Fi­gu­ren der Um­wer­tung: Nietz­sche und Ge­net (II)

hier steht Teil I

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Mehr­fach hat Nietz­sche sei­ne ei­ge­ne Ent­wick­lung rück­blickend zu­sam­men­ge­faßt und ei­ne Zu­kunft für sei­ne Per­son oder ei­nes sei­ner Al­ter Egos skiz­ziert. Oft han­delt es sich da­bei um ei­nen Drei­schritt, wo­bei der drit­te Schritt im­mer erst zu set­zen bleibt. So zum Bei­spiel in Za­ra­thu­stras Re­de von den drei Ver­wand­lun­gen, die fik­tio­na­len und al­le­go­ri­schen Charak­ter hat, aber ein­deu­tig Par­al­le­len zu Nietz­sches gei­sti­ger Bio­gra­phie er­ken­nen läßt. Da ist zu­nächst der Wahr­heits­su­cher, der sei­nen Er­kennt­nis­durst stillt, da­bei aber see­lisch Scha­den lei­det und sich nur sol­che Freun­de macht, die ihn nicht ver­ste­hen kön­nen. Da­nach ver­wan­delt sich der Den­ker zu ei­nem Wol­len­den, der sich »tau­send­jäh­ri­ge Wert­he« an­eignet und un­ter ih­ren Im­pe­ra­ti­ven lei­det, weil die über­lie­fer­ten Sy­ste­me ihm kei­ne schöp­fe­ri­sche Tä­tig­keit er­lau­ben. Auf ei­ner drit­ten Stu­fe fin­det die Fi­gur »zum Spie­le des Schaf­fens« und wird zum un­schul­di­gen Kind, das al­les neu be­ginnt, als gä­be es noch gar nichts, nur ei­ne ta­bu­la ra­sa. (Za 29–31) Das­sel­be Ide­al hat­te Nietz­sche schon in der Fröh­li­chen Wis­sen­schaft for­mu­liert; die Za­ra­thu­stra-Re­de legt den Ak­zent auf Schöp­fung und Spiel, wo­durch die kom­men­de (oder wer­den­de) Ge­stalt ei­ner­seits als gött­li­cher Wel­ten­schöp­fer er­scheint, als de­us fa­ber und crea­tor ex ni­hi­lo, an­de­rer­seits als Künst­ler, der sich je­ne Fik­tio­nen er­zeugt, de­ren er be­darf. Der kind­li­che Künst­ler-Gott um­gibt sich mit sei­nen Ge­spin­sten: Frag­lich, ob er auf die­se Wei­se die Ein­sam­keit des Ka­mels, der er­sten Stu­fe des gei­sti­gen Wer­dens, zu lö­sen ver­mag. Im Be­reich der Phan­ta­sie mag dies ge­lin­gen, et­wa so, wie Ge­net – oder An­dré Rey­baz in Un chant d’amour – sie in der Ge­fäng­nis­zel­le lö­ste. Das rhe­to­ri­sche Häm­mern von Nietz­sches Spät­werk und sein wach­sen­der Hang zur Pa­ra­noia las­sen sich viel­leicht da­durch er­klä­ren, daß die drit­te Stu­fe, der er­sehn­te Neu­be­ginn, nicht Wirk­lich­keit wer­den konn­te, son­dern Fik­ti­on blieb in Schrif­ten, die nie­mand le­sen woll­te. Ei­gent­lich hät­te Nietz­sche künst­le­ri­sche Wer­ke – Mu­sik­stücke, Tän­ze – schaf­fen sol­len, oder apol­li­ni­sche, traum­haf­te Fil­me, die dio­ny­si­sche Ge­stal­ten her­bei­zau­bern. Licht­ge­stal­ten für Licht­spie­le... Es blieb bei phi­lo­so­phi­schen Schrif­ten, die mit der Poe­sie lieb­äu­gel­ten.

Ge­net selbst zähl­te den Ver­rat ne­ben dem Dieb­stahl und der Ho­mo­se­xua­li­tät zu den drei Kar­di­nal­tu­gen­den sei­nes Wer­te­sy­stems. (TD 162) Man fin­det die Kar­di­nal­tu­gend nicht nur auf der In­halts­ebe­ne sei­nes Werks, in den zahl­lo­sen Lob­lie­dern auf Ge­sten des Ver­rats, son­dern zu­gleich im Akt des Schrei­bens selbst. Ge­net hat mehr­mals klar­ge­stellt, daß es ihm nicht um Wahr­heit, nicht um die Do­ku­men­ta­ti­on ei­ner har­ten, für die Häft­lin­ge er­niedrigenden Ge­fäng­nis­wirk­lich­keit geht. Und ge­nau­so­we­nig han­delt es sich um teil­nehmende Be­ob­ach­tung des Mi­lieus von Schwu­len, Zu­häl­tern, Pro­sti­tu­ier­ten. Mo­ra­lisch ge­sprochen läuft sein Schrei­ben ei­ner­seits auf ei­ne Um­keh­rung des herr­schen­den Werte­systems, an­de­rer­seits aber auf ei­nen Ver­rat der er­fah­re­nen Wirk­lich­keit hin­aus. »Was folgt, ist falsch«, schreibt er, als er sich an­schickt, ei­ne Epi­so­de aus der Erziehungs­anstalt zu er­zäh­len. »Die Wahr­heit ist nicht mei­ne Sa­che. Aber ‘um wahr zu sein, muß man lü­gen.’ « (NDF 201) Das knap­pe Pa­ra­do­xon steht zwi­schen Anführungs­zeichen, doch of­fen­bar han­delt es sich nicht um ein Zi­tat (in Frank­reich wird der Satz zu­wei­len als ge­flü­gel­tes Ge­net-Wort zi­tiert). Noch das Zi­tat ent­puppt sich hier als Fik­ti­on. Wäh­rend Ge­net aber die Lü­ge – im Sin­ne ei­ner vor­sätz­li­chen re­fe­ren­ti­el­len Täu­schung, ei­ner Nicht-Ent­spre­chung – ver­tei­digt, zielt er doch auf ei­ne an­de­re Wahr­heit, und er ge­braucht in die­sem Zu­sam­men­hang ein Wort, das uns wie­der­um auf Nietz­sche ver­weist: Spiel. Der wah­re Dich­ter ist ein un­schul­di­ger Spie­ler, und als sol­cher schafft er neue Wer­te. Wenn es wahr ist, daß ich ein Häft­ling bin, der Sze­nen aus sei­nem in­ne­ren Le­ben spielt (für sich spielt)...« Die sonst meist über­zeu­gen­de Über­set­zung Ger­hard Hocks ist hier we­sent­lich är­mer als das Ori­gi­nal. Das Wort­spiel »un pri­son­nier qui joue (et qui se joue)« ver­weist dar­auf, daß die Lü­ge bei Ge­net von exi­sten­ti­el­ler Be­deu­tung ist. Existen­tiell nicht nur im phi­lo­so­phi­schen Sinn, son­dern zu­nächst im Sinn ei­ner Überlebens­notwendigkeit: Ge­net meint, er hät­te sich sonst, »oh­ne eit­le Aus­schmückung der Tat, ver­gif­tet.« (NDF 100) Das äs­the­ti­sche Spiel der Wunsch­er­fül­lung ar­bei­tet mit ei­nem Groß­auf­ge­bot von Or­na­men­ten – Me­ta­phern, Ver­glei­che, Hy­per­beln – an der Er­rich­tung ei­ner al­ter­na­ti­ven Welt, der ei­ne an­de­re Wahr­heit ent­spricht. Zu Be­ginn von Wun­der der Ro­se be­schreibt Ge­net den Kon­trast zwi­schen der nack­ten Ge­fäng­nis­welt und den »hei­li­gen Ver­zie­run­gen«, die dem Ort ei­ne Au­ra ver­lei­hen, die er in der Wirk­lich­keit nicht be­saß. Im Kon­trast ist die Käl­te, mit der Ge­net die »nack­te Wirk­lich­keit« kurz und bün­dig be­nennt, als woll­te er sie ab­ha­ken, fast er­schreckend – nicht so­sehr we­gen der fau­len Zäh­ne und spucken­den Mün­der, son­dern durch die Be­mer­kung über die »Lange­weile, die mir die Nä­he ih­rer un­ver­gleich­li­chen Dumm­heit ver­schafft hat.« (WR 43) Der Dumm­heit und Häß­lich­keit der Mit­häft­lin­ge setzt der Au­tor in sei­ner Zel­le schlicht und ma­nich­ä­isch die Schön­heit und Schläue sei­ner er­fun­de­nen Ver­bre­cher ent­ge­gen, nicht an­ders als ein christ­li­cher Pre­di­ger, der dem La­ster die Tu­gend ent­ge­gen­setzt. Die Wün­sche aber, die er sich schrei­bend-ima­gi­nie­rend er­füllt, ste­hen in en­ger Ver­bin­dung mit ei­nem ro­hen kör­per­li­chen Be­dürf­nis, das auch in der Ge­fäng­nis­zel­le be­frie­digt sein will. Ona­nie zählt im christ­li­chen Moral­system zu den Sün­den; Ge­net tut sich da­durch her­vor, daß er die ma­stur­ba­to­ri­sche Pra­xis nicht nur ein­ge­steht, son­dern oh­ne er­kenn­ba­re Schuld­ge­füh­le er­wähnt und mit sei­nem li­te­ra­ri­schen Pro­jekt, der Ruhm­be­gier­de, ver­knüpft. »Ich bin aus­ge­laugt von die­sen er­fun­de­nen Rei­sen, den Die­be­rei­en, Ein­brü­chen, Ver­haftungen, Not­zucht und Ver­rat. (...) Kraft­los: Krämp­fe im Hand­ge­lenk. Die letz­ten Trop­fen der Wol­lust ver­trock­net.« (NDF 36) Ent­kräf­tet vom Schrei­ben? Von der Ona­nie? Bei­des. Bei­des zu­gleich...

