An­drea Gio­ve­ne: Die Au­to­bio­gra­phie des Giu­lia­no di San­se­vero (1 und 2)

Andrea Giovene: Ein junger Herr aus Neapel

An­drea Gio­ve­ne: Die Au­to­bio­gra­phie des Giu­lia­no di San Se­vero – Ein jun­ger Herr aus Nea­pel

Es ist na­tür­lich ein ver­le­ge­ri­sches Wag­nis, die­se fünf au­to­bio­gra­phi­schen Bü­cher der fik­ti­ven Fi­gur Giu­lia­no di San­se­vero, er­schaf­fen von An­drea Gio­ve­ne, bis En­de 2023 erst­ma­lig voll­stän­dig in deut­scher Über­set­zung vor­zu­le­gen. Ein Ri­si­ko des­halb, weil Duk­tus und Stil des 1904 ge­bo­re­nen Ita­lie­ners (1995 ver­stor­ben) so gar nicht in die Zeit zu pas­sen schei­nen, in der die zeit­ge­nös­si­sche Li­te­ra­tur mit Welt­schmerz- und/oder Iden­ti­täts­fra­gen der­art aus­gie­big be­schäf­tigt ist.

Dass es da­zu kom­men wird, ist wohl der Hart­näckig­keit und dem En­thu­si­as­mus des Über­set­zers Mos­he Kahn zu dan­ken. Die er­sten bei­den Bän­de der »Au­to­bio­gra­phie des Giu­lia­no di San­se­vero« – »Ein jun­ger Herr aus Nea­pel« (Band 1) und »Die Jah­re zwi­schen Gut und Bö­se« (Band 2) – lie­gen jetzt vor. Die drei an­de­ren Bü­cher sol­len im Lau­fe des Jah­res 2023 er­schei­nen. Zur Ein­stim­mung des Le­sers zei­gen die Co­ver kon­ge­nia­le Ge­mäl­de des ita­lie­ni­schen Ma­lers Fe­li­ce Cas­o­ra­ti (1883–1963). So könn­te das »Por­trait des In­ge­nieurs« (ent­stan­den 1924/25; Um­schlag von Band 1) die Ti­tel­fi­gur Giu­lia­no dar­stel­len, der, nach dem Wunsch des Va­ters, In­ge­nieurs­we­sen stu­die­ren soll­te. Die por­trai­tier­te Frau auf Band 2 (»Ra­ja«, 1925) könn­te ei­ner der Lieb­schaf­ten ge­we­sen sein.

Im er­sten Band gibt Ul­ri­ke Vos­win­kel im Nach­wort ei­nen kun­di­gen Über­blick über Ge­ne­se und Re­zep­ti­on der zwi­schen 1966 und 1970 in Ita­li­en er­schie­ne­nen Bü­cher. Den zwei­ten Band ließ Gio­ve­ne auf ei­ge­ne Ko­sten drucken und schick­te ihn an Kri­ti­ker, Ver­la­ge und Agen­ten. Ei­ne be­gei­ster­te Re­zen­si­on ver­half ihm 1970 zu ei­nem Preis, be­vor dann der re­vo­lu­tio­när-pro­gres­si­ve Zeit­geist Gio­ve­nes Äs­the­tik wi­der­sprach und die Re­zep­ti­on stock­te. Vos­win­kel schreibt, dass Gio­ve­ne für den No­bel­preis vor­ge­schla­gen wor­den wä­re. Auf der Web­sei­te der Aka­de­mie gibt es al­ler­dings kei­nen Ein­trag zu ihm; ver­mut­lich war die emp­feh­len­de Per­son nicht um Um­feld des Ko­mi­tees.

