Gräu­el der Ge­gen­wart ‑9/11-

(← 8/11)

Ich weiß nicht, ob Den­ken dem Han­deln eher för­der­lich oder ab­träg­lich ist; nach mei­ner per­sön­li­chen Er­fah­rung oft letz­te­res, aber nicht im­mer, und gu­te Hand­lun­gen kom­men ganz oh­ne Nach­den­ken sel­ten zu­stan­de. Ham­let, der Prinz von Dä­ne­mark, ver­kör­pert die Tat­feind­lich­keit des Den­kens, das zu­meist ein Zwei­feln ist. Das Schwie­ri­ge, sagt ein an­de­rer Fürst der Thea­ter­ge­schich­te, Kö­nig Pri­mis­laus von Böh­men, in ei­nem Dra­ma Grill­par­zers, das Schwie­ri­ge sei nicht die Tat, son­dern der Ent­schluß, und der wird durch das Den­ken, wie Pri­mis­laus selbst durch sein Zö­gern er­weist, be­hin­dert. Den­kend kann man je­de Men­ge Hy­po­the­sen auf­stel­len, doch bei der Ver­wirk­li­chung ei­nes Vor­ha­bens gilt es, mit ei­nem Schlag »die tau­send Fä­den zu zer­rei­ßen, an de­nen Zu­fall und Ge­wohn­heit führt.« Ent­schlüs­se wer­den in der Re­gel durch Nach­den­ken vor­be­rei­tet, aber auch ver­zö­gert, und nicht sel­ten ver­hin­dert (wo­für Mu­sils Mann oh­ne Ei­gen­schaf­ten ein ein­zi­ges, viel­fäl­ti­ges Groß­bei­spiel ist).

»Nichts ist mo­bi­li­sie­ren­der als das Den­ken«: die­ser froh­ge­mu­te Satz prangt auf ei­ner Sei­te ziem­lich ge­nau in der Mit­te von Der Ter­ror der Öko­no­mie. Und gleich im näch­sten Schritt de­kla­riert For­re­ster die Iden­ti­tät von Den­ken und Han­deln. Die Dif­fe­renz ist be­sei­tigt. Das Wort »mo­bi­li­sie­ren« ak­tua­li­siert po­li­ti­sche Kon­no­ta­tio­nen1; nicht ir­gend­ein Han­deln ist ge­meint, kei­ne sport­li­che Ak­ti­vi­tät, et­wa Fuß­ball, was die zo­nards mitt­ler­wei­le bes­ser kön­nen als die pe­tits blancs, son­dern ge­sell­schaft­lich be­deut­sa­mes Han­deln. In wei­te­rer Fol­ge er­zählt For­re­ster von ei­nem Kon­greß in Graz, Öster­reich, wo an­no 1978 ein Teil­neh­mer ein State­ment ab­gab, das auf die For­de­rung hin­aus­lief, man sol­le hier nicht von Mall­ar­mé spre­chen, son­dern von Ma­schi­nen­ge­weh­ren. For­re­ster ver­tei­digt ge­gen­über die­ser Ta­bu­la-ra­sa-Hal­tung den po­li­ti­schen Sinn li­te­ra­ri­scher Bil­dung, be­an­sprucht aber zu­gleich Ef­fi­zi­enz und Ra­di­ka­li­tät für ihr An­lie­gen und ge­langt schließ­lich zu ei­nem Satz, der wie­der­um als Slo­gan die­nen kann: »Mall­ar­mé ist ein MG!«

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  1. In seinem Essay Die totale Mobilmachung phantasiert Ernst Jünger von einem "Arbeitsstaat", der die logische politische Konsequenz der generalisierten Verschmelzung von Mensch und Maschine, von Organischem und Mechanischem sei. Diese Vision verwirklicht sich heute, allerdings im Bereich der Nanotechnik, der smarten elektronisch gesteuerten Maschinen, die "der Mensch" ständig in Reichweite oder im Körper implantiert hat. Dienstleistungsanbieter und öffentlichen Institutionen verlangen von allen den Besitz eines Smartphones. Der Arbeits- bzw. Arbeiterstaat jedoch wurde Ende des 20. Jahrhunderts endgültig entsorgt. 