Ei­ne Fra­ge, viel­leicht die ent­schei­den­de, die die Ge­stal­tungs­ver­su­che al­ter­na­ti­ver Wel­ten auf­wer­fen, er­hebt sich be­reits an­ge­sichts von Nietz­sches un­er­füllt ge­blie­be­nem Um­wertungsprojekt: Was ist dar­an so an­ders, was ist neu? Kann die Um­wer­tung über­haupt von den über­lie­fer­ten Wer­ten ab­se­hen, oder braucht sie die­se als Sprung­brett für ih­re an­ti­mo­ra­li­schen Kunst­stücke? Bleibt sie am En­de nicht an dem kle­ben, wo­von sie sich ab­he­ben will? Zum ei­nen ent­spre­chen man­che der von Ge­net pro­pa­gier­ten Wer­te de­nen, die auch in der Mehr­heits­ge­sell­schaft gel­ten, oft zwar nicht of­fi­zi­ell, nicht im ideo­logischen Über­bau, son­dern in der Pra­xis. Und zum an­de­ren wie­der­holt sei­ne Dar­stel­lung in vie­len Fäl­len be­kann­te Kon­stel­la­tio­nen, nur daß die wert­mä­ßi­gen Vor­zei­chen aus­ge­tauscht wer­den: an die Stel­le von Plus tritt Mi­nus, und um­ge­kehrt. Ge­net stellt zwar kei­nes­wegs den An­spruch, auf die­se Wei­se et­was »Neu­es« zu schaf­fen; den­noch er­hebt sich im Kon­text des von Nietz­sche ein­ge­lei­te­ten Den­kens ei­ner an­de­ren Mo­ral (oder An­ti­mo­ral) der Zwei­fel, ob hier tat­säch­lich ein gül­ti­ger Ge­gen­ent­wurf ge­schaf­fen wird. Die Fra­ge der Um­wer­tung ha­ben Nietz­sche und Ge­net nicht be­ant­wor­tet, son­dern nur ver­scho­ben.

