Jörn Birk­holz: Der Aus­bruch

Jörn Birkholz: Der Ausbruch

Jörn Birk­holz:
Der Aus­bruch

Jörn Birk­holz nennt sein neue­stes Buch Der Aus­bruch und ei­nen Ro­man. Und ich war nach der Lek­tü­re des neu­en Wer­kes von Pe­ter Slo­ter­di­jk über den Kon­ti­nent oh­ne Ei­gen­schaf­ten (ge­meint ist Eu­ro­pa) ge­ra­de­zu er­leich­tert durch Birk­holz’ Ge­schich­te wie­der aus den aka­de­mi­schen Hö­hen­käm­men zu­rück ge­holt zu wer­den.

Haupt­fi­gur im Buch ist Max, er lebt in Bre­men, dürf­te Mit­te 30 sein und ar­bei­tet seit ei­nem hal­ben Jahr auf ei­ner be­fri­ste­ten Stel­le in ei­nem Ar­chiv. Man küm­mert sich pro­jekt­mä­ßig um die Auf­ar­bei­tung der Schick­sa­le von aus den Ost­ge­bie­ten Ver­trie­be­ner. Er ist li­iert mit An­net­te, ei­ner Gym­na­si­al­leh­re­rin. Zu­sam­men ha­ben sie die vier­jäh­ri­ge Ma­rie Ce­li­ne. Max fühlt sich un­be­hag­lich, ge­fan­gen in All­täg­lich­kei­ten. Ein­her geht dies mit ei­ner fast no­to­ri­schen Ehr­geiz­lo­sig­keit. Da ist zu­nächst die Ar­beit, die ihm ge­nau so we­nig ge­fällt wie Ed­gar, sein chro­nisch dau­er­an­we­sen­der Chef (der den in­ter­es­san­ten Nach­na­men »Hanf­staengl« trägt). Dann die Fa­mi­li­en­be­trieb­sam­keit von An­net­te, die sich auch noch mit sei­nen El­tern ver­steht (ih­re ei­ge­nen El­tern wa­ren bei ei­nem Au­to­un­fall vor sechs Jah­ren ums Le­bens ge­kom­men). Zu Be­ginn wird Max von ihr er­in­nert, den Wan­der­ur­laub im Schwarz­wald zwi­schen den Jah­ren für die fünf zu bu­chen. Noch so ein Hor­ror. Max kann nicht nur den Na­men sei­ner Toch­ter nicht lei­den, weil die­ser ihm in ei­nem un­be­dach­ten Mo­ment auf­ge­zwun­gen wur­de, son­dern stört sich auch an de­ren Lau­nen­haf­tig­keit, die von An­net­te und sei­nen El­tern im­mer wie­der ent­schul­digt wird. Selbst­ver­ständ­lich han­tiert das Kind be­reits mit Smart­phone und Ta­blet. Da wird Max’ Va­ter, der sich hart­näckig wei­gert, bei Be­such den Fern­se­her aus­zu­stel­len (le­dig­lich der Ton wird ab­ge­stellt) und sich mehr für das Pro­gramm zu in­ter­es­sie­ren scheint, zum Aus­blick auf das Le­ben des Soh­nes.

In ei­nem In­ner­lich­keits­ro­man wür­de man jetzt aus­gie­big über Max’ See­len­le­ben in­for­miert, er wür­de sich viel­leicht auf ei­ne Rei­se be­ge­ben, zu ei­ner Sua­da über die Un­ge­rech­tig­kei­ten in der Welt an­set­zen oder aus lau­ter Ver­zweif­lung Frau und Kind um­brin­gen. Glück­li­cher­wei­se tritt nichts da­von ein. Statt­des­sen mel­det sich Iza wie­der, sei­ne ehe­ma­li­ge Freun­din. Nach neun Jah­ren. Sie ist in Bre­men, will ihn tref­fen. Nach ei­nem Ex­kurs über Max’ Schul­zeit (und sein Frem­deln mit der feh­len­den So­li­da­ri­tät der Klas­sen­ka­me­ra­den) kommt es dann un­ter fast kon­spi­ra­ti­ven Um­stän­den zum Tref­fen.

Wei­ter­le­sen

Wel­ten und Zei­ten XIII

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

← Wel­ten und Zei­ten XII

»Road mo­vie« ist ein ge­läu­fi­ger Be­griff der Ci­ne­phi­lie, je­der Ki­no­ge­her könn­te so­fort ein paar Bei­spie­le da­für auf­zäh­len. Aber »Rei­se­ro­man« sagt man ge­wöhn­lich nicht, ob­wohl es sehr vie­le Rei­se­ro­ma­ne gibt. Road no­vels. Vie­le Ro­man­hel­den be­we­gen sich gern, sind nicht seß­haft, ver­spü­ren Wan­der­lust wie wei­land Ei­chen­dorffs Tau­ge­nichts.

