Einige Wortmeldungen, Beurteilungen und Stellungnahmen zu Pegida sind ein Anlass, um über die Grundlagen und die Wichtigkeit des öffentlichen Diskurses1 als Mittel der Verhandlung (über Politik) in Demokratien nachzudenken; daneben gibt es eine Reihe beinahe täglich angewandter rhetorischer Tricks, die die Methodik und die Konzeption des rationalen Diskurses unterlaufen und manipulieren: Man ist scheinbar Teilnehmer, setzt sich aber auf Grund von Scheinargumenten, unsachlichen Angriffen, Täuschungen, usw. durch. — Da dieser diskursive Rahmen als Kern unserer Demokratien immer wieder, nein, man muss sagen: laufend außer Kraft gesetzt wird, gilt es regelmäßig auf ihn hinzuweisen und ihn einzufordern, als Regelwerk, das letztlich allen politischen Diskussionen und Entscheidungen zu Grunde liegt und für Transparenz und Nachvollziehbarkeit sorgt.
Ausgangspunkt Tagespolitik
In der tagespolitischen und parlamentarischen Diskussion wird immer wieder eine Gesprächsverweigerung aus moralischen Gründen artikuliert: Der politische Gegner vertrete eine Position die indiskutabel sei; er befinde sich nicht – hier können verschiedene Formulierungen, je nach Gegenstand oder politischer Richtung, eingefügt werden – auf einer Art »gemeinsamen Grund«, den man mit allen anderen (als Selbstverständnis) teile. Er stehe außerhalb dessen, was moralisch tragbar sei und ein Gespräch oder eine Auseinandersetzung seien erst möglich, wenn dieser (der eigene) Standpunkt akzeptiert werde, in anderen Worten: Die Voraussetzung für einen Diskurs sind nicht dessen Prinzipien und Regeln, sondern eine bestimmte politische Positionierung, die zuerst eingenommen werden muss; der Diskurs wird dabei, das ist wichtig, als vermittelnde, schlichtende und entscheidende Instanz ausgeschaltet (im Regelfall geht es bei diesen Forderungen nicht um das, was man demokratischen Konsens nennt). — Die Zuweisung dieser Position (bzw. ihre Zurückweisung) wird von den Parteien nicht geteilt, etwa der Vorwurf, dass man sich nicht auf dem Boden der Humanität befinde, und fast immer postwendend zurückgewiesen; diese Setzungen werden also einseitig vorgenommen und von allen Beteiligten als Abgrenzung wahrgenommen. Sie müssen nicht zwingend zwischen etablierten Parteien erfolgen, sondern können auch zu außerparlamentarischen Bewegungen oder Demonstrationen hin artikuliert werden. — Dass solche Abgrenzungen eine politische (meist wohl parlamentarische) Zusammenarbeit im Falle gemeinsamer Interessen nicht ausschließen, zeigt, dass sie auch taktisch-strategischer Natur seien können; dessen ungeachtet stellen sie für manche dennoch eine Vorbedingung für eine politische Auseinandersetzung jeglicher Art, die diskursive mit eingeschlossen, dar. — Die Befürchtung die mitschwingt, ist, dass sich über das Sprechen mit den falschen Leuten, falsche Gedanken, Meinungen und Ansichten ausbreiten könnten, dass die Verhandlung über sie bereits einen Akt der Rechtfertigung darstelle.
Die Subversivität des Diskurses
Dies deutet auf das subversive Element des rationalen Diskurses hin: Er ist nicht durch (politische) Wertvorstellungen begründet, sondern alleine durch kommunikative und diskursethische Prinzipen oder Regeln: Diskutieren kann man über alles, solange es dem Verstand und der Sprache zugänglich ist, also nicht rein subjektiv begründet bleibt. Und, natürlich: solange ein Gespräch geführt werden kann, seine Regeln und sein Rahmen geachtet und nicht instrumentalisiert werden. Der Rahmen und die »Sache« (die Politik) sind also verschieden und unsere Hoffnung lautet, dass er genügt, um über sie eine Entscheidung herbeizuführen: Hoffnung, weil Letztbegründungen unmöglich sind, weil man von verschiedenen Annahmen ausgehen kann, weil die Zukunft ungewiss und unser Wissen endlich und revisionsbedürftig ist. — Eine realistische Mindesterwartung an Gespräch und Diskurs ist daher eine Klärung von Standpunkten, Annahmen und Bezüglichkeiten; ebenso eine Annäherung an deren Bewertung (wovon gehen wir aus, was folgern wir daraus und wie bewerten wir es).
Der Kern der Demokratie
Diese Subversivität ist das Prinzip der Verhandlung, nein: die Bereitschaft, dass alles was über Verhandlung und Denken gewonnen wurde, alles Verhandeln und Denken wird bestehen können und bestehen müssen, andernfalls wäre es eine autoritative Setzung oder schlicht Subjektivität. Darüber hinaus ist subversiv, was wir demokratisch nennen, als gleich, besser: als gleichberechtigt ansehen; es bedeutet, dass selbst der größte Lump ein anerkannter Teilnehmer des öffentlichen Diskurses ist, wenn er ein valides Argument in einer die Allgemeinheit betreffenden Angelegenheit zu formulieren weiß. Der »Masse« steht, wie es schon Kant sah, das Recht des Urteils, nicht aber das des Richtens zu. Das ist das demokratische (gleichberechtigende, gleichrichtende, gleichmachende) Prinzip, das alle auf den gleichen Grund und in die gleichen Pflichten setzt. — Nur dem, was sich zu bewähren weiß und sich schon unter denselben Bedingungen bewährt hat, wächst Anerkennung zu: Etwas dem Diskurs auszusetzten, ist kein Eingeständnis von Schwäche und niemand muss dafür seine Position aufgeben; natürlich kann eine These scheitern, sie kann aber genauso Bekräftigung erfahren. Und darüber hinaus sorgt das dafür, dass wir mit Worten und nichts anderem streiten: Der Diskurs hält die Gesellschaft (in einem funktionalem Sinn) zusammen: Wer seinen Platz in diesem Diskurs findet, wird kaum zu anderen Mitteln greifen: Die noch-nicht-Tugend Toleranz hat auch hier ihre Berechtigung.
Die Angst, dass über den Diskurs missbräuchlich Dinge verbreitet werden können ist nicht unbegründet, allerdings lässt sich das aufzeigen und im diskursiven Sinn zugänglich machen; alles weitere liegt in der Vernunft- und Verstandesbegabung jedes einzelnen, an der man zweifeln kann, ohne die, daran muss erinnert werden, Demokratie aber nicht zu denken ist. — Die öffentliche, politische Debatte ist jedenfalls der Kern unserer Demokratien; der Mehrheitsentscheid folgt ihr nach und sollte sich an ihr orientieren (er wäre, ohne vorangegangenen Diskurs, beliebig).
Rechtfertigung und Voraussetzung
Nachvollziehbarkeit und Transparenz der Diskussion und der Entscheidungsprozesse, sind die formale Rechtfertigung einer demokratischen Entscheidung, also der Frage, warum im Hinblick auf das allgemeine Wohl eine Entscheidung so und nicht anders getroffen wurde; sie wird im konkreten Fall durch Argumente formuliert, gerechtfertigt und begründet (die Anerkennung einer These als Resultat eines Diskurses kann somit jederzeit überprüft werden).
Die Voraussetzung für eine Diskussion (einen Diskurs) sind tatsächliche oder zumindest erwartbare Differenzen im Hinblick auf Lösungsvorschläge, Standpunkte, Sichtweisen, Beurteilungen oder »Fakten«. Für das Zustandekommen einer Diskussion – das zeigt noch einmal das subversive Element und macht Verweigerungshaltungen ein wenig verständlich – ist die formale Disposition des eigenen Standpunkts Voraussetzung, denn warum sollte man diskutieren, wenn man dem Gegenüber nicht zumindest die Möglichkeit einräumt recht zu haben oder sich selbst die Möglichkeit von Fehlerhaftigkeit und Unzulänglichkeit eingesteht. Jemandem, der sich auf der (moralisch) richtigen Seite sieht, mag das schwer fallen; zugleich bedeutet eine daraus resultierende Verweigerung dieser elementaren Praktik Ausschluss und Ausgrenzung und wird auch so erfahren (man ist das Gespräch, die Diskussion nicht wert und steht damit auf eine bestimmte Art und Weise außerhalb der Gesellschaft und ihrer Art Politik zu verhandeln, s.o.).
Argumente
Jeder demokratische Diskurs ist immer offen für jene, die sich an seine »Gepflogenheiten« (Grundsätze) halten und diese anerkennen. Vereinfacht lässt sich sagen, dass jeder, der ein Argument formulieren kann, die Bedingungen erfüllt.
