑kli­ma ver­ge­gen­wär­ti­gen­de Ge­schich­te.

    An­son­sten schaue ich, we­gen Jah­res­an­fang, ge­ra­de aus­zu­sor­tie­ren­de Bü­cher durch, bzw. auf die, die ich be­hal­te. Weil ich ge­ra­de bei ‘K’ bin: Es blei­ben die Be­währ­ten vom letz­ten Jahr, Kro­nau­er und Kirch­hoff. Kracht und Krau­sser ha­be ich schon vor Jah­ren weg­ge­ge­ben. Hat es al­so doch mehr mit dem ei­ge­nen Al­ter zu tun? (Statt­des­sen ha­be ich mir nach und nach an­ti­qua­risch die Bü­cher des von Reich-Ra­nicki so harsch ge­can­cel­ten Gerd Gai­sers be­sorgt – für mich ei­ner der wirk­li­chen deut­schen Sprach­be­herr­scher die­ser ‘47’er-Zeit, der völ­lig un­ver­dient heu­te nir­gend­wo mehr auf­taucht.)

    Aber es hat ja auch Vor­tei­le, wenn man alt ist: Man kann sich er­lau­ben, sich ein­fach nicht mehr zu­stän­dig zu füh­len. Halb­her­zig ver­fol­ge ich im­mer noch Trends und Kri­ti­ken, aber füh­le mich auch nir­gends mehr zu­ge­hö­rig (= frei). Und mi­gran­ti­sche, gen­der-agen­ti­sche oder et­wa auch die The­sen-Au­toren (à la Men­as­se oder Ju­li Zeh) ha­be ich nicht ge­le­sen und wer­de ich auch nicht mehr le­sen. (Da­bei fand ich den Text von Behzad Ka­rim Kha­ni beim Bach­mann­be­werb 2022 den packend­sten, in­ter­es­san­te­sten und zeit­ge­nös­sisch­sten: Da­ne­ben sa­hen al­le an­de­ren Tex­te, be­son­ders die ela­bo­rier­ten, sich künst­le­risch UND re­le­vant zu ge­ben ver­su­chen­den, al­so wohl ex­tra fürs Wett­le­sen ge­schrie­be­nen, ziem­lich blass aus. Und wer den Jahr­gang ge­won­nen hat, ha­be ich auch ver­ges­sen.)

    Aber die Bach­män­ner ma­chen wei­ter. Die Ver­la­ge ma­chen wei­ter, die Kri­ti­ker ma­chen wei­ter, die Feuil­le­tons ma­chen wei­ter. Die Aus­schrei­bungs­dich­ter ma­chen wei­ter. Was sol­len sie sonst ma­chen?

    ***
    Und das Po­si­ti­ve? Wo blei­ben Tho­mas Mel­le? Oder Nor­bert Scheu­er? Kann es sein, dass es die Ein­zel­nen sind, die das gro­ße Dis­pa­ra­te zu­sam­men­hal­ten?

    ***

    Ich den­ke, das Feh­len ei­nes Ka­nons ist tat­säch­lich ein Man­gel – wo­mög­lich be­son­ders für die Nach­kom­men­den. Ich ha­be das, glau­be ich, hier auf Be­gleit­schrei­ben schon ein­mal ver­tre­ten. Statt­des­sen ver­stärkt das in­fla­tio­nä­re Schrei­ben wei­ter das Anything goes. Ob­wohl je­der das von sich glaubt, sind eben nur we­ni­ge äs­the­tisch so sou­ve­rän. Und Di­ver­si­tät = Eman­zi­pa­ti­on von Al­lem ist schön – doch macht die gu­te al­te, pro­por­tio­nal dau­ernd wach­sen­de neue Un­über­sicht­lich­keit dann ‘viel Ar­beit’ (à la Karl Va­len­tin).

    Für mein Ge­fühl franst es im­mer wei­ter aus. Neu­lich las ich, dass Gam­ing-Nar­ra­ti­ve jetzt auch ir­gend­wie Li­te­ra­tur und da­mit preis­wür­dig sind. Oder was ist mit so et­was Blut­lee­rem wie dem zu­neh­mend pro­mi­nen­ten ‘Na­tu­re Wri­ting’. Ist es das neue Sub­jek­ti­vi­tät oder soll es ernst­haft das An­thro­po­zän kri­ti­sie­ren? ‘Nüs­se- und Grä­ser­be­wis­pe­rer’ nann­te das Pe­ter Rühm­korf schon in den frü­hern 60ern, glau­be ich = Sie ha­ben nichts zu sa­gen. Aber die öf­fent­li­chen Ali­men­tie­run­gen für so was flie­ßen nur so.