Schon die Wil­helm Mei­ster-Ro­ma­ne sind road no­vels; die Thea­ter­trup­pe, der sich Wil­helm an­schließt, ist ei­ne Wan­der­trup­pe. Rei­sen birgt Ge­fah­ren und die Chan­ce auf Aben­teu­er. Ge­hen wir noch wei­ter zu­rück: Don Qui­jo­te, der, wie oft ge­sagt wird, er­ste eu­ro­päi­sche Ro­man, ist ein Rei­se­ro­man, das Gen­re de­fi­niert sich zu­nächst als ei­nes der Be­weg­lich­keit, erst spä­ter, im 19. Jahr­hun­dert, meh­ren sich die häus­li­chen Ro­ma­ne, von wel­chen Bud­den­brooks ei­nen Kul­mi­na­ti­ons­punkt dar­stellt. Das Haus Bud­den­brook und sei­ne Re­prä­sen­tan­ten., die Er­ben von Ver­mö­gen und Ver­ant­wor­tung. Da­ge­gen sind Don Qui­jo­te und sei­ne Nach­fah­ren bis hin zu den Ro­man­ti­kern No­ma­den.

Ein Gut­teil der Ro­ma­ne Pe­ter Hand­kes sind Rei­se­ro­ma­ne. Der kur­ze Brief zum lan­gen Ab­schied so­wie­so, ein Ame­ri­ka­ro­man, wie Lang­sa­me Heim­kehr, wo der Weg in die um­ge­kehr­te Rich­tung führt. Spä­ter die Hei­mat Nie­mands­bucht, wo der Er­zäh­ler sie­ben Rei­se­be­rich­te von Freun­den emp­fängt: mul­ti­ple road no­vel. Aber auch spä­te Wer­ke wie Die Obst­die­bin.

Oder Ro­ber­to Bo­la­ños Wil­de De­tek­ti­ve, wo die me­xi­ka­ni­sche Rei­se im ame­ri­ka­ni­schen Stra­ßen­kreu­zer als Quest der jun­gen Dich­ter und Le­bens­künst­ler an­ge­legt ist.

(Ne­ben­bei be­merkt: Ad­ven­ture-Vi­deo­ga­mes fol­gen fast im­mer dem mit­tel­al­ter­li­chen Sche­ma der Quest. Er­zähl­tech­nisch al­so nichts Neu­es. Nur me­di­en­tech­nisch. Ei­ne Quest, was oder wen im­mer du auch suchst, macht je­de Ge­schich­te span­nend. Amen!)

Wie­der­lek­tü­ren ste­hen ei­nem al­ten Mann bes­ser an als Neulek­tü­ren. War­um? Weil vom Neu­en bei ihm nicht viel hän­gen bleibt; weil es ihn nicht tief be­rührt und je­den­falls sei­ne Per­sön­lich­keit nicht mehr prä­gen kann. Von neu­en Bü­chern, die ich jetzt le­se, mer­ke ich mir bei wei­tem nicht so viel wie von Bü­chern, die ich als 15‑, 20- oder 30jähriger las. Die jet­zi­gen Lek­tü­ren sen­ken sich nicht in die Tie­fe mei­nes We­sens. Klingt pa­the­tisch, ist aber ein­fach so. Der­zeit le­se ich Wil­helm Mei­sters Lehr­jah­re wie­der, und par­al­lel da­zu Tor­qua­to Tas­so (kein Ro­man, son­dern ein sehr klas­si­sches Dra­ma). Da den­ke ich ein ums an­de­re Mal: Aha, ge­nau, so ist er, die­ser Wil­helm, die­ser Tas­so! Ich ken­ne sie, mei­ne Pap­pen­hei­mer. Dann wie­der Er­in­ne­rungs­blit­ze: Ach, das hat­te ich ganz ver­ges­sen! Ich se­he man­che Fi­gu­ren, Si­tua­tio­nen, ge­dank­li­chen Im­pli­ka­tio­nen neu, auch das kommt vor. Ei­ni­ges hat­te ich viel­leicht vor vier­zig Jah­ren nicht be­grif­fen. Aber ins­ge­samt hat­te ich viel, viel mehr be­grif­fen, als ich jetzt bei ei­ner Erst­lek­tü­re be­grei­fe. Mein Ge­hirn ist nicht mehr das, was es war. In man­cher Hin­sicht ist es jetzt viel­leicht so­gar bes­ser: kon­nek­ti­ver, manch­mal auch schnel­ler, weil ge­schult. In an­de­rer Hin­sicht ist es schwä­cher, trä­ger: be­gei­ste­rungs­trä­ge.

