Wenn die hier vertretene Leserichtung, möglicherweise auch nur in Teilen, zutreffend sein sollte, dann ist die Auseinandersetzung mit Pegida bedeutsam, weil ihre Ergebnisse über das konkrete Phänomen hinaus reichen: Pegida wäre dann, mehr in ihrer Zusammensetzung als in ihren Forderungen, eine Keimzelle gesellschaftlicher Entwicklungen und zugleich deren erstes Resultat. — Pegida ist keine Gefahr, aber vielleicht eine Wegmarke; Hysterisierungen sind unangebracht.
Die weitgehende Gesprächsverweigerung mit den offiziellen Vertretern der Medien, der häufig zu hörende Vorwurf der »Lügenpresse« und die Formel »Wir sind das Volk« scheinen in erklärender Hinsicht wesentlicher als die Forderungen, die schon im Namen anklingen: Diese sind vielleicht nur der letzte Grund, der Stein des Anstoßes, der, der alle vereint, eine Art Projektionsfläche verschiedenster Ängste, aber das, was Pegida (und nicht nur Pegida) möglich gemacht hat, ist etwas anderes: In einem Satz und zugespitzt formuliert: Pegida ist der Souverän, der die Macht, die ihm qua Grundgesetz versprochen, aber entzogen wurde, wieder zurück fordert.
Nicht nur die Ränder, sondern sogenannte »besorgte Bürger« oder »Teile der Mitte« finden sich zu den Demonstrationen ein; letztere nehmen anscheinend in Kauf erstere zu unterstützen oder mit ihnen in einen Topf geworfen zu werden; ein Hinweis darauf, wie wichtig ihnen ihre Anliegen sind. Aber auch andere Demonstrationen, die Mahnwachen oder Montagsdemonstrationen sind zumindest ihres zeitgleichen Auftretens und ihrer Forderung wegen diesem Phänomen zuzurechnen; da die politische Richtung häufig nicht klar differenziert werden kann und zu »Bürgern der Mitte« auch politische Gruppierungen der Linken und Rechten, die an einander entgegen gesetzten Rändern des Spektrums stehen, anzutreffen sind, hat Thomas Assheuer von einer Querfront gesprochen, die historisch in der Zwischenkriegszeit zumindest formal vergleichbar auftrat (ich denke, dass er Gruppierungen wie den Nationalbolschewismus meint).
Dass die Ränder hier zusammen finden hat aber weniger damit zu tun, dass sie einander berühren, sondern dass sie ähnliche Gegner oder Feindbilder ausmachen: Eine nationale Rechte und eine internationale Linke können gleichermaßen »antikapitalistisch«, »anitamerikanisch« und »antiislamisch« agieren und gemeinsame Anliegen formulieren, auch etwa hinsichtlich Russlands und der Ukrainekrise, dazu muss man keine Querfront bemühen, das liegt in der Natur der Sache. — Dass dabei an den Rändern eher übliche Schlagworte wie die (nach Bedarf) gerne geschmähte »bürgerliche Presse«, die »gelenkten« oder »Systemmedien« fallen, dass »Überwachungsfantasien« und »Verschwörungstheorien« nun fruchtbareren Boden vorfinden, hat mit den politischen Entwicklungen der letzten Jahre und einem – freundlich ausgedrückt – generell ernüchtertem Klima zu tun, das mit dem Stichwort »Postdemokratie« (siehe Assheuer, u.a.) sicherlich nicht unzutreffend, aber noch nicht ausreichend, beschrieben wird. Es gilt also zusammen zu tragen – und das wird innerhalb dieses Texts sicherlich nicht vollständig gelingen – was an Entwicklungen der realen Welt in den letzten Jahren mit sozusagen »pegidainhärenten Faktoren« – etwa: milieubedingtes, Ressentiments – zusammen ging und Teile der Mitte mit den Rändern zusammenführte; was, zugespitzt formuliert, den Thesen der Ränder zur Wirklichkeit und damit zur Glaubwürdigkeit verholfen hat: Die Presse wurde – über Nacht enttarnt – zur Lügenpresse und kurz zuvor ein gigantischer Überwachungsskandal aufgedeckt: Der Staat regiert nicht nur über die Köpfe seiner Bürger hinweg, er bevormundet sie nicht bloß, er kontrolliert und manipuliert seine Bürger unter Mithilfe der Journalisten und Geheimdienste, ja es ist sogar noch schlimmer, dieser (eigentlich: ihr) Staat ist nicht mehr souverän, sondern in wesentlichen Entscheidungen von außen gesteuert und lässt seine Bürger mit allem Unbillen allein; er soll in Zukunft nicht nur in Kriege geschickt werden, von seinem Territorium aus wird ein weltweiter Drohnenkrieg gesteuert; die angezettelten Interessens‑, Bürger- und Kolonialkriege denen ganze Staaten zum Opfer fallen, müssen wieder beigelegt werden, durch Helfeshelfer und Interventionen. Deshalb das Ganze und des Öls und der Ökonomie wegen. — Bekämpft und verteufelt werden jene Staaten, die sich diesem Treiben (einsam) entgegenstellen und sich eine Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten verbitten, also souverän bleiben; und dann sind da islamistisch-terroristischen Gruppierungen, die sich nicht mehr instrumentalisieren lassen und eine eigene brutale Agenda verfolgen, nicht nur außerhalb der Grenzen Europas, sondern mitten in seine Gemeinschaften hinein.
