Ja, man ist geblendet vom »Flirren der Vitrinen«, wenn man im Museum der Moderne beim Deutschen Literaturarchiv in Marbach den Raum der Dauerausstellung betritt. Ich hatte mich bis zum Schluß nicht an dieses Lichtgewitter gewöhnt und konnte mich auf die schier zahllosen Reliquien Ausstellungsstücke, die die deutschsprachigen Dichter der Neuzeit vor- oder hinterlassen haben, kaum konzentrieren. So hatte ich auch dieses Stück zunächst nicht beachtet:
Es ist von Ernst Jünger. Der Text ist krakelig, aber doch deutlich lesbar:
»Habe abgelehnt, Gott um Hilfe zu bitten.
Das rechnete Er mir hoch an.«
Erst bei der Führung (anläßlich eines Handke-Seminars) durch Heike Gfrereis wurde ich auf das Stück aufmerksam. Interessant ist die Datierung auf den 12.7.98. Jünger war zu diesem Zeitpunkt längst tot – er starb am 17.2.1998. Der Eintrag ist in einem Kalender, der nicht aus diesem Jahr stammen kann (ich habe vergessen nachzuschauen, aber der 16.12. war 1984 und 1990 ein Sonntag; vielleicht ist der Kalender aber noch älter).
Dass Jünger Gott angerufen haben könnte, als er schon tot war – das ist irgendwie gruselig.
Kleine Medienkritik am Rande:
Die Lokalzeitungen »berichteten« im Jahr 2010 anläßlich einer Jünger-Ausstellung in Marbach über dieses Stück übrigens wie folgt:
»Südwest-Presse« und »Hamburger Abendblatt«:
»Habe abgelehnt, Gott um Hilfe zu bitten. Das rechnet er hoch an.«
Beziehungsweise:
»Habe abgelehnt, Gott um Hilfe zu bitten. Das rechne ich mir hoch an.«
Naja, Abschreiben ist eben schwer.
In der Tat.
Vielleicht hat sich Jünger verschrieben, der 12.7.98. und 17.2.98 sind ja recht ähnlich.
Falls das Foto in einer etwas besser Auflösung vorliegt, könnte man das Kleingedruckte entziffern, vielleicht gibt das Aufschluss über das Alter des Kalenders.
@Ralph Stenzel
Korrigieren werden die das nicht mehr...
@metepsilonema
Dass sich Jünger verschrieben hat, dürfte sicher sein. Ob er am Todestag noch diesen Eintrag verfasst hat, weiss ich nicht.
Das Foto zeigt einen Kalender, in dem der 16.12. ein Sonntag ist. Das war u. a. 1984 und 1990 der Fall; dazwischen nicht mehr. Und danach erst wieder 2001. Die Bezeichnung »Sonnabend« statt Samstag (die man auch erkennen kann) könnte ein Hinweis darauf sein, dass der Kalender noch älter ist.
Danke. Ich dachte an das Kleingedruckte nahe des Bugs, aber da scheint auch keine Jahreszahl erkennbar zu sein.
Aber nicht weiter tragisch diese Ungewissheit, ganz im Gegenteil.
Interessant der zweite Satz: Ich hätte nicht gedacht bei Jünger auf diese Art und Weise auf Gott zu stoßen (wenn auch nur im Konjunktiv). Unmissverständlich wäre Habe abgelehnt, Gott um Hilfe zu bitten. gewesen. Oder aber: Vielleicht passt gerade diese Art von Gottesverständnis zu ihm.
@metepsilonema
Ich habe nur sehr wenig bis gar nichts von Jüngers Tagebüchern gelesen (»Strahlungen« und später dann »Siebzig verweht«). Vielleicht steht dort mehr über sein Verhältnis zu Gott (ich vermute eher nein) . Seine fiktionale Prosa (die ja zum Teil sehr autobiographisch verwoben ist) ist weitgehend befreit davon.
Der zweite Satz des Aphorismus passt allerdings zu Jüngers generell aristokratischem Duktus, wie ich finde.