Aus­lö­schung (3)

— Teil 2

3

Ich ha­be von Kul­tur ge­spro­chen. Ge­nau­er, von kul­tu­rel­len Pro­duk­ten als wirt­schaft­li­chem Ein­satz, Exi­stenz­grund­la­ge welt­weit tä­ti­ger Fir­men. Des­halb der Ei­fer und Über­ei­fer, mit dem heu­te Ei­gen­tums­rech­te an letzt­lich im­ma­te­ri­el­len Din­gen wie Fil­me und Pop­songs, Fi­gu­ren und Ti­tel, Slo­gans und De­signs gel­tend ge­macht wer­den. In un­se­ren Köp­fen hallt die Dro­hung, wer ei­nen Film ko­pie­re, wer­de mit fünf Jah­ren Ge­fäng­nis be­straft. Und ein Groß­teil der Kon­su­men­ten-Pro­du­zen­ten, der Nut­zer und Selbst­dar­stel­ler, der Kun­den und Kö­ni­ge macht mit beim Ge­ze­ter, »das ge­hört doch mir« und »ich ha­be da­für be­zahlt« und »ich will das Geld, das mir zu­steht«. Der so­ge­nann­te Neo­li­be­ra­lis­mus ist tief in die Köp­fe und Her­zen ein­ge­drun­gen, um dort Wur­zeln zu schla­gen. Hork­hei­mer und Ador­no ha­ben nicht nur un­ter dem Ein­druck der Mas­sen­be­tö­rung durch den Na­tio­nal­so­zia­lis­mus, son­dern gleich­zei­tig un­ter dem nach­hal­ti­ge­ren Ein­druck von Hol­ly­wood und dem begin­nenden Fern­se­hen ih­re Theo­rie von der Gleich­schal­tung durch die Kul­tur­in­du­strie ent­wickelt. Die Theo­rie wur­de in un­ge­ahn­tem Aus­maß von den nach und nach geschaf­fenen Fak­ten be­stä­tigt. Mo­zart und Beet­ho­ven wür­den von die­ser In­du­strie al­lein zu Wer­be­zwecken ein­ge­setzt, mein­ten die ra­di­ka­len Kri­ti­ker. Sie konn­ten sich ver­mut­lich nicht vor­stel­len, daß man sich ei­nes Ta­ges in der Öf­fent­lich­keit – und teils in pri­va­ten Haus­hal­ten – gar nicht mehr be­we­gen kann, oh­ne von aku­sti­scher Kul­tur, durch­bro­chen von Wer­be­slo­gans, um­fan­gen zu wer­den. Frei­lich nicht von Wer­ken Mo­zarts oder Beet­ho­vens, son­dern von seich­te­ster Pop­mu­sik. Ei­ner Pop­mu­sik, die in den fünf­zi­ger und sech­zi­ger Jah­ren als Ge­gen­kul­tur an­trat, in­zwi­schen aber na­he­zu rest­los von der mu­sik­in­du­stri­el­len Herr­schafts­kul­tur ge­ka­pert wor­den ist. Der vi­su­el­le Sie­ges­zug des Fern­se­hens und des­sen gei­sti­ge Fol­gen wur­den in den acht­zi­ger Jah­ren von Neil Post­man be­schrie­ben. Fern­seh­sta­tio­nen sind seit­her ins Kraut ge­schos­sen, es gibt kei­ne Se­kun­de am Tag, in der die Bil­der­flut nicht auf den Kon­su­men­ten, den User lau­ern wür­de. Die di­gi­ta­le Ver­net­zung hat die Vor­herr­schaft des Vi­su­el­len nur ver­schärft. In den Zei­ten vor der Ein­füh­rung der Schul­pflicht und der Er­fin­dung des Buch­drucks war die Ge­sell­schaft in ei­nen li­te­ra­ten und ei­nen il­li­te­ra­te Be­völ­ke­rungs­teil ge­spal­ten; die Schrif­tun­kun­di­gen spei­ste man mit Bil­dern ab, um ih­nen die Grund­la­gen der Kul­tur im Scho­ße der christ­lichen Re­li­gi­on zu ver­mit­teln. Heu­te wen­det sich die gro­ße Be­völ­ke­rungs­mehr­heit wie­der den Bil­dern zu, oh­ne Zwang und auch nicht, weil sie gar kei­ne Wahl hät­te, son­dern weil mu­si­ka­lisch un­ter­mal­te Bil­der leich­ter und ra­scher kon­su­mier­bar sind, da sie kein in­tel­lek­tu­el­les En­ga­ge­ment ver­lan­gen. Be­quem­lich­keit über al­les: wie sol­len da Mut und Tä­tig­keits­drang ge­dei­hen? Touch­screens und aku­sti­sche Sen­so­ren wer­den die Spal­tung lang­fri­stig ver­schär­fen, An­alpha­be­tis­mus könn­te ein ech­tes Pro­blem nicht nur an den Rän­dern der Ge­sell­schaft wer­den. War­um le­sen und schrei­ben, wo doch schau­en, hö­ren und be­rüh­ren ge­nügt?