Argumente sind widerlegbare Begründungen, die sich an intersubjektiven Ideen und Vorstellungen oder Fakten (Wissen) orientieren; Offenheit und Nachvollziehbarkeit begründen ihre Widerlegbarkeit (alle Argumente lassen sich irgendwann auf eine oder mehrere Annahmen zurückführen, da keine Letztbegründungen möglich sind). Jeder Diskurs beruht auf der Annahme, dass jeder Diskussionsteilnehmer recht haben kann2; auf der Pflicht zu argumentieren und die Argumente der anderen wie die Möglichkeit ihres Rechthabens, das sich während einer Diskussion als Wille zeigt, zu achten. — Spätestens hier offenbart sich eine Unsicherheit: Ein Diskurs wird nicht durch Personen und Autoritäten, sondern durch Argumente entschieden; er wird dadurch automatisch ein offener Prozess, der nicht notwendig abgeschlossen werden muss, weil unser Wissen endlich und die Realität nicht immer eindeutig ist; sich in einen Diskurs zu begeben, bedeutet ein Stück Unsicherheit in Kauf zu nehmen, was seinen Ausgang betrifft.
Wahrheit, Aufklärung und Kritik
Wenn Diskurse Prozesse sind, die einen Ausgang haben können, stellt sich die Frage nach dem, was als Orientierung zu diesem Ausgang hin, dienen kann. Wie auch immer man es formulieren oder diskutieren möchte, der Begriff »Wahrheit« ist eine solche Orientierung3, jedenfalls dann, wenn sie intersubjektiv konstruiert wird (sie muss dafür keinesfalls »erreicht« oder »gefunden« werden). Wesentlich ist, dass sich logische Widersprüche und (vermeintliche) Fakten an einem vergleichbaren Konzept orientieren (also zusammengefasst geprüft werden; die allermeisten Diskussionen nehmen so etwas implizit an, da sie ansonsten sinnlos oder ein [ironisch] unterfüttertes Spiel wären).
Entschieden wird ein Diskurs durch die besseren Argumente, was im Zweifelsfall Gewichtung und Abwägung (im Bezug auf außenstehendes) bedeutet (vergleichbar ist die Wahl des kleinsten Übels). — Kritik ist notwendig und willkommen um den Diskurs voranzutreiben und in Richtung »Wahrheit« oder Ausgang zu bringen; sie ist, wie alles andere auch, an die Forderung nach Argumenten gebunden. — Aufklärung kann in diesem Zusammenhang, ohne viel Pathos, als kritikgeleitete partielle oder vollkommene Erneuerung eines Diskurses verstanden werden (er nimmt dann eine andere Richtung, gewinnt eine andere Orientierung).
Redlichkeit
Die Redlichkeit ist die wesentlichste diskurserhaltende und ‑fördernde Haltung, denn Betrug zerstört den Diskurs auf mittlere und längere Sicht, weil keiner der Teilnehmer mehr Vertrauen entwickelt; entweder betrügt dann jeder oder man spricht nicht mehr miteinander, weil man darin keinen Sinn mehr sieht (auf Dauer ist dann ein Zerfall oder ein gewaltbasierte »Erhaltung« der Gesellschaft wahrscheinlich). Sie meint aber auch, sich ihm als Prinzip zu unterwerfen und seine Ergebnisse zu akzeptieren, vor allem jener, die man zu Beginn nicht absehen konnte. Die Diskursethik steht, aus guten Gründen, politischen Forderungen und Standpunkten, gerade jenen, die für richtig gehalten werden, ein Stück weit entgegen. — Ihre Einhaltung und Anerkennung kann als pars pro toto unseres politischen Systems aufgefasst werden.
Der Begriff "Diskurs" bezeichnet hier zweierlei: Erstens, die einzelnen, öffentlichen Diskurse zu unterschiedlichen Thematiken und zweitens, diese als Gesamtheit der öffentlichen Auseinandersetzung (öffentlicher Diskurs); der Begriff "Diskussion" findet im Sinn konkreter, von Individuen geführten Gesprächen und Auseinandersetzungen, Anwendung. ↩
Unabhängig davon sieht sich jeder Einzelne regelmäßig auf der richtigen Seite; dies stellt jedoch keinen Widerspruch dar, sondern verweist auf diese unausgesprochen geteilte Annahme. ↩
Hier wird angenommen, dass wir als Individuen in einer unabhängig von uns existierenden Welt leben, dass wir diese Welt erkennen können und dass diese Erkenntnisse kommunizierbar sind, auch wenn das nur beschränkt und nicht ohne Probleme und Schwierigkeiten von statten geht. --- Kommunikation kann auf unterschiedlichste Weise erfolgen; für den rationalen Diskurs ist nicht nur, aber vor allem die Sprache entscheidend. --- Für das diskursive Regelwerk selbst, ist die Erkennbarkeit der Welt nicht von Nöten, für seine Sinnhaftigkeit ist sie aber Voraussetzung (andernfalls unterhielten wir uns über Einbildungen, Hirngespinste und Täuschungen). Grundsätzlich kann über alles, was intersubjektiv existiert oder vorstellbar und zugleich sprachlich fassbar ist, diskutiert werden. --- Wahrheit wird hier im Sinne der Korrespondenztheorie aufgefasst. ↩
Vielen Dank für diesen Beitrag, der gewissermaßen einen Idealzustand fast heraufbeschwört. Ein Punkt, der in diesen Betrachtungen fehlt ist die Gleichrangigkeit der Diskursteilnehmer, was im Jargon mit »herrschaftsfrei« bezeichnet wird.
Ich stehe der Diskursethik in ihren auch hier dargestellten Mechanismen zunehmend kritisch gegenüber. Und dies nicht nur, weil die »Herrschaftsfreiheit« niemals erreicht wird. Es ist sogar fraglich, ob sie ein valides Ziel sein kann.
Das Hauptproblem besteht darin, dass der Diskurs nicht in der Lage ist, grundsätzliche Unterschiede unter den Teilnehmern aufzuheben. Dazu gehören religiöse oder weltanschauliche Fragen. Indem jeder Diskursteilnehmer eine Aussage trifft, ist darin bereits der Anspruch an die Wahrheit ausgedrückt. Wir können auf diese Weise 100x den chinesischen Machthabern unsere Menschenrechtspositionen mitteilen – sie behaupten schlichtweg, es gibt in ihrem politischen und gesellschaftlichen Umfeld eine andere Gewichtung. Eine Einigung ist unmöglich; als Ausweg bleibt nur, die jeweiligen Positionen zu respektieren und in anderen Feldern Gemeinsamkeiten zu entdecken (was mit China inzwischen leicht ist: es geht fast immer ums Geschäft).
Ein anderer Punkt, der gerade bei Pegida wichtig zu sein scheint: Was ist, wenn ein potentieller Diskursteilnehmer diesen schlichtweg ablehnt? Die Diskursverweigerung würde dann einen eventuellen Konsens unmöglich machen. Die Problematik besteht übrigens auf beiden Seiten: Die radikalen Ablehner und Pegida-Beschimpfer, die alle Teilnehmer pauschal als Rassisten bezeichnen, lehnen genau so den Diskurs ab wie die Pegida-Demonstranten selber.
Die letzte Feststellung zeigt, wie fragil auch das Demokratieverständnis bei denen ist, die ständig diese Vokabeln mit hehren Zielen im Munde führen: Man grenzt lieber aus, um das unliebsame Phänomen damit vielleicht auszutrocknen. Dabei habe ich den Eindruck das die Vehemenz der Ablehnung mit dem Produkt der Hilflosigkeit korreliert.
Am Ende komme ich zu der Feststellung, dass diskursethische Verfahren mit der Masse der in ihr involvierten Personen immer schwieriger werden. Die Griechen hatten, wie ich einmal irgendwo las, die Agora begrenzt (m. W. auf 5000 Personen).
Am ehesten wird das Diskursethik-Prinzip noch beim Europäischen Rat angewendet. Formal gibt es zwar die Möglichkeit gegen den gefundenen Konsens zu stimmen, was aber dann nur mehr dazu führt, dass einige Beschlüsse nicht ausgeführt werden. Im Europäischen Rat zeigt sich, dass es unglaublich schwierig bis fast unmöglich ist, die mindestens teilweise divergierenden Interessen der einzelnen Staats- und Regierungschefs in einen tragfähigen und vor allem weiterbringenden Konsens zu überführen.
Seit Jahren verfolgt mich schon die Idee, dass die westlichen Demokratien zwei Formationen etablieren, um daraus eine best mögliche Stabilität zu gewinnen. Der Aufsatz liest sich fast wie eine Erörterung dazu. Der Parlamentarismus und seine (evident) un-egalitäre Fraktionierung, welche die sog. politische Landschaft abbildet, wird mit einer zweiten (offeneren, flexibleren) Formation ergänzt, die politische Öffentlichkeit, resp. der stetige Öffentliche Diskurs. Die 2. Formation steht dem Modell der Agora näher, obwohl der Output nur einen Rationalitätsgrad aufweist, und nicht alle Anforderungen erfüllt. Die Stabilität der Gesellschaft, das immanente demokratische Wohlwollen, lässt sich wohl an diesem Rationalitätsgrad ablesen.
Dies nur dahingestellt, weil ich unterstreichen möchte, dass ein Parallelismus von Rationalität-Subversion auf der einen Seite, und Herrschaftsfreiheit-Macht nicht existiert. Tatsächlich ist es so, wie @Mete schreibt: die Subversion ist sogar eine Modus des rein rationalen Diskurses, weil die Regeln der kommunikativen Vernunft es prinzipiell gestatten, das gesamte Gemeinwesen auf den Prüfstand zu stellen, die Auflösung und Neugestaltung zu planen, und (absoluter Schrecken für die Konservativen) darüber eventuell positiv zu entscheiden. Dazu muss man natürlich die Formation wechseln, d.h. von der Öffentlichkeit ins Parlament übergehen. Dennoch viel zu viel Freiheit, behaupten einige!
