Me­la­nie Möl­ler: Der ent­mün­dig­te Le­ser

Melanie Möller: Der* ent_mündigte Lese:r

Me­la­nie Möl­ler: Der* ent_mündigte Lese:r

Na­tür­lich ist das Co­ver ei­ne Pro­vo­ka­ti­on. Der* ent_mündigte Lese:r steht dort. Drei Sym­bo­le der »Gen­der­spra­che« – Stern, Un­ter­strich, Dop­pel­punkt. Ent­we­der oder. Hier al­les auf ein­mal. »Für die Frei­heit der Li­te­ra­tur« lau­tet der Un­ter­ti­tel. Dem Buch vor­an­ge­stellt ist ein Aus­zug aus Kaf­kas Brief an Os­kar Pol­l­ak, je­ne be­rühm­te Stel­le, in der er er­klärt, wie ein Buch sein soll, nein: sein muss.

Das Gen­re: »Ei­ne Streit­schrift«. Wer jetzt von Me­la­nie Möl­ler ei­ne schäu­men­de Wut­re­de er­war­tet, wird ent­täuscht. Denn das hat die Au­torin nicht nö­tig. Da­bei ist die Marx-Pa­ra­phra­se zu Be­ginn vom Ge­spenst, was in Eu­ro­pa um­geht, ein rhe­to­ri­scher Ein­stieg. Möl­ler kon­sta­tiert, dass man sich an der Li­te­ra­tur ver­geht, wenn man auf »Le­ser­be­find­lich­kei­ten« ei­ni­ger we­ni­ger Rück­sicht nimmt. Sie führt Bei­spie­le für er­wünsch­te »An­pas­sun­gen« an, die not­wen­dig sein sol­len, um in­kri­mi­nie­ren­de Wör­ter oder gar mehr aus­zu­schal­ten. Ein Schwer­punkt ist na­tür­lich das so­ge­nann­te »N‑Wort«, das in­zwi­schen über­all ent­fernt wird. Möl­ler ist da­mit nicht ein­ver­stan­den, zi­tiert Mar­tin Lu­ther King, fä­chert die mög­li­chen Ge­brauchs­for­men die­ses Wor­tes auf, wie »neu­tral, de­skrip­tiv, kri­tisch, her­ab­las­send, aber auch de­zi­diert selbst­be­wusst«. Mög­lich­kei­ten, die sich nur in­ner­halb des je­wei­li­gen Tex­tes zei­gen, wer­den durch die Um­schrei­bung und/oder Ent­fer­nung vor­aus­ei­lend und oft ge­nug den Text ent­stel­lend ge­tilgt.

Wie al­so die­sen »auf der Ar­che post­ko­lo­nia­ler Kri­tik durch die Welt« se­geln­den »ideo­lo­gi­schen Blind­hei­ten« be­geg­nen? Möl­ler lehnt be­gü­ti­gen­de Kom­pro­mis­se, die den Zeit­kon­text ei­nes li­te­ra­ri­schen Wer­kes ent­schul­di­gend her­an­zie­hen als zu de­fen­siv ab und plä­diert für ei­ne »Los­lö­sung von her­ge­brach­ten schwar­z/­weiß- bzw. links/­rechts-Ka­te­go­rien« wie auch »von ei­ner all­zu lau­ten Selbst­fei­er der Auf­ge­klär­ten (und) Hu­ma­ni­sten«. Möl­lers Aus­sa­ge ist ein­deu­tig: Die Deu­tungs­macht liegt ein­zig beim mün­di­gen Le­ser, der al­le Mög­lich­kei­ten be­kom­men soll, sich sein ei­ge­nes, auf Le­se­er­fah­rung ba­sie­ren­des Ur­teil an ei­nem Ori­gi­nal­text zu bil­den. Lei­den­schaft für die Li­te­ra­tur sei »das Ge­bot der Stun­de«. Ver­blüf­fend ge­nug ih­re Emp­feh­lung, Nietz­sches Un­zeit­ge­mä­ße Be­trach­tun­gen. Den eher alar­mi­sti­schen Zeit­ge­nos­sen möch­te sie sich nicht an­schlie­ßen und lobt dif­fe­ren­zier­te Aus­ein­an­der­set­zun­gen wie die von Ca­ro­li­ne Fou­rest (Ge­ne­ra­ti­on be­lei­digt), By­ung-Chul Han (Pal­lia­tiv­ge­sell­schaft) und Sven­ja Flaß­pöh­ler (Sen­si­bel). Das Vor­wort mün­det mit ei­nem em­pha­ti­schen Ap­pell: »…bit­te gar kei­ne Kom­pro­mis­se, kei­ne Än­de­run­gen an den Tex­ten, schon gar nicht bei to­ten Au­toren, die sich nicht weh­ren kön­nen. Wer et­was nicht le­sen möch­te, darf es ger­ne las­sen oder ent­spre­chend kom­men­tie­ren.« Mün­dig­keit braucht Frei­heit.

