Der Rekurs auf Hermann Lenz führt bei der Betrachtung zu Anna Katharina Hahns »Am Schwarzen Berg« in mehrfacher Hinsicht weiter. Zum einen ist der Erzählort – eine Stuttgarter Reihenhaussiedlung – bei aller fiktionalen Verkleidung von Straßen- oder Restaurantnamen durchaus auch eine Ortserzählung Stuttgarts, wobei Hahn einen großen Bogen von 1979 bis 2010 schlägt und die aktuellen Proteste um »Stuttgart 21« einbindet. Und zum anderen eifert der Protagonist Emil Bub Lenz’ Helden Eugen Rapp in seiner Weltabgewandtheit und der Verehrung Eduard Mörikes durchaus nach (mehrfach fällt Lenz’ Name). Einmal führt das sogar zu einer Art Stalking, als Emil Hermann Lenz in München aufsuchen will nachdem dieser auf seine Briefe nicht reagiert hatte. Lenz war jedoch in Urlaub und Emil musste abreisen. So zerschellen Sehnsüchte und Ambitionen an den Klippen der profanen Alltäglichkeit.
Emil ist Lehrer, steht kurz vor der Pensionierung und lebt mit seiner Frau Veronika in Burghalde am Rand von Stuttgart. 1979 bekamen sie die Raus als Nachbarn – Hajo ist Arzt, Clara, seine Frau (die aus Hamburg stammt), hilft in der Praxis, und den damals 9jährigen Peter. Anfangs scheint es zuweilen, als schwärme Emil von »seinem« Peter wie weiland Aschenbach Tadzio anhimmelte. Etwa wenn vom leuchtendgelbem Kaugummigeruch Peters erzählt wird. Oder sein Haar nach Sonne und Rauch roch. Der Lehrer bleibt auch in der Pubertät eine Lichtgestalt; Peter bezeichnet die Bubs später als seine zweiten Eltern. Emil sieht die Möglichkeit, an Peter seinen Bildungsbürgerkanon weiterzugeben. Er konfrontiert ihn mit Literatur und vor allem natürlich mit Mörike, zieht mit dem Jungen durch die Antiquariate in der Hoffnung, irgendetwas von oder über Mörike zu finden. (Irgendwann nervt Emils Mörike-Besessenheit nur noch – hier übrigens ganz im Gegenteil zu Eugen Rapp.)
Peteritis
Für das Ehepaar Bub ist Peter ein Erinnerer – sie konnten keine Kinder bekommen. Und Veronika erwägt ernsthaft die Trennung von ihrem Mann: Emils Peteritis, seine egoistische Nachhilfe, die dem auf dem Gymnasium überforderten Peter kaum weiterhilft, kann sie sehr schwer ertragen. Gleichzeitig hält Hajo Emil für einen Taugenichts und Tagedieb (dessen Urteil über Hajos lumpige Scheckbuch-Existenz fällt nicht weniger deutlich aus) und er möchte seinen Sohn auf die vermeintlich richtige Bahn schleusen. Peter wird schon früh zwischen beiden Weltentwürfen hin- und hergerissen. Er entscheidet sich gegen ein Studium (das mäßige Abitur hatte entsprechende Vaterwünsche früh gedämpft), wird Logopäde und kurzzeitig ein Frauenheld. Er zieht mehrmals um und heiratet dann Mia; eine eher spröde Frau in Chefsekretärinnen-Outfit, ehrgeizig und den Bubs gegenüber unnahbar und abweisend. Die beiden bekommen zwei Söhne. Der Kontakt zwischen Peters Familie und den Bubs bleibt erhalten; ab und an besucht Emil sogar Peters Wohnung. An jenem heißen Sommertag nun, als der Roman beginnt, beobachtet Emil von seinem Balkon aus Peters Wiedereinzug in die elterliche Wohnung.