Wei­ter­le­sen

Chri­sti­an Schwep­pe: Zei­ten oh­ne Wen­de

Christian Schweppe: Zeiten ohne Wende

Chri­sti­an Schwep­pe: Zei­ten oh­ne Wen­de

Fast zwei­ein­halb Jah­re be­ob­ach­te­te der Jour­na­list Chri­sti­an Schwep­pe das, was man »Zei­ten­wen­de« nann­te: Die Re­ak­tio­nen der deut­schen Re­gie­rung auf den Über­fall Russ­lands auf die Ukrai­ne. Schwep­pe weiß, dass es vom Kanz­ler­stuhl der Re­gie­rungs­bank zum Red­ner­pult sie­ben Schrit­te sind. Am 27. Fe­bru­ar 2022 rief Bun­des­kanz­ler Olaf Scholz ei­ne »Zei­ten­wen­de« aus. Spä­ter er­fährt man von Schwep­pe, dass Scholz sich mit dem Be­griff der Zei­ten­wen­de selbst pla­gi­iert hat­te; er ver­wen­de­te ihn be­reits 2017 in ei­nem Buch, frei­lich oh­ne Ver­bin­dung mit mi­li­tä­ri­schen Fra­gen. An je­nem Fe­bru­ar 2022 kün­dig­te er ei­ne In­stand­set­zung der längst ma­ro­de ge­wor­de­nen Bun­des­wehr mit­tels ei­ner als Son­der­ver­mö­gen de­kla­rier­ten Ver­schul­dung von 100 Mil­li­ar­den Eu­ro an und ver­sprach, zu­künf­tig 2% des BIP für die Bun­des­wehr aus­zu­ge­ben. Die Ukrai­ne soll­te mit Waf­fen un­ter­stützt wer­den, um sich ge­gen den rus­si­schen Ag­gres­sor zu weh­ren. Mit die­ser Re­de und den er­sten Schrit­te da­nach brach man mit meh­re­ren Ta­bus der Bun­des­re­pu­blik, die spä­te­stens seit der Ver­ei­ni­gung 1990 in ei­nen geo­po­li­ti­schen Däm­mer­schlaf ver­fal­len war. Vie­le Me­di­en wa­ren be­ein­druckt, ei­ni­ge an­de­re zeig­ten sich pflicht­schul­dig schockiert, sa­hen den ag­gres­si­ven Deut­schen wie­der auf­le­ben.

Zei­ten oh­ne Wen­de heißt das Buch von Schwep­pe über die­se Zeit, das An­fang Ok­to­ber er­schie­nen ist. Ein Wort­spiel. Der Un­ter­ti­tel nimmt das im Früh­jahr bei Druck­le­gung sich ab­zeich­nen­de Re­sul­tat be­reits vor­weg: »Ana­to­mie ei­nes Schei­terns«. Man liest die 350 Sei­ten trotz­dem, in ei­nem Rutsch, in ei­ner Mi­schung aus Fas­zi­na­ti­on und Wi­der­wil­len.

Schwep­pe schreibt ei­ne Lang­zeit­re­por­ta­ge, Stil und Am­bi­ti­on er­in­nern an Ste­phan Lam­by. Im­mer wie­der wer­den ei­ni­ge aus­ge­such­te Prot­ago­ni­sten be­sucht. Be­son­ders häu­fig spricht er mit Ma­rie-Agnes Strack-Zim­mer­mann (»Flak-Zim­mer­mann«), je­ner FDP-Frau, die in hib­be­li­ger Un­ge­duld und mit en­er­gi­schem me­dia­len Auf­tre­ten den bei Waf­fen­lie­fe­run­gen für die Ukrai­ne chro­nisch stocken­den und zö­gern­den Scholz mehr­mals her­aus­for­der­te. Er be­glei­tet Da­ni­el An­drä, zu Be­ginn 43, Oberst­leut­nant, zu­nächst Kom­man­dant ei­nes in­ter­na­tio­na­len Ge­fechts­ver­bands in Li­tau­en. Man lernt Mat­thi­as Leh­na ken­nen, Mit­te 30, ei­nen ehe­ma­li­gen Ge­birgs­jä­ger, der in Ma­li war. Bei­de wer­den am En­de über die Bun­des­wehr und den Um­gang in ihr und mit ihr des­il­lu­sio­niert sein.

