Im Papierkorb des deutschen Militärattachés Maximillian von Schwartzkoppen fand die für den französischen Geheimdienst arbeitende Putzfrau Madame Bastian ein handschriftlich verfasstes Dokument, in dem ihm eine nicht genannte Person die Übergabe einer Schießvorschrift der Feldartillerie und einige Aufzeichnungen über ein neues von den Franzosen entwickeltes 120-Millimeter-Geschütz sowie Informationen über französische Truppenpositionen und Veränderungen in den Artillerieformationen, außerdem Pläne zur Invasion und Kolonisierung Madagaskars bestätigte. Dieses Dokument war mehrfach zerrissen worden, ein Schriftstück auf dünnem Papier ohne Datum und Unterschrift. Man nannte es später einfach nur das Bordereau.
Am 25. Oktober 1894 wurde der französische Artilleriehauptmann Alfred Dreyfus (geboren 1859, Absolvent der »École Polytechniques« und der renommierten Kriegsakademie »École Supérieure de Guerre«) unter dem Verdacht des Landesverrats verhaftet. Dreyfus wurde beschuldigt, der Verfasser des Bordereau zu sein; ein oberflächlicher Handschriftenvergleich reichte den Anklägern (Dreyfus war unter Vorspiegelung falscher Tatsachen bei seiner Verhaftung gebeten worden, ein kurzes Diktat aufzunehmen). Daß es mehrere seriöse Graphologen gab, die zwischen Dreyfus’ Handschrift und der des Bordereau keine Übereinstimmung feststellten, wurde ignoriert.
Manipulationen und Lügen
Was nun geschah, entwickelte sich zur sogenannten Dreyfus-Affäre, die Frankreich (und Europa) am Ende des 19. Jahrhunderts beschäftigte, erregte und spaltete. Da das Beweisstück letztlich nicht sehr aussagekräftig war, wurden zusätzliche »Beweise« gefälscht, die im Strafverfahren gegen Dreyfus schlechterdings aus Gründen der Landessicherheit nicht präsentiert wurden. Entlastendes wurde nicht ermittelt. So ignorierte man, daß Dreyfus, der sehr vermögend war, gar kein Motiv hatte.
Der französische Diplomat und Prozeßbeobachter Maurice Paléologue nannte die Anklagedossiers, die über die Jahre mit immer weiteren Fälschungen Vorwürfe gegen Dreyfus belegen sollten, ein Gemisch aus »apokryphen oder manipulierten Dokumenten, unzuverlässigen Übersetzungen, verbogenen Zeugenaussagen, törichtem oder erlogenem Kitsch, willkürlich zusammengeklebten Papierschnipseln, so sibyllinisch, daß man alles hineinlesen kann, was man möchte« und »belanglosen Notizen, in denen man eine tiefgründige, kabbalistische Bedeutung entdeckt«.
Trotzdem wurde Dreyfus am 22. Dezember 1894 von einem Militärgericht einstimmig schuldig gesprochen und zu militärischer Degradierung, Deportation und lebenslänglicher Haft an einem befestigten Ort verurteilt. Es wurde sogar eine eigene »Lex Dreyfus« geschaffen, die es ermöglichte, Dreyfus als Einzelhäftling auf einer Insel vor der Küste Französisch Guayanas, der Teufelsinsel, zu deportieren (normalerweise wurden Gefangene nach Neukaledonien befördert). Die Haftbedingungen waren entsetzlich. So durfte Dreyfus mit niemandem außer einem sporadisch vorbeikommenden Militärarzt und dem »Gefängnisdirektor« sprechen, war in einer dreieinhalb mal dreieinhalb Meter große[n] Steinzelle eingesperrt, die der brütenden Sonne ausgesetzt war, aber Dreyfus durfte sich nicht mit Wasser abkühlen. Schnell litt er an Tropenkrankheiten wie Malaria (dauerhafte gesundheitliche Beeinträchtigungen bis ans Ende des Lebens sollten die Folge sein). Die sanitären Verhältnisse waren eine Katastrophe; die Gängelungen zahlreich.