Den voll­stän­di­gen Text »Mehr Licht!« bei Glanz und Elend wei­ter­le­sen.

The in­ward spi­ral II

[Ein nie statt­ge­fun­de­ner Pod­cast mit Till Rei­ners und Mo­ritz Neu­mei­er]

Du, Mo­ritz, ich muss mit dir über Fe­mi­nis­mus re­den.

- Och ne, da hab’ grad echt kei­nen Bock mehr drauf.

- Ja wie jetzt? Ha­ste dich nicht für ar­te als fe­mi­ni­sti­schen Mann ab­lich­ten las­sen?

- Da steh’ ich auch zu. Zieh’ wei­ter mei­ne Röcke an und sol­len die wei­ter ih­re Jau­che in die Kom­men­tar­spal­ten er­gie­ßen über den Prin­zen aus Wo­ki­stan.

- Das ist nur Be­stä­ti­gung. Ver­steh’ ich. Auch, dass man das The­ma dann zwi­schen­durch über hat. Aber bei mir ha­ben die 80er an­ge­klin­gelt.

- Wie in der heu­te Show noch in so ei­ne gel­be Te­le­fon­box?

- Ach noch alt­backe­ner als Poe­tik­vor­le­sung von Chri­sta Wolf. Und auch wenn die 1982 in mei­nem Ge­burts­jahr war, al­so noch viel zu früh als, dass ich das schon mit­be­kom­men ha­ben könn­te.

- Ja, was denn nu?

- Na, da lie­fen auf ein­mal so Strän­ge zu­sam­men, das ich dach­te, aha! Da kom­men ge­wis­se Prä­gun­gen her. Auch un­er­klär­li­che emo­tio­na­le Vor­ein­ge­nom­men­hei­ten. Ge­gen die Er­obe­rer von Troia zum Bei­spiel (»Achill, das Vieh«). Das ist aus die­sem Buch. Und ich hab dann spä­ter oder war das doch da­vor, so Dar­stel­lun­gen von der Sie­ger­sei­te mit ih­ren strah­len­den Hel­den ge­le­sen und sie in­stink­tiv für Ab­schaum ge­hal­ten.

Wei­ter­le­sen

Fuß­ball­spra­che – einst und jetzt

Ei­ne ernst­ge­mein­te Re­por­ter­po­le­mik – Ger­ne auch als Bin­go-Vor­la­ge

Re­por­ter EINST Re­por­ter HEUTE
Das hat es noch nie ge­ge­ben… …schreibt Ge­schich­te!
Heim­vor­teil! Wie kommt man mit dem Druck des Heim­spiels zu­recht?
Wie sieht die Tak­tik des Geg­ners aus? Was schrei­ben wir auf die Ka­pi­täns­bin­de?
Was bringt der neue Spie­ler für das Team? Wel­che Wer­te ver­tritt er?
Lass uns das Ta­lent auf­bau­en! Lass uns 10 Mil­lio­nen mehr für den Star be­zah­len!
Das war ein sehr gu­tes Zu­spiel /eine gu­te Tor­wart­pa­ra­de. Welt­klas­se!
Angst­geg­ner Zu­letzt in ei­nem Punkt­spiel am Abend bei Voll­mond im Ok­to­ber 2018 ge­won­nen.
de­fen­si­ves Mit­tel­feld / Stür­mer Doppel‑6 /Neuner
Straf­raum Box
Das war ab­seits. Was sagt der VAR?
Lass uns das Ta­lent auf­bau­en! Lass uns 10 Mil­lio­nen mehr für den Star be­zah­len!
Rück­pass Spiel­auf­bau
Es gilt das Lei­stungs­prin­zip. Er hat gro­ße Ver­dien­ste in der Ver­gan­gen­heit!
Ball­ge­schie­be Ball­be­sitz

Ger­ne wei­te­re Bei­spie­le in den Kom­men­ta­ren...