Das sind wie gesagt Zuspitzungen und Überzeichnungen, aber die Realität ist manchmal grotesk nahe am Wahn und einige Ungenauigkeit oder Hast lässt die Nähe übersehen und beide eines werden. — Im Folgenden möchte ich einige politische Realitäten in aller Kürze beschreiben, die irgendwie Teil der obigen Schilderung sind, zumindest empfunden und verzerrt. Mit ihnen muss man sich aber, ohne Zweifel, auseinandersetzen. Und darüber hinaus verstehen was sie – gerade in ihrer Nichtrealität – bedingen.
»Postdemokratie«
Dass Politik immer auch so erlebt wurde, als wäre sie Postdemokratie, zeigen die vielfach vorhandenen allgemeinen Ressentiments gegenüber Politikern, die ihren Grund in einer gefühlten, individuellen Machtlosigkeit gegenüber dem Handeln der Mächtigen haben (und wohl auch in der Komplexität vieler Angelegenheiten). Hinzu kommen auf europäischer Ebene jedoch eine nicht nur gefühlte Distanz, der eine oder andere Skandal, sondern eine enthaltsam zu nennende Berichterstattung, die diese Distanz und die ohnehin vorhandenen und zunächst national gebundenen Ressentiments verstärkt. Daneben existiert aber zweifellos eine politische Praxis die Assheuer u.a. mit »alternativlos« beschrieben haben und in ihrem Kern autoritär vermittelt ist; die Parlamente werden zu Abstimmungsmaschinen, rechtliche Aspekte werden nicht immer genau genommen: Es geht eben nicht anders, als dies oder jenes zu tun (Beispiele sind die europäischen Verfassungsentscheide, die Rettungsmechanismen oder der Stabilitätspakt). Der Bürger soll im selben Moment »europabegeistert« sein und zur Wahl gehen; er fühlt dagegen, dass über seinen Kopf hinweg entschieden wird und sich machtlos. Alle Ideen und Tendenzen die Unionszuständigkeiten zu erweitern, verstärken das. Dazu kommt, dass politische Entscheidungen vielfach durch Lobbyisten oder einflussreiche Interessensträger gesteuert und gelenkt werden, das Gemeinwohl wird zum Wohl weniger (Finanzskandale der öffentlichen Hand und das Sozialisieren von Verlusten [Bankenrettung] ganz entgegen den üblichen marktwirtschaftlichen Konsequenzen). — All dies wird als Vertrauensbruch oder als Bestätigung von Vorbehalten von vielen Bürgern erlebt.