Zurück zu meiner verfolgerischen Idee: ich möchte behaupten, die Intention, Stabilität aus dem Duopol Parlamentarismus / Öffentlicher Diskurs zu gewinnen, hat sich als minder erfolgreich herausgestellt. Die Verwirklichung zeitigt inzwischen unerwünschte Effekte: Verunsicherung, Polemik, Abgrenzungen, Skandalismus, etc. Diese Nebenwirkungen sind keine Effekte der Macht an sich, wie man das sozialpsychologisch selbstverständlich erwarten würde. Sondern es handelt sich um gruppendynamische Aspekte bzw. interaktive Resultate. Deleuze sagte einmal: »Haben wir nicht genug Kommunikation (ich ergänze: im reinen und im realen Sinne!)?!–Nein, wir haben eher zuviel davon.«
Mein Einwand wäre, die Erwartung und die Forderung von/nach Rationalität zielt immer auf ein Subjekt, und rückt die gruppendynamischen Aspekte in den Hintergrund. Transzendental-philosophisch gesehen, sind wir doch nicht so allein, wie der Theoretiker annimmt. Anders gesagt: die transzendentale Betrachtung verfehlt die zeitgenössische Problematik, die Unruhe im Getriebe, das Unbehagen über die »Errungenschaften«.
@Gregor
Die Herrschaftsfreiheit muss man vielleicht noch einmal in Ruhe durchdenken: Einerseits gibt es die nicht, weil – den Regeln entsprechend – Argumente den Diskurs entscheiden (können) und damit beherrschen (oder anders: der rationale Diskurs bedeutet Herrschaft, die durch Argumente vermittelt, begründet und wieder revidiert werden kann). — Damit ergibt sich dann der Rest: Damit das und nur das gilt, müssen alle anderen Herrschaftsansprüche zurückgewiesen (oder hintangestellt werden). — Das ist Theorie, in der Praxis stimmt das schon aus psychologischen, sozialen, u.a. Gründen nicht, die oft gar nicht (völlig) ausgeschaltet werden können.
Was Du mit China ansprichst, ist ein Beispiel für das was ich mit Offenheit meinte: Man kann zumindest das klären, wenn sich die Diskutanten darauf einlassen; Menschenrechte sind als eine menschliche Idee nicht per se gegeben; sie können begründet, aber nicht letztbegründet werden (was genauso für die Gegenposition gilt).
Ja, die Ablehnung eines Diskurses gibt es auch von PEGIDA (vielleicht dazu separat etwas). Ich in mir jetzt allerdings nicht sicher ob das für die Politik im Allgemeinen gilt (es ist ja auch dem abträglich was man womöglich erreichen will). Jedenfalls war etwas wie »wir hören euch nicht mehr zu« zu hören. — Dies ist womöglich auch ein Mittel um Aufmerksamkeit zu bekommen.
Auch die Phrase »Wir sind das Volk« gehört in die Kategorie »Demokratieverständnis« (man ist ja doch nur ein sehr kleiner Teil des Volks).
Schon ein Parlament mit 600 Abgeordneten ist eine Herausforderung; die Komplexität kommt zur Masse hinzu; eventuell sprachliche Schwierigkeiten; hier zeigt sich wieder wie wichtig und wie sensibel Medien sind, die viele Menschen erreichen oder Zustimmung bzw. Ablehnung abbilden können.
@die kalte Sophie
Ja, die theoretische Betrachtung lässt einiges außen vor, vielleicht muss sie das, s.o., die Antwort an Gregor (wenn nur das Argument Gültigkeit haben soll).
Kommunikation haben wir vielleicht zu viel (naja: ziemlich sicher), aber Kommunikation ist nicht mit einer sinnvollen Auseinandersetzung gleichzusetzen.
Man wird kaum um diese Zweiteilung herum kommen; man kann Parlamente durch direkte Elemente ergänzen, aber ohne Personen, die sich voll (zeitlich gesehen) den politischen Dingen widmen, wird es nicht gehen (der Komplexität oder Expertise wegen).
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metepsilonema: »Argumente sind widerlegbare Begründungen, die sich an intersubjektiven Ideen und Vorstellungen oder Fakten (Wissen) orientieren«
Was ein Argument ist, muß qualitativ unbestimmt bleiben, weil es sich immer erst im Diskurs herausstellt, was als Argument in Betracht gezogen werden kann. Es gibt nur eine einzige Grundbedingung: Wer eine Meinung äußert, muß auch bereit sein, sie zu begründen. Das bedeutet die Bereitschaft, seine Meinung zur Disposition zu stellen. Die grundgesetzlich geschützte Meinungsfreiheit meint keine Freiheit, an seiner Meinung festzuhalten als wäre sie ein unveräußerlicher Besitz.
Nach dem Fall der Mauer habe ich beobachtet, wie in der Noch-DDR eine ausgesprochene Meinungsfreudigkeit grassierte. Jeder hatte plötzlich eine Meinung und nahm das Recht in Anspruch, sie zu äußern. Das ist sehr nachvollziehbar, hatte man doch zuvor jahrzehntelang diese Möglikchkeit nicht. Allerdings ging diese Meinungsfreudigkeit vielfach mit einer verbissenen Diskussionsverweigerung einher. Insbesondere die fremdenfeindlichen Unterströmungen des ‘Volkes’, das wieder Volk sein wollte, nahmen jeden Versuch, die geäußerten Meinungen zu diskutieren, als einen Angriff auf die Meinungsfreiheit wahr. Das Ritual der Meinungsäußerung verlief so: »Ich bin für oder gegen dies oder jenes! – Das ist meine Meinung.« – Wobei im zweiten Satz das Wort »meine« besonders betont wurde: meine Meinung ist mein Besitz, und keiner hat das Recht, sie in Frage zu stellen! Das ist meine Merinung, basta, Diskussion beendet!
Genau das erleben wir aktuell mit der Pegida-Bewegung. Die Leute gehen auf die Straße, um ihre Meinung zu äußeren. Aber wehe, jemand versucht, die geäußerte Meinung in Frage zu stellen. Das wird dann als ‘Verlogenheit’ der Presse und der Politik denunziert.
Das aber hat, wie gesagt, mit Meinungsfreiheit nichts zu tun. Deshalb, liebe CSU, geht es auch nicht darum, daß man diese verirrten Wahlbürger irgendwie ernst nehmen müßte. Jemand, der nicht bereit ist, seine Meinung zur Diskussion zu stellen, nimmt seine eigene Meinung selbst nicht ernst.
zu #4 Völlig d’accord, eine Vereinfachung der doppelten Demokratie ist nicht praktikabel. Ich wollte zunächst darauf hinaus, dass der Parlamentarismus keine natürliche Basis hat, »Leute wie Du und ich«, Kollegen, Freunde, sondern einem gesellschaftsimmanenten System entspringt. Die Öffentlichkeit weist ebenfalls dieses sozialkonstruktiven Zug auf.
Ich behaupte: es gibt eine Anzahl von Entfremdungs-Mechanismen in der spätmodernen Gesellschaft, und die Politische Öffentlichkeit gehört dazu. Hohe Einstiegsvoraussetzungen, Distanz-Geschehen, chaotische Merkmale (etwa durch Begriffsdoubletten wie »Debatte«, »Politik« = »Politische Klasse«), und vieles mehr. Als Ingenieur darf ich sagen: es funktioniert, aber es funktioniert nicht besonders gut.
Ist Dir mal die (ständig wiederkehrende) Formel bei Habermas aufgefallen, er spricht häufig vom »hemdsärmeligen Niveau«, in das er gerne gewisse Inhalte übersetzt wissen wollte, etwa Themen der EU. Er weist diese Aufgabe Politikern (!) zu, sein Schema lautet immer wie folgt: Die hochfliegenden Analytiker erörtern die Lage, die Politiker, daran teilnehmend, müssen die Debatte abseits runterbrechen, also in einfachen Worten weiter transportieren. Was übrigens keinerlei Folgen für die Entscheidung hat, es kommt genau das raus, was die Großbürgerlichen beschlossen haben. Es geschieht nur der Vollständigkeit halber.
Nun, diese Vorstellungen sind nicht die meinen, ich will sie auch gar nicht diskutieren. Es zeigt nur, dass selbst so ein Elfenbeinturm-Bewohner wie Habermas mitgekriegt hat, dass die Athenische Vollversammlung eine Fiktion ist, und die Demokratie bedeutende Konstruktionsschwächen aufweist. Und deshalb sollte man Pegida nicht nur Dummheit unterstellen. Ein bisschen was haben die schon verstanden...
@Detlef Zöllner
Das von ihnen beschriebene Phänomen ist ja keinesfalls auf die Pegida-Bewegung beschränkt (warum richten Sie einen Appell an die »liebe CSU«?).