Am au­gen­fäl­lig­sten sind in die­sem Zu­sam­men­hang die zu Halb­göt­tern sti­li­sier­ten, ange­himmelten Fi­gu­ren aus dem von Ge­net be­vor­zug­ten Mi­lieu. Die Rol­len­ver­tei­lung – Unter­werfung des fe­mi­ni­nen Schwu­len un­ter den au­to­ri­tä­ren, kräf­ti­gen, oft ge­walt­tä­ti­gen Mann – ist min­de­stens eben­so streng wie in der bür­ger­lich-he­te­ro­se­xu­el­len Welt, und die Ver­bre­cher ver­hal­ten sich nicht an­ders als die Po­li­zi­sten und Ge­fäng­nis­wär­ter. Es ist nur der Zu­fall, der die Tun­ten auf die ei­ne, die Ma­chos auf die an­de­re Sei­te ge­stellt hat (trotz der Sym­me­trie kommt ein Sei­ten­wech­sel nicht in Fra­ge). Es gibt in Ge­nets Uni­ver­sum kei­ne per­sön­li­che Ent­wick­lung, kei­nen Auf- und kei­nen Ab­stieg, son­dern le­dig­lich ein für al­le Mal fi­xier­te und zu­ge­wie­se­ne Or­te in­ner­halb ei­ner Hier­ar­chie. Auch un­ter die­sem Ge­sichts­punkt er­scheint Sar­tres Ak­zen­tu­ie­rung der frei­en Wahl des ei­ge­nen Schick­sals frag­wür­dig. Wenn er von ei­nem »La­by­rinth von Gut und Bö­se« spricht (Sart­re 211), hat er wohl eher sei­ne ei­ge­nen Denk­be­we­gun­gen im Kopf als Ge­nets Bio­gra­phie, die sei­nem Blick im­mer wie­der ent­glei­tet. In der zu­ge­hö­ri­gen Fuß­no­te be­haup­tet Sart­re, daß es sich »eher« um ei­ne »he­ge­lia­ni­sche Auf­he­bung« hand­le als um ein »nietz­schea­ni­sches Jen­seits von Gut und Bö­se«. Wor­auf aber be­zie­hen sich die­se Sät­ze? Auf Ge­nets Um­wer­tungs­not­wen­dig­keit – oder doch »eher« auf Sar­tres ei­ge­nes, ab­strak­tes Denk­sy­stem? Der Wort­laut Ge­nets er­in­nert durch­aus nicht an He­gel, es gibt bei ihm kei­ne hö­he­ren Ebe­nen, kei­ne Fort­schritte, son­dern ei­ser­ne Rang­ord­nun­gen wie bei Nietz­sche, an de­nen nicht ge­rüt­telt wird und nicht ge­rüt­telt wer­den soll (Nietz­sche be­klagt den Ver­fall, Ge­net be­kräf­tigt die Gül­tig­keit der Hier­ar­chien). Der Wort­laut er­in­nert an die prä­gnan­te For­mel des amor fa­ti, die Nietz­sche so be­redt pro­pa­gier­te. Den Ho­ri­zont die­ser Re­de bil­det die ewi­ge Wieder­holung des Glei­chen, ei­ne Art Po­stu­lat, das Nietz­sche zu­meist in Form er­bit­ter­ter Zustim­mung zu al­lem Sei­en­den (ein­schließ­lich der de­ka­den­ten Phä­no­me­ne) vor­bringt und in sei­nen Spät­schrif­ten mit ei­ner ge­heim­nis­vol­len Au­ra um­klei­det. Bul­kaen, ei­ner der Halb­götter in Ge­nets Wun­der der Ro­se, ver­si­chert dem Er­zäh­ler, »daß er das Ge­fäng­nis lie­be«; das Ge­fäng­nis aber ist nur »die Form, die das un­hei­vol­le Schick­sal hat­te ent­ste­hen las­sen«. Ge­net will den Schrecken, der auf Bul­kaen la­ste­te, auf sich neh­men, »wie an­de­re die Sün­den der Men­schen auf sich ge­nom­men ha­ben«. (WR 442, 443) Der chri­sto­lo­gi­sche Ton­fall ist hier un­über­hör­bar. Na­tür­lich han­delt es sich um ein Chri­sten­tum mit ver­kehrten Vor­zei­chen; der Me­cha­nis­mus der Er­lö­sung ist aber der­sel­be.

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Für wen spricht Ge­net ei­gent­lich? Si­cher nicht für »uns«, die in sei­nen Ro­ma­nen im­mer wie­der an­ge­spro­che­nen Le­ser. Eher schon für sei­ne buch­fer­nen, wo­mög­lich analpha­betischen Freun­de, die ei­ne ge­nau de­fi­nier­te, von der Ge­sell­schaft aus­ge­schlos­se­ne Grup­pe bil­de­ten. Falls er nicht über­haupt nur im ei­ge­nen Na­men und zu sich selbst spricht und so je­de Er­lö­sungs­ge­ste ad ab­sur­dum führt: Ge­nets Ro­ma­ne als Junggesellen­maschinen... De­leu­ze und Guat­ta­ri at­te­stie­ren sol­chen Ma­schi­nen, die sich von pa­ra­no­iden Mecha­nismen be­freit ha­ben, »ein Ver­gnü­gen, das man als au­to­ero­tisch oder au­to­ma­tisch be­zeich­nen kann, so als setz­te die ma­schi­nel­le Ero­tik an­de­re, schran­ken­lo­se Kräf­te frei.« (Deleuze/Guattari 25) Die­se Be­schrei­bung, so all­ge­mein sie ge­hal­ten ist, trifft auf Ge­nets Ro­ma­ne zu. Die hal­lu­zi­na­to­ri­schen Bil­der, sti­mu­liert durch die Ver­bre­cher­fo­tos an der Zel­len­wand, sind der sinn­li­che Aus­druck je­nes Stroms rei­ner In­ten­si­tä­ten, der sich der Dia­lek­tik von Mo­ral und An­ti­mo­ral ent­zieht.

Zu wem, für wen spricht Nietz­sche? Für al­le und kei­nen, wie es im Un­ter­ti­tel des Za­ra­thu­stra-Buchs heißt. Zur kom­men­den, er­wünsch­ten All­ge­mein­heit – und im näch­sten Augen­blick schon wie­der zu nie­man­dem: die Ver­kün­di­gun­gen sind Selbst­ge­spräch. Nietz­sche schwankt zwi­schen dem An­spruch der Stif­tung ei­nes neu­en, qua­si-re­li­giö­sen Wer­te­sy­stems und der an­ge­wi­der­ten Ab­wen­dung von je­dem er­denk­li­chen Gesprächs­partner. Die Stif­tung ei­nes neu­en Sy­stems rich­tet sich zu­nächst an die Ver­trau­ten, die po­ten­ti­el­len Jün­ger (Paul Rée, Lou An­dre­as-Sa­lo­mé). Za­ra­thu­stra setzt mehr­mals zu päd­ago­gi­schen Auf­schwün­gen an, die er je­des­mal wie­der ab­bricht. Was Nietz­sche zu be­stimm­ten Zei­ten sei­nes Le­bens ins Au­ge faß­te, war ei­ne her­an­zu­bil­den­de Avant­gar­de, de­ren Form und Funk­ti­on er nicht ge­nau­er be­stimm­te und nach ei­ner Wei­le aus dem Au­ge ver­lor. Al­les in al­lem kön­nen die Ge­dan­ken Za­ra­thu­stras erst in fer­ner Zu­kunft grei­fen. Der neue Gott – oder wie im­mer Za­ra­thu­stras Rol­le de­fi­niert wird – hat sich mit sei­ner Ein­sam­keit ab­zu­fin­den. Nietz­sche-Za­ra­thu­stras Wer­te­stif­tung ver­zö­gert sich end­los, das Buch selbst ist nichts an­de­res als die Spur die­ser Ver­zö­ge­rung und da­mit al­len­falls ein Vor­schein des hy­po­the­tisch Kom­men­den. Al­ler­dings stellt sich auch hier wie­der die Fra­ge, wie neu das An­ge­kün­dig­te, An­ge­deu­te­te, Ver­schwie­ge­ne ei­gent­lich ist. Bei Nietz­sche ver­bin­det sich der Er­neue­rungs­an­spruch mit ei­nem kon­stan­ten Blick nach hin­ten. Zen­tral­wör­ter wie »Macht«, »Stär­ke« und »Kraft« ver­wei­sen auf ei­nen Tap­fer­keits­kult, ei­ne Ver­herr­li­chung der vir­tus im rö­mi­schen Sin­ne, die Nietz­sches so­zi­al­psy­cho­lo­gi­scher Ana­ly­se zu­fol­ge von der christ­li­chen Leh­re mit Fü­ßen ge­tre­ten wor­den ist. Vir­tus läßt sich mit »Männ­lich­keit« über­set­zen; Nietz­sches Frau­en­haß wä­re nicht zu­letzt in die­sem »mo­ral­ge­schicht­li­chen« Zu­sam­men­hang zu se­hen. Ein er­ster gro­ßer Wer­te­wan­del hat Nietz­sches zu­fol­ge am En­de der An­ti­ke statt­ge­fun­den, die bevor­stehende, an­ge­kün­dig­te Um­wer­tung ist zu ei­nem Gut­teil – nicht aus­schließ­lich – ei­ne Rück­kehr zu je­nen al­ten Wer­ten.