Die »Au­to­bio­gra­phie« be­ginnt 1912 in Nea­pel. Giu­lia­no der Ich-Er­zäh­ler, der mit dem Wis­sen der Er­eig­nis­se fast im­mer chro­no­lo­gisch er­zählt (ge­le­gent­li­ches Auf­zei­gen von Ent­wick­lun­gen zwan­zig oder drei­ßig Jah­re spä­ter sind sel­ten), ist neun Jah­re alt. Sei­ne drei Jah­re jün­ge­re Schwe­ster Chec­chi­na ist sein Spiel­ka­me­rad. Äl­te­re Ge­schwi­ster sind Cri­sti­na, 16 und Ferran­te, 15. Giu­lia­no und Chec­chi­na star­ren in ei­ner Mi­schung aus Ehr­furcht und Be­klom­men­heit auf den an ei­ner Wand im Sa­lon üp­pig auf­ge­zeich­ne­ten Stamm­baum der »lau­nen­haf­ten Fa­mi­li­en­zwei­ge«, die bis ins 11. Jahr­hun­dert zu­rück rei­chen. Aber bei al­ler Über­wäl­ti­gung gab es durch Feuch­tig­keit in den Wän­den er­ste Flecken und so­gar klei­ne­re Ab­plat­zun­gen am Stamm­baum – sub­ti­le Zei­chen für den be­gin­nen­den Zer­fall der al­ten Ord­nung, aber noch »roll­te die lang­sa­me Pfer­de­drosch­ke wei­ter« und auch »das gol­de­ne Zeit­al­ter der Kir­che« hat­te noch Be­stand. Erst nach­träg­lich wer­den aus Pro­zes­sen die Zä­su­ren deut­lich.

Das Kind wird durch den Fa­mi­li­en­klatsch in sei­nen Stand be­hut­sam ein­ge­führt. Da mach­ten »Ver­schwen­dungs­ge­schich­ten« die Run­de, die ei­ne zwi­schen­zeit­li­che Ver­ar­mung der Fa­mi­lie zur Fol­ge hat­te, die aber durch den flei­ßig ar­bei­ten­den In­ge­nieur und Ar­chi­tek­ten Gi­an Lui­gi, Giu­lia­nos Va­ter, auf­ge­hal­ten und ge­wen­det wer­den konn­te. So lebt man im Wohl­stand, ja, im Lu­xus; Gi­an Lui­gi und sei­ne Frau An­ni­na hor­ten oh­ne Maß An­ti­qui­tä­ten und Ge­mäl­de. Sie bau­en sich schließ­lich ein neu­es, groß­zü­gi­ges Haus und hiel­ten dar­in spä­ter täg­li­che Sa­lons ab. Das in der di­rek­ten Um­ge­bung das nea­po­li­ta­ni­sche Pro­le­ta­ri­at mehr hau­sier­te als wohn­te, stör­te nicht.

Das Ver­hält­nis Giu­lia­nos zu den El­tern war schon früh di­stan­ziert. Am lieb­sten war Giu­lia­no mit sich al­lei­ne. In den Som­mer­fe­ri­en ge­noss er die »glück­se­li­ge Satt­heit« auf ei­nem Mis­pel­baum. Wäh­rend die Mut­ter in pa­ni­sche Angst vor Ge­wit­tern ver­fiel, stimm­ten sie den Jun­gen hei­ter. Es ist die ruhm­reich­ste und er­trags­reich­ste Zeit des Va­ters. Noch wird Ver­mö­gen auf­ge­baut, aber na­tür­lich bleibt das nicht so; der Er­zäh­ler deu­tet den öko­no­mi­schen Ab­stieg, der nicht wie bei den »Bud­den­brooks« auf­grund ei­nes Er­eig­nis­ses in­iti­al ge­schieht, im­mer wie­der sub­til an.