Schwep­pe zeich­net Por­traits von Al­fred Mais, Deutsch­lands ober­stem Hee­res­ge­ne­ral und In­go Ger­hartz, dem »Chef« der Luft­waf­fe – bei­de könn­ten nicht un­ter­schied­li­cher sein. Aber auch Ar­min Pap­per­ger, der Vor­stands­vor­sit­zen­de von Rhein­me­tall, wird be­äugt. Er schaut dem Haus­häl­ter To­bi­as Wald­hü­ter über die Schul­ter (da­bei be­kommt man in­ter­es­san­te Ein­blicke in die so­ge­nann­te »Nacht der lan­gen Mes­ser«, in der »der fi­na­le Haus­halt für das neue Jahr aus­ge­dealt« wird), be­glei­tet den Nach­rücker Nils Grün­der, der »in der FDP-Ar­beits­grup­pe Ver­tei­di­gung« ar­bei­tet, zi­tiert den ehe­ma­li­gen Wehr­be­auf­trag­ten Hans-Pe­ter Bartels und er­lebt die am­tie­ren­de Wehr­be­auf­trag­te Eva Högl, die zwar al­les zu wis­sen scheint, was die Man­gel­la­ge der Bun­des­wehr an­geht, aber ir­gend­wie wir­kungs­los bleibt.

Man­che Tref­fen wir­ken wie pflicht­schul­di­ge Pro­to­kol­le, weil sie kei­ner­lei Er­kennt­nis­ge­winn lie­fern. Et­wa bei Agnieszka Brug­ger, die über­zeugt ist, dass die Bun­des­wehr im »Ernst­fall« bes­ser funk­tio­nie­ren wür­de, als man­che Schlag­zei­le ver­mu­ten las­se. Dass es nicht »Ernst­fall« heißt, wis­sen bei­de an­schei­nend nicht, was ein biss­chen pein­lich ist, wenn man sich gleich­zei­tig dar­über amü­siert, dass Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ste­rin wie Bun­des­kanz­ler von »Luft­ab­wehr« (statt Flug­ab­wehr oder Luft­ver­tei­di­gung) spre­chen. Er scheint auch Brug­ger zu­zu­stim­men, die meint, dass die »Zei­ten­wen­de« zu sehr von Män­nern do­mi­niert wür­de. Ei­ne merk­wür­di­ge Fest­stel­lung, schließ­lich ist zu die­sem Zeit­punkt Chri­sti­ne Lam­brecht Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ste­rin, Eva Högl Wehr­be­auf­trag­te, An­na­le­na Baer­bock ist om­ni­prä­sent und sieht sich auch schon ein­mal mit Russ­land im Krieg und Strack-Zim­mer­mann be­herrscht die in­nen­po­li­ti­schen Schlag­zei­len.

Wei­ter­le­sen

Phil­ipp Thei­sohn: Den­ken nach Bo­tho Strauß

Philipp Theisohn: Denken nach Botho Strauß

Phil­ipp Thei­sohn:
Den­ken nach Bo­tho Strauß

Phil­ipp Thei­sohn ist Pro­fes­sor für Neue­re Deut­sche Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft an der Uni­ver­si­tät Zü­rich, gibt die Ge­samt­aus­ga­be von Je­re­mi­as Gott­helf her­aus, ver­ant­wor­tet Sam­mel­bän­de zu Ge­org Tra­kl und Gott­fried Kel­ler, sitzt der Theo­dor Storm-Ge­sell­schaft vor und schreibt über »au­ßer­ir­di­sche Li­te­ra­tur«, was zu­gleich ei­ner sei­ner For­schungs­schwer­punk­te ist. Und jetzt er­scheint in der Rei­he Fröh­li­che Wis­sen­schaft bei Matthes & Seitz sein Buch Den­ken nach Bo­tho Strauß – pas­send zum 80. Ge­burts­tag des Dich­ters am 2. De­zem­ber.

Nein, Thei­sohn ver­fällt nicht der Un­sit­te, sei­ne ver­streu­ten Auf­sät­ze und Es­says zu­sam­men­ge­fasst zu ha­ben. Das Buch ist ak­tu­ell. Zwei Mal be­such­te er Strauß in der Ucker­mark, un­ter­nahm Wan­de­run­gen mit ihm. Er traf Edith Cle­ver in Ber­lin, schau­te sich ei­ne Auf­zeich­nung von Strauß’ Tri­lo­gie des Wie­der­se­hens an (von nun galt er als ar­ri­viert) und gibt Un­ter­hal­tun­gen mit Freun­din­nen und Freun­den über Strauß wie­der, un­ter an­de­rem mit Frank Wit­zel.