Hahn streut in die Schilderung der nächsten zwei, drei Tage immer wieder Emils Erinnerungen aus den letzten 30 Jahren und den Erlebnissen mit Peter ein. Es sind melancholische, zuweilen elegische, leider manchmal auch sentimentale Schilderungen, die auch vor Emil und Veronikas Eheproblemen nicht Halt machen und das Kleingarten- und Reihenhausidyll zuweilen kräftig entzaubern. Emil hatte für kurze Zeit ein Verhältnis mit Carla. Und auch Veronika wandte sich einem anderen zu; als Emil dies bemerkte, kämpfte er um seine Frau. Inzwischen haben beide ihre Verstecke mit Alkohol (zum Beispiel Apfelschorle mit Aquavit) für die Erlösungsschlucke, die sie in (noch) kleinen Dosen zur Überbrückung des zumeist lieblosen Alltags benötigen. Diese gescheiterten Leben werden symbolisiert im Zustand Peters: Geschwüre am Körper, ausgezehrt, zotteliger Bart, tagelang ungewaschen und später dann vollkommen apathisch vor sich hin brummend. Emil ist vollkommen zerrüttet von diesem Anblick. Zum einen erkennt er seine ambitionierte Begleitung als gescheitert, zum anderen sieht er sich wohl selber wie es hätte ihm ergehen können.
Fast ein wenig unpassend, wie Mia gegen Ende des Buches noch zu Wort kommt. Sie hat sich inzwischen mit Georg verbandelt, einem Fernsehredakteur mit ganz viel Phlegma und verbringt den Sommer mit den beiden Kindern im Ferienhaus im Tessin (oder ist es schon Italien?), denkt jedoch beim Sex mit Georg immer noch an Peter. Sie hatte die Kinder an sich genommen, die sie verwahrlost, mit Zecken übersät aus der Protestszene um »Stuttgart 21« Peter entzogen hatte, der sie in freiem, antiautoritärem Gestus erziehen und leben lassen wollte. Dazu gehörte es beispielsweise, sie von der Schule möglichst lange fern zu halten. Peter separierte sich und die Kinder immer mehr aus der Mainstream-Gesellschaft und wandte sich dem alternativen Milieu um die »Stuttgart 21«-Gegner zu. Eine Beteiligungsmöglichkeit in der logopädischen Praxis seiner Chefin sagte er ab und nahm die Kinder lieber zu den Baumanbetern, die Hahns allwissender Erzähler im Namen Mias als Abschaum mit dem schmutzige[n] Atem von Armut und Versagertum bezeichnet.
Achtung: Spoiler
Emil versucht, Peter abseits von Hajos schulmedizinischer Behandlung in seine Welt zurückzubringen, macht einen Ausflug in die Wilhelma als Beschwörung der »alten Zeiten«. Aber auf Peters depressive Gleichgültigkeit findet er keine adäquate Tröstung; es endet in einer Imbissbude mit Massen billigen Weins und Fontänen von Erbrochenem. Am nächsten Tag findet dann eine Gartenparty zu fünft statt und Peter scheint – wie durch ein Wunder – wieder hergestellt, ist geduscht, schön angezogen, isst wieder normal, beteiligt sich an Gesprächen. Höhepunkt ist Emils Rasur von Peters zotteligem Bart, der sich daraufhin zurückzieht. Die Party geht weiter; bei Bowle und Cat Stevens (!) werden die 70er und 80er Jahre wiederbelebt. Aber Hahns Buch ist weder Idyllen- noch Kitschprosa und auch Lenz’ Anliegen, den Gegenwartsaugenblick aus der Vergangenheit und Zukunft sozusagen zu entkernen und für eine epische Sekunde als gleißendes Licht der Hoffnung zu evozieren, die man dann Leben nennt, liegt der Autorin fern. Im dann plötzlich erahnbaren Ende zeigt sich die unbarmherzige Postmodernität des Buches: Auf der letzten halben Seite erzählt Hahn in Zeitlupenbildern den Freitod Peters am vor wenigen Stunden so bestaunten, alten Hosengürtel. Schließlich lässt der Leser die Trauernden zurück und merkwürdigerweise tritt das ein, was man gemeinhin dem Moment des Todes nachsagt: Die einzelnen Szenen tauchen vor dem Leser-Auge auf; die glücklichen wie die verzweifelten und wenn es dann doch eine Gemeinsamkeit mit dem Epiker Lenz gibt dann das des Fatums, dass der menschlichen Existenz anhaftet und allenfalls nuanciert werden kann, aber nicht umgangen.