Virulenter Antisemitismus und das Versagen der Staatsgewalt
Der amerikanische Schriftsteller Louis Begley hat sich in seinem neuen Buch der Dreyfus-Affäre angenommen. Detailliert und kenntnisreich berichtet er über den Fall, die Intrigen in der französischen Armee, insbesondere im Generalstab, den seltsamen Ehr- und Loyalitätsvorstellungen (denen auch Dreyfus selber anhing; ausführlich wird geschildert, wie erniedrigend für den immer noch armee-loyalen Dreyfus die Degradierung war), den persönlichen Eitelkeiten der Protagonisten, dem Opportunismus der teilweise verkommenen politischen Klasse und der »feinen« Gesellschaft, dem verbrecherischen Handeln und Vertuschen derjenigen, die unbedingt an den »Juden« als Schuldigen festhielten, über Dreyfusards (Leute, die an Dreyfus’ Unschuld glaubten) und deren Denunziationen als Mitglieder eines ominösen »Syndikats« – und natürlich die antisemitischen und nationalistischen Kräfte, die, einflussreich und mächtig, an obersten Positionen sehr lange die öffentliche Meinung bestimmten, manipulierten und eine aufgeladenen Anti-Dreyfus-Stimmung erzeugten, die dann in eine immer offenere und gefährliche judenfeindliche Hetze überging, was verblüffenderweise dazu führte, daß die französischen Juden den Fall bagatellisierten oder vergessen wollten (hierin sieht Begley eine Parallele zum Verhalten der Juden insbesondere in Deutschland während der Zeit des Nationalsozialismus).
Beispielsweise hätte man leicht ermitteln können, daß nicht Dreyfus der Verräter war, sondern ein gewisser Ferdinand Walsin-Esterházy, ein amoralischer Soziopath und unverbesserlicher Lügner und Intrigant, aber nicht ohne Witz und Verstand, der zudem noch chronisch verschuldet war. Als Dreyfus’ Bruder Mathieu 1897 Esterházy als den tatsächlichen Verfasser des Bordereau angezeigt hatte, wurde dieser nach kurzem Prozess freigesprochen. Es durfte einfach nicht sein, daß Dreyfus nicht schuldig war. War es nun so, daß eine bestimmte Klientel an einer korrekten Aufklärung des Landesverrats nicht interessiert war, weil sie um ihr eigenes Wohl und Ansehen fürchtete? Begley zieht dies durchaus in Betracht und verwirft es nicht vollkommen, obwohl er den zentralen Grund für die Eskalation der Affäre im virulenten französischen Antisemitismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts sieht, der weit über die traditionelle Judenfeindlichkeit der christlichen Kirchen hinausging (obschon es durchaus auch Antisemiten unter den Dreyfusards gab).
1791 wurden in Frankreich per Dekret die Bürgerrechte »für alle Menschen, die den Bürgereid leisten und sich verpflichten, alle von der Verfassung auferlegten Aufgaben zu erfüllen…« [eingeführt]. Französische Juden begrüßten die Neuerung mit Jubel und strömten in Massen zu den Großveranstaltungen der Vereidigungen. Frankreich war damit sehr fortschrittlich; die anderen europäischen Länder folgten teilweise erst Jahrzehnte später mit ähnlichen Schritten. Die Menschen der relativ kleinen Gemeinde französischer Juden (um 1900 schätzte man 86.000 Juden bei insgesamt 39 Millionen Einwohnern Frankreichs) reüssierten schnell und brachten herausragende Persönlichkeiten, insbesondere im Wirtschafts- und Finanzwesen, aber auch in Künstler- und Gelehrtenkreisen hervor. In der jahrtausendealten jüdische Bildungstradition und der rückhaltlosen und loyalen Assimilation sieht Begley die Gründe. Dreyfus’ Familiengeschichte wird exemplarisch für den steilen Aufstieg in nur zwei Generationen ausgeführt. Und auch die Armee stand jetzt formal Juden offen – nicht mehr die Herkunft, sondern die Leistung zählte. Im restaurativen Denken des französischen Offizierskorps galt dies jedoch als unselige Anomalie. Juden waren, so die weit verbreitete Meinung, keine echten Franzosen.