Im vier­ten Teil des Za­ra­thu­stra kommt es zu ei­nem Dis­put zwi­schen dem »Gewissen­haften« – im 18. Jahr­hun­dert hät­te man ihn wohl als Pe­dan­ten be­zeich­net – und der Haupt­fi­gur. Der ängst­li­che, vor­sich­ti­ge Mann wirft den »hö­he­ren Men­schen«, al­so Zar­thu­stras po­ten­ti­el­len Schü­lern, vor, es ge­lü­ste sie »nach dem schlimm­sten gefähr­lichsten Le­ben (...), nach dem Le­ben wil­der Thie­re«. Za­ra­thu­stra be­stä­tigt die­se Aus­sa­ge, in­dem er sie um­wer­tet: »Muth aber und Aben­teu­er und Lust am Un­ge­wis­sen, am Un­ge­wag­ten, – Muth dünkt mich des Men­schen gan­ze Vor­ge­schich­te. Den wil­de­sten und mu­tig­sten Thie­ren hat er al­le ih­re Tu­gen­den ab­ge­n­ei­det und ab­ge­raubt«. (Za 377) Sol­che Sät­ze schreibt ein Al­ter­tums­wis­sen­schaft­ler und Phi­lo­soph, dem zu kör­per­li­chen Mut­proben al­le Vor­aus­set­zun­gen feh­len. Das weiß er, und nicht zu­letzt aus die­sem Grund ver­legt er Tap­fer­keit und Grau­sam­keit in die gei­sti­ge Tä­tig­keit des Men­schen: je­des »Tief- und Gründ­lich-Neh­men ist ei­ne Ver­ge­wal­ti­gung«, und »schon in je­dem Er­ken­nen-Wol­len ist ein Trop­fen Grau­sam­keit.« (JGB 167) Un­ter dem, was Nietz­sche als mensch­heit­li­che Evo­lu­ti­on skiz­ziert, ver­ber­gen sich sei­ne per­sön­li­chen Vor­aus­set­zun­gen, Be­dürf­nis­se und Kon­flik­te. In sei­ner ei­ge­nen gei­sti­gen Ent­wick­lung wer­den Kampf­be­gier­de und Selbst­behauptungstrieb in ei­nen zu­neh­mend po­le­mi­schen Schreib­stil hin­ein sub­li­miert, in letzt­lich hal­lu­zi­na­to­ri­sche Ge­fech­te mit hi­sto­ri­schen Grö­ßen wie den Ho­hen­zol­lern, Ri­chard Wag­ner oder Je­sus Chri­stus. Es ist wie­der­um ein Drei­schritt, den uns Nietz­sche thea­tralisch vor­führt: von der vir­tus zum Chri­sten­tum zum kom­men­den Reich. Die christ­liche Um­wer­tung hat zu je­ner dé­ca­dence ge­führt, die Nietz­sches Ge­gen­wart kenn­zeichnet und die es zu über­win­den gilt. Das Wort »De­ka­denz« hat in Nietz­sches Ge­brauch ei­nen bio­lo­gi­schen Bei­geschmack; ge­meint ist ein Ver­fall, ei­ne chro­ni­sche Kör­per­schwä­che sei es der In­di­vi­du­en, sei es des Ge­sell­schafts­gan­zen (das Wort »Ent­ar­tung« liegt durch­aus auf die­ser Denk­li­nie).

Nietz­sche schwankt in sei­nen Ent­wür­fen zwi­schen Züch­tungs­phan­ta­sien, die ei­nen Ty­pus von neu­en Men­schen vor­stel­len, al­so ei­ne Grup­pe von In­di­vi­du­en, die man »Volk« oder sonst­wie nen­nen mag, und ei­ner eli­tä­ren Kon­zep­ti­on mit dem Ziel, ein­zel­ne In­di­vi­du­en – die star­ken, die mit den be­sten An­la­gen – zu stär­ken. Die Mas­se be­tref­fend geht es dann ein­zig dar­um, sie so­weit im Zaum zu hal­ten, daß sie die Ent­fal­tung der Aus­er­le­se­nen nicht be­hin­dert. Vom heu­ti­gen Stand­punkt aus, nach den di­ver­sen Er­fah­run­gen des 20. Jahr­hunderts, läßt sich hier ein­wen­den, daß das Wohl­erge­hen der Mehr­heit für die Heran­bildung hoch­qua­li­fi­zier­ter Min­der­hei­ten nicht hin­der­lich sein muß, son­dern die­se so­gar för­den kann. Die­ser Ge­dan­ke, im Sport ei­ne Bin­sen­weis­heit, scheint Nietz­sche nicht ein­mal ge­streift zu ha­ben. Nietz­sche zog es vor, sich über das an­geb­lich be­droh­te Schick­sal der Star­ken zu er­ei­fern. »Fast Al­les, was wir ‘hö­he­re Cul­tur’ nen­nen, be­ruht auf der Ver­geistigung und Ver­tie­fung der Grau­sam­keit – dies ist mein Satz«, er­klärt er in Jen­seits von Gut und Bö­se. »Je­nes ‘wil­de Thi­er’ ist gar nicht ab­get­öd­tet wor­den, es lebt, es blüht, es hat sich nur – ver­gött­licht.« (JGB 166) Man kann Nietz­sches Haupt-Satz im Sin­ne der Freud­schen Sub­li­mie­rungs­theo­rie ver­ste­hen, soll­te da­bei aber auch be­den­ken, daß sämt­li­che Be­stre­bun­gen Freuds auf ei­ne För­de­rung des Gei­sti­gen hin­aus­lie­fen, wäh­rend Nietz­sche – na­tür­lich nur ver­bal, oder fik­tio­nal – im­mer wie­der da­mit spielt, den ro­hen An­teil der Ge­walt zu re­ak­ti­vie­ren. Den Phi­lo­so­phen, al­so sich selbst, sieht er »als Künst­ler und Ver­klä­rer der Grau­sam­keit« wal­ten. Oft­mals zi­tier­te, für un­ter­schied­li­che Zwecke ge­brauch­te Wor­te wie das von der »blon­den Be­stie« sind kei­ne Ent­glei­sun­gen, son­dern bild­haf­te Zu­spit­zun­gen ei­nes Ge­dan­ken­kom­ple­xes, mit je­nem Haupt-Satz in der Mit­te.