Der Ver­lag be­wirbt das knapp 150 Sei­ten um­fas­sen­de Buch als »sehr per­sön­li­chen Es­say«. Man be­fürch­tet da­bei zu­nächst Schlim­mes, ein Schwär­men oder Schwel­gen, ei­ne Kom­pli­zen­schaft oder gar Ver­tei­di­gungs­re­de mit dem als schwie­rig und – wie könn­te es an­ders sein? – »um­strit­ten« ge­kenn­zeich­ne­ten Au­tor.

Das al­les trifft glück­li­cher­wei­se nicht zu. Zu Be­ginn re­ka­pi­tu­liert Thei­sohn sei­ne Zeit­ge­nos­sen­schaft, als Strauß’ An­schwel­len­der Bocks­ge­sang 1993 durch die Feuil­le­tons gei­ster­te und ab­ge­kan­zelt wur­de. Er war da­mals Stu­dent, ent­zog sich weit­ge­hend dem öf­fent­li­chen Ent­set­zen und voll­zog die in­zwi­schen aus­geu­fer­te De­bat­te erst Jah­re spä­ter nach. Wer nun die x‑te In­ter­pre­ta­ti­on er­war­tet, geht fehl. Statt­des­sen ei­ne knap­pe Fest­stel­lung: »Bis heu­te er­ach­te ich den Text vor­ran­gig als Schau­spiel, die Feuil­le­ton­le­ser und ‑schrei­ber als Chor.« Da ist es nur fol­ge­rich­tig, wenn Thei­sohn die im­mer wie­der­leh­ren­de Dis­kus­si­on um die »po­li­ti­sche Ver­or­tung« von Bo­tho Strauß »in­tel­lek­tu­ell we­nig frucht­bar« fin­det.

Wei­ter­le­sen

Pe­ter R. Neu­mann: Die Rück­kehr
des Ter­rors

Peter R. Neumann: Die Rückkehr des Terrors

Pe­ter R. Neu­mann: Die Rück­kehr des Ter­rors

In Zei­ten der in­fla­tio­nä­ren Ver­wen­dung des »Experten«-Begriffs wird es zu­neh­mend schwie­rig, wirk­li­che Spe­zia­li­sten zu fin­den, die zu mehr in der La­ge sind, als nur Schlag­wor­te und Phra­sen an­ein­an­der­zu­rei­hen. Ei­ner der we­ni­gen deutsch­spra­chi­gen Ex­per­ten für in­ter­na­tio­na­len Ter­ro­ris­mus ist Pe­ter R. Neu­mann. Er ist Pro­fes­sor für Si­cher­heits­stu­di­en am King’s Col­lege Lon­don und lei­te­te dort das In­ter­na­tio­nal Cent­re for the Stu­dy of Ra­di­cal­i­sa­ti­on (ICSR). Da­her war­te­te man ge­spannt auf sein neu­es Buch mit dem be­un­ru­hi­gen­den Ti­tel Die Rück­kehr des Ter­rors. Ge­meint ist, wie der Un­ter­ti­tel na­he­legt, der dschi­ha­di­sti­sche Ter­ror. Eu­ro­pa ste­he, so die The­se, »am An­fang ei­ner neu­en ter­ro­ri­sti­schen Wel­le […], die den Kon­ti­nent noch jah­re­lang be­schäf­ti­gen wird.«

Nun ist Neu­mann nie­mand, der fahr­läs­sig Pa­nik schürt. Im Ge­gen­teil. Sein Buch ist ei­ne nüch­ter­ne, wenn auch ein­dring­li­che Mah­nung, un­ter­legt mit wis­sen­schaft­li­chen und geo­stra­te­gi­schen For­schungs- und kri­mi­na­li­sti­schen Er­mitt­lungs­er­geb­nis­sen (er konn­te so­gar ei­ni­ge Prot­ago­ni­sten von Si­cher­heits­be­hör­den be­fra­gen), um das Phä­no­men und die neue Be­dro­hungs­la­ge zu er­fas­sen. Der Quel­len­ap­pa­rat be­steht aus fast 300 An­mer­kun­gen, mehr als drei Vier­tel da­von aus dem eng­lisch­spra­chi­gen Raum. Wer sich vor­wie­gend aus deutsch­spra­chi­gen Leit­me­di­en in­for­miert, er­hält hier ei­ne ve­ri­ta­ble und, wie sich zeigt, drin­gend not­wen­di­ge Er­wei­te­rung des Ho­ri­zonts, wenn nicht gar ei­ne ganz an­de­re Sil­hou­et­te des Ho­ri­zonts.

