Fi­gu­ren der Um­wer­tung: Nietz­sche und Ge­net (II)

hier steht Teil I

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Mehr­fach hat Nietz­sche sei­ne ei­ge­ne Ent­wick­lung rück­blickend zu­sam­men­ge­faßt und ei­ne Zu­kunft für sei­ne Per­son oder ei­nes sei­ner Al­ter Egos skiz­ziert. Oft han­delt es sich da­bei um ei­nen Drei­schritt, wo­bei der drit­te Schritt im­mer erst zu set­zen bleibt. So zum Bei­spiel in Za­ra­thu­stras Re­de von den drei Ver­wand­lun­gen, die fik­tio­na­len und al­le­go­ri­schen Charak­ter hat, aber ein­deu­tig Par­al­le­len zu Nietz­sches gei­sti­ger Bio­gra­phie er­ken­nen läßt. Da ist zu­nächst der Wahr­heits­su­cher, der sei­nen Er­kennt­nis­durst stillt, da­bei aber see­lisch Scha­den lei­det und sich nur sol­che Freun­de macht, die ihn nicht ver­ste­hen kön­nen. Da­nach ver­wan­delt sich der Den­ker zu ei­nem Wol­len­den, der sich »tau­send­jäh­ri­ge Wert­he« an­eignet und un­ter ih­ren Im­pe­ra­ti­ven lei­det, weil die über­lie­fer­ten Sy­ste­me ihm kei­ne schöp­fe­ri­sche Tä­tig­keit er­lau­ben. Auf ei­ner drit­ten Stu­fe fin­det die Fi­gur »zum Spie­le des Schaf­fens« und wird zum un­schul­di­gen Kind, das al­les neu be­ginnt, als gä­be es noch gar nichts, nur ei­ne ta­bu­la ra­sa. (Za 29–31) Das­sel­be Ide­al hat­te Nietz­sche schon in der Fröh­li­chen Wis­sen­schaft for­mu­liert; die Za­ra­thu­stra-Re­de legt den Ak­zent auf Schöp­fung und Spiel, wo­durch die kom­men­de (oder wer­den­de) Ge­stalt ei­ner­seits als gött­li­cher Wel­ten­schöp­fer er­scheint, als de­us fa­ber und crea­tor ex ni­hi­lo, an­de­rer­seits als Künst­ler, der sich je­ne Fik­tio­nen er­zeugt, de­ren er be­darf. Der kind­li­che Künst­ler-Gott um­gibt sich mit sei­nen Ge­spin­sten: Frag­lich, ob er auf die­se Wei­se die Ein­sam­keit des Ka­mels, der er­sten Stu­fe des gei­sti­gen Wer­dens, zu lö­sen ver­mag. Im Be­reich der Phan­ta­sie mag dies ge­lin­gen, et­wa so, wie Ge­net – oder An­dré Rey­baz in Un chant d’amour – sie in der Ge­fäng­nis­zel­le lö­ste. Das rhe­to­ri­sche Häm­mern von Nietz­sches Spät­werk und sein wach­sen­der Hang zur Pa­ra­noia las­sen sich viel­leicht da­durch er­klä­ren, daß die drit­te Stu­fe, der er­sehn­te Neu­be­ginn, nicht Wirk­lich­keit wer­den konn­te, son­dern Fik­ti­on blieb in Schrif­ten, die nie­mand le­sen woll­te. Ei­gent­lich hät­te Nietz­sche künst­le­ri­sche Wer­ke – Mu­sik­stücke, Tän­ze – schaf­fen sol­len, oder apol­li­ni­sche, traum­haf­te Fil­me, die dio­ny­si­sche Ge­stal­ten her­bei­zau­bern. Licht­ge­stal­ten für Licht­spie­le... Es blieb bei phi­lo­so­phi­schen Schrif­ten, die mit der Poe­sie lieb­äu­gel­ten.