Äußern Sie sich doch einfach mal in lockerer Runde positiv zu Atomenergie oder versuchen einige Argumente positiv zur Gentechnik anzubringen. Meinungen sind natürlich die billigste Form der Äußerung (im englischen nennt man sie »my two cents« – manchmal sind sie noch billiger). Sie werden aber – so mein Eindruck – in der Gesellschaft immer häufiger erwartet. Alle sollen zu allem eine »Meinung« haben: Klimawandel, Bio-Lebensmittel, Euro, diverse politische Affären (oder Pseudo-Affären) – ständig wird der Nachrichtenkonsument zu einer Meinung herausgefordert, die im wesentlichen auf »pro« oder »contra« hinausläuft. Grauzonen gelten schon als zu anstrengend.
Der Gipfel ist für mich die in Umfragen immer wieder abgefragte Zufriedenheit mit einzelnen Politikern (»Wie zufrieden sind Sie mit der Arbeit von X?«). Eine solche Frage ist von vornherein eine Meinung, die – wie praktisch! – durch nichts begründet werden muss. Tatsächlich kann sich niemand über die Arbeit des Politikers X oder Y ein seriöses Urteil bilden (oder, maximal, im Einzelfall aufgrund der von ihm vorgebrachten Gesetzesvorlagen oder Redebeiträge).
Die »Meinung« ist also längst zu einer Ramschware geworden; Talmi statt Diamantring. Medien verwechseln Meinung mit einem abgewogenen Urteil; auch in ihren Berichten, die oft ohne grosse Mühe parteiisch sind. Dass nun die Pegida-Leute ihre Meinungen entsprechend äußern und für erwähnenswert halten, ist die Folge einer Verwässerung des politischen Diskurses: Sie glauben, dass »Kartoffel statt Döner« eine relevante politische Aussage ist, die gleichberechtigt zu anderen Äußerungen wahrgenommen werden muss. Das Vorbild finden sie nicht zuletzt in der Politik: »Kinder statt Inder«.
Eine andere Frage ist, ob die zum Teil hysterischen medialen Erregungen in Bezug auf die Pegida-Leute diesen nicht indirekt in die Hände spielt. Plötzlich sind Pauschalurteile an der Tagesordnung. Zurecht hat man jahrzehntelang daran gearbeitet Pauschalierungen im politischen Diskurs abzubauen – jetzt sind alle Pegida-Leute Rassisten oder Nazis. Das ist zwar bequem, hat aber das Niveau derer, die man angreift.
Die gesellschaftspolitische Entscheidung über Pegida ist derweilen gefallen: Sie hat keine Zukunft. Die »Bild«-Zeitung spricht sich gegen sie aus. Das nimmt ihr schon mittelfristig die Luft zum Atmen. Interessant wäre es geworden, wenn es andersherum gekommen wäre.
@die kalte Sophie
Interessant. Würde die These stimmen, könnte man sich zumindest erklären, warum außerparlamentarische Bewegungen (bspw. die Grünen) durch die Einbindung in die parlamentarischen Strukturen vom wilden Wolf sozusagen zu zahmen Haushündchen würden. Und warum in der Kommunalpolitik im Osten die Linken nie ein Schreckgespenst waren, sondern pragmatisch agier(t)en.
In Düsseldorf gab es mal eine Epoche, in der strittige Entscheidungen in Bürgerrefenden zur Abstimmung gestellt wurden (zur »Sicherheit« hatten diese Abstimmungen zuweilen nur eine Bindung von zwei Jahren). Sehr häufig wurde das Quorum, d. h. die Mindestteilnehmerzahl, nicht erreicht. Und dies bei lokalpolitisch kontrovers diskutierten Entscheidungen. Es ist also etwas anderes, mich für oder gegen bspw. den Abriss eines Gebäudes auszusprechen oder an einem Sonntag darüber ein Kreuz in einer Wahlkabine zu machen.
Wie sieht es mit den Wahlbeteiligungen in den vormals kommunistischen osteuropäischen Ländern aus? Schon rund zehn Jahre nach der Wende scheiterten dort Abstimmungen an Mindestbeteiligungen von 50%. Man war müde geworden. Warum? Weil die Alternativen keine sind? Weil es, egal wen man wählt, in einem bestimmten Trott weitergeht?
Meine These geht dahin, dass man einen (wirtschaftlichen, sozialen) Status erreicht hat, den man glaubt nicht mehr verbessern zu können. Daher sind Wahlen »sinnlos« geworden. In Deutschland standen in den 60ern, Anfang der 70er noch richtungspolitische Entscheidungen an. Später ging es nur noch um kleinste Korrekturen – die großen Debatten wie Nachrüstung und Ökologie hatte man in einer neuen Partei »ausgelagert«. Als es 1998 darum ging, eine Ära zu beenden (Kohl abzuwählen), stieg die Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl noch einmal über 80%. Danach gings nur noch Berg ab. Alle wesentliche Ziele sind erreicht.
zu #8 die GRUENEN sind ein gutes Beispiel, sie haben tapfer an der Struktur-Schwelle zwischen Basis und Parteiapparat gekämpft. Aber es gibt keinen dritten Weg, deshalb ging man den Weg allen politischen Fleisches, vom Wolf zum Lamm. Ich bin derselben Meinung: die Partei als Organisation wird immer unterschätzt, alle Parteien sind hierarchisch organisiert, und hochselektiv in der Programmatik. Hier wird die Meinungsvielfalt, die immer existiert, in trockene Tücher gebracht, damit man parlamentarisch handeln kann. Personell, tritt der klassische Funktionär auf den Plan, der Multirollen-Sprecher.
Die PIRATEN sind ebenfalls an der Organisationsschwelle gescheitert. Die Vielfalt bekam die Oberhand, ergo: Ende der Politik!
Ich gehe mit der Demokratie wirklich hart ins Gericht, weil ich aus der marxistischen Schule komme. Die Klassenkämpfe werden nicht durch das demokratische System moderiert, wie man weiland nach dem Krieg eine Zeit lang glauben konnte. Das ist bedauerlich, und ein bisschen peinlich. Extremismus ist eine Folge davon. Man kann sich durchaus fragen: Was war zuerst, Extremismus oder Demokratie?!
#7: (warum richten Sie einen Appell an die »liebe CSU«?)
Ich entschuldige mich für die Polemik mit der CSU. Das richtet sich natürlich nur gegen die CSU (wen sonst), hat aber an dieser Stelle wohl nichts zu suchen.
#9: »Ich gehe mit der Demokratie wirklich hart ins Gericht, weil ich aus der marxistischen Schule komme.«
Ich sehe den Kern der Demokratie im Schutz der Minderheitenrechte. Eine Demokratie ist nicht einfach nur das Recht der Mehrheit über den Rest. Solange ich sagen, was ich will (mit zugehöriger Begründungsbereitschaft), ohne befürchten zu müssen, in irgendeinem Gulag zu landen, bin ich uneingeschränkt für Demokratie.
@Detlef Zöllner
Der Kern der Demokratie liegt weder apodiktisch im Schutz der Rechte von Minderheiten noch von Mehrheiten. Diese Rechte werden idealerweise in gewählten Parlamenten diskursiv ausgehandelt. Eine Demokratie ist, mit Christoph Möllers gesprochen, das Versprechen der Organisation von Herrschaft unter den Bedingungen von Gleichheit und Freiheit seiner Teilnehmer. Bedingung ist ein von allen Seiten als verbindlich anerkanntes Verfahren, politische Entscheidungen durch Wahlen institutionell und repräsentativ durchzuführen. Da Mehrheitsentscheidungen verbindlich sein müssen (sonst bräuchte man sie nicht abzufragen), gibt es in allen funktionierenden Demokratien mehrere Institutionen (Kammern), die eine Mehrheitsdiktatur zu verhindern suchen. Dass Minderheiten per se rechtsbegünstigt sein sollen, ist aber ebenfalls ein totalitärer Ansatz.
Möllers kapriziert sich im übrigen in seinem Buch »Demokratie – Zumutungen und Versprechen« auf den Dissens als wesenhaft. In der Fixierung auf einen Konsens erkennt er eine Art »Verrat« am demokratischen Prozess. Dass seine These nicht ganz aus der Luft gegriffen ist, sieht man u. a. daran, dass in Ländern, in denen über sehr lange Zeit große Koalitionen herrschen, also der Konsens in die politische Arbeit eingewoben ist), die extremen politischen Ansichten zunehmen. Es gibt keinen Dissens mehr, der diskursiv ausgetragen werden kann – alle wissen schon im voraus, wie’s ausgeht.
#11: »Dass Minderheiten per se rechtsbegünstigt sein sollen, ist aber ebenfalls ein totalitärer Ansatz.«
Ich würde beim Schutz von Minderheiten nicht von »Rechtsbegünstigung« sprechen. Es geht nicht um Privilegien, sondern um elementare Menschenrechte. Hier könnte man natürlich wieder zwischen Gruppenrechten und Individualrechten unterscheiden. Aber ich bleibe ganz bescheiden bei meiner Meinungsfreiheit. Das schließt das Recht auf Dissens mit ein. Das würde ich schon irgendwie als wesenhaft bezeichnen. Alles andere ist eine Frage der institutionellen Ausgestaltung.
@Detlef Zöllner
Ja, es geht natürlich immer um »Menschenrechte«. Verzeihen Sie mir, aber ich kann diese Phrase nicht mehr hören, weil sie so wohlfeil daherkommt und irgendwie ausgehöhlt ist.
Meinungsfreiheit ist natürlich elementar, aber die bloße Meinung die geringste und kleinste Währung. Es sollte schon etwas mehr sein.
