Im August 2021 erfuhr die Öffentlichkeit von bisher verborgenen, rund 6000 Manuskriptseiten des 1961 verstorbenen französischen Schriftstellers Louis-Ferdinand Céline. Hatte der Autor nicht immer behauptet, die Manuskripte seien zerstört oder gestohlen worden? Nach Prüfung auf Echtheit steht nun fest, dass es sich streng genommen nicht um eine Entdeckung, sondern eine Enthüllung handelte. Den Weg dieses Konvoluts zeichnet Niklas Bender in seinem instruktiven Vorwort zu Krieg nach, dem ersten, ins Deutsche übersetzten Text dieses Manuskriptbündels.
Der Roman wird in einer populären und damit lesbaren Version präsentiert. Die zahlreichen Korrekturen des Autors, von denen einige im Buch abgedruckten faksimilierten Seiten einen Eindruck geben, sind nicht aufgeführt worden. Für das unmittelbare Verständnis wichtige Ergänzungen (beispielsweise Célines Wortspiele bei Stadt- und Personennamen) findet man in präzise gesetzten Fußnoten. Die Übersetzung ist glücklicherweise von Hinrich Schmidt-Henkel, der schon mehrere Bücher von Céline, darunter auch die Reise ans der Ende der Nacht ins Deutsche übertragen hatte (und, »nebenbei«, auch der Übersetzer des aktuellen Nobelpreisträgers Jon Fosse ist).
Wer ein bisschen über Céline weiß, sollte mit dem eigentlichen Text beginnen und das Vorwort danach lesen. Die ersten zehn Seiten des Manuskripts scheinen tatsächlich verloren zu sein. Die Übertragung beginnt mit Seite 10. Ferdinand, ein schwer verwundeter, umherirrender Ich-Erzähler, orientiert sich im Januar 1915 von der Front zurück ins Hinterland. Er sieht aufgeplatzte Menschen und aufgeschlitzte Pferde und hat »grauenhafte Schmerzen«. Zum einen ist ein Arm schwer verletzt (er hängt, wie es einmal heißt, »in Fetzen«). Und zum anderen steckt eine Kugel in seinem Kopf, in der Nähe des Ohrs. »Der Krieg hat mich im Kopf erwischt. Er ist in meinem Kopf eingesperrt.« Er hört permanent eine »Geräuschsuppe«, »Getöse«, »Ohrgedonner«; dies wird ihn bis zum Ende nicht verlassen. Nach vielen Irrungen landet er in einem Lazarett im fiktiven Ort »Peurdu-sur-la-Lys« (Wortspiel aus »peur« für Angst und »perdu« für verloren). Halluzination und Realität sind nur schwer zu unterscheiden; Ferdinand vermischt alles. Der Text konzentriert sich zunächst auf eine Krankenschwester, die ihn mal masturbiert, dann katheterisiert, dann beides. Sie wird, so die Erzählung, zu einer Fürsprecherin, gar Geliebten. Zwar wird der Arm operiert, aber das der scheinbar wenig routinierte Arzt die Kugel aus dem Kopf entfernt, verhindert sie. Die Bekanntschaften unter den eingelieferten Patienten wechseln – die meisten sterben weg. Länger hält eine Art Freundschaft zu einem gewissen Bébert, der mit einer Schußwunde im Fuß eingeliefert wurde und merkwürdigerweise auf eine Amputation drängt. (Die Vorläufigkeit des Manuskripts bedingt, dass Bébert im Laufe des Romans Cascade heißt und auch sonst die Figuren manchmal unterschiedliche Namen tragen; es stört wenig.)
Die beiden verbringen etliche Monate im Lazarett und schaffen es, sich gegenseitig stützend, zu kleineren Ausflügen in die Stadt. Peurdu ist Aufmarsch- und Rückzugsgebiet; höhnisch betrachten sie die zur Front aufmarschierenden Soldaten und versuchen gleichzeitig, den Aufenthalt im Lazarett immer weiter zu verlängern. Manchmal schlagen im Ort Granaten der Deutschen ein, aber das kann Ferdinand nicht erschüttern, weil er diesen Sound immer präsent in seinem Ohr hat. Bordelle sind überraschenderweise verboten, was Bébert veranlasst, seine Verlobte Angèle herbei zu holen.