    Und so wei­ter. Fuck­ing Ger­mans. Manch­mal den­ke ich, heu­te noch ir­gend­was ver­bind­lich zu be­ur­tei­len, ist an­ma­ßend. Und dann fällt mir wie­der Ernst Tu­gend­hat ein: ‘Das Be­dürf­nis nach Ge­wiss­heit ist Über­bleib­sel ei­nes au­to­ri­tä­ren Be­wusst­seins.’

    Kei­ner weiß mehr.

    Sor­ry für den Rant, ha­be den ver­nie­sel­ten Nach­mit­tag für mich. Und da wirkt dann so ei­ne We­gen-Heft­the­ma-fäl­li­ge-Stand­ort­be­stim­mung, die sich zur The­se zu stei­gern sucht, als an­ge­maß­te Selbst-Be­deu­tungs­hu­be­rei. Oder, um es als Kon­ti­nen­tal­eu­ro­pä­er zu sa­gen: I am not con­viced.

  2. Kein Grund für »sor­ry« – bit­te mehr »Rants«.

    Schön, dass Sie Gai­ser ent­deckt ha­ben. Der ist nun lei­der voll­kom­men ver­brannt, nach­dem ihn die »Neu-Rech­ten« für sich ent­deckt ha­ben. Man kann das hier se­hen. Es ist zwar stüm­per­haft (und teil­wei­se falsch, was da über Gai­ser ge­sagt wird), aber es ist halt ein Lob von der »fal­schen Sei­te«. Die ster­ben­de Jagd ist al­so aus zwei Grün­den zum Ster­ben ver­ur­teilt – ei­ner­seits die Per­son Gai­ser, an­de­rer­seits ist es ex­pres­sio­ni­sti­sche Li­te­ra­tur, die von Hau­se aus ei­nen schwe­ren Stand hat.

    An Behzad Ka­rim Kha­ni ha­be ich kei­ne Er­in­ne­rung mehr. Als ir­gend­wann das Buch von ihm her­aus­kam, wur­de es mit El­ke Hei­den­reich als »herz­zer­rei­ssend« be­wor­ben. Das hat mich dop­pelt ab­ge­schreckt. Es soll sich aber gut ver­kauft ha­ben. (Ge­won­nen hat­te 2022 An­na Mar­wan. Ihr Buch liegt hier noch un­ge­le­sen. Es kam mir al­les so ge­baut vor.)

    Ich glau­be, Meaney liegt mit sei­ner Ka­te­go­ri­sie­rung der deut­schen (in Ab­gren­zung zur deutschspra­chi­gen) Li­te­ra­tur (so ver­steh’ ich das) nicht ganz falsch. Auf Face­book schreibt mir je­mand, wo denn die ame­ri­ka­ni­sche Avant­gar­de sei bzw. das die­se nach Faul­k­ner nicht mehr viel zu­stan­de ge­bracht hat. Da ist was dran, aber es liegt eben an den Über­set­zun­gen. Die DACH-Ver­la­ge zah­len lie­ber Li­zenz­ge­büh­ren für ame­ri­ka­ni­sche Erst­lin­ge, die dort ei­nen brei­ten Mas­sen­ge­schmack be­dient ha­ben. Mehr­mals ging das kra­chend schief – so viel Mü­he sich das Mar­ke­ting auch mach­te. Ich war meist schon nach der Le­se­pro­be be­dient.

    Was ich nicht in mei­nem Text aus­ge­führt ha­be, ist der viel­leicht wich­tig­ste Un­ter­schied zwi­schen Deutsch­land und Öster­reich. Es könn­te näm­lich sein, dass in Öster­reich die Li­te­ra­tur als äs­the­ti­sches Aus­drucks­mit­tel ei­nen hö­hen Stel­len­wert hat als in Deutsch­land. Hier dreht sich al­les um ein Ge­fal­len im in­tel­lek­tu­el­len Main­stream. Bis hin­ein ins Po­li­ti­sche. Wo­bei das Po­li­ti­sche un­be­dingt IN der Li­te­ra­tur ver­ar­bei­tet wer­den soll/muss. Auch in Frank­reich ge­nießt Li­te­ra­tur ei­ne grö­ße­re Wert­schät­zung. Das, was von dort ins Deut­sche über­setzt wird, ist zu­meist le­sens­wer­ter als die ame­ri­ka­ni­schen Jün­gel­chen­pro­sa.