Alex­an­der Pech­mann: Die Bi­blio­thek der ver­lo­re­nen Bü­cher

Alexander Pechmann: Die Bibliothek der verlorenen Bücher

Alex­an­der Pech­mann: Die Bi­blio­thek der ver­lo­re­nen Bü­cher

Das Co­ver ist in exi­sten­tia­li­sti­schem Schwarz, zeigt zwei Hän­de, die ein auf­ge­schla­ge­nes Buch hal­ten. An­son­sten ist nichts mensch­li­ches zu se­hen. Dar­über steht der Ti­tel Die Bi­blio­thek der ver­lo­re­nen Bü­cher und man fragt sich zu­nächst, ob es nicht eher die Su­che nach dem ver­lo­re­nen Le­ser ist, aber das täuscht.

Alex­an­der Pech­mann ist der Au­tor, er ist Über­set­zer, Schrift­stel­ler und Her­aus­ge­ber und die­se Viel­sei­tig­keit merkt man die­sem Buch an. Es be­ginnt mit ei­ner Vor­re­de ei­nes fik­ti­ven, na­men­los blei­ben­den »Un­ter-Un­ter-Bi­blio­the­kars«, ei­nem ein­sa­men Re­gal­hü­ter der Bi­blio­thek der nicht ge­schrie­be­nen, ver­brann­ten oder ver­lo­re­nen Bü­cher. Man ist zu­nächst auf­ge­schreckt ob des plü­schi­gen Con­fé­ren­cier­tons, aber im Lau­fe der fol­gen­den drei­ßig Auf­sät­ze mel­det sich der Bi­blio­the­kar glück­li­cher­wei­se nur noch sel­ten und wenn, dann eher als Bot­schaf­ter der Mög­lich­kei­ten, denn er hat sie na­tür­lich al­le, die­se ge­heim­nis­vol­len, dem nor­ma­len Sterb­li­chen ver­bor­ge­nen Wer­ke der Welt­li­te­ra­tur.

Bis­wei­len gibt es ei­nen klei­nen Ein­blick in die ver­schol­le­nen Ma­nu­skrip­te, so bei In Bal­last to the White Sea von Mal­colm Lo­wry oder dem Stück ei­nes an­ti­ken Thea­ter­dich­ters aus Ab­de­ra. Und manch­mal greift der »Un­ter-Un­ter-Bi­blio­the­kar« auch in die Li­te­ra­tur­sze­ne ein, holt das ein oder an­de­re Ma­nu­skript aus sei­nem Be­stand und ver­steckt es der­art, dass es ir­gend­je­mand dann über­ra­schend »wie­der­fin­det«, wie et­wa Ma­ry Shel­leys Er­zäh­lung Mau­rice oder die Fi­scher­hüt­te, ei­ne Ent­deckung von 1997, recht­zei­tig zum 200. Ge­burts­tag der Au­torin.

Es gibt vie­le Grün­de, war­um Ma­nu­skrip­te und bis­wei­len Bü­cher auch be­kann­ter Schrift­stel­ler nicht (mehr) ver­füg­bar sind. He­ming­ways frü­he Auf­zeich­nun­gen gin­gen et­wa auf ei­nem Trans­port quer durch die Welt ver­lo­ren; er hat­te sich in­zwi­schen wei­ter­ent­wickelt und gräm­te sich kaum. Ähn­lich wie bei T. E. Law­rence, der sei­ne ver­schlamp­ten Ma­nu­skrip­te zu Die sie­ben Säu­len der Weis­heit aus dem Ge­dächt­nis re­kon­stru­ier­te. Häu­fig fie­len sie al­ler­dings der Ver­nich­tung durch den Au­tor sel­ber zum Op­fer, sei es aus po­li­ti­schen Grün­den (von Prot­agoras zu Ab­de­ra über Dr. John Dee [Shake­speares »Prospero«-Vorbild], Do­sto­jew­ski, Pusch­kin, ei­ni­ge von Tho­mas Manns Ta­ge­bü­chern bis Blai­se Cen­dars) oder weil der Ver­fas­ser nicht zu­frie­den war mit dem Ge­schrie­be­nen und aus Wut, Selbst­hass oder ein­fach nur zu viel Al­ko­hol zum »Au­to­da­fé« schritt, wie bei­spiels­wei­se Bal­zac bei sei­ner Er­zäh­lung Der Land­arzt oder Ja­mes Joy­ces Mo­nu­men­tal­ma­nu­skript Ste­phen Hero.

