Ablenkung
Unabweisbar ist die Strukturähnlichkeit zwischen dem digitalen Windowing und jener Modekrankheit, die man abkürzend und von den Dingen ablenkend als ADHS bezeichnet. Leute aus meinem Bekanntenkreis, die an systematischen Aufmerksamkeitsstörungen und zugleich an Hyperaktivität leiden, gehen in ihrem Alltag häufig an einen Ort (zum Beispiel in der Küche oder auf dem Balkon) und erinnern sich, wenn sie ankommen, nicht mehr, was sie dort eigentlich wollten. Notgedrungen gehen sie weiter an den nächsten Ort, aber dort geschieht ihnen das gleiche. Sie können sich nicht an das erinnern, was sie vorhatten, und oft auch nicht an das, was sie kurz zuvor getan haben. Auch das Vergessen eines Plans oder Planelements ist im Grunde genommen ein Vergessen von seit kurzem Vergangenem. Ganz ähnlich verhalten wir uns, wenn wir »surfen«: Ziemlich rasch vergessen wir, wohin wir »eigentlich« wollten und was wir dort zu suchen hatten. Wer vorsätzlich surft, etwa zu Unterhaltungszwecken, strebt diese Art des Vergessens an. Für Menschen, die unter ADHS leiden, sind diese Symptome allerdings kein Vergnügen, sondern eben Störungen, die sie an einem halbwegs befriedigenden Leben hindern können.
Das Wort »Modekrankheit« ist ungerecht, es klingt verächtlich. Besser, ich nehme es zurück. Anscheinend hat aber jede Zeit bestimmte Krankheiten, die ihre gesellschaftlichen Widersprüche und Gebrechen auf individueller Ebene ausdrücken. Insofern wird man vielleicht behaupten können, daß ADHS die Krankheit des digitalen Zeitalters sei.
Ohne eigentlich krank zu sein, stelle ich einige der Symptome an mir selbst fest. Oft kommt es vor, daß ich für einen Essay, einen Artikel oder auch – ja! – für einen Roman irgend etwas im Internet suche, manchmal in der Vorbereitungsphase, oft aber auch, wenn ich schon daran schreibe. Natürlich sind bestimmte Datenfunde nützlich, und oft brauche ich für sie nur sehr wenig Zeit. Andererseits habe ich beobachtet, daß ich mich viel zu oft auf die Suche mache, nach Dingen, die mich überhaupt nicht zu interessieren brauchen und die mich von meinem Thema, falls ich eines habe, oder sogar vom Schreiben selbst ablenken. Meine Konzentrationsfähigkeit leidet, immer muß ich alles mögliche wissen, und das Wissen, das ich mir auf diese Weise aneigne, eigne ich mir in Wahrheit gar nicht an, weil es sehr rasch wieder aus meinem Gedächtnis verschwindet Was ich durch die Hochgeschwindigkeit der Suchmaschinen und der Verknüpfungstechniken an Zeit gewinne, verliere ich im Dschungel verlockend-ablenkender Daten, die ich nach einer Weile nicht mehr zu werten und zu gewichten verstehe. Aus diesem Grund habe ich vor einiger Zeit beschlossen, bestimmte geistige Arbeiten draußen zu machen, in der Natur oder auch an einem Ort mit vielen Menschen, die nicht geistig arbeiten. Ich nehme mein federleichtes Notebook und mache mich auf den Weg zu einem der Shinto-Schreine, die in der Nähe meines »regulären« Arbeitsplatzes zahlreich sind. Dort sitze ich, ganz ohne »Informationsquellen«, das Notebook auf den Schenkeln. Die Desinformationswelt des Internets bleibt mir vom Leib. Die einzigen Daten, auf die ich zugreifen kann, sind in meinem Kopf.
Shinto-Schreine haben in Japan auch und vor allem die Funktion, in einer extrem urbanisierten Welt Natur zu bewahren. Im allgemeinen wird die Natur in diesem Land wenig respektiert, aber wo ein Shinto-Schrein steht, rührt niemand an die Bäume, die ihn umgeben. Oasen dieser Art sollte man auch im geistigen Leben schaffen, wenn es von digitalen Medien und Maschinen bedroht wird.