Die Armee genoß immer noch ein hohes Ansehen, »das Sozialprestige eines Offiziers« war trotz des eher kümmerlichen Solds »ganz einzigartig« (De Gaulle). Die politische Klasse Frankreichs war durch diverse Korruptionsaffären mehr mit sich selber beschäftigt; das Vertrauen der Bevölkerung in die Politiker gering. So wurde dem antisemitischen Ungeist nichts entgegengesetzt bzw. die Autorität der Politik war äußerst gering. Hier entdeckt nicht nur Begley das Problem, welches in der Dreyfus-Affäre einen traurigen Höhepunkt erreichte: Dreyfus war zwar ein leistungsstarker Offizier mit besten Zeugnissen und Referenzen (lediglich seine Stimme wurde als unmilitärisch wahrgenommen) – aber er galt ob seiner jüdischen Herkunft innerhalb der Armee (auch bzw. insbesondere im Generalstab) als Außenseiter und wurde in dem Moment, als eine neutrale Sicht auf ihn und sein Handeln erforderlich gewesen wäre, wie ein Aussätziger behandelt.
Aber Begley geht über den Dreyfus-Fall hinaus. Nicht nur im Vorwort, sondern an drei anderen Stellen im Buch wechselt er übergangslos Zeit und Ort und stellt Parallelen mit dem sogenannten »Krieg gegen den Terror« der Bush/Cheney-Administration an. Diese Analogien sind sparsam gesetzt aber sehr direkt und treffen ins Mark.
Die Teufelsinsel als Archetyp für Guantánamo
Hier wie dort wird die Angelegenheit dank entsprechender Massenmedien schnell zu einer Frage der Sicherheit des Staates hochstilisiert (nebenbei wird deutlich, daß die quantitative Erweiterung der Massenmedien, wie bspw. Radio und Fernsehen, die es im Frankreich des 19. Jahrhundert noch nicht gab, nicht automatisch eine qualitative Verbesserung der Inhalte zur Folge haben muß). Das bisherige Zusammenleben der Gesellschaft wird als unmittelbar gefährdet dargestellt. Daher erfährt der (bzw. die) Schuldige(n) eine Stigmatisierung, die weit über die normale Rolle eines Angeklagten eines Strafverfahrens hinausgeht. Sicherstes Zeichen sind die für den jeweiligen Fall neu erlassenen Gesetze, die gültige und scheinbar längst sichere und für alle verbindliche Rechtsnormen für eine bestimmte Gruppe plötzlich aufhebt.
Statt eine deeskalierende und beruhigende Rolle zu übernehmen, verfällt die politische Klasse schnell in einen alarmistischen Aktionismus, der mit allen Mitteln – auch denen der bewußten Lüge und Falschinformation – betrieben wird. Es entsteht eine gefährliche Mischung zwischen »Volkes Stimme«, der zum Handeln gezwungenen Staatsmacht und Massenmedien, die sich plötzlich als Sprachrohr der Mehrheitsmeinung geriert. Es zeigt sich: Unterdrückung und Ungerechtigkeit suchen sich immer wieder die gleichen Opfer: Außenseiter und Minderheiten, die Abneigung und Misstrauen wecken. In ihrem Fall ist »die Schuld immer zweifellos«. Das war der Grundsatz des Offiziers in Kafkas ‘Strafkolonie’, und die Bush-Regierung verfuhr mit den Gefangenen, die sie im Zuge des Kriegs gegen den Terror gemacht hatte, nach einem sehr ähnlichen Prinzip.