#13: « Es sollte schon etwas mehr sein.«
Dieses »etwas mehr« besteht in der Verpflichtung, seine Meinung zu rechtfertigen. Ansonsten ist es es doch ein Beleg für den Luxus, in dem wir leben, wenn wir glauben, wir dürften verächtlich auf diese »geringste und kleinste Währung« herabsehen.
@Detlef Zöllner
Warum ich Meinung als kleinste Währung ansehe, habe ich hier ausgeführt. So wäre zum Beispiel meine »Meinung« zu Hawkings Theorie über Schwarze Löcher völlig irrelevant, weil ich davon gar keine Ahnung habe. Sie in einer Umfrage abzufragen und als gleichrangig mit den »Meinungen« von Physikprofessoren zu betrachten und zu gewichten, wäre Blödsinn. In der politischen Berichterstattung wird das aber laufend praktiziert.
Belege für Meinungen beizubringen ist Pflicht, insbesondere wenn es sich um Medien handelt, die darüber berichten. Das Gegenteil passiert: Der Meinungsjournalismus grassiert. Richtig ist, dass mich »Meinungen« kaum mehr interessieren, weil sie fast immer nur Affekte abbilden bzw. erzeugen.
#15
Jetzt wird mir klar, worin unser Dissens besteht. Ihre Wertschätzung richtet sich auf den Expertendiskurs, in dem sich Peers, wie Habermas es nennt, auf Augenhöhe begegnen. Da ist natürlich jeder Laie und Amateur Fehl am Platz.
Ich selbst schätze aber die Autonomie des individuellen Verstandes, der sich im Kantischen Sinne selbst ermächtigt und nicht von Autoritäten einschüchtern läßt. Ich trete also für das Recht des Laien ein, sich mit allen Themen, die ihn interessieren, zu befassen und von den Experten zu fordern, daß sie sich allgemein verständlich ausdrücken. Auch Experten haben eine Rechtfertigungsverpflichtung gegenüber den Laien. Sie dürfen sich nicht auf den Diskurs unter Peers beschränken. Das mag anstrengend sein. Aber das ist kein Grund, diese Verpflichtung mit leichter Hand vom Tisch zu wischen.
@Detlef Zöllner
Ihre Annahme ist falsch. Ich könnte sehr wohl im Hawkings Schwarze Löcher-Theorie eine »Meinung« haben, wenn ich mir entsprechende Kenntnisse angeeignet hätte. Ein Bürger kann sehr wohl die Arbeit eines Bundestagsabgeordneten beurteilen, sofern er seine Informationen nicht ausschließlich aus der Presse bezieht. Diskurs bedeutet natürlich nicht, dass sich nur »Peers« über Themen auslassen dürfen. Aber die Affektmeinung, die den politischen wie sozialen Diskurs in den Medien mittlerweile dominiert, ist mir zu billig.
(Habermas konterkariert seine lehre alleine schon dadurch, dass er sich nahezu unverständlich ausdrückt. Es ist mir auch nicht aufgefallen, dass er jemals außerhalb seines Betriebs den Diskurs über seine Theorien gesucht hat. Er betreibt also das Gegenteil dessen, was er postuliert: einen herrschaftsfreien Diskurs.)
#17
Einverstanden!
Danke für das Gespräch.
Ich möchte die letzten Kommentare gerne aufgreifen, und folgendes bemerken:
Der Begriff »Meinung« kommt in dem Aufsatz von @mete nur 1x vor, da wird nebensächlich von einer falschen Meinung gesprochen, die man unvorsichtig und ungeprüft übernimmt.
Wichtig erscheint mir die Abwesenheit des Meinungsbegriffs überhaupt. Er spielt in dem Entwurf einer Diskursethik gar keine wesentliche Rolle.
Warum ist das so?!
Ich denke, der Grund ist folgender: eine strenge Analogie zwischen wissenschaftlichem und politischem Diskurs ist die Ursache. Die These, ihre Darlegung und Begründung wird mit einer Äußerung im politischen Diskurs uneingeschränkt gleichgesetzt. Daher ist es fast zu schwach, von einem Gefälle der Teilnehmer zu sprechen. Dann stehen sich natürlich die »Peers«, die Großbürgerlichen und Pegida, sprich der einfache Mann von der Straße gegenüber. Ich halte diese Analogie für einen sehr tiefgreifenden Irrtum, was die Politische Philosophie angeht. Dieser Parallelismus beschäftigt/irritiert uns schon länger, wenn mich nicht alles täuscht.
die kalte Sophie
Warum liegt hier ein Irrtum vor? Dass alle Stimmen gleich sind bzw. gleich gewichtet werden?
Ich habe diese Grundannahme der Politischen Philosophie noch nicht vollständig analysiert, aber der wissenschaftliche Diskurs impliziert meiner Ansicht nach keine Pragmatik, die von vorläufigen punktuellen Thesen ausgehend auf akzeptierte Theoreme abzielen könnte. Diese Konsolidierung kann ich auf der theoretischen Ebene nicht erkennen. Es bleibt alles, wie es daherkommt. Thesen sind Säulen, die man nicht in Fundamente umwandeln kann, damit sie eine gesicherte Grundlage abgeben können.
Das entscheidende Kriterium des hypothetischen Denkens (seine pseudo-demokratische Eigenschaft) ist seine Offenheit, seine Verfügbarkeit für jeden, der kompetent genug ist, davon Kenntnis zu nehmen.
Dagegen hat eine Meinung, wenn sie überhaupt zustande kommt, wie in #13 #15 #17 eingegrenzt, einen anhaltenden pragmatischen Charakter. Man will etwas erreichen, etwas ändern. Dabei ist sie immer partikular, und sie bleibt es selbst wenn Entscheidungen zustande kommen, weil die Akzeptanz nicht die 100% Marke erreicht.
–Von Stimmen und deren Mächtigkeit (im Sinne der Mathematik) würde ich überhaupt nicht sprechen. Die Vielfachheit einer Meinung ist doch abzählbar, oder?! Darin besteht ja das demokratische Verfahren.
Wie gesagt, in aller Kürze: Thesen und Meinungen können vermutlich nicht auf ein und dasselbe Diskursmodell zurückgreifen. Das nannte ich einen Irrtum. Es scheint mir nicht plausibel.
Das Grundproblem des hier skizzierten diskursethischen Verfahrens liegt darin, dass es auf den Konsens aller angewiesen ist bzw. erst dann in praktische Politik umgesetzt wird. Demokratische Entscheidungen, wie wir sie verstehen, leben jedoch vom Mehrheitsprinzip, dass in check-and-balances austariert wird, damit es nicht zu einer Mehrheitsdiktatur kommt. Das ist nicht zuletzt ein Gebot des politischen Handelns; ansonsten wäre eine Entschlussfindung kaum noch möglich. Parteien dienen dabei als Bündelung von Interessen und Meinungsströmen. Sie sind natürlich radikale Vereinfacher, denn schon in einer Partei ist es unmöglich, alle Strömungen gleichberechtigt zu integrieren.
Meinungen müssen in Demokratien Mehrheiten finden. Darin liegt allerdings auch ihre Gefahr. Neudeutsch nennt man das »Populismus« (Möllers sieht diese Gefahr kaum), was ausblendet, dass Mehrheitsentscheidung immer irgendwie »populistisch« sind (also mindestens 51 : 49). Der Unterschied besteht darin, ob sich politische Parteien nach den populären Meinungsströmen einfach nur ausrichten oder ob sie für ihre Programmatik Mehrheiten suchen. Ich stelle einmal die These auf, dass Merkel die CDU eher mit den entsprechenden Meinungsumfragen führt; die Programmatik richtet sich nach den Umfragewerten. Deutlich sichtbar war dies im März 2011, als sie von der Befürworterin der Atomkraft binnen Tagen den Ausstieg verkündete. Das hat mit Politik nichts mehr zu tun; mit »Diskurs« ebenfalls nicht.
#21
Nun bin ich doch wieder da, nachdem ich mich schon verabschiedet hatte. Daß Thesen und Meinungen nicht denselben Status haben, scheint mir einleuchtend zu sein. Das bedeutet aber nicht, daß Meinungen nicht begründungsbedürftig wären. Tatsächlich muß man wohl zwischen einem politischen und einem wissenschaftlichen Diskurs unterscheiden.
Ich habe den Meinungsbegriff immer im Sinne von Platon/Sokrates gebraucht: Meinungen unterscheiden sich von Wissen. Meinungen sind unbegründete Wissensbehauptungen und Wissen besteht aus begründeten bzw. begründbaren Behauptungen. Allerdings unterscheidet Sokrates im Menon noch wahre Meinungen. Wahre Meinungen unterscheiden sich vom Wissen dadurch, daß sie nicht begründet werden können, aber trotzdem zutreffen, und von bloßen, aus der Luft gegriffenen Meinungen dadurch, daß ihnen Anschauungen (Erfahrungen) zugrundeliegen. Die Tugend besteht aus solchen wahren Meinungen.
Letztlich landen wir auf diesem Wege bei Husserl/Habermas/Blumenberg, nämlich beim Lebensweltbegriff. Meinung und Lebenswelt gehören eng zusammen. Dann wären Meinungen etwas, das aus der Lebenswelt kommt und über den Diskurs in Argumente verwandelt wird.
