Me­la­nie Möl­ler: Der ent­mün­dig­te Le­ser

Melanie Möller: Der* ent_mündigte Lese:r

Me­la­nie Möl­ler: Der* ent_mündigte Lese:r

Na­tür­lich ist das Co­ver ei­ne Pro­vo­ka­ti­on. Der* ent_mündigte Lese:r steht dort. Drei Sym­bo­le der »Gen­der­spra­che« – Stern, Un­ter­strich, Dop­pel­punkt. Ent­we­der oder. Hier al­les auf ein­mal. »Für die Frei­heit der Li­te­ra­tur« lau­tet der Un­ter­ti­tel. Dem Buch vor­an­ge­stellt ist ein Aus­zug aus Kaf­kas Brief an Os­kar Pol­l­ak, je­ne be­rühm­te Stel­le, in der er er­klärt, wie ein Buch sein soll, nein: sein muss.

Das Gen­re: »Ei­ne Streit­schrift«. Wer jetzt von Me­la­nie Möl­ler ei­ne schäu­men­de Wut­re­de er­war­tet, wird ent­täuscht. Denn das hat die Au­torin nicht nö­tig. Da­bei ist die Marx-Pa­ra­phra­se zu Be­ginn vom Ge­spenst, was in Eu­ro­pa um­geht, ein rhe­to­ri­scher Ein­stieg. Möl­ler kon­sta­tiert, dass man sich an der Li­te­ra­tur ver­geht, wenn man auf »Le­ser­be­find­lich­kei­ten« ei­ni­ger we­ni­ger Rück­sicht nimmt. Sie führt Bei­spie­le für er­wünsch­te »An­pas­sun­gen« an, die not­wen­dig sein sol­len, um in­kri­mi­nie­ren­de Wör­ter oder gar mehr aus­zu­schal­ten. Ein Schwer­punkt ist na­tür­lich das so­ge­nann­te »N‑Wort«, das in­zwi­schen über­all ent­fernt wird. Möl­ler ist da­mit nicht ein­ver­stan­den, zi­tiert Mar­tin Lu­ther King, fä­chert die mög­li­chen Ge­brauchs­for­men die­ses Wor­tes auf, wie »neu­tral, de­skrip­tiv, kri­tisch, her­ab­las­send, aber auch de­zi­diert selbst­be­wusst«. Mög­lich­kei­ten, die sich nur in­ner­halb des je­wei­li­gen Tex­tes zei­gen, wer­den durch die Um­schrei­bung und/oder Ent­fer­nung vor­aus­ei­lend und oft ge­nug den Text ent­stel­lend ge­tilgt.

Wie al­so die­sen »auf der Ar­che post­ko­lo­nia­ler Kri­tik durch die Welt« se­geln­den »ideo­lo­gi­schen Blind­hei­ten« be­geg­nen? Möl­ler lehnt be­gü­ti­gen­de Kom­pro­mis­se, die den Zeit­kon­text ei­nes li­te­ra­ri­schen Wer­kes ent­schul­di­gend her­an­zie­hen als zu de­fen­siv ab und plä­diert für ei­ne »Los­lö­sung von her­ge­brach­ten schwar­z/­weiß- bzw. links/­rechts-Ka­te­go­rien« wie auch »von ei­ner all­zu lau­ten Selbst­fei­er der Auf­ge­klär­ten (und) Hu­ma­ni­sten«. Möl­lers Aus­sa­ge ist ein­deu­tig: Die Deu­tungs­macht liegt ein­zig beim mün­di­gen Le­ser, der al­le Mög­lich­kei­ten be­kom­men soll, sich sein ei­ge­nes, auf Le­se­er­fah­rung ba­sie­ren­des Ur­teil an ei­nem Ori­gi­nal­text zu bil­den. Lei­den­schaft für die Li­te­ra­tur sei »das Ge­bot der Stun­de«. Ver­blüf­fend ge­nug ih­re Emp­feh­lung, Nietz­sches Un­zeit­ge­mä­ße Be­trach­tun­gen. Den eher alar­mi­sti­schen Zeit­ge­nos­sen möch­te sie sich nicht an­schlie­ßen und lobt dif­fe­ren­zier­te Aus­ein­an­der­set­zun­gen wie die von Ca­ro­li­ne Fou­rest (Ge­ne­ra­ti­on be­lei­digt), By­ung-Chul Han (Pal­lia­tiv­ge­sell­schaft) und Sven­ja Flaß­pöh­ler (Sen­si­bel). Das Vor­wort mün­det mit ei­nem em­pha­ti­schen Ap­pell: »…bit­te gar kei­ne Kom­pro­mis­se, kei­ne Än­de­run­gen an den Tex­ten, schon gar nicht bei to­ten Au­toren, die sich nicht weh­ren kön­nen. Wer et­was nicht le­sen möch­te, darf es ger­ne las­sen oder ent­spre­chend kom­men­tie­ren.« Mün­dig­keit braucht Frei­heit.