Peter Handke unterschied einst die »verkrachte Existenz« vom »verfehlten Leben« (und zog erstere vor). In Hahns Buch balancieren die Protagonisten ständig zwischen diesen beiden Polen. Nur Peter ist auf Erden nicht mehr zu helfen. Für Diskussionsstoff wird vor allem der schonungslose und abschätzige Blick auf das, was man gemeinhin »alternative Szene« nennt, führen. Peters Enthusiasmus, den nachfolgenden Generationen die Barbarei des unterirdischen Bahnhofs (bzw. zunächst einmal der Fällung der Bäume im angrenzenden Park) zu ersparen, wird zuweilen als eine Mischung aus Esoterik und Folklore erzählt. Als Gegenstück dazu Emils jahrzehntelanges »Engagement« in einer Bürgerinitiative, die nur noch für sich selber da ist und ihren Protestgegenstand (die Erhaltung von Streuobstwiesen) längst aus dem Auge verloren hat.
Keine Eindeutigkeiten
Hahn macht es sich nicht einfach und verfasst den politisch-korrekten S21-Roman, der intellektuellen Pseudo-Eliten mit eindeutigen »gut« und »böse« Zuweisungen zum Gefallen ist. Stattdessen zeigt sie wie auch schon die vermeintliche Alternative mit ideologischen Konnotationen vermint ist. Es gibt keinen »richtigen« Weg. Selbst der Rückzug ins Private führt zur Flucht in Drogen (hier: Alkohol). Das Private wird politisch: Peters fast bedingungslose Hinwendung in die Widerstandsszene wird schließlich der Aufbruch für Mia (freilich in die Bürgerlichkeit). Der Kindesentzug durch die Mutter (der wie selbstverständlich stoisch ertragen wird) führt zu Peters Zusammenbruch. Der Leser erlebt nun, wie die Bubs und die Raus den verlorenen Sohn in ihre Welt zurückholen wollen, wobei eigentlich klar ist, dass gerade hier der Keim für die Lebens-Depression liegt. Gerne hätte ich einmal das Alltägliche als Objekt der Sehnsucht nicht einfach nur denunziert gesehen, sondern hierüber eine Erzählung gelesen. Dies gelingt Hahn nicht, weil sie ihre Spitzen wohldosiert gegen alle verteilen möchte. So ist dann weder die Absonderung »nebendraußen« noch das gesellschaftspolitische Engagement ein probates (Überlebens-)Mittel, welches gegen das global verordnete Glücklichsein dauerhaft immunisieren könnte. In jedem Fall wendet sich das Hervorholen des Versunkenen gegen den Bewusstseinsarchäologen selber. Da ist es dann immer noch besser, sich einzuordnen. Ist das nicht die pure Restauration? Vielleicht. Aber ein Roman kann und darf unentschlossen sein; er ist nicht verpflichtet, ein fertiges Weltbild abzuliefern.
Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
Wiederum sehr schön besprochen. Das habe ich nicht verstanden:
»Diese gescheiterten Leben werden symbolisiert im Zustand Peters: Geschwüre am Körper, ausgezehrt, zotteliger Bart, tagelang ungewaschen und später dann vollkommen apathisch vor sich hin brummend. Emil ist vollkommen zerrüttet von diesem Anblick.«
Warum machen sich die gescheiterten Leben der anderen am Zustand Peters bemerkbar? Weil ihr Scheitern sich auf ihn ausgewirkt hat?
Worin genau würdest Du die Postmodernität festmachen (das war mir auch nicht ganz klar)?
Der Einwand ist wohl berechtigt. Peters äußerliche Erscheinung könnte auf Emils Innenleben in der Rückschau auf sein Leben verweisen. Bzw.: So sähe sein Sohn jetzt aus (Peter nannte die Bubs ihre »zweiten Eltern«; der Familienname »Bub« ist ja fast sprechend). Seine Zerrüttung als Blick auf sein eigenes, als gescheitert empfundenes Leben, interpretiert werden.
Somit stirbt am Ende nicht nur Peter durch seinen Freitod, sondern auf einer metaphorischen Ebene auch die anderen Protagonisten (das muss man sich vorstellen). Es gibt keinen Trost, Auswege werden nicht mehr wahrgenommen; das Scheitern ist umfassend, unausweichlich.