@Detlef Zöllner
Schöner Schlußsatz: Meinungen, die »über den Diskurs in Argumente verwandelt« werden. Das ist der hehre Anspruch, der jedoch leider fast vollkommen verloren gegangen zu sein scheint. Meinungen (= unbegründete Aussagen) genügen heute vollends als Legitimation für politische Entscheidungen. Das hat natürlich mit der Rasanz zu tun, in der politische/soziale/ökonomische Diskussionen in den Medien geführt und am Ende trivialisiert werden.
Hinzu kommt, dass der Diskurs nicht mehr voraussetzungsfrei ist, d. h. es kann nur noch systemimmanent diskutiert werden. Wenn ich aber – um nur ein Beispiel zu nennen – den Euro in seiner derzeitigen Ausstattung und Form für unzureichend halte, fließt dieser Aspekt nicht mehr in den Diskurs ein, da die Voraussetzungen andere sind (hier: der Euro ist notwendig, wichtig, usw.). Das wäre an sich kein Problem – schließlich kann nicht jedesmal das Rad neu erfunden werden – wenn nicht vorher das Diskursprinzip verletzt bzw. ignoriert worden wäre.
Mit Begriffen wie »wahren Meinungen« tappt man nur in noch grössere schwarze Löcher. Wer legt denn den Wahrheitscharakter fest? Selbst die Naturwissenschaften haben inzwischen weitgehend das Falsifikationsprinzip akzeptiert. Man sollte sich davon verabschieden, dass politische Entscheidungen immer »wahr« sein müssen: sie bilden vorläufige, sich permanent in Veränderung befindliche Urteile ab.
@ Detlev Danke für den Platon-Hinweis. Genau dieses Modell scheint mir von Platon »in höchster Erklärungsnot« aufgestellt worden zu sein. Es kann aus heutiger Sicht kaum einleuchtend dargestellt werden, was eine »wahre Meinung« sein soll.
Ich bin nicht sicher, ob die Linie Husserl/Blumenberg/Habermas stimmt, aber ich bin auch kein Experte. Einen versteckten Platonismus kann ich mir durchaus vorstellen.
@ Gregor Dass Meinungen Entscheidungen voraus gehen, und mit den Gesetzesänderungen eine eigene Faktizität erreichen, ist klar. Es gehört zur politischen Kultur, nicht alle 4 Jahre sämtliche Uhren zurück zu stellen. Das hat mit Vertragstreue zu tun, die selbstverständlich auch für die Bundesrepublik gilt. Ich glaube, wir sind uns darin einig, dass die eigentlichen Vorgänge der Meinungsbildung zu einem gegebenem Politikfeld kaum noch ernsthaft die Öffentlichkeit beschäftigen. Was genau geschieht eigentlich in diesem Trubel, den wir Öffentlichkeit nennen?! Wurde die Anstrengung der Meinungsbildung ersetzt durch eine »diffuse Referenzialität«, sodass ein Regierungskonzept nach Umfragen (CDU) funktionieren kann... Ich meine das ohne Verschwörungstheorie, das passt doch gut zusammen, –ein schwebender Diskurs und ein planloser Pragmatismus?!
Vielen Danke für die zahlreichen Kommentare. Zu einigen der angesprochenen Aspekte:
@Detlev Zölner
#5
Meinung würde ich im Spektrum von bloßen Setzungen, über Assoziationen hin zu Einschätzungen definieren (verorten). Grundsätzlich ist eine Meinungsäußerung legitim, wenn sie als von allen Beteiligten solche angesehen und verstanden wird. Darüber hinaus hat sie in Demokratien Bedeutung weil sie (faktisch gesehen) für die Organisation von Mehrheiten bedeutsam ist: Was wollen die Wähler? Wie wird dieses oder jenes ankommen? Inklusive aller bekannten negativen Aspekte (Machterhalt und Organisation von Mehrheiten sind Aufgaben von Politikern).
Was als Argument taugt, da möchte ich widersprechen, zeigt sich bereits vor dem Diskurs: Nachdenken, Überlegen, Formulieren, Prüfen, dazu brauche ich kein Gegenüber; die Bewährung in Form einer Auseinandersetzung steht allerdings noch aus. — Argumente sind immer in einen Rahmen (Raum) von Bezüglichkeiten eingebettet, das ist essentiell.
Zu Pegida möchte ich noch einen kurzen Text schreiben, dort können wir gerne weiter diskutieren (dort wird in der Tat viel gemeint; das muss man aber in einen, glaube ich, wichtigen Kontext setzen).
@die kalte Sophie
#6
Einstiegshürden, ja. — Ich habe nichts von Habermas gelesen, kann dazu also nichts sagen, bin aber durchaus verwundert, dass er so eine »top-down Regierung« für gut hält (da muss auf kurz oder lang Misstrauen entstehen). Richtig ist: Spezialisten, z.B. Wissenschaftler, müssen ihr Wissen auf einfache, aber doch korrekte Weise in die öffentlichen Dispute einbringen (in Kommentar #16 ist das schön beschrieben).
#19
Meinung ist vielleicht ein (auch von mir) bislang unterschätzter Ausgangspunkt von Diskursen (oder Überlegungen), etwas wie eine These, eine Idee, die man sich näher ansieht und die dann diskutiert wird.
#21
Vielleicht ist der Begriff »These« unpassend; aber so verschiedene Themen wie die Abwicklung einer Bank (etwa die Hypo-Alpe-Adria) oder der angeführte Atomausstieg, haben gemein, dass wir die zukünftigen Entwicklungen nicht kennen (den gegenwärtigen Stand der Dinge oft recht gut), aber trotzdem eine Entscheidung treffen müssen; das ist typisch für die Politik und völlig untypisch für die Wissenschaft (der Grundlagenforscher weiß nicht was und ob er überhaupt etwas »Brauchbares« findet). — In der Politik geht es mehr um Gewichtung und Bewertung.
@Gregor
#22
In der Realität laufen Entscheidungsfindung und öffentliche Diskussion parallel; sie sind nicht zwingend kausal oder konsensual (hinzu kommt noch der Ausgleich von Interessen, der wichtig für die Gesellschaft ist). Allerdings stoßen politische Entscheidungen, die nicht erklärt, nein: für die Bürger nicht nachvollziehbar sind, auf Ablehnung (da ist die Diskursethik wieder wesentlich). — Genau: Politik ist nicht für Wahrheit zuständig, sondern dafür im einem bestimmten Wissenskontext, die richtigen Entscheidungen für die entsprechenden Gesellschaften zu treffen.
Unter der Überschrift »Was ist ein Diskurs?« schrieb ich das Untenstehende, ohne diesen obigen Artikel schon gelesen zu haben, was ich nunmehr nachholte. Trotzdem und auch deswegen bleibe ich bei folgender, sowohl ernst als auch unernst gemeinten Begriffsbestimmung:
Ein oder gar der Diskurs ist naturgemäß zunächst immer eine unklare Angelegenheit. Ein trübes Gewässer mit einer ungewissen Tiefe. Einer ungewissen Ausdehnung. Ein Fließen, in welche Richtung auch immer, macht den Diskurs nicht klarer. Um klar Fassbares dem Diskurs entnehmen zu können, müssen die frei schwebenden Teilchen, die den Diskurs trüben, stillgelegt werden. Also wird, um im Bild zu bleiben, das Wasser abgelassen von denen, die das vermögen. Stabil Erscheinendes wird so erkennbar, auch wenn es im Matsch steht. Im Dreck. Jetzt geht es darum, das Erkennbare miteinander in Beziehung zu setzen, etwaig vorhandene Verbindungen, Verwandtschaften und Gemeinsamkeiten deutlich zu machen, woraus sich zugleich das Trennende ergeben muss, das Gegeneinanderstehende, das Feindliche. So entstehen deutliche, konkrete Muster, Bezüge, Koalitionen, während zugleich der Matsch, in dem der Diskurs gründet, austrocknet und ein furioses, ein chaotisch anmutendes Netz von Rissen ausbildet. Dann ist der Diskurs an sein Ende gekommen. Und irgendwann kommt das Wasser zurück.
http://nwschlinkert.de/2015/01/08/was-ist-ein-diskurs/
Eine Begriffsbestimmung für den Rahmen der Abhandlung der Autor @mete ja schon in der Fußnote 1 gegeben.
Ich finde die Definition angemessen, konstatierend die Unordnung des gegebenen Öffentlichen Diskurses, dem die Regeln der Diskurstheorie beigelegt werden, um eine positive Entwicklung einzuleiten. Natürlich kann man sich auf den Standpunkt stellen: Chaos gebiert nur Chaos. Aber ich denke, es ist interessant, die immanente Motive der Teilnehmer mit den Regeln des idealen Gesprächs zu vergleichen. Es gibt inkompatible Teilnehmer, es gibt inkompatible Beiträge. Wenn der Öfffentliche Diskurs nicht ein Mindestmaß von Rationalität aufbieten könnte, würde sich ja kein erwachsener Mensch damit beschäftigen.
Zentrale Annahme ist natürlich: ein Mehr an Ordnung bringt Fortschritt. Das bleibt dahin gestellt.
