Szc­ze­pan Twar­doch: Die Null­li­nie

Szczepan Twardoch: Die Nulllinie
Szc­ze­pan Twar­doch:
Die Null­li­nie

Koń ist 45, Hi­sto­ri­ker, leb­te in War­schau und wie er in der an­de­ren Welt, »die es nicht mehr gibt«, ge­hei­ßen hat, wer­den wir nie er­fah­ren. Er hat­te sei­ne Woh­nung der gro­ßen Schwe­ster Ewa über­ge­ben und war auf­ge­bro­chen in den Krieg. Da war er 43. Koń liegt zu Be­ginn des Ro­mans Die Null­li­nie von Szc­ze­pan Twar­doch zu­sam­men mit je­man­dem, der Rat­te ge­ru­fen wird. Den Na­men kennt der auf­merk­sa­me Twar­doch-Le­ser aus ei­ner Re­por­ta­ge, die im Ok­to­ber 2023 in der NZZ er­schie­nen war. Koń und Rat­te sit­zen in ei­nem Erd­loch, eu­phe­mi­stisch Un­ter­stand ge­nannt, auf der »fal­schen Sei­te« von »Va­ter Dnipro«, we­ni­ge Ki­lo­me­ter ent­fernt von der Null­li­nie. Dort sind sie, die »Rus­sacken«, oder, ver­ächt­li­cher: »Pä­do­rus­sen«. Ei­ne Kam­mer­spiel­sze­ne zu Be­ginn, mit dem er­zäh­len­den Koń, dem lust­los am to­ten Han­dy dad­deln­den Rat­te. Dem er­zählt Koń von sei­nem Groß­va­ter, der ukrai­ni­sche Wur­zeln hat­te und un­be­dingt woll­te, dass der En­kel ukrai­nisch sprach und, der, wie sich spä­ter her­aus­stell­te, bei der SS-Ga­li­zi­en war. Er er­zählt von sei­nem pol­ni­schen Va­ter, der sich als Eu­ro­pä­er fühl­te, die Na­tio­na­lis­men ab­le­gen woll­te und sei­ner ver­knö­cher­ten Mut­ter. 2016 war Koń, der da­mals noch nicht Koń war, zum er­sten Mal in der Ukrai­ne, ein »ci­ty break« in Kiew, hier: Ky­jiw (was merk­wür­dig ist, zwi­schen den Lem­bergs und Kra­kaus). Ei­ne Stadt »wie ein Frei­licht­mu­se­um«, er schau­te sich noch die Spu­ren vom Mai­dan an und mach­te Be­kannt­schaft mit ei­nem all­ge­gen­wär­ti­gen Na­tio­na­lis­mus.

Wer ist hier Ro­bert Jor­dan?

Spä­ter, kurz vor der Un­ter­schrift, der Ver­pflich­tung, wie­der in Ky­jiw, sah er die um­trie­bi­gen Ge­schäfts­leu­te in den Lu­xus­ho­tels in ih­ren »gro­ßen, ge­pan­zer­ten Land Crui­sern«, wäh­rend er we­nig spä­ter in ei­nem al­ten, klapp­ri­gen Nis­san Na­va­ra zu den Stel­lun­gen fah­ren muss­te, was nicht ein­fach ge­we­sen war. Vor dem Ein­satz ein Be­such in ei­nem Lu­xus­re­stau­rant, das »Pic­co­li­no«, nichts Ukrai­ni­sches war hier, au­ßer auf den Kra­wat­ten der Kell­ner, dort war ein »auf­ge­stick­tes Folk­lo­re­mo­tiv« zu se­hen, an­son­sten blieb hier der Na­tio­na­lis­mus, der Pa­trio­tis­mus, drau­ßen und man ras­pel­te am Tisch dem Gast den Trüf­fel auf das »ide­al ge­hack­te Rind­fleisch«.