Zu­nächst stellt Neu­mann die Zehn-Jah­re-Wel­len­theo­rie des un­längst ver­stor­be­nen ame­ri­ka­ni­schen Ex­tre­mis­mus­for­schers Da­vid C Ra­po­port vor und un­ter­sucht die »Ter­ror­wel­len« der ver­gan­ge­nen Jahr­zehn­te, die in die west­li­che Welt (USA und Eu­ro­pa) schwapp­ten. Im Ge­gen­satz zu Ra­po­port macht Neu­mann meh­re­re, kur­ze »Mi­ni­wel­len« aus, die zeit­lich teil­wei­se in­ein­an­der­grei­fen. Un­ter dem Ober­be­griff Is­la­mis­mus (»Is­la­mi­sten be­grei­fen den Is­lam nicht nur als Re­li­gi­on, son­dern vor al­lem als po­li­ti­sche Ideo­lo­gie, nach der al­le Aspek­te des ge­sell­schaft­li­chen Le­bens ge­stal­tet wer­den sol­len«) wer­den Un­ter­grup­pen de­fi­niert. Die re­le­van­te­ste und be­droh­lich­ste wird un­ter dem Be­griff Dschi­ha­dis­mus zu­sam­men­ge­fasst. Dschi­ha­di­sten sind »der Über­zeu­gung, dass zur Er­rich­tung is­la­mi­sti­scher Herr­schaft der Ein­satz ge­walt­sa­mer Mit­tel nicht nur not­wen­dig, son­dern ver­pflich­tend ist«.

Wei­ter­le­sen

»Beim Ver­las­sen der Spra­che bit­te die Tür hin­ter sich schlie­ßen.«

Lek­tü­re­ein­drücke zu Bo­tho Strauß

In den letz­ten zehn Jah­ren, nach Her­kunft 2014, ei­ner ein­drucks­vol­len Be­schwö­rung und Ma­ni­fe­sta­ti­on der Kind­heit und Ado­les­zenz, ist es um Bo­tho Strauß zu­neh­mend ru­hi­ger ge­wor­den. Strauß be­trieb nach die­sem Er­folg ei­ne er­staun­li­che Selbst­frag­men­tie­rung sei­nes Werks. In gleich zwei Bü­chern stell­te er sei­ne Thea­ter­stücke, Ro­ma­ne und Es­says als Stein­bruch zur Ver­fü­gung. Zum ei­nen in der von Heinz Strunk her­aus­ge­ge­be­nen An­tho­lo­gie Der zu­rück in sein Haus ge­stopf­te Jä­ger und we­nig spä­ter bei der als »Ge­dan­ken­buch« apo­stro­phier­ten Text- und Gen­re­col­la­ge Al­lein mit al­len, her­aus­ge­ge­ben und kom­pi­liert von Se­ba­sti­an Klein­schmidt. Al­lein mit al­len ist in 17 the­ma­tisch sor­tier­ten Ka­pi­teln ge­glie­dert, die bei­spiels­wei­se »Vom Geist: Ver­ste­hen, Ge­stimmt­heit«, »Tech­nik, Me­di­en, Künst­lich­keit», »Von der Er­zie­hung« oder »Au­tor­schaft, Spra­che» über­schrie­ben sind. Hier wur­den nun ein­zel­ne Ab­sät­ze, Sze­nen, No­ta­te, Wahr­neh­mungs- und Ge­dan­ken­split­ter aus mehr als 30 Wer­ken des Au­tors er­gänzt um 87 da­mals neu­er, bis da­hin un­pu­bli­zier­ter Ein­trä­ge zu ei­nem neu­en Text­ge­bil­de zu­sam­men­ge­fügt. In bei­den Bü­chern wer­den im An­hang je­der ein­zel­ne Text­ein­trag dem ent­spre­chen­den Werk zu­ge­ord­net.