Den voll­stän­di­gen Text »Mehr Licht!« bei Glanz und Elend wei­ter­le­sen.

4 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. »Er­naux nimmt sich er­freu­li­cher­wei­se nicht an­nä­hernd so wich­tig wie an­de­re Schrift­stel­ler, nicht an­nä­hernd so wich­tig wie ein be­acht­li­cher Teil der heu­ti­gen Le­ser.«
    Tref­fer ver­senkt.
    Wie sol­len wir noch ei­ne äs­the­ti­sche Er­fah­rung ma­chen, wenn wir un­ser Ich oder das des Schaf­fen­den nicht aus der Re­zep­ti­on hal­ten kön­nen?

  2. Wä­re da vor­sich­tig. Lei­der ken­ne ich so gut wie nichts von Er­naux, aber dass sie sich nicht so wich­tig neh­men soll, hal­te ich für ei­ne Pro­jek­ti­on Möl­lers. Und Le­ser kön­nen sich nicht wich­tig ge­nug neh­men. Sie müs­sen eben nur da­mit le­ben, dass ih­re Er­war­tun­gen nicht er­füllt wer­den.

    Es ist si­cher­lich kaum mög­lich, bei ei­ner Lek­tü­re voll­stän­dig von sich selbst und sei­nen Er­fah­run­gen zu ab­stra­hie­ren. Auch wird es im­mer wie­der Si­tua­tio­nen ge­ben, in der wir mehr von dem Au­tor wis­sen wol­len als nur den Na­men. Das Pro­blem ist nur, dass die­se au­ßer­li­te­ra­ri­schen Aspek­te das ei­gent­li­che Ur­teil über das Ge­schaf­fe­ne ir­gend­wann über­la­gern.

    Ei­ne klei­ne Ge­schich­te: Es gab ein­mal ei­nen Au­tor, der beim Bach­mann­preis ge­le­sen hat. Er leb­te seit län­ge­rer Zeit aus be­ruf­li­chen Grün­den in ei­nem asia­ti­schen Land. Das wur­de na­tür­lich ent­spre­chend an­ge­kün­digt. In der Dis­kus­si­on um sei­nen Text mein­te nun ein Ju­ror, dass man mer­ke, das die Ge­schich­te in die­sem asia­ti­schen Land spie­le. Das stimm­te aber gar nicht; we­der der Na­men noch das Sze­na­rio dock­te an die­ses Land an. Man hat­te schlicht­weg die bio­gra­fi­sche Tat­sa­che in den Text pro­ji­ziert. Man kann sich vor­stel­len, wie das in den Re­dak­ti­ons­stu­ben so läuft...

  3. Auch mit dem Kon­text um das Zi­tat her­um, war mei­ne gro­ße Zu­stim­mung viel­leicht nicht so ver­ständ­lich. Die Glei­chung die Möl­ler auf­macht, scheint auch zu sim­pel: Je mehr per­sön­li­che und po­li­ti­sche Rück­hal­tung ge­übt wird, wie bei Er­naux, de­sto hö­her der äs­the­ti­sche Wert.

    Aber so ein­fach ist das mit den äs­the­ti­schen Ge­gen­stän­den ja lei­der nicht. Mei­ne Zu­stim­mung kam wohl auch aus ei­ner fast kan­ti­schen Re­mi­nis­zenz: Der sich zu­rück­neh­men­de Le­ser, der sich dem Werk in­ter­es­se­los aus­lie­fert, um es sei­ner Lo­gik fol­gend zu er­schlie­ßen.

    Die­se theo­re­ti­schen Fra­gen muss ei­ne Kri­ti­ke­rin nicht er­ör­tern, aber Chri­sta Wolfs »Me­dea« in ei­nem Halb­satz ab­zu­kan­zeln, da hät­te ich mir doch et­was mehr Er­ör­te­rung ge­wünscht.

  4. Je mehr per­sön­li­che und po­li­ti­sche Rück­hal­tung ge­übt wird, wie bei Er­naux, de­sto hö­her der äs­the­ti­sche Wert.
    Ich glau­be nicht, dass dies Möl­lers Quint­essenz ist. Sie be­legt ja ins­be­son­de­re in den an­ti­ki­schen Tex­ten, dass die Au­toren für die da­ma­li­gen Ver­hält­nis­se nicht zu­rück­hal­tend wa­ren. Sie wehrt sich nur da­ge­gen, dies als ein­zi­ge Be­wer­tungs­ka­te­go­rie an­zu­se­hen.

    Und klar, ich hät­te mir si­cher­lich noch an­de­res er­wünscht, z. B. an­de­re Paar­bil­dun­gen. Ver­mut­lich exi­stie­ren die auch, aber hier brem­sen zu­meist Ver­la­ge.

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