1913, mit zehn Jah­ren, kam Giu­lia­no ins In­ter­nat, ei­ner Klo­ster­schu­le; »mei­ne Kind­heit war zu En­de«, heißt es la­pi­dar. Der Ta­ge war streng ge­tak­tet. Die »Glau­bens­ge­wiss­heit« der Pad­res wur­de nun zum »Maß al­ler Din­ge«. Der Schwer­punkt lag auf Ord­nung und Ge­hor­sam, we­ni­ger auf Wis­sens­ver­mitt­lung und Ta­lent­för­de­rung. Zu­nächst war Giu­lia­no der be­ste Schü­ler sei­nes Jahr­gangs, spä­ter, als dort ein Di­rek­tor ein Will­kür­re­gime mit Peit­sche, Rohr­stock und Li­ne­al ein­führ­te, ließ der Ei­fer nach. Giu­lia­no hat­te nur sich; sein be­ster Freund wur­de auf­grund ei­nes merk­wür­di­gen Ver­set­zungs­rhyth­mus für ihn un­er­reich­bar. Ein an­de­rer Freund be­stach durch sei­ne fre­chen, an­ti­kle­ri­ka­len Auf­trit­te (man hat zeit­wei­lig den Ein­druck, dass es der Schat­ten des Er­zäh­lers ist). Dun­kel hör­te man vom Krieg, der in Eu­ro­pa aus­ge­bro­chen war, aber die Klo­ster­mau­ern sind dick. Die Mut­ter schrieb ihm nur »aka­de­mi­sche Epi­steln« oh­ne mensch­li­che Wär­me, der Va­ter gar nicht. Plötz­lich tauch­te die­ser auf, aber nur um sei­ne Hil­fe bei den Aus­bes­se­rungs­ar­bei­ten am Klo­ster zu be­spre­chen. Auf die Idee, sei­nen Sohn auf­zu­su­chen, kam er nicht, aber auch Giu­lia­no nutz­te das klei­ne Pri­vi­leg, sei­nen Va­ter auf­su­chen zu kön­nen, nicht. »Ich fühl­te nicht, wie ich ihn hät­te lie­ben kön­nen«, heißt es ein­mal. Im­mer­hin ver­schwand der prü­geln­de Di­rek­tor nach den Som­mer­fe­ri­en.

So rasch wie Giu­lia­no in das Klo­ster­in­ter­nat kam, so rasch wur­de er auch wie­der nach Hau­se di­ri­giert und nach Hau­se be­or­dert. Er be­wohn­te im neu­en Haus ein Zim­mer in ei­nem et­was ent­fern­ten Flü­gel, der zu sei­nem »schwe­ben­den Kor­ri­dor« wur­de (und als Er­satz für die Mis­pel­baum-Epi­pha­nie der Kind­heit wur­de). Hier wid­me­te er sich nach dem Un­ter­richt bei zwei Pri­vat­leh­rern (die er nicht moch­te) sei­nen Ge­dan­ken, be­gann »Or­gi­en des Le­sens« und in fast fieb­ri­ger Em­pha­se zu schrei­ben. Mit dem al­ten Die­ner Giu­sti­no, ei­nem Frei­mau­rer, der kurz­zei­tig zu sei­nem mo­ra­li­schen Kom­pass wur­de, schloss er »Ge­heim­pak­te«. Die El­tern sah er nur beim Abend­essen; der Va­ter be­schwieg ihn »vol­ler Ver­ach­tung«. Er ist jetzt 14, Ita­li­en ver­lor die Schlacht von Ca­po­ret­to und bei Giu­lia­no be­gann »der Pfad des Be­geh­rens«.

Nur kurz hemm­ten die Kriegs­er­eig­nis­se die Ver­schwen­dun­gen der Fa­mi­lie. Giu­lia­no wur­de auf ei­ne öf­fent­li­che Schu­le ge­schickt, lern­te dort die »Vul­ga­ri­tät des öf­fent­li­chen Un­ter­richts« ken­nen, fand Kum­pa­ne, die mit ihm Po­ker spiel­ten (das Geld lieh er sich bei Giu­sti­no) und ver­fass­te im­mer neue Ma­nu­skrip­te. Der Fa­schis­mus in Ge­stalt von Mus­so­li­ni be­gann. Giu­lia­no über­blick­te die statt­fin­den­den Dis­kus­sio­nen dar­um nicht; er sah aber den Zer­fall über­kom­me­ner Tra­di­tio­nen. Aber noch wa­ren sie wir­kungs­mäch­tig, wie sich am Schick­sal sei­ner er­sten gro­ßen Lie­be Ne­ri­na zeig­te, die sich ei­nem merk­wür­di­gen »Ge­sell­schafts­ver­trag« und un­durch­sich­ti­gen Mit­gift­re­ge­lun­gen zu beu­gen hat­te und hier­über ver­starb, was den fast 22jährigen Giu­lia­no kurz in Hy­ste­rie ver­setz­te; aus lau­ter Ver­zweif­lung ver­brann­te er sei­ne ge­sam­ten Schrif­ten.