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Fi­gu­ren der Um­wer­tung: Nietz­sche und Ge­net (I)

1

»Ein and­res Ide­al läuft vor uns her, ein wun­der­li­ches, ver­su­che­ri­sches, ge­fah­ren­rei­ches Ide­al, zu dem wir Nie­man­den über­re­den möch­ten, weil wir Nie­man­dem so leicht das Recht dar­auf zu­ge­stehn: das Ide­al ei­nes Gei­stes, der na­iv, das heisst un­ge­wollt und aus über­strömender Fül­le und Mäch­tig­keit mit Al­lem spielt, was bis­her hei­lig, gut, unberühr­bar, gött­lich hiess...« (FW 636f.) So schreibt Nietz­sche ge­gen En­de sei­ner Fröh­li­chen Wissen­schaft, und man darf sich fra­gen, wem er die­ses Recht zu­ge­stan­den hät­te au­ßer sich selbst oder, bes­ser ge­sagt, sei­nen Ide­al­fi­gu­ren, die­sen hö­he­ren Men­schen, die er mal zu Über‑, mal zu Un­men­schen sti­li­siert.

Aber was hat es ei­gent­lich mit der Nai­vi­tät auf sich, der er­sten Ei­gen­schaft des angekün­digten We­sens? In sei­nem Spät­werk ver­zet­telt sich Nietz­sche re­gel­recht im Wil­len zu al­lem mög­li­chen und faßt die di­ver­sen Stre­bun­gen un­ter dem Schlag­wort ei­nes Wil­lens zur Macht zu­sam­men, der ei­ne Stei­ge­rung al­ler Le­bens­kräf­te zum Ziel ha­be. Mit dem Wort »Le­bens­kräf­te« – oder ein­fach: »das Le­ben«, ein denk­bar va­ger Ter­mi­nus – be­nennt Nietz­sche häu­fig In­stink­te, al­so Re­gun­gen, die kör­per­lich, nicht gei­stig und wohl auch nicht durch den Wil­len be­stimmt sind. Je län­ger der Phi­lo­soph die In­stink­te fi­xier­te, de­sto hö­her dreh­te sich die Spi­ra­le der Re­fle­xi­on und des Wil­lens, wäh­rend der Ab­stand von dem, was der Kör­per mög­li­cher­wei­se brauch­te, im­mer grö­ßer wur­de. Schon Kleist hat­te die Wieder­erlangung von Nai­vi­tät durch ein im­mer­zu ge­stei­ger­tes Be­wußt­sein an­ge­dacht: das be­rühm­te Ma­rio­net­ten­thea­ter­theo­rem. Wie man ei­ne un­end­li­che Weg­strecke zu­rück­legt, hat frei­lich auch Nietz­sche nicht zu zei­gen ver­mocht. Im Ge­gen­teil, sei­ne neu­en Schöp­fungen blie­ben aus, sie wur­den im­mer nur an­ge­kün­digt und um­schrie­ben. Die Unab­geschlossenheit und Un­ab­schließ­bar­keit hat sich in die Form und Dy­na­mik sei­nes Werks ein­ge­schrie­ben. Liest man den Ma­rio­net­ten­thea­ter­auf­satz ge­nau, Wort für Wort, kommt man zu dem Schluß, daß Kleist an die Er­füll­bar­keit des von ihm for­mu­lier­ten Pro­gramms nicht glaub­te. Es muß – im stren­gen Wort­sinn – ein Ide­al blei­ben, ein unerreich­barer Stern, der vor uns, den Den­ken­den, her­zieht und uns mög­li­cher­wei­se lei­ten kann, zu ei­nem un­be­kann­ten Ort. Der Den­ken­de in sei­ner Wirk­lich­keit ist kein »Glieder­mann«, kein geist­lo­ses We­sen, doch er ist auch kein Gott. Mensch­li­ches Sin­nen und Trach­ten wird sich wohl oder übel zwi­schen die­sen bei­den Fi­gu­ren ab­spie­len müs­sen. Oder kann man durch ei­nen Wil­lens­ent­schluß zum Gott wer­den?

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