Botho Strauss: Allein mit allen

Bo­tho Strauss: Al­lein mit al­len

Im Nach­wort nennt Klein­schmidt das ent­stan­de­ne Buch ei­ne »poe­ti­sche En­zy­klo­pä­die Strauß­scher Wis­sens­kunst«, die als »Kunst des in­tui­ti­ven Ge­dan­ken­baus und der re­fle­xi­vem Un­mit­tel­bar­keit« ein­ge­ord­net wird. Tat­säch­lich er­schei­nen be­kann­te Zi­ta­te in ei­nem an­de­ren Zu­sam­men­hang ste­hend mit­un­ter treff­li­cher und schär­fer. Die Ent­ber­gung aus dem Kon­text des Ur­sprungs­tex­tes hin zu ei­ner neu­en Kon­tex­tua­li­sie­rung in ei­nen the­ma­ti­schen Be­reich er­ge­ben neue, teil­wei­se über­ra­schen­de Zu­sam­men­hän­ge.

Ein Jahr zu­vor be­reits hat­te Strauß mit Lich­ter des To­ren ei­nen hy­per­ven­ti­lie­rend-zeit­kri­ti­schen Es­say in Form von Ge­dan­ken­split­tern und Apho­ris­men ver­sucht, in dem er für den no­to­ri­schen Ein­zel­gän­ger und Di­gi­tal­ver­wei­ge­rer nicht nur ei­ne Lan­ze bricht, son­dern sich in ei­ne Form grim­mi­ger Un­ver­söhn­lich­keit der Ge­sell­schaft ge­gen­über ver­steigt, die er in ei­nem schnö­den Mit­mach­rausch sieht. Nicht we­ni­ge nah­men die­se bis­wei­len wü­ten­den Aus- und Ein­fäl­le als eli­tär wahr, at­te­stier­ten ein »prun­ken­des Den­ken« (Tho­mas Schmid) und tat­säch­lich ver­stör­te die­ses Buch mit sei­ner bis­wei­len mür­ri­schen Selbst­ge­wiss­heit.

Wei­ter­le­sen

Wel­ten und Zei­ten XII

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

← Wel­ten und Zei­ten XI

Tschechows Ge­wehr. Wenn zu Be­ginn ei­ner Er­zäh­lung ein Ge­wehr an der Wand hängt, muß es ir­gend­wann los­ge­hen, sei es auch erst auf der letz­ten Sei­te. Die­ser Satz wird oft als Re­gel pro­pa­giert. Öko­no­mi­sches Er­zäh­len, jahr­zehn­te­lang das li­te­ra­tur­kri­ti­sche Ide­al und Heil­mit­tel des deut­schen Feuil­le­tons. Bloß nichts Über­flüs­si­ges in die Ge­schich­ten!

Was, wenn das Ge­wehr nicht los­geht? In ei­nem Film kann es mehr oder we­ni­ger zu­fäl­lig an der Wand hän­gen, ein ver­ges­se­nes Re­likt, ir­gend­wer hat es ir­gend­wann dort auf­ge­hängt. Doch der Schrift­stel­ler muß es wil­lent­lich und ei­gen­hän­dig be­schrei­ben oder we­nig­stens evo­zie­ren, al­so gleich­sam selbst auf­hän­gen, sonst ist es nicht da. Der Schrift­stel­ler wählt im­mer aus, selbst wenn er Rea­li­en in gro­ßer Fül­le liebt, die Fül­le der Nich­tig­kei­ten. Er ent­schei­det – si­cher oft un­be­wußt, aber in ei­nem fort –, was zur Exi­stenz kommt und was nicht. Das­sel­be gilt für Ma­ler, nicht aber für Pho­to­gra­phen. Gött­li­che Dich­ter!

2002 sag­te ein ame­ri­ka­ni­scher Film­kri­ti­ker im Ge­spräch mit Ha­yao Mya­za­ki, dem Zeich­ner und Re­gis­seur zahl­rei­cher Zei­chen­trick­fil­me, er lie­be die »gra­tui­tous mo­ti­on«, die un­mo­ti­vier­ten Be­we­gun­gen – schwer zu über­set­zen – in des­sen Fil­men. Grund- und zweck­lo­se klei­ne Sze­nen, oh­ne Be­grün­dung oder not­wen­di­ge Funk­ti­on im Er­zähl­ver­lauf. Din­ge, die sind, weil sie sind, und sich ein­fach nur ih­rer Exi­stenz er­freu­en (oder zu ihr ver­dammt sind). Und den Be­trach­ter er­freu­en (oder be­un­ru­hi­gen), weil sie exi­stie­ren. Hin und wie­der sitzt ei­ne Fi­gur bloß da oder seufzt oder schaut auf ei­nen da­hin­flie­ßen­den Fluß, oder tut zu­sätz­lich ir­gend­was, das die Hand­lung nicht wei­ter­bringt, »ein­fach nur, um ein Ge­fühl für die ver­ge­hen­de Zeit und für den Ort, an dem sie ge­ra­de sind, zu ver­mit­teln.« Adal­bert Stif­ter hat das auch ge­macht, fast ein biß­chen ex­zes­siv in sei­nem letz­ten gro­ßen Werk, dem Wi­ti­ko. Er­zäh­len – und Le­sen, viel­leicht so­gar noch mehr als Er­zäh­len – heißt auch, sich in Ge­duld zu üben. Ei­ne wich­ti­ge Übung, auf die wir nicht ver­zich­ten soll­ten. Ja, ja, lie­be Tik­To­ker!