Und nun sitzt im an­de­ren, im »gu­ten Kel­ler« die­ser Stel­lung, Ja­go­da, der auch nicht Ja­go­da heißt, der meh­re­re Spra­chen spricht, ein Le­ser, mit Kind­le im Ruck­sack, mehr­spra­chig, der fünf Jah­re in Ber­lin ge­lebt und stu­diert hat­te, da­vor und da­nach dann je­weils die Ver­wand­lung zum Krie­ger, in­klu­si­ve drei­mo­na­ti­ger Ge­fan­gen­schaft bei den Rus­sen in Do­nezk. Ja­go­da ist es, der an He­ming­ways Wem die Stun­de schlägt denkt, an Ro­bert Jor­dan, der ei­ne Brücke spren­gen soll, »da­mit die Fa­schi­sten nicht durch­kom­men«. We­nig­stens wä­re das et­was Sinn­vol­les ge­we­sen, meint er, wäh­rend sie hier in ei­nem Loch sit­zen, fest­sit­zen, nur dass »Se­len­skyj mit sei­ner Sor­gen­mie­ne im kack­grü­nen Hemd auf den Kon­fe­ren­zen da­von fa­seln kann, dass ihr ei­nen Brücken­kopf auf die­ser Sei­te eu­res Va­ters Dnipro hal­tet, oh­ne ge­nau­er zu er­klä­ren, wo­zu das gut sein soll.«

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Mit Ernst Jün­ger aus der Kom­fort­zo­ne

Die vor­nehm­li­che Hal­tung des ak­tu­el­len Le­sers der Bü­cher von Ernst Jün­ger in der mo­ral­ge­tränk­ten (li­te­ra­ri­schen) Öf­fent­lich­keit ist ge­beugt, die Lek­tü­re er­folgt vor­zugs­wei­se ver­steckt, das Re­den dar­über flü­sternd, in ste­ti­ger Ab­gren­zung so­wohl ge­gen Be­schimp­fun­gen wie auch un­will­kom­me­nen Um­ar­mun­gen be­grif­fen. In der Ni­sche zwi­schen ei­ner im Brust­ton der Un­kennt­nis vor­ge­brach­ten Ab­leh­nungs­ka­ma­ril­la und leid­li­chen, po­li­tisch mo­ti­vier­ten Ver­ein­nah­mun­gen be­fin­det sich der Jün­ger-Re­zi­pi­ent in stän­di­ger Acht­sam­keit. Wer si­cher ge­hen will, liest lie­ber Re­mar­que, Im We­sten nichts Neu­es. Da­bei er­scheint es wie ein Witz, dass Re­mar­que einst die Stahl­ge­wit­ter, je­ne li­te­r­a­ri­sier­te Form der Kriegs­ta­ge­bü­cher des Leut­nants Jün­ger aus dem Er­sten Welt­krieg, als »prä­zi­se, ernst, stark und ge­wal­tig« lob­te und ei­ne »wohl­tu­en­de Sach­lich­keit« her­aus­stell­te. Aber wer weiß das schon? Be­zie­hungs­wei­se: Wer will das wis­sen?

Und dann liest man plötz­lich so et­was:

  • »Ernst Jün­gers Kriegs­ta­ge­bü­cher lie­fern viel­leicht den be­sten und ehr­lich­sten Be­weis für die Schwie­rig­kei­ten, de­nen das In­di­vi­du­um aus­ge­setzt ist, wenn es sei­ne mo­ra­li­schen Wert­vor­stel­lun­gen und sei­nen Wahr­heits­be­griff un­ge­bro­chen in ei­ner Welt er­hal­ten möch­te, in der Wahr­heit und Mo­ral jeg­li­chen er­kenn­ba­ren Aus­druck ver­lo­ren ha­ben. Trotz des un­leug­ba­ren Ein­flus­ses, den Jün­gers frü­he Ar­bei­ten auf be­stimm­te Mit­glie­der der na­zi­sti­schen In­tel­li­genz aus­üb­ten, war er vom er­sten bis zum letz­ten Tag des Re­gimes ein ak­ti­ver Na­zi-Geg­ner und be­wies da­mit, daß der et­was alt­mo­di­sche Ehr­be­griff, der einst im preu­ßi­schen Of­fi­ziers­korps ge­läu­fig war, für in­di­vi­du­el­len Wi­der­stand völ­lig aus­reich­te.«