Journalismus
Zeitgleich mit dem Vertrauen in Politik und Politiker schwindet auch das Vertrauen in den Journalismus und spätestens dann muss man die Öffentlichkeit und die Demokratie selbst als betroffen ansehen; mit der Krise und dem Krieg in der Ukraine ist die Kritik an öffentlichen und privaten Medien (dem Journalismus) gleichsam explodiert; sie überschießt und pauschalisiert immer wieder, aber kaum jemand wird abstreiten, dass selbst in den renommiertesten Medien Dinge passieren, die manchmal nur mehr sehr wohlwollend als Fehler durchgehen und zwar von der Literaturkritik bis zur politischen Berichterstattung; hinzukommt, dass Fehler selten eingestanden werden, auch wenn sie offensichtlich sind und man sich fragen muss, ob die Berichterstattung nicht häufig weniger selbstsicher und eindeutig daherkommen müsste (was glaube ich, gerade im Fall von Kriegen und Krisen die allermeisten Leser verstehen werden); die Lern- und Reflexionsprozesse auf Seiten vieler Journalisten scheinen gerade erst in Gang zu kommen, vielfach ist man zu sehr mit der Verteidigung seiner Position beschäftigt (all das ist nicht einfach, keine Frage). — Drei Beispiele mögen genügen, wie wenig man die eigene Rolle noch versteht oder missversteht und welche Fehler gemacht werden:
1) In verblüffender Öffentlichkeit spricht Ijoma Mangold hier vom Literaturbetrieb und sagt viel über sein »Rollenverständnis« (zur Diskussion des Interviews dort).
2) In der NZZ wurden vor kurzem die Krimtataren zur Mehrheitsbevölkerung der Krim.
3) Die Instrumentalisierung des Charlie Hebdo Anschlags durch den Zeitungsverlegerverband für den Kampf gegen Pegida (siehe auch die Anmerkungen dort; dieses Beispiel zeigt aber auch, dass Kritik nicht vergeblich ist).
Mitten in diese Verwerfungen platzt dann eine Arbeit über die Mitgliedschaft von Journalisten in diversen Vereinigungen und Fragen bzw. Problematisierungen über deren Nähe zu den Mächtigen, die sie ja – trotz ihrer Notwendigkeit – kritisieren müssen. Diese Mitgliedschaften, etwa die Atlantikbrücke, beweisen nichts, aber trotz vieler Vorwürfe und einer in zumindest einem Fall sehr unguten Optik, hat kein Journalist1 diese Mitgliedschaften oder deren Notwendigkeit öffentlich thematisiert, was weiter Boden für Vorwürfe und Spekulationen bereitet (gerade dann, wenn die Berichterstattung in ihren Hauptströmen gleichförmig ist).
Überwachungsskandal
Die Enthüllungen Edward Snowdens haben nicht nur eine umfassende Überwachung und Wirtschaftsspionage durch den NSA aufgedeckt; er hat zudem das Vertrauen nicht nur in die nationalen Geheimdienste, die die den NSA fleißig unterstützten, untergraben, sondern auch offengelegt wie es um manche unserer Bürgerrechte steht und wie wenig diese auch nach dem Bekanntwerden und möglicher weiterer Aufklärung und Ahndung, sowohl auf europäischer als auch nationaler Ebene, eigentlich gelten (auch wenn dies politische Gretchenfragen sind).
Doppelter westlicher Standard
Wenn man die jüngsten Folterberichte aus den USA, aber auch die Mithilfe einiger europäischer Staaten wie Polen hinzu nimmt, den Drohnenkrieg, die noch nicht allzu lange zurückliegenden völkerrechtswidrigen Kriege oder zweifelhaften Interventionen und der mangelnden Verantwortung für die Unterstützung diverser Autokraten, Diktatoren und sonstigen zweifelhaften Gestalten bei gleichzeitigem Hochhalten sogenannter westlicher Werte, können einem die einseitigen Vorwürfe gegenüber Russland und Putin ohne sich auf die eigenen Interessen und Einmischungen einzulassen, trotz deren Berechtigung, einigermaßen schizophren vorkommen. — Der Westen vergisst oder verdrängt seine Tradition der Selbstreflexion und ‑kritik.
Schlussbemerkungen
Es ist in einem gewissen Sinn also folgerichtig, wenn sich Pegida außerhalb des Systems aufstellt, das dem Anschein nach nicht mehr funktioniert und den (vermeintlichen) Souverän außen vor lässt: Ein noch kleines, übersichtliches Unten, tritt aus dem Überbau und der Gesellschaft heraus und verweigert gleichzeitig das wichtigste demokratische Element politischer Verhandlung, den Diskurs. Das muss man Entfremdung nennen, ist eine Wegmarke und sollte bedacht werden. — Dass Pegida immer wieder attestiert wird, nicht zu wissen was man überhaupt will, passt ins Bild der Unordnung der Verhältnisse, der Verwirrung durch die Zustände und kann noch positiv als Unentschlossenheit gedeutet werden2.