Nicht der un­ste­te und flat­ter­haf­te Ferran­te und auch nicht die psy­chisch an­ge­schla­ge­ne Cri­sti­na wa­ren Gi­an Lui­gis Hoff­nungs­trä­ger, son­dern Giu­lia­no. Für ihn be­schloss der Va­ter ein In­ge­nieurs­stu­di­um. Giu­lia­no wuss­te zwar nicht ge­nau, was er woll­te, aber er wuss­te, dass er das nicht woll­te. Mit ei­nem Kre­dit von sei­nem Die­ner setz­te sich »der jun­ge Herr« 1925 zu­nächst für zwei Mo­na­te in sein ehe­ma­li­ges Klo­ster und dann nach Mai­land ab. Der zwei­te Band mit den Jah­ren »zwi­schen Gut und Bö­se« be­ginnt.

Andrea Giovene: Die Jahre zwischen Gut und Böse

An­drea Gio­ve­ne: Die Au­to­bio­gra­phie des Giu­lia­no di San Se­vero – Die Jah­re zwi­schen Gut und Bö­se

In Mai­land tauch­te Giu­lia­no in ei­ne »ner­vö­se und rät­sel­haf­te Welt« ein. Er hielt sich zu­rück, be­ob­ach­tet zu­nächst, war in der Stadt un­ter­wegs mit ei­nem Heft und no­tier­te sei­ne Ein­drücke. In der Via Nullo kam er in ei­ner Pen­si­on mit halb­sei­de­nen Ge­stal­ten, ver­arm­ten Künst­lern und schein­bar ehr­ba­ren Frau­en un­ter. Es gip­fel­te in ei­nem klei­nen Kri­mi­nal­dra­ma um ver­schwun­de­ne Dia­man­ten. Giu­lia­no be­kam über sei­nen On­kel Ge­de­one, der zu sei­ner di­rek­ten Be­zugs­per­son wur­de und ir­gend­wie stets zur rich­ti­gen Zeit auf­taucht, Kon­takt zu ei­nem Ver­lag und soll dort ei­ne lei­ten­de Po­si­ti­on über­neh­men. Als ein tou­ri­sti­scher Text von ihm in ei­ner Zeit­schrift er­schien, er­reg­te er Auf­merk­sam­keit, weil die­ser »pi­kan­te po­li­ti­sche An­mer­kun­gen« ent­hal­ten soll. Das En­ga­ge­ment mit dem Ver­lag zer­schlug sich. Er ging nach Rom; ein Emp­feh­lungs­schrei­ben ei­nes Com­men­da­to­re für spe­zi­el­le Dien­ste, wel­ches ihm ei­ne ge­si­cher­te Stel­le be­schaf­fen soll­te, nahm er nicht in An­spruch, son­dern griff wie­der auf Ge­de­one zu­rück, der ihn be­such­te, aber Giu­lia­no war ver­wun­dert, weil der On­kel ihm, dem jun­gen Nef­fen, sein Herz aus­schüt­te­te. »Als er ab­rei­ste, nahm er mei­ne Ge­dan­ken mit und ließ mir sei­ne zu­rück.«

Der On­kel fä­del­te schließ­lich ein, dass Giu­lia­no mit 24 in die Ar­mee nach Fer­ra­ra kam. Er schlug die Of­fi­ziers­lauf­bahn ein und be­gann als Ka­val­le­rist. Hier war der al­te Geist noch om­ni­prä­sent, die ge­sell­schaft­li­chen Kon­ven­tio­nen noch le­ben­dig. Er be­gann ei­ne Af­fä­re mit der ver­hei­ra­te­ten Ma­vì, Als sie schwan­ger wur­de, zwei­fel­te er so­fort die Va­ter­schaft an und such­te ein Ent­kom­men. Am En­de sah er sich so­gar ge­zwun­gen, ei­nen Freund zum Du­ell zu for­dern; of­fi­zi­ell wur­de dies zwar un­ter­sagt und mit 40 Ta­gen Haft be­straft, aber es ent­sprach der all­seits ge­leb­ten Eti­ket­te. Nach zwei Jah­ren Mi­li­tär­dienst ver­ließ er das Re­gi­ment. Ei­ne Lauf­bahn als Be­rufs­sol­dat, wie ihm der On­kel vor­schlug, kam für ihn nicht in Fra­ge.