Ein Mehr an Ordnung kann, so wäre anzumerken, zu einer gewissen Starrheit, einer »Austrocknung« des Diskurses führen, zu einer je stattfindenden Fixierung von Positionen in vermeintlich festem Grund. Bezogen auf die Diskussion um Pegida wäre es also meiner Ansicht nach ganz falsch, so lange Beweise dafür zu finden, daß diese Bewegung rechtsextrem und/oder nationalistisch ist, bis sich schließlich alle, »müde« geworden, damit abfinden, nur um endlich »Ruhe« zu haben und sich einzurichten im entstandenen Bild. Wenn jedoch alle, auch die, die gar nicht reden wollen, noch das Gefühl haben, sich ihrer Sache wegen bewegen zu müssen, lebt der Diskurs, und das ist man jedem noch so wütenden oder schlicht denkenden Teilnehmer der Pegida-Demonstrationen schuldig. Ein absolutes Ausgrenzen der sich offensichtlich Ausgegrenztfühlenden (der Ausgegrenzten) führte nur zu Extremismus, und von dem haben wir weiß der Teufel ja wirklich schon genug.
(Interessant auch, daß alle Parteien die anonymen Stimmen der in Dresden Demonstrierenden bei Wahlen gerne einsacken, jetzt aber, wo sie als Menschen sichtbar werden, sich empört abwenden.)
TL;DR: Diskurs ist, wenn’s brodelt.
@Norbert W. Schlinkert
Die Bestimmung zu unscharf, als dass sie konkret und praktisch mit »der Realität« vergleichbar wäre (grundsätzlich sehe ich aber wenig Differenzen). Ein Diskurs braucht Ordnung (Verständlichkeit, Intersubjektivität) wie Unordnung (einerseits der Offenheit, andererseits der Veränderlichkeit wegen).
Für Pegida und nopegida gilt, dass politische Fragen diskursiv entschieden werden (sollten); Gesprächsverweigerungen und Verallgemeinerungen (»Lügenpresse«, »Nazis«) sind auf Dauer kein Mittel, sondern führen, wie Sie schon schrieben, zu Spaltung und zu Extremismus (das ist dann die einzige Kraft, die sich um deren Anliegen kümmert, besser diese für sich nutzbar macht).
@metepsilonema
Was aber, wenn Verallgemeinerungen und Komplexitätsreduzierungen längst zu anerkennten und beiderseitig verwendeten Regelungen des Diskurses internalisiert wurden? Wenn es gar nicht mehr darum geht, gesellschaftliche, ökonomische, ökologische (oder sonstige) Probleme im Detail zu durchdringen? Ich erinnere mich an die Euro-Rettungsprogramme, die vor zwei Jahren in schöner Regelmässigkeit den politischen Mandatsträgern zugingen: Mehr als 1000 Seiten (meist nur in englisch), über die binnen 48 Stunden zu entscheiden sein soll: ja oder nein? Wie kann hier ein Diskurs stattfinden? Wenn schon im Vorfeld die »Lösungen« als »alternativlos« bezeichnet werden und somit das Abstimmungsverhalten in die »richtige« Richtung gelenkt werden sollen.
Das Problematische im Umgang mit Pegida scheint mir tatsächlich darin zu liegen, daß die von »uns« so geschätzten Regeln des Diskurses unterlaufen werden, indem qua Demonstration einer puren Masse unterkomplex agiert wird und zugleich auch individuell sehr emotional, mit einiger Wut nämlich auf »die da oben«, die aber nicht eigens artikuliert werden muß, weil man ja mit anderen Betroffenen zusammen für seine Rechte einsteht. Man bleibt sozusagen unter sich. Bedrohlich dabei ist meiner Ansicht nach vor allem, daß sich Menschen Parolen anschließen, die völliger Unsinn sind, etwa die vermeintliche Islamisierung des Landes betreffend. (Vorläufig haben die sogenannten christlichen Kirchen immer noch viel zu viel Einfluß, aber dagegen protestiert niemand.) Ich kenne aus meiner Kindheit und Jugend (in einem aus heutiger Sicht »trotz allem« kleinbürgerlich-grundoptimistischen Umfeld der 70er und frühen 80er Jahre) diese geballte Wut, die millieubedingt ist, weil durchaus viele Menschen keinerlei Übung haben im Diskutieren und sich sicherlich keine Vorstellungen davon machen, was ein Diskurs überhaupt ist, bewirken soll und zu sein hat. Imgrunde stehen sich die nach einfachen Antworten und einem gelingenden Leben gierenden, einzelnen Menschen (mit Fleißigseindürfen und dem daraus resultierenden guten Ein- und Auskommen usw.) und die tatsächlich überkomplexe Wirklichkeit diametral gegenüber, in der es dann aber, siehe das Beispiel mit den Euro-Rettungsprogrammen und dem absurd anmutenden Prozedere, zwischenzeitlich auch nur noch um Ja oder Nein geht. So wird es dem Volk jedenfalls vermittelt, so als habe das Ringen um eine Entscheidung tatsächlich stattgefunden zwischen denen, die demokratisch gewählt worden sind, während es sich in Wirklichkeit um ein sehr komplexes Sich-Bekämpfen derjenigen handelt, die Macht haben per Wirtschaftskraft. Womöglich finden Diskurse im eigentlichen Sinne überhaupt nicht mehr statt, beziehungsweise erscheinen nur in der Nachbetrachtung noch als solche, weil man sonst das Gefühl hätte, überhaupt nicht mehr beteiligt zu sein.
@Norbert W. Schlinkert
Womöglich finden Diskurse im eigentlichen Sinne überhaupt nicht mehr statt, beziehungsweise erscheinen nur in der Nachbetrachtung noch als solche, weil man sonst das Gefühl hätte, überhaupt nicht mehr beteiligt zu sein.
Das ist m. E. wahre Worte und sie treffen den Zustand ziemlich genau. Für mich sind die hysterischen Reaktionen auf zum Teil tatsächlich blödsinnigen Parolen von Pegida allerdings ebenfalls kein Ruhmesblatt: Die Menschen werden pauschal diffamiert und diskreditiert. Während es doch andererseits überall heisst, man dürfe nicht pauschalisieren...
Tatsächlich wird nicht nur die pekuniäre Schere innerhalb der Gesellschaft immer grösser, sondern auch die soziale und politische. Ich deutete das oben schon einmal an: Wenn man sich – und sei es auch nur als Advocatus Diaboli – in einer Runde eigentlich kluger Menschen einfach mal für Atomkraft, Gentechnik oder TTIP ausspricht – dann kann man ganz schnell das blanke Entsetzen beobachten. Interessant ist dann, dass es kaum mehr Argumente gibt – die bloße Gesinnung reicht schon aus. Dieser mehr oder weniger unausgesprochene Konsens wird von der Politik auf nahezu alle auch nur am Rande als kontrovers ausgemachte Themen angewendet. So verschwindet der Diskurs, bevor er überhaupt einsetzte. So gab es in Deutschland niemals eine Art von Referendum über die Europapolitik. Der Grund ist vermutlich banal: Man wollte sich die Arbeit ersparen, die Wähler von den Vorzügen zu überzeugen.
#33: »Advocatus Diaboli«
Es ist in einer müden, langweiligen Diskussionsatmosphäre sicher belebend, gelegentlich den Advocatus Diaboli zu spielen. Aber ich habe im akademischen Milieu allzu oft erlebt, wie selbstverliebte Diskutanten immer rasch, nur um zu glänzen, provozierende Thesen in den Raum stellten, die sie selbst gar nicht ernst meinten, während die anderen gerade dabei waren, mühsam ein Thema zu entfalten und zu durchdringen. Indem sie ihre Gesprächpartner vor den Kopf stießen, zeigten sie im Grunde nur ihr völliges Desinteresse am Thema und heimsten angesichts der sprachlos gemachten Gesprächspartner schnelle Publikumserfolge – ob nun im Seminar oder auf einer Party – ein.
Ich gehe immer, egal mit wem ich spreche, vom ehrlichen Willen meines Gesprächspartners aus, eine gemeinsame Klärung anzustreben. Vielleicht ist das »blanke Entsetzen«, von der Sie sprechen, nur Ausdruck der Verwirrung darüber, ob jemand wirklich ernst meint, was er sagt, oder ob er – bestenfalls – nur ‘witzig’ erscheinen will?
@Gregor Keuschnig: So langsam scheinen sich die Menschen und große Teile der Medien in der Tat (endgültig?) daran zu gewöhnen, nur noch in Schwarz-Weiß-Mustern zu agieren, Daumen rauf oder runter, like oder nicht like, Freund oder Nichtfreund. Daß ein Prozeß notwendig ist, um von einem Vor-Urteil, einem ersten Eindruck, einem Bauchgefühl zu einem begründeten Urteil zu kommen, daß dafür mitunter Arbeit zu investieren ist, scheint immer mehr vergessen zu werden. Viele Menschen machen lieber einen Deal mit der Realität, lieb sein, funktionieren, Richtiges sagen oder an der richtigen Stelle schweigen, und dafür dann nicht in Hartz-IV abstürzen – das muß für die meisten Belohnung genug sein!