Im­ma­nu­el Kant hat­te in sei­ner Schrift zur Be­ant­wor­tung der Fra­ge »Was ist Auf­klä­rung?« den selb­stän­di­gen Ge­brauch des ei­ge­nen Ver­stan­des als Vor­aus­set­zung für Mün­dig­keit und da­mit letzt­lich für De­mo­kra­tie dar­ge­stellt und an die Schrift­kul­tur ge­bun­den. Ver­kümmert die zwi­schen dem 18. und 20. Jahr­hun­dert ge­fe­stig­te Schrift­kul­tur, ver­küm­mern Mün­dig­keit und De­mo­kra­tie. Un­mün­dig­keit, schlich­ter ge­sagt: Dumm­heit, ist mit ei­ner ge­sell­schaft­li­chen Ver­fas­sung, wie Kant und die Auf­klä­rer sie an­streb­ten, nicht ver­ein­bar. Die Kul­tur­in­du­strie för­dert je­doch die Un­mün­dig­keit, in­dem sie nicht den Ver­stand, son­dern aus­schließ­lich Emo­tio­nen, Sin­ne und Trie­be an­spricht. Je stär­ker ge­wis­se Trie­be in­vol­viert wer­den, de­sto bes­ser für das Ge­schäft. Der pop­kul­tu­rel­le Kon­sum­ka­pi­ta­lis­mus heu­ti­ger Ta­ge er­zeugt und för­dert Süch­te nicht nur in Spiel­hal­len und in der Splat­ter-Ab­tei­lung der har­ten Dro­gen, son­dern an al­len Fron­ten, be­son­ders im Netz. So sieht das vor­läu­fi­ge End­sta­di­um der um­fas­sen­den »Kul­tu­ra­li­sie­rung« aus, die der Ent­wick­lung von ei­nem auf Pro­duk­ti­on und Ar­beit, Maß und Ver­nunft, so­zia­ler Dis­zi­plin und per­sön­li­cher Selbst­be­herr­schung ori­en­tier­ten Ka­pi­ta­lis­mus zu ei­nem kon­su­mi­sti­schen und hedonis­tischen, hy­per­ak­ti­ven und zu­gleich an­ge­paß­ten, au­gen­blicksver­haf­te­ten, ge­schichts­lo­sen Per­sön­lich­keits­mo­dell im Rah­men der post­mo­der­nen Wirt­schafts­form ent­spricht und dient.

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Der Wald und die Bäu­me (X)

Post­skrip­tum »Auf­klä­rung ist der Aus­gang des Men­schen aus sei­ner selbst­ver­schul­de­ten Unmündig­keit.« Seit ich die­sen be­rühm­ten De­fi­ni­ti­ons­satz zum er­sten Mal las, und das ist nun schon ziem­lich lan­ge her, fra­ge ich mich im­mer aufs Neue, in­wie­fern die von Kant kon­sta­tier­te Un­mün­dig­keit denn selbst­ver­schul­det sei. Ich ha­be bis heu­te kei­ne Ant­wort ge­fun­den. Mit ei­ner zu­sätz­li­chen De­fi­ni­ti­on er­läu­tert ...

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