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Kaf­kas Dop­pel­bot­schaf­ten

In Wil­helm Mei­sters Lehr­jah­re gibt es ei­ne Sze­ne, wo der jun­ge Mann, al­so der Ti­tel­held, sei­ne Ma­nu­skrip­te ver­brennt. Die­se »dich­te­ri­schen Ver­su­che« wa­ren wäh­rend der er­sten Lie­bes­lei­den­schaft sei­nes Le­bens zu­stan­de ge­kom­men; jetzt aber, nach der Tren­nung von sei­ner Ge­lieb­ten, be­fin­det er sie für wert­los. Sein durch und durch ra­tio­nal den­ken­der Freund Wer­ner, ein Kauf­mann, kommt da­zu, er will ihn an dem Ver­nich­tungs­werk hin­dern. Wil­helm in­si­stiert, ein Ge­dicht müs­se ent­we­der vor­treff­lich sein, oder es sol­le gar nicht exi­stie­ren. Wer­ner wi­der­spricht: Wenn je­mand zu ei­ner Tä­tig­keit Ta­lent und Nei­gung ha­be, soll er sie doch aus­üben, auch wenn kei­ne voll­kom­me­nen Er­geb­nis­se zu er­war­ten sind. Der jun­ge Wil­helm ist nicht nur in die­ser Si­tua­ti­on ra­di­kal, er geht stets aufs Gan­ze. Wer­ner rät zur Mä­ßi­gung, man sol­le sich auch mit Teil­erfol­gen zu­frie­den­ge­ben.

Ei­ne ähn­li­che Kon­stel­la­ti­on be­stand zwi­schen Franz Kaf­ka und sei­nem Freund Max Brod, der als Dich­ter und di­let­tie­ren­der Mu­si­ker im­mer auch ein we­nig kauf­män­nisch dach­te. In ei­nem Ta­ge­buch­ein­trag vom Au­gust 1914, we­ni­ge Ta­ge nach Aus­bruch des er­sten Welt­kriegs, sieht Kaf­ka sich selbst zur Spit­ze ei­nes Bergs flie­gen, wäh­rend an­de­re Au­toren sich in tie­fe­ren Re­gio­nen mü­hen, frei­lich mit viel grö­ße­ren Kräf­ten als er selbst. Es fehlt ihm an Aus­dau­er, Ge­sund­heit, Kom­pro­miß­be­reit­schaft, Sinn fürs So­zia­le, um sich dau­er­haft an der Spit­ze des Olymps zu eta­blie­ren. Was er be­sitzt, ist ein »traum­haf­tes in­ne­res Le­ben« und die Fä­hig­keit, sich der In­spi­ra­ti­on zu öff­nen, die ei­ner un­sicht­ba­ren Tür zu je­nem Traum­le­ben gleicht. Die Tür ist oft, manch­mal mo­na­te­lang, ver­schlos­sen, Kaf­ka müht sich ver­ge­bens um Ein­laß. Sein Le­ben ver­läuft zwi­schen zwei Re­gio­nen, die ihm ver­wehrt sind: auf der ei­nen Sei­te die Ehe, die Fa­mi­lie, die bür­ger­li­che Exi­stenz; auf der an­de­ren Sei­te der Olymp mit sei­nen Hier­ar­chien. In bei­den Re­gio­nen ist er be­sten­falls Gast. An­de­re sind in der La­ge, bei­de zu ver­ein­ba­ren, zum Bei­spiel der ho­mo­se­xu­el­le Tho­mas Mann, der ei­ne Fa­mi­lie um sich er­rich­te­te, die ihn da­vor be­wahr­te, ein Au­ßen­sei­ter zu wer­den. Kaf­ka blieb es zeit­le­bens, über­all. Die Vi­ru­lenz sei­ner Träu­me ließ ihn nicht schla­fen, er muß­te sie zu Pa­pier brin­gen und dort wei­ter ent­fal­ten, aber oft war ihm auch dies ver­wehrt, so ver­harr­te er dann wie ge­lähmt zwi­schen dem Hier und dem Dort.