An ei­ner an­de­ren Stel­le der­sel­ben Schrift be­zeich­net Nietz­sche sich und die Sei­nen – zu die­sem Zeit­punkt, 1886, sind es eher die »Kei­nen« – als »wir Um­ge­kehr­te«, was sich der la­tei­ni­schen Ety­mo­lo­gie fol­gend auch als »wir Per­ver­tier­te« for­mu­lie­ren läßt (Ge­net soll­te die­sen Aspekt der Um­keh­rung als vor­sätz­li­cher Per­ver­si­on spä­ter her­vor­he­ben). Die Eli­te der Um­ge­kehr­ten hat ih­ren Le­bens­wil­len – das ent­schei­den­de Kri­te­ri­um – in der Ge­fahr im­mer nur ge­stei­gert. Was uns nicht um­bringt, macht uns stär­ker: die­ser von Nietz­sche ge­präg­te Spruch ist in der Na­zi-Zeit in den Schatz volks­tüm­li­cher Weis­hei­ten ein­ge­gan­gen. Die »Gu­ten« sind für Nietz­sche die Vor­neh­men, das heißt die Star­ken, die es ver­ste­hen, sich dem so­zia­len Zwang zu ent­zie­hen. Sie tre­ten dann »in die Un­schuld des Raub­thi­er-Ge­wis­sens zu­rück, als froh­locken­de Un­ge­heu­er, wel­che viel­leicht von ei­ner scheuss­li­chen Ab­fol­ge von Mord, Nie­der­bren­nung, Schän­dung, Fol­te­rung mit ei­nem Über­mu­the und see­li­schen Gleich­ge­wich­te da­von­ge­hen, wie als ob nur ein Stu­den­ten­streich voll­bracht sei, über­zeugt da­von, daß die Dich­ter für lan­ge nun wie­der Et­was zu rüh­men und zu sin­gen ha­ben.“ (GM 275) In Ge­net ha­ben die­se Un­ge­heu­er den Dich­ter, der sie zu rüh­men ver­steht; auch bei ihm steht der Mord in der Hier­ar­chie der Ver­bre­chen – al­so Tu­gen­den – an er­ster Stel­le. Die »lü­stern schwei­fen­de« Be­stie, wünscht Nietz­sche, »muss wie­der her­aus, muss wie­der in die Wild­niss zu­rück...« Man könn­te hier Adal­bert Stif­ter zi­tie­ren, ei­nen Dich­ter, der aus­ge­hend von ei­nem ähn­li­chen Be­fund die ge­gen­tei­li­ge Schluß­fol­ge­rung zog. In sei­ner Er­zäh­lung Zu­ver­sicht be­haup­tet ein al­ter, le­bens­er­fah­re­ner Mann, wir al­le hät­ten »ei­ne ti­ger­ar­ti­ge An­la­ge, so wie wir ei­ne himm­li­sche ha­ben«. Auch er wid­met sich der Aus­ma­lung der Ge­fahr, um dann fol­gen­de Ma­xi­me auf­zu­stel­len: »Der größ­te Mann – ich mei­ne den Tu­gend­haf­ten dar­un­ter, wi­der­steht nur dem ge­weck­ten Ti­ger und läßt ihn nicht rei­ßen, wäh­rend der Schwa­che un­ter­liegt und ra­send wird.« (Stif­ter 356) Prak­ti­zier­te Ethik ist nach die­sem ver­brei­te­ten, christ­lich ge­färb­ten Mo­dell die Zäh­mung ei­ner un­aus­rott­ba­ren ro­hen Na­tur.

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Nietz­sches Äu­ße­run­gen er­wei­sen sich, wie je­ne Ge­nets, vor die­sem Hin­ter­grund zu­nächst als an­ti­mo­ra­lisch. Auf den zwei­ten Blick wird aber klar, daß Nietz­sche dem Lob der Bar­ba­rei im­mer wie­der sei­ne Hoch­schät­zung gei­sti­gen und äs­the­ti­schen Raf­fi­ne­ments bei­mengt, wo­durch sich sehr ei­gen­tüm­li­che Kon­tra­ste, Pa­ra­do­xien, auch Un­ge­reimt­hei­ten er­ge­ben: schil­lern­de Fi­gu­ren oder Ty­pen in ei­nem fik­tio­na­len Feld, de­ren aus­ge­reif­tester Ver­tre­ter Za­ra­thu­stra ist (der den­noch im­mer va­ge bleibt). Und es zeigt sich wei­ters, daß Ge­net, wenn er die li­te­ra­ri­sche Ma­schi­ne der Um­po­lung ein­mal in Gang ge­setzt hat, an die Stel­le der al­ten Wer­te zwar die al­ten Un­wer­te, al­so die ne­ga­ti­ven Pen­dants von Wer­ten wie Red­lich­keit, Sanft­mut, Treue, De­mut, Be­stän­dig­keit setzt, sei­ne Ge­gen­welt aber in er­ster Li­nie nach äs­the­ti­schen Kri­te­ri­en auf­baut, die sich un­merk­lich an die Stel­le der mo­ra­li­schen set­zen. Was al­so statt­fin­det, ist kei­ne Re­vo­lu­ti­on, kein Um­sturz, son­dern ei­ne Verschie­bung. Schon bei Nietz­sche deu­tet sich die Pri­vi­le­gie­rung der Form vor den In­hal­ten an. Ei­ner sei­ner »ober­sten Sät­ze« lau­tet, »dass, um Mo­ral zu ma­chen, man den unbe­dingten Wil­len zum Ge­gen­t­heil ha­ben muss.« (GD 102) Ich ge­be hier ein­mal ei­ne der zahl­lo­sen Her­vor­he­bun­gen Nietz­sches wie­der; »ma­chen« hat er wohl des­halb unter­strichen, weil weil es ihm um den Aspekt des Schöp­fe­ri­schen, der crea­tio, zu tun war.