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Lou­is-Fer­di­nand Cé­li­ne: Krieg

Louis-Ferdinand Céline: Krieg
Lou­is-Fer­di­nand Cé­li­ne: Krieg

Im Au­gust 2021 er­fuhr die Öf­fent­lich­keit von bis­her ver­bor­ge­nen, rund 6000 Ma­nu­skript­sei­ten des 1961 ver­stor­be­nen fran­zö­si­schen Schrift­stel­lers Lou­is-Fer­di­nand Cé­li­ne. Hat­te der Au­tor nicht im­mer be­haup­tet, die Ma­nu­skrip­te sei­en zer­stört oder ge­stoh­len wor­den? Nach Prü­fung auf Echt­heit steht nun fest, dass es sich streng ge­nom­men nicht um ei­ne Ent­deckung, son­dern ei­ne Ent­hül­lung han­del­te. Den Weg die­ses Kon­vo­luts zeich­net Ni­klas Ben­der in sei­nem in­struk­ti­ven Vor­wort zu Krieg nach, dem er­sten, ins Deut­sche über­setz­ten Text die­ses Ma­nu­skript­bün­dels.

Der Ro­man wird in ei­ner po­pu­lä­ren und da­mit les­ba­ren Ver­si­on prä­sen­tiert. Die zahl­rei­chen Kor­rek­tu­ren des Au­tors, von de­nen ei­ni­ge im Buch ab­ge­druck­ten fak­si­mi­lier­ten Sei­ten ei­nen Ein­druck ge­ben, sind nicht auf­ge­führt wor­den. Für das un­mit­tel­ba­re Ver­ständ­nis wich­ti­ge Er­gän­zun­gen (bei­spiels­wei­se Cé­li­nes Wort­spie­le bei Stadt- und Per­so­nen­na­men) fin­det man in prä­zi­se ge­setz­ten Fuß­no­ten. Die Über­set­zung ist glück­li­cher­wei­se von Hin­rich Schmidt-Hen­kel, der schon meh­re­re Bü­cher von Cé­li­ne, dar­un­ter auch die Rei­se ans der En­de der Nacht ins Deut­sche über­tra­gen hat­te (und, »ne­ben­bei«, auch der Über­set­zer des ak­tu­el­len No­bel­preis­trä­gers Jon Fos­se ist).

Wer ein biss­chen über Cé­li­ne weiß, soll­te mit dem ei­gent­li­chen Text be­gin­nen und das Vor­wort da­nach le­sen. Die er­sten zehn Sei­ten des Ma­nu­skripts schei­nen tat­säch­lich ver­lo­ren zu sein. Die Über­tra­gung be­ginnt mit Sei­te 10. Fer­di­nand, ein schwer ver­wun­de­ter, um­her­ir­ren­der Ich-Er­zäh­ler, ori­en­tiert sich im Ja­nu­ar 1915 von der Front zu­rück ins Hin­ter­land. Er sieht auf­ge­platz­te Men­schen und auf­ge­schlitz­te Pfer­de und hat »grau­en­haf­te Schmer­zen«. Zum ei­nen ist ein Arm schwer ver­letzt (er hängt, wie es ein­mal heißt, »in Fet­zen«). Und zum an­de­ren steckt ei­ne Ku­gel in sei­nem Kopf, in der Nä­he des Ohrs. »Der Krieg hat mich im Kopf er­wischt. Er ist in mei­nem Kopf ein­ge­sperrt.« Er hört per­ma­nent ei­ne »Ge­räusch­sup­pe«, »Ge­tö­se«, »Ohr­ge­don­ner«; dies wird ihn bis zum En­de nicht ver­las­sen. Nach vie­len Ir­run­gen lan­det er in ei­nem La­za­rett im fik­ti­ven Ort »Peur­du-sur-la-Lys« (Wort­spiel aus »peur« für Angst und »per­du« für ver­lo­ren). Hal­lu­zi­na­ti­on und Rea­li­tät sind nur schwer zu un­ter­schei­den; Fer­di­nand ver­mischt al­les. Der Text kon­zen­triert sich zu­nächst auf ei­ne Kran­ken­schwe­ster, die ihn mal ma­stur­biert, dann ka­the­te­ri­siert, dann bei­des. Sie wird, so die Er­zäh­lung, zu ei­ner Für­spre­che­rin, gar Ge­lieb­ten. Zwar wird der Arm ope­riert, aber das der schein­bar we­nig rou­ti­nier­te Arzt die Ku­gel aus dem Kopf ent­fernt, ver­hin­dert sie. Die Be­kannt­schaf­ten un­ter den ein­ge­lie­fer­ten Pa­ti­en­ten wech­seln – die mei­sten ster­ben weg. Län­ger hält ei­ne Art Freund­schaft zu ei­nem ge­wis­sen Bé­bert, der mit ei­ner Schuß­wun­de im Fuß ein­ge­lie­fert wur­de und merk­wür­di­ger­wei­se auf ei­ne Am­pu­ta­ti­on drängt. (Die Vor­läu­fig­keit des Ma­nu­skripts be­dingt, dass Bé­bert im Lau­fe des Ro­mans Cas­ca­de heißt und auch sonst die Fi­gu­ren manch­mal un­ter­schied­li­che Na­men tra­gen; es stört we­nig.)