Was er­war­te­te er sich von der Ehe? Be­ru­hi­gung, gu­ten Schlaf, ei­ne Ni­sche im Bür­ger­li­chen. Manch­mal so­gar: in Ru­he schrei­ben kön­nen, ir­gend­wo in der mitt­le­ren Zo­ne ar­bei­ten, nicht oben auf dem Olymp, son­dern im Wein­berg der Li­te­ra­tur. Aber der­lei Be­ru­hi­gun­gen lehn­te er zu­gleich ab, er hin­ter­trieb sie un­er­müd­lich. Kaf­ka konn­te nicht an­ders schrei­ben als in Wel­len, in klei­ne­ren, manch­mal nacht­lan­gen Erup­tio­nen oder – die Ro­ma­ne – in Rie­sen­wel­len, Tsu­na­mis gleich­sam, wo­bei er an­fangs dach­te, daß er kei­nen lan­gen Atem be­sit­ze und Kurz­for­men das ihm ent­spre­chen­de Gen­re sei­en. Doch der Lun­gen­kran­ke schaff­te wi­der die ei­ge­nen Wahr­schein­lich­kei­ten auch das, den gro­ßen Ro­man, ob­gleich er nie ei­nen »voll­ende­te«. Kaf­kas Ro­ma­ne sind ten­den­zi­ell un­end­lich, als sprach­li­che Ge­bil­de aber na­tur­ge­mäß end­lich: ein Wi­der­spruch, der sich nie­mals auf­he­ben läßt. Hier die kur­zen, viel­deu­ti­gen Pa­ra­beln, dort die rie­si­gen Frag­men­te. Und nichts in der Mit­te, kein ein­zi­ges wohl­kon­stru­ier­tes Werk, nur die Gip­fel­flü­ge und das Zer­schel­len am Bo­den, die an­hal­ten­de De­pres­si­on. Und da­zu die dau­ern­de Selbst­re­fle­xi­on, die Re­chen­schaft über die­se Pro­zes­se des Schrei­bens wie des Nicht­schrei­bens, und den an­de­ren Pro­zeß der ver­geb­li­chen, viel­leicht auch nur ein­ge­bil­de­ten, her­bei­ge­schrie­be­nen Lie­be zum Le­ben, zu ei­ni­gen Frau­en, von de­nen die am mei­sten um­wor­be­ne, Fe­li­ce Bau­er, über­haupt nicht zu ihm paß­te.

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Rai­nald Goetz: wrong

Rainald Goetz: wrong

Rai­nald Goetz: wrong

Mit den drei Stücken Reich des To­des, Ba­racke und La­pi­da­ri­um, die im so­eben er­schie­ne­nen Band La­pi­da­ri­um ver­sam­melt sind und der par­al­lel da­zu pu­bli­zier­ten Text­samm­lung wrong be­en­det der Schrift­stel­ler Rai­nald Goetz sei­ne sechs­tei­li­ge Schlucht-Rei­he, je­nen 2007 be­gon­ne­nen »Ver­such der Er­kun­dung der Dun­kel­zeit der Nuller­jah­re«, be­stehend aus »Kla­ge, Ta­ge­buch­es­say; los­la­bern, Be­richt; Johann Hol­trop, Ab­riß der Ge­sell­schaft, Ro­man; elf­ter sep­tem­ber 2010, Bil­der ei­nes Jahr­zehnts«. Hier soll es aus­schließ­lich um wrong ge­hen, die der Schrift­stel­ler »Text­ak­tio­nen« nennt. Sie rei­chen von 2005 bis hin­ein in die un­mit­tel­ba­re Ge­gen­wart. Es han­delt sich um je ei­nen (län­ge­ren, kürz­lich erst ver­öf­fent­lich­ten) Ar­beits­jour­nal- bzw. (kür­ze­ren, bis­her un­ver­öf­fent­lich­ten) Ta­ge­buch­ein­trag, ei­ni­ge mar­kan­te Es­says, vor al­lem je­doch Re­den und In­ter­views mit di­ver­sen Me­di­en.