Das Ge­gen­teil um sei­ner selbst wil­len zu sa­gen oder zu tun ist im Grun­de ge­nom­men ein kind­li­ches Ver­hal­ten, das El­tern manch­mal zur Ver­zweif­lung brin­gen kann. Für Kin­der ist es mei­stens ein Spiel, das Ernst wer­den, je­den­falls aber die ernst­haf­te Er­wach­se­nen­welt stö­ren kann. Auch wenn man die Auf­wer­tung des Kind­lich-Spie­le­ri­schen nach­voll­zie­hen und gou­tie­ren mag, so ge­nügt sie doch nicht, um ei­ne fik­tio­na­le oder wirk­li­che Welt zu schaf­fen; von In­hal­ten kann al­len­falls die Mu­sik gänz­lich ab­se­hen, nicht aber die Li­te­ra­tur, noch we­ni­ger ei­ne Welt, die sich als »Ge­sell­schaft« ver­steht. Die oft zi­tier­te Pas­sa­ge, in der Ge­net Be­wun­de­rung für das Hit­ler-Re­gime äu­ßert, wirkt sa­lopp hin­ge­schrie­ben und ver­folgte wahr­schein­lich kei­ne an­de­re Ab­sicht, als im Nach­kriegs­frank­reich zu pro­vo­zie­ren. »Nur den Deut­schen in der Zeit Hit­lers ge­lang es, gleich­zei­tig die Po­li­zei und das Ver­brechen zu sein.« (TD 207) Ei­nen An­satz zur Ana­ly­se der da­ma­li­gen deut­schen Verhält­nisse bie­tet die­se 1946 nie­der­ge­schrie­be­ne Be­haup­tung nicht. Beim Wort »Ver­brechen« hat­te Ge­net ver­mut­lich die sy­ste­ma­ti­sche Ju­den­ver­nich­tung im Au­ge. Sieht man vom prak­ti­zier­ten Ras­sis­mus ab, kann man nicht sa­gen, daß im deut­schen Zi­vil­le­ben da­mals das Ver­bre­chen blüh­te. Wohl aber er­in­nern die­se und ähn­li­che Sät­ze Ge­nets an Ver­hält­nis­se in Län­dern, wo Kor­rup­ti­on herrscht und der Bür­ger oft vom Re­gen in die Trau­fe kommt, wenn er sich in ei­ner Not­la­ge an die Po­li­zei wen­det. Die Aus­sa­ge Ge­nets läßt sich eher auf sol­che Ver­hält­nis­se als auf den Na­tio­nal­so­zia­lis­mus be­zie­hen. Was Ge­net fas­zi­niert, ist die for­ma­le Aus­tausch­bar­keit ge­gen­sätz­li­cher – oder schein­bar gegen­sätzlicher – Po­si­tio­nen. »Die­se mei­ster­li­che Syn­the­se der Ge­gen­sät­ze, die­ser Klotz von Wahr­heit war schrecken­erregend, ge­la­den mit ei­nem Ma­gne­tis­mus, der uns noch lan­ge ver­stö­ren wird.« Po­li­zist und Ver­bre­cher sind ein dop­pel­tes Spie­gel­bild, wo­bei sich nicht ent­schei­den läßt, wel­ches das Ori­gi­nal ist. Bei­de sind selbst­ver­ständ­lich auf­ein­an­der an­ge­wie­sen. Kommt es in der Wirk­lich­keit des Straf­voll­zugs zu Re­for­men, zu »Hu­ma­ni­sie­run­gen«, lehnt Ge­net die­se ab, weil das Sy­stem, das ihm die Ent­fal­tung sei­ner Fik­ti­on er­mög­licht, da­durch in Fra­ge ge­stellt wird. In Splendid’s, ei­nem der Thea­ter­stücke, mit de­nen sich Ge­net zur Zeit sei­nes er­sten Er­folgs nach dem Ab­schluß der Ro­man­se­rie her­um­plag­te (an­geb­lich zer­riß er das Ex­em­plar, das er für das ein­zi­ge hielt, in klei­ne Stücke), in Splendid’s hält ein auf die Ge­gen­sei­te über­ge­wech­sel­ter Po­li­zist, al­so ein Ver­rä­ter, ei­nen lan­gen Ser­mon. »Ich wer­de vom Bul­len zum Gang­ster. Ich dre­he mich um wie ei­nen Hand­schuh, und ich zei­ge euch die an­de­re Sei­te des Bul­len, den Gang­ster. Po­li­zei. Die Po­li­zei! Ich war zwei Jah­re da­bei. Ich ha­be sie ge­liebt, Jungs, und ich lie­be sie jetzt schon wie­der, und zwar mit noch mehr Lei­den­schaft, seit ich auf Bul­len ge­schos­sen ha­be.« (Spl 239) Ed­mund White at­te­stiert die­ser Stel­le ei­ne un­frei­wil­li­ge Ko­mik. Wer die Ver­hält­nis­se in ge­wis­sen Län­dern der so­ge­nann­ten drit­ten Welt kennt, wird sie nicht ko­misch fin­den.

Was Ge­net be­stä­tigt, was er preist und not­falls ver­tei­digt, sind die Macht­ver­hält­nis­se, mit de­nen er in der Rea­li­tät – in zahl­rei­chen Län­dern, nicht nur in Frank­reich – Be­kannt­schaft ge­schlos­sen hat. Die­se Ver­tei­di­gung mag in den Oh­ren der Ver­tre­ter der Macht wie Hohn klin­gen, und tat­säch­lich ent­hal­ten die ba­rocken Fik­tio­nen Ge­nets ei­nen har­ten Kern, der die Ver­hält­nis­se bloß­stellt, oh­ne sie ei­gent­lich zu be­schrei­ben. Im Un­ter­schied zu Nietz­sches li­te­ra­ri­schen Auf­schwün­gen und An­deu­tun­gen sind die­se Fik­tio­nen frei von Uto­pie, frei von je­der Art von Zu­kunfts­drang, frei auch vom Ver­such des han­deln­den Sub­jekts, sich ei­ne Vor­ge­schich­te zu­recht­zu­le­gen. Der Schwule/Bettler/Landstreicher/­Gauner mag in sei­ner Kind­heit wur­zeln­de Schuld­ge­füh­le mit sich her­um­schlep­pen, zu recht­fer­ti­gen hat er sich den­noch nicht, weil die Welt, die er selbst ge­schaf­fen hat und im­mer neu er­schafft, sich selbst ge­nügt und, leib­nizia­nisch ge­spro­chen, die be­ste von al­len denk­ba­ren ist. Wie soll­te es auch an­ders sein, wenn sich der Au­tor in den Stand ei­nes de­us fa­ber ge­setzt hat? Die al­ter­na­ti­ve Welt der Fik­ti­on hebt die Ge­gen­sät­ze nicht auf, son­dern bringt die ex­tre­men Po­si­tio­nen zu ei­ner Am­bi­va­lenz, bei der es ein­zig und al­lein dar­um geht, sie äs­the­tisch und af­fek­tiv zu be­set­zen und ihr in der Ge­stal­tung ei­ne In­ten­si­tät zu ver­lei­hen, die den ei­gent­li­chen Wert an­stel­le der »zu­sam­men­ge­fal­le­nen« in­halt­li­chen Wer­te aus­macht. Im Grun­de ist die­se Mög­lich­keit seit je­her in der christ­li­chen Ethik an­ge­legt. Ih­re ra­di­ka­le Um­set­zung stellt al­ler­dings das Sy­stem selbst in Fra­ge, so daß der Ge­dan­ke in der Re­li­gi­ons­ge­schich­te nur ei­ne mar­gi­na­le Rol­le spielt. Win­fried Men­ning­haus ver­weist auf die Oster­lit­ur­gie der rö­misch-ka­tho­li­schen Kir­che, in der die fe­lix cul­pa der Men­schen be­ju­belt wird, da die Sün­de ja erst die Er­lö­sungs­tat Chri­sti er­mög­li­chen wür­de. (Men­ning­haus 543f.) Schon die Ge­ste Chri­sti auf dem Hö­he­punkt der Pas­si­on, zwei Ver­bre­cher mit sich in den Him­mel zu neh­men, lie­ße sich als Frei­brief zum Sün­di­gen deu­ten, und die For­mel, wo­nach die Letz­ten die Er­sten sein wer­den, muß­te ei­nem Um­keh­rungs­akro­ba­ten wie Ge­net ins Kon­zept pas­sen, auch wenn die »Letz­ten« in die­sem Fall nicht un­be­dingt Ver­tre­ter der Un­ter­welt sein müs­sen.