    Die von Ih­nen an­ge­spro­che­nen Ali­men­tie­run­gen flie­ßen häu­fig aus dem Ge­fühl des »schlech­ten Ge­wis­sens«. Ähn­lich wie Mä­ze­ne, die ih­re Ver­mö­gen mit al­ler­lei er­laub­ten und un­er­laub­ten Tricks und un­ter Be­rück­sich­ti­gung aus­ge­feil­ter Steu­er­mo­da­li­tä­ten er­wor­ben ha­ben und die nun ne­ben dem Ver­mö­gen auch das Ge­wis­sen plagt, glaubt die Po­li­tik, sie müs­se auch mal was »Gu­tes« tun. Dann ist man eben groß­zü­gig. Das Stif­tungs- bzw. Spon­so­ren­tum der pri­va­ten Ge­ber ist nichts an­de­res als Ab­lass­han­del. Der Kul­tur ist es egal – Haupt­sa­che das Geld fließt. Und so be­kommt seit Jah­ren vor al­lem die mit­tel­mä­ssi­ge Li­te­ra­tur Prei­se, eben weil sie al­len »pro­gres­si­ven« Nor­men ent­spricht.

    Bis­wei­len kämp­fe ich mit den Re­gal­me­tern, die be­grenzt sind (und die ich be­grenzt hal­ten möch­te), nut­ze die zwei­te Rei­he mehr als mehr lieb ist und for­cier­te das E‑Book (au­ßer von Au­toren wie Hand­ke, wo es schlich un­pas­send er­scheint). So man­ches Buch, des­sen Rücken sich mir ent­ge­gen­reckt, möch­te ich aus­sor­tie­ren, weg­ge­ben, aber dann zö­ge­re ich. Noch. Sie sind teil­wei­se wie Mö­bel­stücke, die ab­ge­nutzt sind, die man, wenn über­haupt, nur noch sel­ten be­nutzt, aber dann doch aus Sen­ti­men­ta­li­tät be­hält.

  3. Die Li­ste der ge­schei­ter­ten Pro­duk­te wird län­ger und län­ger: die deut­sche Zi­gar­re, der deut­sche Rot­wein, der deut­sche Film, die deut­sche Li­te­ra­tur. Ei­ne Ana­ly­se des Be­triebs un­ter dem Aspekt der Ab­hän­gig­keit (vs. krea­ti­ve Frei­heit) er­scheint mir ty­pisch an­gel­säch­sisch falsch. Die Su­che nach dem Feh­ler ist viel­leicht ge­nau­so schwie­rig wie die Er­zeu­gung der er­wünsch­ten Li­te­ra­tur. Ich grei­fe da­her zu ei­ner an­de­ren Hy­po­the­se und er­gän­ze das Schei­tern des po­li­ti­schen Schrift­stel­lers: Du bist ent­we­der ein »Po­li­ti­ker« oder ein »Prie­ster«, ty­po­lo­gisch ge­se­hen. Und die­se Wahl ist in den Frei­heits­gra­den ver­mut­lich ein­ge­schränkt, da das Po­li­ti­sche ja sei­ne ei­ge­ne Zu­dring­lich­keit hat, die sich aus der Brei­te der kul­tu­rel­len Er­fah­rung er­gibt. Ich mer­ke es täg­lich, wie die Po­li­tik die See­le frisst, und ich kon­sta­tie­re, dass die im al­ler­wei­te­sten Sin­ne »tran­szen­dent ge­stimm­ten« Au­toren so gut wie ver­schwun­den sind. Ich ken­ne gar kei­nen, au­ßer Mo­se­bach, und der ist nicht mein Fall. Aber um nicht falsch ver­stan­den zu wer­den: ich spre­che nicht von ei­ner Ab­bil­dung der jü­disch-christ­li­chen Tra­di­ti­on, son­dern ich be­zie­he mich auf ei­ne mög­li­che propf­ar­ti­ge Er­gän­zung, weil un­se­re Tra­di­ti­on durch­aus ein­sei­tig und re­duk­tio­ni­stisch ist, und die see­li­sche Di­men­si­on (Stich­wort: Re­ste au­to­ri­tä­ren Be­wusst­seins) nicht voll­stän­dig er­schließt. Mut­maß­lich kippt jetzt die gan­ze deut­sche Schrei­be­rei ins po­li­tisch Kon­zi­li­an­te, was den Vor­teil hat, dass die »Nach­rich­ten« und die li­te­ra­ri­sche Lek­tü­re kei­ne all­zu gro­ßen ko­gni­ti­ven Dis­so­nan­zen er­zeu­gen... Es fehlt die Na­tur, es fehlt das Sein.