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Heimo Schwilk: Mein aben­teu­er­li­ches Herz I

Heimo Schwilk: Mein abenteuerliches Herz I
Heimo Schwilk: Mein
aben­teu­er­li­ches Herz I

»Mein aben­teu­er­li­ches Herz I« – schon im Ti­tel fin­det man die­se Mi­schung aus An­spruch und An­ma­ßung. Es wird beim Auf­schla­gen noch deut­li­cher: Der Au­tor Heimo Schwilk mit Ernst Jün­ger 1988 im Ge­spräch. So muss ein Jün­ger-Bio­graph sei­ne Ta­ge­buch­auf­zeich­nun­gen nen­nen und be­gin­nen, denkt man. Die rö­mi­sche Zif­fer lässt zu­dem ei­nen zwei­ten Band er­war­ten. Der er­ste um­fasst Ein­tra­gun­gen vom 3. Fe­bru­ar 1983 bis zum 1. Ja­nu­ar 2000. Die­se wer­den oh­ne je­de Glie­de­rung chro­no­lo­gisch auf­ge­führt – mit Orts­zei­le und Da­tum. So flie­gen die Jah­re da­hin, wenn man nicht im­mer ge­nau auf das Da­tum schaut. Es zeigt sich, dass die Ein­trä­ge meist et­was spä­ter ent­stan­den sind und Er­eig­nis­se ei­ni­ger Ta­ge zu­vor zu­sam­men­fas­sen.

Zu Be­ginn ist Schwilk 31 Jah­re alt und ver­sucht, in Kon­takt mit Ernst Jün­ger zu kom­men. An­dert­halb Jah­re spä­ter – im Buch sind es noch nicht ein­mal 30 Sei­ten – ist es so­weit. Er sitzt in Wilf­lin­gen mit Ernst und Li­se­lot­te Jün­ger zu­sam­men. Ei­ne Bio­gra­phie kann es nicht mehr wer­den (dar­an ar­bei­te­te be­reits der NZZ-Mann Mar­tin Mey­er). Mit Klett-Cot­ta hat­te man sich aber auf ei­ne Bild­bio­gra­phie ver­stän­digt. Meh­re­re Sit­zun­gen und Sich­tun­gen in Wilf­lin­gen. Par­al­lel plan­te Schwilk ei­ne Dis­ser­ta­ti­on über die Jün­ger-Ta­ge­bü­cher und über­legt, in­wie­fern die­se Sti­li­sie­run­gen ent­hal­ten.