Ins­be­son­de­re die Tex­te der Nuller- und Zeh­ner­jah­re wir­ken rück­blickend fast wie aus ei­ner an­de­ren Epo­che. Et­wa die für heu­ti­ge Ver­hält­nis­se sehr lan­ge Re­zen­si­on über Mi­chel Hou­el­le­becqs Die Mög­lich­keit ei­ner In­sel aus dem Jahr 2005, da­mals er­schie­nen im Ma­ga­zin Ci­ce­ro. Goetz outet sich von Be­ginn an als En­thu­si­ast, be­kommt gu­te Lau­ne bei der Lek­tü­re, ent­deckt, dass da »ma­te­ria­li­sti­scher Fun­da­men­tal­pes­si­mis­mus […] in ei­ner co­mic-haft über­zeich­ne­ten Hei­ter­keits­er­zähl­wei­se« ge­zeigt wird und bi­lan­ziert, dass der Le­ser »am En­de des Le­bens von Da­ni­el […] emo­tio­nal so mit­ge­nom­men, aus­ge­laugt, zer­malmt [ist] wie Da­ni­el selbst.« Und es ge­lingt ihm mit der Fest­stel­lung, dass sich Hou­el­le­becq »zum Chro­ni­sten [der] öf­fent­li­chen Be­din­gun­gen für in­di­vi­du­el­les Un­glück ge­macht« ha­be, ei­ne über die­sen Ro­man hin­aus tref­fen­de Cha­rak­te­ri­sie­rung der Pro­sa die­ses fran­zö­si­schen Schrift­stel­lers über die da­ma­li­ge Pu­bli­ka­ti­on hin­aus.

Goetz zeigt sich in sei­nen es­say­isti­schen Tex­ten nicht nur als lu­zi­der, son­dern bis­wei­len mit­füh­len­der Li­te­ra­tur­er­klä­rer, wie im Nach­wort zu ei­nem Ro­man von Al­bert von Schirn­ding, in­dem er des­sen »Tat­kraft­le­ben, dem Sym­pa­thie und Sehn­sucht gel­ten« in schö­nen, knap­pen Sät­zen Re­vue pas­sie­ren lässt. Oder 2014, die Elo­ge zu Sieg­fried Un­sel­ds 90. Ge­burts­tag. Ich glau­be, dass noch nie je­mand den Gang Un­sel­ds der­art pla­stisch be­schrie­ben hat, »die­ses Ge­hen und die schwin­gen­den Ar­me, den vor­ge­beug­ten Ober­kör­per, und in­dem er mir sei­ne rech­te Hand zum Gruß hin­streck­te, faß­te er sich zu­gleich mit der lin­ken kurz zwi­schen die Bei­ne und pack­te zu, um die lo­se Last dort et­was zu he­ben und zu lockern.« Er be­wun­der­te Un­sel­ds Ur­teils­kraft, be­rich­tet von des­sen Schwie­rig­kei­ten des Ver­le­gers mit sei­ner Pro­sa und ist ver­blüfft, dass in den (bis­her ver­öf­fent­lich­ten) Brief­wech­seln Un­sel­ds mit Schrift­stel­lern die­ser stets sym­pa­thi­scher er­scheint als die je­wei­li­gen Au­toren (was auch stimmt). Ganz und gar eu­pho­risch, in den Duk­tus des (ein­sti­gen?) Pop­li­te­ra­ten ver­fal­lend, wird er bei der Wür­di­gung von Joa­chim Bes­sings Ro­man un­tit­led (2013).

Den voll­stän­di­gen Text »Neu­es und Al­tes aus der Ge­gen­wart« bei Glanz und Elend wei­ter­le­sen.

Hil­des­hei­mer statt Ca­net­ti

Ju­ry­sit­zun­gen und Alar­mis­men

Li­te­ra­tur­preis der Stadt Bre­men:

»[A]lle hat­ten ih­ren Kan­di­da­ten, der nie­mals Ca­net­ti ge­we­sen war, ge­nannt, als ich an die Rei­he ge­kom­men war und ›Ca­net­ti‹ sag­te. Ich war da­für, Ca­net­ti den Preis zu ge­ben für sei­ne ›Blen­dung‹, das ge­nia­le Ju­gend­werk, das ein Jahr vor die­ser Ju­ry­sit­zung wie­der neu ge­druckt wor­den war. Meh­re­re Ma­le sag­te ich das Wort ›Ca­net­ti‹ und je­des Mal hat­ten sich die Ge­sich­ter an dem lan­gen Tisch weh­lei­dig ver­zo­gen. Vie­le an dem Tisch wuss­ten gar nicht, wer Ca­net­ti war, aber un­ter den we­ni­gen, die von Ca­net­ti wuss­ten, war ei­ner, der plötz­lich, nach­dem ich wie­der Ca­net­ti ge­sagt hat­te, sag­te: aber der ist ja a u c h Ju­de. Dann hat­te es nur noch ein Ge­mur­mel ge­ge­ben und Ca­net­ti war un­ter den Tisch ge­fal­len.«

Die Dis­kus­si­on zog sich schier end­los hin, Na­men fal­len und wer­den ver­wor­fen; es muss­te ei­ne Ent­schei­dung ge­ben.