Begley sieht durchaus Parallelen im Frankreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts und den USA im Jahr 2001 (und, fast »nebenbei«, auch im Jahr 2003, als es um die Rechtfertigung zum Irakkrieg geht). Frankreich war durch die Niederlage im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 (es gibt einen ausführlichen Exkurs hierüber im Buch) gedemütigt worden, mußte hohe Reparationszahlungen leisten und zwei Provinzen an Deutschland abtreten (Dreyfus’ Familie stammt aus Elsaß-Lothringen; die Kombination ‘Elsässer und Jude’ im Fall von Dreyfus erwähnt Begley nur am Rande). Auch die USA wurde durch den ersten Angriff auf amerikanischem Boden seit Pearl Harbor gedemütigt. In beiden Fällen handele es sich um ein einschneidendes nationales Trauma. Die Bush/Cheney-Administration nutzte die Terroranschläge als Legitimation dafür, in den USA alarmierende Risse in die Herrschaft des Gesetzes zu sprengen, während restaurativen Kräften im Frankreich des 19. Jahrhunderts die Dreyfus-Affäre als willkommene Gelegenheit diente, gesellschaftliche Veränderungen aufzuhalten.
Parallelen zum Antisemitismus des 19. Jahrhunderts
Vor diesem Hintergrund sind die hysterischen Affekte zu erklären, die in der Bevölkerung die mindestens stillschweigende Zustimmung zur Aushebelung elementarer Rechtsprinzipien bewirkte. Die Teufelsinsel von Dreyfus wird zum Archetyp von Guantánamo. Aber Begley geht noch weiter: Der [amerikanischen] Öffentlichkeit fiel es offenbar leicht, zu glauben, wer in Guantánamo sei, werde schon mit gutem Grund dort sein. Genauso, wie viele Menschen in Frankreich ohne Mühe glauben konnten, Dreyfus sei Verräter, weil er Jude war, hatten viele Amerikaner keine Mühe, die Häftlinge und Guantánamo und in den CIA-Gefängnissen schon deshalb für Terroristen zu halten, weil sie Muslime sind.
Begley suggeriert, daß der von der Bush/Cheney-Administration inszenierte Anti-Terrorismus-Kampf Züge des französischen Antisemitismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts trägt (am Ende zeigt Begley in einer bemerkenswerten kleinen Studie von Marcel Prousts »Recherche«, wie der Antisemitismus in der »besseren Gesellschaft« Frankreichs eingezogen war und welche Blüten er trieb). Präzisiert man den Begriff des Antisemitismus als Judenfeindlichkeit, so könnte man in Anbetracht der Ereignisse nach dem 11. September von einer virulenten Muslimfeindlichkeit mindestens in den USA sprechen.
Es wird skizziert, daß die Parallelen in der Entrechtung der Gefangenen in den USA (er beschränkt sich auf die USA und geht nicht auf andere Staaten ein) mit der Entrechtung eines Alfred Dreyfus vergleichbar sind. So wurde Dreyfus wie auch die Angeklagten von Guantánamo vor ein Gericht gestellt, das in der Hand seiner Ankläger war. Hier wie dort wurde auf der Grundlage von geheimem Beweismaterial verurteilt, das weder der bzw. die Angeklagten noch die Verteidiger kannten. Beide Vorgehensweisen sind eines Rechtsstaats unwürdig. Gleichzeitig stellt Begley aber auch klar: Verglichen mit den Verbrechen und Rechtsverletzungen der amerikanischen Kriegsführung wirken die Rechtsbrüche deren sich der französische Generalstab durch seine erbarmungslose Strafverfolgung von Dreyfus schuldig machte minimal.
Zwar wurde Dreyfus auch in Isolationshaft gehalten und ihm essentielle Rechte verwehrt. Aber die Misshandlung in Guantanámo hat eine andere, schrecklichere Dimension. So werden sie beispielsweise durch wiederholte Traumata in den Zustand »erlernter Hilflosigkeit« versetzt, so daß ihre Willenskraft und das Zutrauen, Kontrolle über die eigene Welt zu haben verloren geht und sie nun vollständig abhängig von ihren Aufsehern wurden. Begley scheut hier einen drastischen Vergleich nicht: Mit dieser Pervertierung von Medizin und Psychologie zum Nutzen der Folter sind die Vereinigten Staaten in die Fußstapfen Nazideutschlands und Sowjetrußlands getreten.