Die Fra­ge stellt sich na­tür­lich auch für die vor­lie­gen­den 634 Sei­ten. Da­mit kei­ne Zwei­fel auf­kom­men, ver­or­tet sich Schwilk schon im (glück­li­cher­wei­se knap­pen) Vor­wort bei den »re­fle­xi­ven Dia­ri­sten« wie Jün­ger und Gi­de. Nichts wer­de be­schö­nigt, so das Ver­spre­chen. Tap­fer­keit ge­gen den Main­stream wird an­ge­kün­digt. Mit dem Un­ter­ti­tel »Aus den Ta­ge­bü­chern…« legt man al­ler­dings den Schluss na­he, dass es durch­aus Strei­chun­gen gibt. Und nach der Lek­tü­re hät­te man sich si­cher­lich vie­le (wei­te­re?) Aus­las­sun­gen ge­wünscht. Et­wa all die pri­va­ten Pro­ble­me und Pro­blem­chen, die Ehe­kon­flik­te, sei­ne Epi­so­den über die Kin­der – kurz: all das, was pri­vat und in­tim blei­ben soll­te, denn ein Jour­na­list ist nicht wie ein Schrift­stel­ler ei­ne öf­fent­li­che Fi­gur (wo­bei man auch hier strei­ten kann, ob bei­spiels­wei­se die Idio­syn­kra­si­en ei­nes Tho­mas Mann im­mer re­le­vant für sein Werk sind). We­ni­ger wä­re mehr ge­we­sen, vor al­lem im Hin­blick auf die Ge­gen­wart. Dis­kre­ti­on ist kei­ne Kern­kom­pe­tenz von Heimo Schwilk.

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Fi­gu­ren der Um­wer­tung: Nietz­sche und Ge­net (III)

Teil I
Teil II

9

1963 schrieb Ge­net an sei­nen Ver­le­ger Marc Bar­be­zat, Nietz­sche ha­be Die Ge­burt der Tra­gö­die in ei­nem Zug ge­schrie­ben, oh­ne je in Grie­chen­land ge­we­sen zu sein. »In Kor­fu«, fuhr er fort, »ha­be ich al­les von ihm ge­le­sen. Was mir ge­fal­len hat, die Ideen, die mir ent­spre­chen: jen­seits von Gut und Bö­se: der Über­mensch. Na­tür­lich nicht der von Hit­ler oder Gö­ring. Lä­cher­lich zu den­ken, der Be­sitz von Schlös­sern und Tau­sen­den Hekt­ar Land er­mög­li­che es ei­nem, wie ein Über­mensch zu le­ben. Nietz­sche for­der­te ei­ne viel här­te­re Mo­ral für den Über­men­schen.« (LB 261) Auch an die­ser Stel­le be­zieht sich Ge­net aus­drücklich auf ei­ne po­si­ti­ve Mo­ral, die er bei Nietz­sche zu fin­den meint (ver­mut­lich hat er be­son­ders die kur­zen Skiz­zen ei­nes neu­en Bar­ba­ren­tums im Kopf). Die Por­träts der Sti­li­ta­no, Mi­gnon, Har­ca­mo­ne und Kon­sor­ten sind hand­fe­ste Ge­stal­tun­gen des Über­menschen, den sich Nietz­sche al­les in al­lem doch et­was ele­gan­ter vor­stell­te, »aus ei­nem Holz ge­schnitzt, das hart, zart und wohl­rie­chend zu­gleich ist.« (EH 267) Jün­gers Ar­bei­ter ist ei­ne wei­te­re Aus­ge­stal­tung die­ses Ty­pus; ei­ne Ge­stalt, die frei­lich, ver­gleicht man sie mit Ge­nets Hel­den, ab­strakt bleibt und sich au­ßer­dem als ver­bind­li­cher Vor­schlag an die Mehr­heits­ge­sell­schaft rich­tet. Han­delt es sich bei die­sen li­te­ra­ri­schen und ideo­lo­gi­schen Schöp­fun­gen um »Ent­stel­lun­gen« von Nietz­sches Ge­dan­ken? Nein, son­dern um unter­schiedliche Rea­li­sie­run­gen ei­nes Mo­dells, das in der zwei­ten Hälf­te des 19. Jahr­hunderts in der Luft lag und von Nietz­sche so el­lip­tisch ge­zeich­net wur­de, daß sehr ver­schie­de­ne Rea­li­sie­run­gen der Leer­for­men mög­lich wa­ren. Auch der »Neue Mensch«, wie er Er­ne­sto Gue­va­ra auf­grund sei­ner Guer­ril­la-Er­fah­rung vor­schweb­te, hat noch Teil an die­ser Aus­le­gungs­ge­schich­te.