Kalender aus DDR-Produktion? Da war Sonnabend ja das offizielle Wort. Im Badischen und im Württembergischen sagt das übrigens kein Mensch. Mit »Sonnabend« outet man sich als Nord- oder Ostdeutscher.
@Doktor D
Interessant, das war mir so nicht bekannt. Ich kenne das Wort »Sonnabend« von meinem Vater (er lebte lange in Berlin; von ihm kenne ich auch das »dreiviertel zehn« als Uhrzeit [was ich heute noch nicht verstehe]). Vielleicht hat Jünger Kalender aus der DDR geschenkt bekommen...
@Gregor
Ja, an den aristokratischen Duktus dachte ich auch.
»Dreiviertel zehn« ist bei uns ganz normal (wobei es sicher regionale Abweichungen gibt). Gemeint ist, dass drei Viertel in Richtung zehn vergangen sind. Mir kommt hingegen die Alternative »ein Viertel vor zehn« ungewöhnlich vor.
Auf den ersten Blick hatte ich die 8 gar nicht gesehen und gelesen: 12.79. Und das würde vom Jahr her auch passen (siehe hier), der 10. Dezember 1979 war ein Montag, wie im Kalender auf dem Bild. Bliebe das Rätsel der 8 ...
@punctum
12.79 sieht nach des Rätsels Lösung aus.
Die »8« könnte auch ein verunglücktes Kreuz sein – vielleicht ein Ziechen, dass er diese Sentenz irgendwo verwendet hat.
Obwohl ich gerade keine Zeit habe, das en detail im Buch nachzuprüfen (eine dahin weisende »Stelle« zu suchen), erlaube ich mir hier als Wink einen Verweis auf Jüngers Buch »Annäherungen, Drogen und Rausch«. (Übrigens, lt. dem Eintrag in irgendeinem Fragebogen – der FAZ? – Frank Schirrmachers Lieblingsbuch.)
Aus eigenem Erleben weiß ich, dass solche kryptischen Selbstmitteilungen wie auf den Seiten des Notizbuches manchmal während einschlägigen Räuschen (LSD oder Meskalin) entstehen. (Jünger war nicht nur ein Freund, sondern häufiger auch »Testperson« zusammen auf Selbstversuchen mit Albert Hofmann.)
Obwohl Jünger in diesem Buch vieles Subjektive an Erleben auflöst in seiner bekannten Manier um zu Verallgemeinerungen, Weltdeutungen, Anschlüsse an »den Mythus« usw. zu kommen, lässt mich der Satz spontan an die (vermeintlich) tiefe Einsicht während etwa eines LSD-Highs denken. Solche Dinge wollen von Schriftmenschen, zumal dahin forschenden, selbst-legitimierend, dann oft festgehalten sein und führen zu solchen Notaten.
(Man beachte auch das für meine Wahrnehmung eher Gekritzelte denn Koordinierte der Handschrift. Ich habe selber ein paar Seiten in einer Kladde mit solchen Notizen: Als ob ich im Halbschlaf etwas Wesentliches aus einem Traum festhalten wollte: Das Notat wird dann zu einem »Datum« selber...)
@en passant
Ja, vielleicht bin ich ein wenig zu verkopft an die Sache herangegangen. Dass Jünger ein Freund von Drogenexperimenten war, wusste ich zwar, hatte aber daran nicht gedacht. Jetzt weiss ich nicht, wie seine Schrift sonst war; tatsächlich könnte es sich um eine Notiz unter oder mit Drogen handeln.
Interessant Ihr Hinweis auf Schirrmachers Lieblingsbuch. Dieser Text ist fast ein Meisterwerk an Distanzierung und Lob zugleich; man spürt förmlich, wie sich Schirrmacher windet und dann einen kleinen Nebenpfad zur Hauptstrasse aufmotzt, in dem das Buch einfach als Werk über »die zwanziger Jahre« und »eine in kleine Erzählungen verkleidete Autobiographie Ernst Jüngers« deklariert und damit philologisches und zeithistorisches Interesse nach vorne rücken möchte.