»Zu mei­ner gro­ßen Ver­blüf­fung zog plötz­lich ei­ner der Her­ren, ich weiß wie­der nicht, wel­cher, aus dem Bü­cher­hau­fen auf dem Tisch, wie mir schien wahl­los, ein Buch von Hil­des­hei­mer her­aus und sag­te in um­wer­fend nai­vem To­ne und ge­ra­de­zu schon im Auf­ste­hen zum Mit­tag­essen: ›Neh­men wir doch Hil­des­hei­mer, neh­men wir doch Hil­des­hei­mer‹ und Hil­des­hei­mer war ge­ra­de je­ner Na­me, der wäh­rend der gan­zen stun­den­lan­gen De­bat­ten über­haupt nicht ge­fal­len war […] Wer wirk­lich Hil­des­hei­mer war, wuss­ten sie wahr­schein­lich al­le nicht. Im Au­gen­blick wur­de auch schon an die Pres­se die Mit­tei­lung ge­ge­ben, Hil­des­hei­mer sei nach die­ser über zwei­stün­di­gen Sit­zung der neue Preis­trä­ger. Die Her­ren er­ho­ben sich und gin­gen hin­aus in den Spei­se­saal. Der Ju­de Hil­des­hei­mer hat­te den Preis be­kom­men. Für mich was d a s die Poin­te des Prei­ses. Ich ha­be sie nicht ver­schwei­gen kön­nen.«1

58 Jah­re spä­ter zu Ju­lia­ne Lie­bert und Ro­nya Oth­mann. Bei­de wa­ren 2023 in der Ju­ry zum »In­ter­na­tio­na­len Li­te­ra­tur­preis« des HKW Ber­lin. In der ZEIT be­rich­ten sie »kom­plett aus al­len Wol­ken ge­fal­len« (Per­len­tau­cher) un­ter dem Gris­ham-Ti­tel Die Ju­ry mehr als ein hal­bes Jahr spä­ter ih­re Er­leb­nis­se. Die Sa­che ist kom­pli­ziert, han­delt von Au­toren und Au­torin­nen, die auf­grund ih­rer Her­kunft, Haut­far­be und/oder Be­liebt­heit von Ju­ry­mit­glie­dern nicht auf ei­ne Short­list kom­men sol­len bzw. an­de­ren Au­torin­nen und Au­toren, die auf­grund ih­rer Her­kunft, Haut­far­be und/oder Un­be­kannt­heit auf die­se Li­ste kom­men sol­len. Es fie­len Sät­ze wie »Sor­ry, ich lie­be die Li­te­ra­tur, aber Po­li­tik ist wich­ti­ger« und selbst als man sich auf ei­nen Preis­trä­ger ge­ei­nigt hat­te, kri­ti­sier­te man noch die bei­den Über­set­zer und ob es über­haupt ge­stat­tet ist, wenn Wei­ße ei­nen Schwar­zen über­set­zen und al­ler­lei an­de­rer Un­sinn. Es ging al­so, so die Quint­essenz, we­ni­ger um li­te­ra­ri­sche Qua­li­tät als um iden­ti­täts­po­li­tisch mo­ti­vier­te Quo­ten. So weit, so we­nig über­ra­schend. Und man hät­te si­cher­lich die­sen Text nie zu le­sen be­kom­men, wenn die bei­den Au­torin­nen auch für 2024 in der Ju­ry no­mi­niert wor­den wä­ren. Wur­den sie aber nicht und nun al­so das, ei­ne gan­ze Sei­te in der ZEIT, das gibt es nicht mehr häu­fig.