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Fi­gu­ren der Um­wer­tung: Nietz­sche und Ge­net (II)

hier steht Teil I

6

Mehr­fach hat Nietz­sche sei­ne ei­ge­ne Ent­wick­lung rück­blickend zu­sam­men­ge­faßt und ei­ne Zu­kunft für sei­ne Per­son oder ei­nes sei­ner Al­ter Egos skiz­ziert. Oft han­delt es sich da­bei um ei­nen Drei­schritt, wo­bei der drit­te Schritt im­mer erst zu set­zen bleibt. So zum Bei­spiel in Za­ra­thu­stras Re­de von den drei Ver­wand­lun­gen, die fik­tio­na­len und al­le­go­ri­schen Charak­ter hat, aber ein­deu­tig Par­al­le­len zu Nietz­sches gei­sti­ger Bio­gra­phie er­ken­nen läßt. Da ist zu­nächst der Wahr­heits­su­cher, der sei­nen Er­kennt­nis­durst stillt, da­bei aber see­lisch Scha­den lei­det und sich nur sol­che Freun­de macht, die ihn nicht ver­ste­hen kön­nen. Da­nach ver­wan­delt sich der Den­ker zu ei­nem Wol­len­den, der sich »tau­send­jäh­ri­ge Wert­he« an­eignet und un­ter ih­ren Im­pe­ra­ti­ven lei­det, weil die über­lie­fer­ten Sy­ste­me ihm kei­ne schöp­fe­ri­sche Tä­tig­keit er­lau­ben. Auf ei­ner drit­ten Stu­fe fin­det die Fi­gur »zum Spie­le des Schaf­fens« und wird zum un­schul­di­gen Kind, das al­les neu be­ginnt, als gä­be es noch gar nichts, nur ei­ne ta­bu­la ra­sa. (Za 29–31) Das­sel­be Ide­al hat­te Nietz­sche schon in der Fröh­li­chen Wis­sen­schaft for­mu­liert; die Za­ra­thu­stra-Re­de legt den Ak­zent auf Schöp­fung und Spiel, wo­durch die kom­men­de (oder wer­den­de) Ge­stalt ei­ner­seits als gött­li­cher Wel­ten­schöp­fer er­scheint, als de­us fa­ber und crea­tor ex ni­hi­lo, an­de­rer­seits als Künst­ler, der sich je­ne Fik­tio­nen er­zeugt, de­ren er be­darf. Der kind­li­che Künst­ler-Gott um­gibt sich mit sei­nen Ge­spin­sten: Frag­lich, ob er auf die­se Wei­se die Ein­sam­keit des Ka­mels, der er­sten Stu­fe des gei­sti­gen Wer­dens, zu lö­sen ver­mag. Im Be­reich der Phan­ta­sie mag dies ge­lin­gen, et­wa so, wie Ge­net – oder An­dré Rey­baz in Un chant d’amour – sie in der Ge­fäng­nis­zel­le lö­ste. Das rhe­to­ri­sche Häm­mern von Nietz­sches Spät­werk und sein wach­sen­der Hang zur Pa­ra­noia las­sen sich viel­leicht da­durch er­klä­ren, daß die drit­te Stu­fe, der er­sehn­te Neu­be­ginn, nicht Wirk­lich­keit wer­den konn­te, son­dern Fik­ti­on blieb in Schrif­ten, die nie­mand le­sen woll­te. Ei­gent­lich hät­te Nietz­sche künst­le­ri­sche Wer­ke – Mu­sik­stücke, Tän­ze – schaf­fen sol­len, oder apol­li­ni­sche, traum­haf­te Fil­me, die dio­ny­si­sche Ge­stal­ten her­bei­zau­bern. Licht­ge­stal­ten für Licht­spie­le... Es blieb bei phi­lo­so­phi­schen Schrif­ten, die mit der Poe­sie lieb­äu­gel­ten.