  4. »Tran­szen­den­ta­le« Au­toren gibt es in Deutsch­land schon noch. Mo­se­bach wür­de ich nicht di­rekt da­zu zäh­len. Sein Stil ist zu stark schwan­kend zwi­schen Ma­nie­ris­mus und all­zu ge­wollt da­her­kom­men­der Iro­nie. Das ist al­ler­dings un­ter­halt­sam und macht ihn ver­däch­tig.

    Selbst man von den »Alt­mei­stern« ab­sieht (ich den­ke an Pe­ter Hand­ke – aber der ist ja Öster­rei­cher), gibt es schon sehr les­ba­re deut­sche Li­te­ra­tur: Esther Kin­sky et­wa (der­zeit das Be­ste, was man aus Deutsch­land le­sen kann), Ul­rich Pelt­zer, Mi­cha­el Klee­berg. Frü­her auch ein­mal Bo­tho Strauß, aber der ist gänz­lich un­ver­ständ­lich ge­wor­den. Ein ra­di­ka­ler Ver­wei­ge­rer pre­digt­haf­ter Li­te­ra­tur ist auch je­mand wie Tho­mas Kunst. Wie ge­sagt, die Öster­rei­cher las­se ich jetzt mal weg (es gibt ei­ni­ge).

    Ob die deut­sche Li­te­ra­tur ins »po­li­tisch kon­zi­li­an­te« drif­tet, ist ja ge­ra­de die Fra­ge. Mei­nes Er­ach­tens war sie dort bis auf we­ni­ge Aus­nah­men im­mer si­tu­iert. Wer nicht die »rich­ti­ge« Bot­schaft min­de­stens zwi­schen den Zei­len ar­ti­ku­lier­te, mach­te sich rasch des Äs­the­ti­zis­mus ver­däch­tig. Gro­ße Tei­le der deut­schen Nach­kriegs­li­te­ra­tur rie­chen mo­ra­lin­sauer.

  5. Dan­ke für die Hin­wei­se, vor­al­lem für die im­pli­zi­te Zu­stim­mung. Ich neh­me die The­se ger­ne zu­rück, dass ge­ra­de eben et­was kippt. Fast war mir, als woll­te ich sa­gen: end­gül­tig kippt. Ihr Ein­druck passt näm­lich ge­nau da­zu: die po­li­tik-af­fi­nen Au­toren ma­chen den Spa­gat und wer­fen die Äs­the­tik aus der Waag­scha­le, be­fin­den sich aber den­noch für ge­wich­tig... Oder man be­lohnt sie dem­entspre­chend. Ha­ben Sie ir­gend­ei­ne Theo­rie dar­über, war­um die Spra­che den »Ty­pen« nach mei­ner Klas­si­fi­ka­ti­on ver­rät. Ich mei­ne, das liest man doch auf je­der Sei­te, sa­gen wir bei Hand­ke oder Strauss, weil ich sie ken­ne. Aber wie geht das zu, was sind das für »Über-Sin­ne«, die ei­ne sol­che Iden­ti­fi­ka­ti­on mög­lich ma­chen?! Gibt es viel­leicht zwei Sor­ten von sprach­li­cher Ver­klei­dung, – die ei­ne iro­nisch, die an­de­re my­ste­ri­ös, pa­ga­nisch?! Der Jar­gon der ge­woll­ten Ober­fläch­lich­keit ist leicht durch ei­nen Ver­gleich mit der Live­style-Pres­se zu iden­ti­fi­zie­ren. Aber was ist mit dem Exo­tis­mus, al­so der Ent­füh­rung der Spra­che ins Un­ge­wohn­te, Un­heim­li­che?! Gibt es da in Deutsch­land schon län­ger ei­ne Be­geg­nungs­angst, ei­ne Furcht, die Ir­ra­tio­na­li­tät zu ho­fie­ren, ob­wohl man die Krea­ti­vi­tät be­loh­nen müss­te?!

  6. Ein biss­chen ver­ein­fa­chend ge­sagt: Der »Exo­tis­mus«, al­so avant­gar­di­sti­sche Li­te­ra­tur, die sich von Plots und Ge­schichts­kon­struk­tio­nen eman­zi­piert (oder, in ex­tre­men Fäl­len, zer­trüm­mert), hat in Deutsch­land seit den 1930er Jah­ren kei­ne si­gni­fi­kan­te Le­ser­schaft mehr. Die Na­zi-Zeit tat ein üb­ri­ges. Die 1950er Jah­re war die Zeit des »Neu­en Rea­lis­mus«. Da ex­pe­ri­men­tier­te man be­reits wie­der in Öster­reich mit der Spra­che. Au­toren wie Pe­ter Hand­ke, Wolf­gang Bau­er und Ger­hard Roth sind dann so­zu­sa­gen »ge­blie­ben« und in den öster­rei­chi­schen Ka­non ge­rückt. Das ging nicht oh­ne sti­li­sti­sche Ver­än­de­run­gen ab, wie man bei Hand­ke En­de der 1970er Jah­re ge­se­hen hat (sei­ne Hin­wen­dung zu Stif­ter, zum Er­zäh­len – oh­ne frei­lich in neo­rea­li­sti­sche Pro­sa zu ver­fal­len).