Im üb­ri­gen muß man gar nicht die Ekel­kunst von Bau­de­lai­re über Benn bis Jo­sef Wink­ler her­an­zie­hen, um zu ver­ste­hen, wie reiz­voll und frucht­bar das christ­li­che Pa­ra­dox für das äs­the­ti­sche Spiel sein kann. Auch bei ei­nem »bür­ger­li­chen« Au­tor wie Tho­mas Mann wird man fün­dig. Für Adri­an Le­ver­kühn, die Künst­ler­ge­stalt mit Zü­gen Nietz­sches, ist das Pa­ra­dox von Sün­de und Gna­de ein An­laß, die Mit­tel­mä­ßi­gen, al­so die gro­ße Mehr­heit, ab­zu­kan­zeln. »Die Mit­tel­mä­ßig­keit führt über­haupt kein theo­lo­gi­sches Le­ben. Ei­ne Sünd­haf­tig­keit, so heil­los, daß sie ih­ren Mann von Grund aus am Hei­le ver­zwei­feln läßt, ist der wahr­haf­te theo­lo­gi­sche Weg zum Heil.« (Mann 390) Äs­the­ti­scher Wert, der in letz­ter In­stanz als ein ethi­scher ver­bucht wer­den könn­te, ist nur aus der Span­nung der Ex­tre­me zu ge­win­nen. In den Ge­nuß über­strö­men­der Gna­de kommt nur der­je­ni­ge, der sie ent­schie­den her­aus­for­dert und ih­re Quel­le be­feh­det. Daß Manns Faustus am En­de auch an dem skiz­zier­ten Weg des Ver­zwei­fel­ten zwei­felt, steht auf ei­nem an­de­ren Blatt. Im Rück­blick be­kennt er, er ha­be »ei­nen ver­ruch­ten Wett­streit mit der Gü­te dro­ben« ge­trie­ben und sei we­gen sei­ner Nei­gung zum Spe­ku­lie­ren »ver­dammt«. (Mann 666) Ge­net, wie er sich in sei­nen Fik­tio­nen dar­stellt, zwei­felt nicht an sei­ner Be­stim­mung; viel­leicht nur des­halb nicht, weil ihm stets be­wußt bleibt, daß sein ein­zi­ger Aus­weg, um ein Heil zu er­lan­gen, das er als ir­di­sches de­fi­niert, im Spiel mit den Wer­ten und Machtver­hältnissen liegt. In die­sem, nur in die­sem Sinn strebt er nach Hei­lig­keit. Sie ist bei wei­tem nicht so schwer, so un­mög­lich zu er­lan­gen ist wie die Hei­lig­keit der »ech­ten« Hei­li­gen oder der ver­ruch­ten gott­gläu­bi­gen Künst­ler, denn es ge­nü­gen Ent­schlos­sen­heit und Kon­se­quenz. Die Hei­lig­keit, sagt Ge­net froh­ge­mut, »ge­lei­tet zum Him­mel über den Weg der Sün­de.« (WR 58) Der Hei­li­ge in der Zel­le kann sich bei sei­nen re­li­giö­sen Übun­gen der Phan­ta­sie über­las­sen wie der Schwu­le bei sei­nen klei­nen Er­obe­run­gen auf öf­fent­li­chen Toi­let­ten. Die Aus­schwei­fung wird dem »Per­ver­tier­ten« zur Tu­gend.

Ge­nets re­al­bio­gra­phi­sche Grund­er­fah­rung, ob sie nun den Tat­sa­chen Rech­nung trägt oder nicht, ist die des Aus­ge­schlos­se­nen­seins aus ei­ner Ord­nung, die er an­fangs nicht ab­lehnt, son­dern, im Ge­gen­teil, be­wun­dert. Das Aus­ge­schlos­sen­sein gip­felt im Ein­ge­schlos­sen­sein in der Ge­fäng­nis­zel­le, und ge­nau dar­auf läuft die fik­tio­na­le – we­nig­stens teil­wei­se auch die rea­le – Be­we­gung der Ich-Fi­gur und ih­rer Al­ter Egos hin­aus: auf die Ein­schlie­ßung und die Um­keh­rung durch das Phan­ta­sie­ren. Ge­net leb­te »nach ei­ner Mo­ral, wel­che der herrschen­den ent­ge­gen­ge­setzt war« (TD 200), doch die Ge­gen­set­zung (oder der Wi­der­stand) be­schränkt sich auf ei­ne Um­keh­rung der Vor­zei­chen, wo­bei die furchter­regende Stren­ge der herr­schen­den Ord­nung nicht nur ab­ge­bil­det, son­dern noch über­boten wird. Sti­li­ta­no, der an­ge­him­mel­te Kraft­mensch die­ses Ab­schnitts von Ta­ge­buch des Die­bes, ist bru­tal zu sei­ner Frau, und der Ich-Er­zäh­ler be­nei­det ihn um die­se Gewalt­tätigkeit. Sti­li­ta­no ar­bei­tet mit der kor­rup­ten Po­li­zei zu­sam­men; die schein­ba­ren Ge­gen­spie­ler stecken un­ter ei­ner Decke: »Ge­mein­sam wa­ren sie Ver­rä­ter und Be­trü­ger«, was für Ge­net nur ein Grund mehr ist, sei­ner »Gott­heit aus Schlamm und Rauch« zu hul­di­gen. Zu­sam­men mit ei­nem an­de­ren Pa­ria »dient« er Sti­li­ta­no. Die Macht­struk­tu­ren in der al­ter­na­ti­ven Ge­sell­schaft gren­zen an Skla­ve­rei (auch Nietz­sche lob­te ge­le­gent­lich die Skla­ven­hal­ter­ge­sell­schaft), doch die Skla­ven un­ter­wer­fen sich frei­wil­lig, ja so­gar mit Freu­den. »Ro­bert und ich dien­ten Sti­li­ta­no, wie man ei­nem Prie­ster dient – oder ei­ner Ar­til­le­rie-Ka­no­ne. Vor ihm kniend, schnür­te je­der von uns bei­den ei­nen Schuh des Man­nes zu.« (TD 154) Merk­wür­dig ist das Bild der Ka­no­ne, in dem Sti­li­ta­no als gött­li­che Kriegs­ma­schi­ne er­scheint. Männ­li­che Po­tenz und mar­tia­li­scher Kampf wer­den in die­sem Ver­gleich kurz­ge­schlos­sen. Ho­mo­se­xua­li­tät voll­zieht sich bei Ge­net in ei­nem Feld von Macht und Ge­walt. Auch in der he­te­ro­se­xu­el­len Mehr­heits­ge­sell­schaft war und ist das ten­den­zi­ell so. Der klei­ne Un­ter­schied liegt im Vor­zei­chen, in der Vor­sil­be.