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Ab­leh­nung aus dem Jen­seits?

Ja, man ist ge­blen­det vom »Flir­ren der Vi­tri­nen«, wenn man im Mu­se­um der Mo­der­ne beim Deut­schen Li­te­ra­tur­ar­chiv in Mar­bach den Raum der Dau­er­aus­stel­lung be­tritt. Ich hat­te mich bis zum Schluß nicht an die­ses Licht­ge­wit­ter ge­wöhnt und konn­te mich auf die schier zahl­lo­sen Re­li­qui­en Aus­stel­lungs­stücke, die die deutsch­spra­chi­gen Dich­ter der Neu­zeit vor- oder hin­ter­las­sen ha­ben, kaum kon­zen­trie­ren. So hat­te ich auch die­ses Stück zu­nächst nicht be­ach­tet:

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Ro­ber­to Bo­la­ño: 2666

Roberto Bolaño: 2666
Ro­ber­to Bo­la­ño: 2666

Das Buch be­ginnt so harm­los. Drei Li­te­ra­tur­pro­fes­so­ren (Jean-Clau­de Pel­le­tier aus Frank­reich, Ma­nu­el Es­pi­no­za aus Spa­ni­en und Pie­ro Mo­ri­ni aus Ita­li­en) und die eng­li­sche Li­te­ra­tur­do­zen­tin Liz Nor­ton (spä­ter hei­ßen sie nur noch die Kri­ti­ker) ent­wickeln über die Jah­re ei­ne Af­fi­ni­tät zum Werk des deut­schen Schrift­stel­lers Ben­no von Ar­chim­bol­di. An­fangs ein Ge­heim­tip, for­cie­ren nicht zu­letzt die vier die Re­zep­ti­on Ar­chim­bol­dis in der Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft; un­ter an­de­rem auch durch Über­set­zun­gen. Auf Kon­gres­sen, Col­lo­qui­en und an­de­re Zu­sam­men­tref­fen (die es of­fen­sicht­lich reich­lich gibt) ler­nen sie sich per­sön­lich ken­nen und ver­tie­fen nicht nur ih­re fach­li­chen Kennt­nis­se. Durch Liz Nor­ton kommt es zu al­ler­lei Lie­bes­ver­wick­lun­gen; die Da­me hat zu­nächst Pel­le­tier als Ge­lieb­ten, et­was spä­ter dann Es­pi­no­za, län­ge­re Zeit bei­de par­al­lel und min­de­stens ein­mal auch gleich­zei­tig. Die kör­per­li­chen Geb­re­sten Mo­r­in­is (er ist im All­tag auf ei­nen Roll­stuhl an­ge­wie­sen) schei­nen da Bar­rie­ren zu bil­den, wo­bei es am En­de die­ses er­sten Teils dann doch noch ei­ne Über­ra­schung gibt.

Ne­ben die­sen In­ter­ak­tio­nen un­ter den vier Kri­ti­kern (Telefon‑, Mail‑, Gesprächs­austausch), dem ge­le­gent­li­chen Be­äu­gen, den Idio­syn­kra­si­en, den Ver­let­zun­gen, den Merk­wür­dig­kei­ten, den Se­xu­al­stel­lun­gen und –fre­quen­zen – al­les in ei­ner Mi­schung zwi­schen Pro­to­koll und Re­por­ta­ge auf­be­rei­tet – geht es na­tür­lich auch um Li­te­ra­tur. Das Ge­schrie­be­ne bleibt die ein­zi­ge Re­fe­renz für die Adep­ten, denn Ar­chim­bol­di ist so phan­tom­haft wie im rea­len Le­ben sonst nur Tho­mas Pyn­chon.

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