Giu­lia­no kehr­te zu­rück nach Rom, im­mer noch bin­dungs­los, auf die »Re­stau­ra­ti­on« war­tend (die nicht bzw. nicht im ge­wünsch­ten Sin­ne ein­trat), quar­tier­te sich im »Pa­laz­zo Gril­li« ein, ei­nem ähn­li­chen Mi­kro­kos­mos wie in der Via Nullo in Mai­land. Mit dem Be­sit­zer ent­spann­ten sich Set­tem­bri­ni/Naph­ta-ähn­li­che Dia­lo­ge über Gott, die Welt und vor al­lem dem Teu­fel. Giu­lia­no schrieb wei­ter, las so­gar der Haus­ge­mein­schaft aus sei­nem »an­ti­ken Dra­ma« vor und druck­te 21 Ex­em­pla­re auf ei­ge­ne Ko­sten. Im Win­ter 1931 er­fuhr er von Ge­de­one, dass die Fir­ma des Va­ters li­qui­diert wur­de; der mon­dä­ne Le­bens­stil der Fa­mi­lie blieb durch den Ver­kauf der an­ge­sam­mel­ten An­ti­qui­tä­ten wei­ter­hin un­ver­än­dert.

So­wohl die Ar­mee­zeit wie auch zwei­te Rom-Auf­ent­halt wird von Gio­ve­ne ins­ge­samt mit ei­ner ge­hö­ri­gen Por­ti­on »Ver­wir­rung der Ge­füh­le, der See­le und des Kör­pers« in­sze­niert, wo­bei Giu­lia­no bei al­ler Lei­den­schaft (die nur an­ge­deu­tet wird; die Dis­kre­ti­on ist wohl­tu­end) ei­ne »un­ge­wöhn­li­che Käl­te« bei sich fest­stell­te. Die Lie­be zu ei­ner 16jährigen, die als »Ver­su­chung Sa­tans« wahr­ge­nom­men wur­de, ließ er sich vom Arzt mit Be­ru­hi­gungs­pil­len und der Emp­feh­lung, Bor­del­le auf­zu­su­chen, aus­trei­ben (letz­te­res mach­te er dann auch).

Er konn­te nicht lie­ben; ging dem gro­ßen Ge­fühl aus dem Weg. »Du bist nicht ge­schaf­fen, dich auf an­de­re ein­zu­las­sen«, sag­te ihm sein On­kel ein­mal. Als er in Pa­ris ei­ne Af­fä­re mit ei­ner Schau­spie­le­rin be­gann, die sich ei­nen Spaß dar­aus mach­te, ihn ei­fer­süch­tig zu se­hen, re­agier­te er zwar aus­fal­lend und ohr­feig­te sie ein­mal öf­fent­lich. Aber nicht aus Lie­be, son­dern auf­grund des ge­kränk­ten Ego.

Als fünf pe­rua­ni­schen Stu­den­ten, al­le­samt Söh­ne von wohl­ha­ben­den Plan­ta­gen­be­sit­zern, ihr Stu­di­um mit Hil­fe Giu­lia­nos be­en­det hat­ten (er schrieb ih­re Ex­ami­na) und noch ei­ni­ge Mo­na­te das schö­ne Le­ben in Pa­ris such­ten, ließ er sich als Fak­to­tum und Or­ga­ni­sa­tor an­heu­ern und fürst­lich ent­loh­nen. Ei­ne wei­te­re Be­treu­ung der ver­gnü­gungs­süch­ti­gen Söh­ne in Pe­ru lehn­te er dann ab. Ei­ne Zeit lang wur­de er noch von ei­ner Rei­se­agen­tur an­ge­stellt, die ihm Auf­trä­ge zur Be­treu­ung Eu­ro­pa­rei­sen­der gab. Auch die­se gab er auf, als er ge­nug Geld hat­te und sie ihm kein Ver­gnü­gen mehr be­rei­te­ten.