Sie verweisen auf einen Artikel in der NZZ. Ihr Verweis zeigt aber auf einen inzwischen korrigierten Fehler (nicht Fehler des renommierten Autors Ingold), welcher inzwischen korrigiert wurde:
ich zitiere die NZZ:
[Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Fassung dieses Artikels hiess es: «Die überwiegend tatarisch bevölkerte Krim». Tatsächlich sollte es aber heissen: «Die stets auch tatarisch bevölkerte Krim». Wir haben den Fehler korrigiert und danken unseren Lesern für den Hinweis.]
Danke für diesen Text. Er zeigt auf, welche Verwirrung in der politischen Diskussion / Entwicklung herrscht und wiesehr sich Medien und Regierung vom Souverän entfernt haben, der nun von beiden kräftig dafür beschimpft wird, daß er sein Unbehagen äußert
Die beste Analyse des Öffentlichen Raums, die ich seit Jahren gelesen habe.
Selbst eine Analyse des Zentralverbands Deutscher Rasse-Kaninchenzüchter wäre sinnvoller gewesen. Der hat nämlich 160 000 ständige Mitglieder und nicht, wie Pegida, ein paar tausend verworrene Mitläufer.
@Griebe
Richtig. Mir gefällt die »Pegida«-Verknüpfung auch nicht. Aber die Analyse ist bestechend. Ich hoffe, Sie haben bis zum Ende gelesen. Sollte man tun. Immer.
Pingback: Pegida: Phänomen einer Entfremdung? | Makulatur
@Cornelie Müller-Gödecke
Der Fehler wurde korrigiert, hingewiesen hat darauf ein Leser, nicht etwa eine redaktionelle Kontrolle vor der Veröffentlichung (das sind keine Lappalien).
@Hans-Joachim Griebe
Ich weiß, dass Sie das wissen, aber trotzdem: Was mit wem wie zusammenhängt weiß man erst nach einer Analyse. Ausnahmslos.
So wie zuvor Pegidaphile viel Verständnis für die »besorgten Bürger« aufgebracht haben tun es andere und auch sie in Hinblick auf die Sicherheitslage der A‑Promis unter den Politikern. Aber müssen wir Verständnis aufbringen. Hätten nicht die Million für sich gesprochen? Jedenfalls besser als die so vergiftete Veranstaltung, die Wasser auf die Mühlen der »Lügenpresse« Claquere ist. Hätten sich diejenigen, deren Sicherheitsgesetzgebung nur Freiheiten kostete lieber mal zum offenen Meinungsaustausch darüber getroffen, wie Terrorismus zu bekämpfen ist, wenn schon nicht durch die Installation der feuchten Träume der Offiziere der Staatssicherheit, die sich sogar heute noch staatlich allimentiert in Szendkneipen unweit ihrer Wirkungsstätten treffen. Neulich feierten wir 25 Jahre Mauerfall, und das Merkelsche Europa nach Madrid, London und Paris geht erst in sein zehntes Jahr. Mit der Hilfe ein paar frustrierter Islamisten schafft sie es noch zu Lebzeiten tatsächlich: Honeckers Rache zu werden.
Natürlich ein bisschen vorhersehbar (ich erinnere mich hier einmal vom »Nachdenkseiten-Onkel« gelesen zu haben) aber trotzdem interessant: http://www.nachdenkseiten.de/?p=24325
Soziale/wirtschaftliche Zukunftsängste sind eine nicht zu unterschätzende Triebfeder. Was die Gewichtung , etwa zum »Doppelten westlichen Standard«, betrifft, fällt mir direkt Brecht ein: »Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.«
Das gilt natürlich eher für die Mitläufer als für den Kern. Aber erstere machen die Masse und das Bedrohliche daran aus: Denn jetzt muss man sich ernsthaft damit beschäftigen.
Danke an den Autor für seinen Beitrag dazu.