Wei­ter­le­sen

Cle­mens Mey­er: Die Pro­jek­to­ren

Clemens Meyer: Die Projektoren

Cle­mens Mey­er:
Die Pro­jek­to­ren

Tau­send­sei­ti­ge Ro­ma­ne ha­ben et­was von Ex­pe­di­tio­nen oder Berg­be­stei­gun­gen. Man geht los, vol­ler Vor­freu­de und schwung­voll, sam­melt sorg­sam Ein­drücke und ge­rät in Stim­mung. Hier und da bleibt man ste­hen und be­wun­dert ein schö­nes Pan­ora­ma oder ei­ne be­son­de­re Stel­le. Ir­gend­wann wird die Kon­di­ti­on ge­for­dert. Man un­ter­bricht die Tour, ist er­schöpft; noch über­wiegt die Neu­gier auf den wei­te­ren Weg. In wei­te­rem Ver­lauf wird man ver­zagt, schleppt sich über die Strecke, ge­nießt die ein oder an­de­re schö­ne Aus­sicht, die zum Wei­ter­ma­chen ani­miert. Die Etap­pen­zie­le wer­den kür­zer, aber schließ­lich er­reicht man das Ziel, ist ein we­nig stolz aber auch gleich wie­der in Sor­ge um den Rück­weg. Jetzt zeigt sich, ob die Ori­en­tie­rung aus­reicht.

Ori­en­tie­rung braucht man in dem Kon­vo­lut der No­ti­zen, die sich der Le­ser wäh­rend der Lek­tü­re von Cle­mens Mey­ers Die Pro­jek­to­ren ge­macht hat. Zu­mal es nicht ei­nen durch­gän­gi­gen Plot gibt, son­dern meh­re­re, ver­schach­tel­te und häu­fig in skur­ri­ler Art in­ein­an­der ver­wo­be­ne Hand­lungs­ebe­nen. Den­noch ver­sucht man am En­de ei­ne Glie­de­rung zu fin­den. Ja, da ist die Ge­schich­te des we­gen sei­nes John-Way­ne-Hals­tuchs all­ge­mein »Cow­boy« ge­nann­ten Man­nes, 1929 ge­bo­ren, der als Kind den Ein­marsch der Deut­schen in Ju­go­sla­wi­en und das Mas­sa­ker von No­vi Sad mit den in der Do­nau schwim­men­den To­ten haut­nah mit­er­lebt. Auf ei­nen Schlag – es ist da­tier­bar – bricht die hei­le Welt des schö­nen »Sonn­tags­lichts« zu­sam­men, die Spa­zier­gän­ge und Ki­no­be­su­che mit dem Va­ter, der ein Ex­per­te der ame­ri­ka­ni­schen Stumm­film­dar­stel­ler war. Der Jun­ge, der­art »mut­ter­los und va­ter­su­chend« ge­wor­den, schließt sich den Par­ti­sa­nen an, wird Mel­de­gän­ger aber der Sieg des Mar­schalls bringt kei­ne Bes­se­rung. Er eckt an, gilt als ab­trün­nig, wird auf Ti­tos »In­sel« de­por­tiert, ein La­ger für po­li­ti­sche Ge­fan­ge­ne, wird ge­fol­tert, aber er lernt, zu über­le­ben. Die­ser Cow­boy kommt nun mit ei­nem »Land­ar­rest« 1957 an den Tul­ove gre­de, ins Ve­le­bit-Ge­bir­ge, quar­tiert sich bei ei­nem Schä­fer ein und will ein­fach nur sei­ne Ru­he ha­ben. Ein paar Jah­re spä­ter kom­men die Deut­schen wie­der, dre­hen ge­nau an die­sem Ort zwi­schen 1963 und 1968 neun We­stern­fil­me nach Dr. May, den der Cow­boy schon aus der Bi­blio­thek des Va­ters kann­te.

Wei­ter­le­sen