Nietz­sches ethi­sche Um­wer­tung läuft auf die Af­fir­ma­ti­on – zu deutsch: Be­kräf­ti­gung – des Le­bens hin­aus. »Le­ben« ver­steht er, durch­aus im bio­lo­gi­schen Sinn, als Kör­per­kraft und fei­ne­re Vi­ta­li­tät, als Be­haup­tung und Stei­ge­rung des Selbst, als Kampf ge­gen al­les, was sei­ne vi­ta­le Ent­fal­tung be­hin­dert. Da Nietz­sche sei­ne ge­gen­wär­ti­ge Epo­che als de­ka­dent – le­bens­schwach, ver­fal­lend, ster­bend – be­ur­teil­te, kann sich die Af­fir­ma­ti­on nicht auf die­se Epo­che und schon gar nicht auf die zeit­ge­nös­si­sche Ge­sell­schaft, in der er Phä­no­me­ne wie De­mo­kra­tie und So­zia­lis­mus als Ge­fah­ren her­auf­däm­mern sah, be­zie­hen. Die nietzsche­anische Af­fir­ma­ti­on rich­tet sich in ei­ne un­be­stimm­te Zu­kunft (und schielt in die An­ti­ke und Prä­hi­sto­rie zu­rück). Sie ist eher An­ti­zi­pa­ti­on als Af­fir­ma­ti­on, eher Idea­li­sie­rung als Selbst­ausdruck.

In Ge­nets Ro­ma­nen ist Vi­ta­li­tät ei­ne Vor­aus­set­zung, die nicht ei­gens the­ma­ti­siert, be­schworen oder her­bei­ge­re­det wer­den muß. Die Le­bens­kraft ist ein­fach ge­ge­ben, auch und erst recht an den Rän­dern der Ge­sell­schaft, in Ar­mut, Schmutz und mo­ra­li­scher Ver­kom­men­heit. Die Af­fir­ma­ti­ons­lei­stung Ge­nets be­zieht sich auf die ge­sell­schaft­li­che Or­ga­ni­sa­ti­on sei­ner Epo­che, auf die Macht­struk­tu­ren, die am deut­lich­sten und här­te­sten im Ge­fäng­nis, in der Ar­mee und bei Schiffs­be­sat­zun­gen zum Aus­druck kom­men. Im er­sten An­satz ne­giert sein li­te­ra­ri­sches Pro­jekt die Ver­hält­nis­se, die den Au­tor und sei­ne Haupt­figuren in­so­fern ge­prägt ha­ben, als sie sie an den Rand ge­drängt oder aus­ge­schlos­sen ha­ben. Doch die Rea­li­sie­rung er­weist sich als Be­kräf­ti­gung des Ge­ge­be­nen, als Über­hö­hung oder, nietz­schea­nisch ge­spro­chen, als Stei­ge­rung in ei­nem ge­schlos­se­nen – äs­the­ti­sier­ten – Be­reich. Noch der Ver­rat, zur Tu­gend sti­li­siert und zur Ge­wohn­heit au­to­ma­ti­siert, ge­winnt ei­ne Be­re­chen­bar­keit, die ihn der Treue – Treue zu Prin­zi­pi­en, zum Part­nern usw. – ähn­lich macht. Ge­nets Bio­graph führt aus, wie der pro­vo­ka­ti­ons­freu­di­ge, auf sei­ne Wei­se op­por­tu­ni­sti­sche Au­tor den fran­zö­si­schen An­ti­fa­schi­sten ge­gen­über die Kol­la­bo­ra­ti­on mit den Deut­schen be­für­wor­te­te, den Kol­la­bo­ra­teu­ren ge­gen­über je­doch lin­ke Ge­sin­nun­gen her­vor­kehr­te. Daß sich in letz­te­ren sein »wah­res Ge­sicht als Mann der Lin­ken« (White 261) zeig­te, scheint das spä­te­re En­ga­ge­ment Ge­nets für Black Pan­thers und palästi­nensische Kämp­fer zu be­stä­ti­gen. Zwei­fel er­he­ben sich je­doch an­ge­sichts der Tat­sa­che, daß Ge­net im­mer wie­der, von den Ro­ma­nen der vier­zi­ger Jah­re bis zur Pro­sa von Un cap­tif amou­reux, an der er in sei­nen letz­ten Le­bens­jah­ren schrieb, mit dem An­ti­se­mi­tis­mus ko­ket­tier­te. Die Zwei­fel ver­stär­ken sich, wenn man sich ent­sinnt, daß Ge­net sei­nem lang­jäh­ri­gen Freund, dem Rechts­an­walt Jac­ques Ver­gès, zu­stim­mend schrieb, als die­ser die Ver­tei­di­gung des Na­zi-Hen­kers Klaus Bar­bie über­nahm. (White 551) Bei­de, Ge­net und Ver­gès, ge­fie­len sich in der Am­bi­va­lenz, und bei­de sa­hen ihr po­li­ti­sches Han­deln als äs­the­ti­sche Ge­sten, als Teil ei­nes Le­bens­kunst­werks. Ihr Kult von Ge­fahr und Ge­walt er­in­nert an die Sehn­sucht nach ei­nem »ge­fähr­li­chen Le­ben« jen­seits des bürger­lichen All­tags, wie sie Ernst Jün­ger im An­fangs­ka­pi­tel sei­ner Stahl­ge­wit­ter be­schrieb, um sei­ne hand­fe­sten, im Buch aber auch idea­li­sier­ten Kriegs­er­fah­run­gen spä­ter in den uto­pi­schen Ent­wurf ei­ner »Ar­beits­ge­sell­schaft« nach mi­li­tä­ri­schem Mu­ster um­zu­mün­zen. Die ge­dank­li­chen Ur­sprün­ge die­ser po­li­tisch ge­wor­de­nen Sehn­sucht lie­gen in den Schrif­ten Nietz­sches, und das Werk Ge­nets, der die­se Schrif­ten wahr­schein­lich erst nach der Ab­fas­sung sei­ner Ro­ma­ne und Thea­ter­stücke las, ist ei­ne, wenn auch ku­rio­se und ex­tre­me, Blü­te die­ser gei­stes­ge­schicht­li­chen Vor­gän­ge.

© Leo­pold Fe­der­mair


Ver­wen­de­te Li­te­ra­tur.


Teil III

Die Kom­men­tar­mög­lich­keit be­steht im drit­ten und letz­ten Teil des Es­says. (G. K.)