Das En­de der Af­fä­re mit der Schau­spie­le­rin in Pa­ris fiel zu­sam­men mit dem Herz­in­farkt des Va­ters. Giu­lia­no emp­fand bei dem Ge­dan­ken des mög­li­chen Va­ter­tods wie­der­um »ab­so­lu­te Käl­te« und spe­ku­lier­te rich­tig, dass er zu spät kom­men wür­de. Sei­ne Mut­ter klag­te, Chec­chi­nas »er­ste hei­te­re Ju­gend« war »ver­braucht«, Cri­sti­na leb­te in ei­nem Haus für Gei­stes­ge­stör­te in Pie­mont und Ferran­te be­rei­te­te sich auf ei­ne ar­ran­gier­te Hoch­zeit vor, die die San­se­ve­r­os vor dem Bank­rott ret­ten soll­te. »Von ei­ner völ­li­gen Frei­heit stürz­te ich zwi­schen tau­send Hin­der­nis­se und tau­send Ver­wei­ge­run­gen und Un­auf­rich­tig­kei­ten«. Und dann starb un­mit­tel­bar dar­auf Gi­an Lui­gis Zwil­lings­bru­der, Gi­an Mi­che­le, der völ­lig über­ra­schend Giu­lia­no als Uni­ver­sal­er­be von Plan­ta­gen, Häu­sern und Grund­stücken ein­setz­te, was ver­mut­lich Ge­de­one ein­ge­fä­delt hat­te, denn Giu­lia­no hat­te Gi­an Mi­che­le seit neun Jah­ren nicht mehr ge­se­hen. Nach ei­nem Rück­zug in das ein­fa­che Le­ben nach Is­chia, ei­ne na­he­zu pa­ra­die­si­sche Zeit »oh­ne eit­les Ge­schwätz«, kehr­te er nach ei­ni­gen Mo­na­ten zu­rück nach Nea­pel und be­sich­tig­te nun die über das Land ver­streu­ten ge­erb­ten Im­mo­bi­li­en. Sei­ne schrift­stel­le­ri­schen Am­bi­tio­nen gab er auf; er­neut ver­nich­te­te er al­le Ma­nu­skrip­te. Le­dig­lich ein Es­say­band – 50 Bü­cher im Selbst­druck – soll­te sich er­hal­ten; 4 ver­schenkt, 46 un­ver­kauft.

Der Ver­such Ge­de­ones, für Giu­lia­no ei­ne Frau zu fin­den, schei­ter­te nicht zu­letzt an den Kon­ven­tio­nen. Giu­lia­no hät­te die äl­te­ste Toch­ter ei­ner Fa­mi­lie hei­ra­ten sol­len, aber er lieb­te sie nicht (im Ge­gen­satz zur se­xu­el­len An­zie­hung zu ei­ner ih­rer Schwe­stern, aber die war zu jung). »Mei­ne zwei­te Ju­gend war zu En­de«, kom­men­tiert Giu­lia­no leicht ver­zwei­felt, aber auch auf ei­ne merk­wür­di­ge Art und Wei­se wie­der »be­freit«, dies­mal von On­kel Ge­de­one – was im­mer dies auch be­deu­ten mag. Der zwei­te Band en­det; Giu­lia­no ist et­was über 30 Jah­re alt.

Die po­li­ti­schen Er­eig­nis­se in Ita­li­en wer­den in den er­sten bei­den Bü­chern nur spo­ra­disch ein­ge­wo­ben. In Rom be­kam Giu­lia­no kurz Pro­ble­me mit dem Staats­ap­pa­rat und zwei ent­fern­te Freun­de ver­schwan­den. Aus Mus­so­li­ni war der Du­ce ge­wor­den; die an­fäng­li­chen Sym­pa­thien auch in der Ari­sto­kra­tie wi­chen ei­ner Gleich­gül­tig­keit; spä­ter, so greift der Er­zäh­ler vor­aus, wa­ren dann al­le da­ge­gen. Der zu­nächst er­war­te­te Um­bruch ge­schah nicht; die In­sti­tu­tio­nen blie­ben ähn­lich in­ef­fi­zi­ent wie zu­vor. Was je­doch für Giu­lia­no und auch sei­nen On­kel prä­gend wur­de, war das Ge­fühl, dass sich un­ab­hän­gig von den po­li­ti­schen Um­stän­den ein ge­sell­schaft­li­cher Wan­del voll­zog. Un­ter­stri­chen wird dies bei­spiels­wei­se wenn Ge­de­one sei­ne Post­kar­ten­samm­lung me­lan­cho­lisch be­trach­tet und be­klagt, dass nie­mand mehr schrei­be.