Vom Heldentum, doch zu bleiben
Diese Urteile prasseln nach rund einem Viertel des Buches auf den Leser nieder. Bis auf zwei Ausnahmen (Seiten 132–134 und am Schluß) widmet er sich dann der akribischen Schilderung der Dreyfus-Affäre samt seinen juristischen Verästelungen (Begley als Rechtsanwalt ist für hierfür hervorragend prädestiniert). Aber irgendwie sucht der Leser immer auch ein bisschen nach Parallelen zu den aktuellen Umständen – und wird tatsächlich bisweilen »fündig«. Das lenkt nicht von der Beschäftigung mit dem Fall Dreyfus ab, sondern erweitert den Blick auf eine fruchtbare Weise. Begley erläutert nicht nur äußerst anschaulich, kenntnisreich, mit klarer Sprache, detailliert aber nie ermüdend die zahlreichen Verwicklungen, sondern versteht es auch, die sozio-psychologischen und medialen Zusammenhänge aufzuzeigen. Das Buch ist ausgezeichnet übersetzt; es gibt als Anhang eine zusammenfassende Chronologie der Ereignisse (Begley erzählt zwar ebenfalls chronologisch, es gibt aber immer wieder historische oder biografische Einschübe) und ein kleines Verzeichnis der Akteure (alles bezogen auf die Dreyfus-Affäre).
Obwohl sich alle Beweise als entweder gefälscht oder einfach nichtig herausstellten, wurde Dreyfus im Revisionsverfahren 1899 schuldig unter mildernden Umständen zu einer Haftstrafe von zehn Jahren verurteilt und kam erst nach einem komplizierten Prozedere durch die Begnadigung durch den Staatspräsidenten frei. Die formale Unschuld und vollständige Rehabilitation fand erst 1906 statt (er starb 1935). Dreyfus ging als Major zurück in die Armee. Begley treibt die Frage um, warum er trotz der Ereignisse, der Verachtung und Abneigung, die ihm über all die Jahre aus der Armee entgegengeschleudert wurde den Rest seines aktiven Lebens in der Gesellschaft von ihresgleichen zubringen wollte und zitiert als des Rätsels Lösung eine Bemerkung aus einem Kafka-Brief, als dieser einen randalierenden antijüdischen Mob 1920 in Prag beobachtet ein »Heldentum« ausmacht, welches darin besteht »doch zu bleiben«. Dreyfus klammerte sich an den Platz, den er als seinen angesehen habe, so Begley; die gute Nachricht, das Versprechen war einfach zu verlockend.
Louis Begley gelingt es, den Leser in den Sog dieser Geschehnisse zu ziehen und die Protagonisten, Schurken wie Lichtgestalten, lebendig werden zu lassen. Die Metamorphose des Nachrichtenbürochefs George Picquart etwa, der selber Opfer von Hasstiraden wird, die teilweise noch von denen gegen Dreyfus übertroffen werden. Und natürlich Zolas Eintreten für Dreyfus, gipfelnd in seinem offenen Brief an den französischen Ministerpräsidenten von 1898 ‚»J’accuse«, einem Meisterwerk politischer Literatur oder Jean Jaurès’ Artikelserie, ebenfalls als offener Brief, gerichtet an den damaligen französischen Kriegsminister Cavaignac, in dem er Punkt für Punkt die Anklagepunkte gegen Dreyfus zerpflückte. Und aller Unkenrufe zum Trotz und aller Infiltration durch nationalistische, rassistisch und antisemitische Zeitungen und Publikationen: die (links-)liberale Presse hat wesentlich zur Aufklärung des Falls Dreyfus und zur Rehabilitation des Offiziers beigetragen.
Diese Leute haben, so Begley emphatisch, die Ehre der Nation gerettet. Auch hier der Vergleich mit den Journalisten, Anwälten und Mitgliedern der Bundesgerichte, die sich gegen die Bush-Regierung stellten und sich für die Rechte beispielsweise der in Guantánamo Inhaftierten einsetzten.