Nichts und niemand hat Bestand bei Ferdinand. Seine Jugend war »stinkender Mist«, für die Eltern und deren bürgerliche Welt hat er nur glühende Verachtung übrig. Außer Bébert sind alle anderen Blödmänner; Frauen werden aufgrund ihrer sexuellen Fähigkeiten eingeschätzt. Die Szenerie bleibt bis zum Schluss skurril, die Sprache ist von offener, derber Obszönität geprägt, aber auch von Klamauk. Etwa bei der Feier zu Ferdinands Verdienstmedaille bei einem Bekannten des Vaters in Peurdu. Hierfür kommen die Eltern angereist; Ferdinand wird von Bébert und Angèle begleitet; ein Pfarrer ist auch dabei. Es kommt zu einem vulgär-komischen und folgenreichen Streit zwischen Bébert und seiner Verlobten, die sich von ihrem »Luden« emanzipiert und nun englische Offizieren ausnimmt. Die Folgen für Bébert werden verhängnisvoll sein; wie diese sich zusammenbrauende Katastrophe erzählt, ist tatsächlich meisterlich erzählt.
Natürlich kommt man bei Céline nicht an seine antisemitischen Hetzschriften vorbei. Bender nennt Céline einen »Überzeugungstäter« und nennt vier Argumente gegen eine Relativierung dieses Verhaltens. Gleichzeitig versucht er, das literarische Werk vor der Person zu retten und weist darauf hin, dass Céline nie direkt mit den Nazis kollaboriert habe. Kurz erwähnt er, das Ernst Jünger Céline nach dem Treffen am 7. Dezember 1941 für einen Psychopathen hielt. Unklar, woher der Schluss kommt, dass er dies später relativiert habe. Schließlich nennt Jünger ihn im Januar 1942 »abscheulich« und als er im Juni 1944 von Célines Flucht aus Frankreich hört, macht er sich über ihn lustig: »Es bleibt doch merkwürdig, [wie] sehr Menschen, die kaltblütig das Leben…von Millionen fordern, für ihr eigenes, lumpiges Leben in Sorge sind.« (In diesem Zusammenhang amüsant: Jünger codierte in den Strahlungen Céline und nannte ihn »Merline«. Ausgerechnet in der französischen Version wurde diese Chiffrierung ohne Wissen von Jünger aufgehoben.)
Krieg ist autobiographisch grundiert; Céline wurde tatsächlich 1914, als 20jähriger, im Ersten Weltkrieg verwundet. Das Manuskript zu Krieg entstand vermutlich um 1934, nach der Niederschrift der Reise ans Ende der Nacht. In beiden Büchern schimmert die seltsame Allianz zwischen Traumatisierung und Hass über den Krieg, diese »beschissene Riesenraserei«, durch. Sollte es jemals einen Glauben an die Menschheit gegeben haben, so wird dieser hier zerstört, denn es wird ihm klar, wie »namenlos niederträchtig die Menschen sind.«
In der Reise steht am Anfang der fast an Wittgenstein erinnernde Satz »Der Krieg…war alles, was man nicht begriff«. Bender schreibt, dass Krieg sozusagen ein Ergänzungskapitel der Reise darstellen könnte; man könnte es einfügen. Liest man beide Bücher parallel, stellt man die Urgewalt der von jeglichem Takt befreiten Sprache in Krieg fest. Kein Lektor hat da bändigend eingegriffen. Im Vergleich dazu erscheint die Reise fast gemäßigt. Würde man sich dieser Sprache anpassen, könnte man sagen: Da kotzt jemand seinen Menschenhass aus. Das ist durchaus wörtlich zu verstehen, denn Ferdinand muss sich laufend übergeben (vermutlich aufgrund der Verletzung).
Vielleicht ist Krieg wider Willen DAS »Anti-Kriegs-Buch«, eines, wie es noch nie gab, eben weil die Hauptfigur weder Opfer- noch Mitleidsaffekte erzeugt. Die Stärke von Krieg liegt in einer schonungslosen Unmittelbarkeit, die sich in der neorealistisch daherkommenden Obszönität der Sprache ausdrückt. So zeigt sich nicht nur der Irrsinn des Krieges, sondern eben auch die Verkommenheit der Protagonisten. Es gibt keine »Guten« für die man Partei ergreifen, mit denen man sich identifizieren oder gar mitfiebern kann. Man fällt nicht auf diese sonst immer miterzeugte perfide Form des bereitgestellten Moralismus herein, weil hier niemand eine Moral hat. Es geht nur ums Überleben. Nicht trotzdem, sondern deshalb entwickelt der Text diesen teuflischen Sog und zeitweise droht man sogar, bei der Lektüre von diesem brutalen, rauschhaften Zynismus Ferdinands angesteckt zu werden. Und nein, das ist jetzt keine Triggerwarnung.