Im Nach­wort von Ul­ri­ke Vos­win­kel wird dan­kens­wer­ter­wei­se dar­auf hin­ge­wie­sen, dass die Au­to­bio­gra­phie von Giu­lia­no di San­se­vero kei­ne Au­to­bio­gra­phie von An­drea Gio­ve­ne dar­stellt, trotz ei­ni­ger Par­al­le­len, was zum Bei­spiel die ari­sto­kra­ti­sche Ab­stam­mung und die Rast­lo­sig­keit der Haupt­fi­gur der er­sten Jah­re an­geht. In den kur­zen Aus­blicken auf die wei­te­ren Bän­de schei­nen dann je­doch die Über­ein­stim­mun­gen zwi­schen Fik­ti­on und Le­ben stär­ker zu wer­den. Gio­ve­nes Au­to­bio­gra­phie wird häu­fig mit Prousts »Re­cher­che« und Lam­pe­du­sas »Leo­pard« ver­gli­chen. Auch hier ist Vos­win­kel eher zu­rück­hal­tend.

Der in zeit­ge­nös­si­scher Li­te­ra­tur ge­üb­te Le­ser muss sich zu­nächst ein­mal auf die Ei­gen­hei­ten des Er­zähl­stils und den Cha­rak­ter Giu­lia­nos, der kei­ne un­be­schränkt sym­pa­thi­sche Fi­gur ist, ein­las­sen. Da­bei ver­kör­pert er durch­aus mo­der­ne, in­di­vi­dua­li­sti­sche, ja bis­wei­len li­ber­tä­re Wert­vor­stel­lun­gen. Zwar ist sein Auf­be­geh­ren ge­gen die al­ten Ge­bräu­che und Tra­di­tio­nen eher pas­siv; be­ob­ach­tend, »ne­ben­drau­ßen«, wie Her­mann Lenz das nann­te. Aber er ist na­he­zu be­ses­sen von sei­ner emo­tio­na­len wie auch fi­nan­zi­el­len Un­ab­hän­gig­keit, was sich im­mer wie­der in sei­nem spar­sa­men Le­bens­stil zeigt. In den Mo­men­ten, in de­nen sei­ne Tä­tig­kei­ten Geld ab­wer­fen, legt er dies zu­rück, um, wenn not­wen­dig, mög­lichst lan­ge frei von Zu­wen­dun­gen an­de­rer zu sein. Dies gilt über­tra­gen auch für sei­ne Be­zie­hun­gen zu Frau­en, die er zwar ge­nießt, aber hier scheut er eben­falls vor bin­den­den Ver­pflich­tun­gen zu­rück. Die von ihm ei­gent­lich ver­ach­te­ten Kon­ven­tio­nen, die, wie er glaubt, den Tod sei­ner idea­li­sier­ten Lie­be Ne­ri­na zu ver­ant­wor­ten ha­ben, ret­ten ihn in an­de­ren Fäl­len vor un­an­ge­nehm emp­fun­de­nen Bin­dun­gen. Häu­fig wer­den die un­glück­li­chen Mäd­chen und Frau­en weg­ge­schickt oder an­der­wei­tig ver­hei­ra­tet, denn Giu­lia­no ist, ob­wohl aus ari­sto­kra­ti­schem Haus, auf­grund sei­nes Le­bens­stils kei­ne »gu­te Par­tie«.

Vos­win­kel cha­rak­te­ri­siert den Er­zäh­ler als em­pa­thi­sche Fi­gur. Das ist er al­ler­dings nur, wenn es um ihn sel­ber geht. Es ist ge­ra­de die­se flir­ren­de Am­bi­va­lenz, das leich­te Un­be­ha­gen, das Chan­gie­ren zwi­schen dem »Stoi­zis­mus der Ein­sam­keit« Giu­lia­nos und des­sen bis­wei­len harsch-ego­isti­sche Hand­lun­gen und Um­gangs­for­men, die die Neu­gier des Le­sers auf die Fort­set­zun­gen ste­tig wach­sen lässt und man nach meh­re­ren Stun­den Lek­tü­re die an­ti­sep­ti­sche Ge­gen­warts­pro­sa der Dau­er­em­pha­ti­ker kei­ne Se­kun­de ver­misst. Der drit­te Band, »Das Haus der Häu­ser«, er­scheint im März näch­sten Jah­res. Ich kann es kaum er­war­ten.