Wei­ter­le­sen


  1. Thomas Bernhard, Meine Preise, Suhrkamp, 1. Auflage 2009, S. 32-49. 

Wel­ten und Zei­ten VI

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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In der poe­to­lo­gi­schen Kor­re­spon­denz Aus der Zu­kunft des Ro­mans zwi­schen Ol­ga Mar­ty­n­o­va und mir, zu der sich dann an­de­re Au­toren ge­sell­ten und die sich über fast zwei Jah­re er­streck­te, fragt Kurt Neu­mann, das gan­ze Kon­vo­lut über­blickend, ob die Zu­kunft des Ro­mans nicht ei­ne mi­ni­ma­li­sti­sche sei. In der Tat neig­te vor al­lem Ol­ga im­mer wie­der zur Kür­ze; auch An­na Wei­den­hol­zer teil­te am En­de mit, sie wol­le künf­tig Er­zäh­lun­gen in der Art von Ray­mond Car­ver schrei­ben, und zi­tier­te He­ming­ways be­rühm­te Eis­berg-Theo­rie: »Al­les, was man eli­mi­niert, macht den Eis­berg nur noch stär­ker. Es liegt al­les an dem Teil, der un­sicht­bar bleibt.« Sich aufs We­sent­li­che kon­zen­trie­ren – so­fern man weiß, was das We­sent­li­che ist. Bei mir selbst ent­spricht die­se Ten­denz mei­ner spä­ten Ent­deckung der klei­nen Ro­ma­ne à la Mo­dia­no. Ich den­ke mir auch, daß wir auf schwe­res Ge­päck künf­tig ver­zich­ten soll­ten, und in der Wirk­lich­keit rei­se ich ge­nau so, nicht mal ei­nen Rei­se­füh­rer brau­che ich, kei­nen Com­pu­ter, nur ein Han­dy, für Ho­tel­re­ser­vie­run­gen. Und dann soll­ten wir viel­leicht aufs Rei­sen über­haupt ver­zich­ten… Zu an­stren­gend, bringt die na­tür­li­chen Le­bens­ab­läu­fe durch­ein­an­der.

An­de­rer­seits schrei­ben bei wei­tem nicht al­le Ro­man­au­to­ren mi­ni­ma­li­stisch. Hin und wie­der gibt es ge­gen­ge­rich­te­te Strö­mun­gen, oder soll man sa­gen: Mo­den? »Ach­tung, die dicken Ro­ma­ne kom­men!«, kün­de­te – oder warn­te? – Paul Jandl im Som­mer 2018 in der neu­en Zür­cher Zei­tung. Of­fen­sicht­lich ein Ar­ti­kel auf der Grund­la­ge von Ver­lags­ka­ta­lo­gen, die in vie­len Fäl­len wohl die Lek­tü­re der Bü­cher er­set­zen. Am Wel­ten­rand sit­zen die Men­schen und la­chen, von Phil­ip Weiss, ist da­bei, gut 1000 Sei­ten, ei­gent­lich aber fünf Ro­ma­ne, und auch Schat­ten­froh, von Mi­cha­el Lentz, ein Buch, das ich in­zwi­schen – Som­mer 2021 – ge­le­sen ha­be, quer­ge­le­sen, um ehr­lich zu sein, der Ro­man spielt kei­nes­wegs, wie der ir­re­ge­lei­te­te Jandl meint, in Chi­na, son­dern im Kopf des Au­tors, und der ist ziem­lich weit­läu­fig, weit­läu­fi­ger als Chi­na.

Hin­zu kommt, und das ist jetzt wirk­lich pein­lich, daß ich als Au­tor trotz neu­er Vor­lie­ben als Le­ser im­mer noch so schrei­be, wie ich es vor ei­nem Vier­tel­jahr­hun­dert zu recht­fer­ti­gen such­te, in­dem ich ei­nen ma­ni­fest­ar­ti­gen Text ver­faß­te: Für ei­ne ba­rocke Li­te­ra­tur! Un­ter »ba­rock« faß­te ich Ei­gen­schaf­ten wie aus­ufernd, schwei­fend, wu­chernd, ver­schnör­kelt, viel­di­men­sio­nal, lang-wei­lig (im Adal­bert Stif­ter­schen Sinn) zu­sam­men – al­les, was die stram­me deut­sche Li­te­ra­tur­kri­tik seit dem En­de des letz­ten Welt­kriegs ver­pönt. So schrei­be ich ver­al­tet in die Zu­kunft hin­ein… Pe­ter Hand­ke hat ja auch sol­che Bü­cher ge­macht, nur hat­te er nichts mit dem Ba­rock am Hut, hat viel­mehr sei­ne Epen an fast schon prä­hi­sto­ri­sche Zei­ten an­schlie­ßen wol­len: Gott­fried von Straß­burg wur­de zum Schutz­hei­li­gen er­nannt. Bei man­chen Au­toren ist das Neo­ba­rock ei­ne Al­ters­er­schei­nung, die Kon­zen­tra­ti­ons­kraft scheint ih­nen ab­han­den­ge­kom­men, ein bio­lo­gi­scher Vor­gang. Jun­ger Au­tor = Ge­dich­te, ra­san­te Er­zäh­lun­gen; al­ter Au­tor = be­hä­big aus­ufern­de Ro­ma­ne.

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