    Ge­stern schick­te mir ein Le­ser das pdf zum Ge­spräch mit Tho­mas Meaney und der SZ (Fe­lix Ste­phan). Er geht dort stär­ker auf den »Man­gel an Op­po­si­ti­on« in der deut­schen Li­te­ra­tur ein: »Die deut­sche Nach­kriegs­li­te­ra­tur war im­mer da am stärk­sten, wo sie sich als ant­ago­ni­sti­sche Kraft be­griffen hat und ge­gen die ver­kru­ste­ten Eli­ten der ame­ri­ka­treu­en Bun­des­re­pu­blik oder der so­wjet­treu­en DDR an­schrieb – da, wo sie op­po­si­tio­nell sein woll­te.« Ste­phan fragt ihn dar­auf­hin, ob die deut­sche Li­te­ra­tur nicht per se op­po­si­tio­nell ist. Meaney bringt dann ein ziem­lich in­ter­es­san­tes Bei­spiel: »Wenn Sie heu­te et­wa Kri­tik an der EU su­chen, müs­sen Sie in die Li­te­ra­tu­ren von Frank­reich oder Nor­we­gen schau­en. In Deutsch­land ist die EU in ih­rer jet­zi­gen Form so selbst­ver­ständ­lich, dass ich kei­nen Au­tor oder Au­torin ge­fun­den ha­be, der sich da­mit kri­tisch be­schäf­ti­gen wür­de.« Be­son­ders wich­tig scheint mir der Ein­schub »die EU in ih­rer jet­zi­gen Form«. Wer dies näm­lich es­say­istisch oder li­te­ra­risch be­fragt, wird min­de­stens als Po­pu­list, wenn nicht gar »rechts« ein­ge­stuft. Das konn­te man an der Re­zep­ti­on zu En­zens­ber­gers harm­lo­sem Es­say vom »sanf­ten Mon­ster Brüs­sel« se­hen. (Um­ge­kehrt wer­den die EU-Adep­ten wie Ro­bert Men­as­se auf Hän­den ge­tra­gen.)

    Meaney klärt am En­de noch den schein­ba­ren Wi­der­spruch zwi­schen op­po­si­tio­nel­ler und äs­the­ti­scher Li­te­ra­tur auf: »Ich glau­be, dass ein gro­ßer Teil der be­sten Li­te­ra­tur po­li­tisch ist, aber nicht in dem Sin­ne, wie es ge­mein­hin ge­meint ist, nicht im Sin­ne ei­nes zeit­ge­nös­si­schen Bit­ter­fel­der We­ges. Li­te­ra­tur ist nicht dann am nach­hal­tig­sten, wenn sie am mei­sten von po­li­ti­schen Idea­len durch­drun­gen ist, son­dern ge­ra­de dann, wenn sie es nicht ist, und weil sie es nicht ist, ist sie es um­so mehr.« Ei­ne Wei­ter­ent­wick­lung von »Show, don’t tell«, wie ich fin­de.

    Ich glau­be, dass man in Deutsch­land (mehr als in Öster­reich) durch das gut ge­öl­te Sub­ven­ti­ons- und Preis­sy­stem ei­ne Strom­li­ni­en­för­mig­keit er­zeugt, weil man sie pe­ku­ni­är be­lohnt. Das lässt sich nie­mand neh­men. Zur fast letz­ten Oa­se der Re­ni­tenz wur­de das Ge­dicht. Letz­tes Jahr gab es pas­sen­der­wei­se da­zu ei­nen klei­nen Ly­rik-Skan­dal, als ei­ne Au­torin aus­ge­zeich­net wur­de, die sich be­wusst gän­gi­gen Ver­ständ­nis­mu­stern ent­zieht. Da­hin­ter steht der un­aus­ge­spro­che­ne Wunsch nach Zweck­mä­ssig­keit von Li­te­ra­tur. Und das ist dann sehr deutsch: Wenn man et­was macht, muss es ei­nem Zweck die­nen. All­zu häu­fig wird die­ser auch im Li­te­ra­tur­be­trieb mit »Geld ver­die­nen« um­schrie­ben.

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