Das Vorwort Begleys zu diesem Buch trägt als Datum den 21. Januar 2009 – dem tag der Inauguration von Barack Obama und die Hoffnungen des Autors in diesen neuen Präsidenten sind immens. Inzwischen scheint es, daß Begleys dunkle Prognose, daß die Verbrechen der Bush-Regierung eines nicht allzu fernen Tages unter dem Narbengewebe aus Schweigen und Gleichgültigkeit verschwinden könnten ausgerechnet durch Barack Obama eingelöst zu werden. Die großen Dramen und Romane über die Zeit der Bush-Regierung, die das Land vorübergehend einer Art Gehirnwäsche unterzogen zu haben schien, müssen noch geschrieben werden; vielleicht von einer anderen Generation, weil die Auswirkungen dieser Politik immer noch in den Alltag hineinragen. Spätestens hier hören die Parallelen der Dreyfus-Affäre und dem »Kampf gegen den Terror« auf: Es ist alles ein bisschen globaler und ein bisschen ekliger geworden.
Aber der Mensch, das zeigt dieses kluge Buch von Louis Begley, der Mensch ist irgendwie immer noch der gleiche geblieben.
Die kursiv gedruckten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch
http://en.wikipedia.org/wiki/Ferdinand_Walsin_Esterhazy
Verbreitung dieser Rezension
Ich habe mir erlaubt, diese Rezension bei Spreeblick anzupreisen, wo von Frédéric Valin gerade eine etwas weniger extensive Besprechung des Buches veröfffentlicht hat und den Rückbezug auf die aktuelle amerikanische Politik eher als Schwäche denn als Gewinn bezeichnet.
Das Fazit, dass alles noch ekliger (und globaler) geworden sei, ist allerdings zumindest für den ersten Teil recht mutig. Zieht Begley diesen Schluss selbst, oder bleibt es dem Leser überlassen, sich eine Meinung dazu zu bilden? Immerhin scheinen es mir doch nur die Mittel zur Repression, die sich im Laufe der Geschichte ändern. Und es wird zu jedem Zeitpunkt immer das schlimmstmöglich verfügbare gewählt von jenen, die Repression als legitim erachten.
Begley
suggeriert diesen Schluss; er lässt dem Leser die Freiheit, dies so zu sehen. Er weist daraufhin, dass im Verhältnis Guantánomo ./. Teufelsinsel bei allen Parallelen sowohl qualitativ als auch quantitativ Unterschiede bestehen.
Ganz nebenbei: Hawaii – seit 1959 der 50.Bundesstaat – war zum Zeitpunkt des Angriffs auf Pearl Harbor noch überseeisches Territorium der USA, vergleichbar Puerto Rico, Guam und – Guantanamo Bay.
Zufall oder anspielungsreiches Marketing? Das Buch von Murat Kurnaz über seine Zeit in den Militärkerkern von Kandahar und Guantanamo hat den selben Titel wie Dreyfus’ nach seiner Freilassung veröffentlichte Erinnerungen: »Fünf Jahre meines Lebens«.
Der Einwand zu Hawaii ist berechtigt, wenn man auch sagen muß, daß Hawaii schlichtweg durch Annektion als Territorium der USA galt. Somit ist die Empfindung, daß dort 1941 die USA angegriffen wurden, verständlich.
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Zu Kurnaz’ Buchtitel: Ich glaube nicht, daß das irgendetwas mit »Marketing« zu tun hat, denn kaum jemand dürfte Dreyfus’ Biografie und dessen Titel kennen. Und nur dann hätte sowas Sinn.
Interessant ist es allemal.
Nationalist, Louis Begley, Dreyfus
Den Begriff Nationalist habe ich nach Ihrer Aussage „nicht genau zu wissen, was das ist“ versucht, mir besser zu erschließen. In meinen Lexika habe ich „Nationalist“ nicht gefunden, in Wikipedia ist er aufrufbar ( näheres siehe dort).
Und plötzlich fiel mir Ihre Rezension zum Fall Dreyfus im Mai ’09 ein. Ich habe sie mir erneut durchgelesen und nachdem ich von Louis Begley die Romane „Schmidt“ und „Mistlers Abschied“ vor Jahren schon gelesen hatte, bin ich jetzt ( etwas verspätet ) absolut neugierig, wie Begley diese Reportage ( ich nehme an, den Inhalt dieses Buch so benennen zu können) schreibt. Parallelen wird es zu Dexter Filkins Schreibstil und Inhalten wahrscheinlich nicht geben.
Begleys Buch ist eher ein Essay; wobei nach genauem Überlegen tatsächlich Reportage-Elemente vorhanden sind. Begley rekonstruiert noch einmal die Dreyfus-Affäre – und man hat das Gefühl, man ist mittendrin. Das Buch ist unbedingt lesenswert.
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Zum Nationalisten: Hier fällt mir Johannes Raus Definition ein, die sinngemäss lautet: Ein Patriot ist jemand, der sein Vaterland liebt – ein Nationalist ist jemand, der die anderen Vaterländer hasst.
Meine (rhetorische?) Formulierung, dass ich genau weiss, was ein Nationalist ist, entspringt einer immer stärkeren Abscheu vor Etiketten jeglicher Art, die die Auseinandersetzung simplifizieren. Das ist aber eine Manie meinerseits.
Die Rau-Definition ( sinngemäß ) gefällt mir.
Ihre „Rhetorik“ habe ich rausgehört, trotzdem war es mir wert, zu versuchen, diesen Begriff zu definieren. Und so bin ich ja nun auch wieder auf Dreyfus gestossen. Nach Lektüre gebe ich Ihnen eine Rückmeldung.
Wie wahr, ein kluges Buch
Nach Ihrer wirklich ausführlichen und sehr interessanten Rezension zur Affäre Dreyfus habe ich auf meinem Blog nun eine klitzekleine Zusammenfassung veröffentlicht. http://nietzsche.twoday.net/stories/wie-wahr-ein-kluges-buch/
Wenn Geschichte und Gegenwart auf diese Weise im Schulunterricht vermittelt werden würde, ich bin mir sicher, das Fach hätte einige Anhänger mehr!
(Im Zusammenhang mit diesem Buch bin ich auf die Artikel der Berliner Literaturkritik gestossen, die ergänzend sind)
Und trotz, »... wie damals und heute: Vorurteile führen zur Anklage, Racial Profiling ersetzt die Suche nach der Wahrheit, Beweise werden fabriziert. Guantánamo liegt der Teufelsinsel näher, als man glauben mag.« ( Klappentext) verliert Louis Begley nicht die Hoffnung auf eine gerechtere Welt, vielleicht wirklich durch den Präsidenten Obama?
Nachgeschoben: Nebenschauplatz Elsass
Der Deutsch-Französische Krieg und die Abtretung von Elsass-Lothringen an das von Preußen geführte Deutsche Kaiserreich gibt mir wieder reichlich Stoff zur gedanklichen Wiederholung des Geschichtsunterrichtes ( dabei gibt es soviel noch vor morgen zu tun).
In unserer Wohnortnähe gibt es ein 30 Meter langes Rundbild zur Geschichte der Staufer. Und gerade die Staufer hatten das Elsass und Sizilien als bevorzugten Lebensraum genutzt. Nach der Stauferzeit ( nach 1250 u.Z.) fiel das Elsass mal an Frankreich, mal an das deutsche Kaiserreich. Meistens war dieses kleine Land, eingekeilt zwischen den großen Mächten, nach 1250 u.Z. unter französischer Krone. Welch eine Wunde also für Frankreich, nach dem Deutsch-Französischen Krieg, das Elsass abzutreten. Und wieviel Leid musste die elsässische Bevölkerung durchmachen und Zankapfel zweier riesiger Nachbarn sein.
Heute ist es wie selbstverständlich eine französische Verwaltungsregion, Région Alsace. Meine und die nächstjüngere Generation kennen es gar nicht anders.