(Zu Hartz-IV: http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/zehn-jahre-hartz-iv-immer-den-staat-im-nacken‑1.2293478 )
Eine wirkliche Diskussion im größeren Rahmen habe ich übrigens schon lange nicht mehr erlebt, weder über Politik noch etwa über Literatur. In der Tat stehen sich entweder Meinungsblöcke gegenüber und man kann schon froh sein, wenn keiner ausfallend wird, oder aber es wird (in Sachen Literatur) beweihräuchert und keiner traut sich, mal was Kritisches zu fragen oder zu sagen – auch ich mach das inzwischen nicht mehr und halt meist meine Klappe, obwohl ich der Meinung bin, daß auch alles Künstlerische bis zu einem gewissen hohen Grade nach Qualitätsmerkmalen bewertet werden muß.
@Detlef Zöllner
Des Teufels Anwalt zu sein halte ich durchaus für ein legitimes rhetorisches Mittel gegen allzu große Selbstgewissheit und Denkfaulheit. Das muss nicht zwingend in Unernst oder Lächerlichkeit ausarten. So gibt ja fast immer auch Argumente zu den scheinbar unumstößlichsten Sicherheiten. Beim Thema Atomkraft habe ich das tatsächlich mal gemacht und argumentierte u. a. mit den Klimavorteilen. Und regelmässig ernte ich Erstaunen, wenn ich für die Legalisierung und koordinierte Verteilung von Drogen Partei ergreife, um damit das organisierte Verbrechen wenigstens auf diesem Sektor auszutrocknen. Das ist keineswegs »witzig« gemeint.
Es gibt ja diesen Mode-Begriff von der »Postdemokratie«. Den könnte man doch in diese Richtung wenden und sagen: Postdemokratie benennt das Verschwinden des Interesses am Öffentlichen Diskurs aus Vernunftgründen. Eine Teilnahme verspricht keinen Effekt, keine Wirkung, da die turbulenten Aktionen bereits die Oberhand haben, und immer zu einer Neutralisierung auch der ernsthaften Beiträge führen. Ich verstehe diesen Verzicht als die Preisgabe der (eigenen) politischen Identität, einen Anteil des eigenen Selbst, der latent bleiben muss, weil er nicht mehr sinnvoll entfaltet werden kann.
Das klingt natürlich wie Defätismus, könnte als »passive Subversion« gedeutet werden. Aber die Frage ist, ob man dazu nicht gezwungen ist. Ich würde diesen Verzicht jedenfalls nicht als »unvernünftig« bezeichnen. Die Vernunft hat ja eine psycho-ökonomische Funktion. Sie ist in der Lage, die Dinge... abzukürzen, bzw. auszusortieren, die sinnlos sind. Zugespitzt: könnte man einen reduzierten Vernunft-Begriff darauf anwenden?!
@die kalte Sophie
Ein reduzierter Vernunftbegriff? Das wäre ja so etwas wie runtergedimmte Aufklärung! Außerdem war es schon immer »vernünftig«, im Sinne des Selbsterhalts, sich mitunter eben nicht der herrschenden Bewegung in den Weg zu stellen. Was aber, wenn mehrere Bewegungen zu herrschen trachten und man als »Neutralo« zerrieben zu werden drohte? Spätestens dann muß man Partei ergreifen oder eine eigene bilden, notfalls auch allein! Ob da nun Sinn drin läge, ist dann eine Frage der Definition von Sinn oder Unsinn.
#36:
Es gibt in Platons »Protagoras« eine Szene, in der Sokrates zu einem Streitgesprüch herausgefordert wird, bei dem das Publikum den Richter darüber spielen soll, wer von beiden der bessere Redner ist. Sokrates lehnt das ab und fordert stattdessen seinen Gesprächspartner dazu auf, sich nur an seinem Gewissen (das Sokrates als Daimon bezeichnet) zu orientieren. Er soll seine Argumentation nicht nach der Gunst des Publikums richten, sondern der gemeinsamen Sache im Gespräch unterwerfen. Ehe ich dem Gesprächspartner Denkfaulheit unterstelle, lasse ich mich besser gar nicht erst auf ein Gespräch ein.
#37 und #38:
Das ist auch die passende Antwort auf so was wie eine »reduzierte Vernunft«: Lieber gar nicht erst in ein Gespräch eintreten, als Abstriche an der Vernunft zu machen. Dann ist Schweigen wirklich besser. Mit reduzierter Vernunft hat dieses Schweigen nichts zu tun.
Ja, Diskurse finden (zumindest teilweise) nicht (mehr) statt, das Thema Rettungsschirm ist ein gutes Beispiel und irgendwann stößt man an Grenzen, das war bei den Verfassungsdiskussionen ähnlich; man muss dann für eine Lektüre der Originaltexte eigentlich Jurist sein, oder Ökonom, usf. — Ohne »Übersetzer« denen man vertrauen kann, die also Sachlichkeit gewähren, ist das nicht zu stemmen, die Resultate sind, wie schon gesagt wurde, »alternativlos« und werden durch die Parlamente gewunken.
Andererseits kann ich nicht sagen, dass das bei allen Themen so ist: Über die Ukrainekrise diskutieren sehr viele; bei uns über die Hypo (ein durchaus komplexes Thema), über die Steuerreform, über das Amtsgeheimnis, also mehr Transparenz, usw.
Im Fall von Pegida sehe ich etwas anderes, einen fundamentaleren und nicht themenbezogenen Ausstieg aus dem Diskurs (Pegida will nicht, weil sie man sich belogen und getäuscht fühlt und die Gegner verweigern ihn, zumindest in Teilen, aus moralischen Gründen, quasi: Mit euch nicht, ihr tretet für die falsche politische Position ein!).
Diskurs ist ein hochtrabendes Wort, vielleicht sollte man Diskussionen sagen, Streitgespräch, was auch immer, ich denke dabei (realiter) an die gesamte Bandbreite politischer Auseinandersetzung, nichts akademisches jedenfalls. — Es stimmt sicherlich, dass es eine Art unausgesprochenen »Konsens« gibt und man sich bei bestimmten Themen automatisch in eine Außenseiterposition begibt (man kann das Konformität nennen). Das ist mit politischen Positionen ähnlich: Kaum einer wird sich in einer Runde als rechts bezeichnen, weil das diskreditiert ist und die Vokabel rechts, rechtsextrem, national, faschistisch und nazistisch immer mehr verschwimmen. Es entstehen dann Verrenkungen wie: Ich bin nicht rechts, aber ... Irgendwo ist das idiotisch, weil jeder ja (insgeheim) trotzdem bei seinen Ansichten bleibt. Mir ist lieber, dass man offen sagt was man denkt, man kann dann diskutieren oder aufstehen und gehen.
»Ich gehe immer, egal mit wem ich spreche, vom ehrlichen Willen meines Gesprächspartners aus, eine gemeinsame Klärung anzustreben.« Ich tue das auch und ich halte das für sehr wichtig.
Zum Advocatus Diaboli: Ich würde das, was Gregor beschreibt, einfach Kritik und Prüfung von Argumenten und Positionen nennen (ja: Faulheit, Bequemlichkeit oder Gemütlichkeit).
@die kalte Sophie
Vernunftverweigerung oder ‑verzicht aus Gründen der Vernunft?
@Detlef Zöllner
Naja, unangenehm kann man schon mal sein und nachbohren, wenn gerade ein paar Phrasen fallen ... das gehört ja zum aufklärerischen Gedanken.
@ 38 & 40 Vernunftverzicht oder Verweigerung aus Vernunft, das trifft beides nicht ganz meine Idee. Eher noch Verweigerung. Aber ich neige zu der Ansicht, dass eine gründliche Analyse der politischen Situation die Entfaltung von »Vernunft« im politischen Handeln nicht wirklich erlaubt. Die angestammten Felder der Vernunft sind die Wissenschaft, das Recht und die Praxis des täglichen Lebens, die Politik kommt erst mit Hegel dazu, und seitdem gibt es auch Kontroversen. Kant hat sich überhaupt nicht für Politik interessiert. Es gibt kein Muss für Politik, und es gibt keine mosaische Garantie dafür, dass Politik überhaupt vernünftig sein kann. Es könnte sich um ein Hybrid, eine Quasinatur handeln.
@ 38 & 40 Vernunftverzicht oder Verweigerung aus Vernunft, das trifft beides nicht ganz meine Idee. Eher noch Verweigerung. Aber ich neige zu der Ansicht, dass eine gründliche Analyse der politischen Situation die Entfaltung von »Vernunft« im politischen Handeln nicht wirklich erlaubt. Die angestammten Felder der Vernunft sind die Wissenschaft, das Recht und die Praxis des täglichen Lebens, die Politik kommt erst mit Hegel dazu, und seitdem gibt es auch Kontroversen. Kant hat sich überhaupt nicht für Politik interessiert. Es gibt kein Muss für Politik, und es gibt keine mosaische Garantie dafür, dass Politik überhaupt vernünftig sein kann. Es könnte sich um ein Hybrid, eine Quasinatur
...handeln.
@ 42 Seit wann hat sich denn Kant nicht für Politik interessiert. Seine philosophische Abhandlung »Zum ewigen Frieden« dürfte ja wohl durchaus Maßstäbe gesetzt haben und ist auch heute noch absolut diskutabel.
http://www.zeno.org/Philosophie/M/Kant,+Immanuel/Zum+ewigen+Frieden.+Ein+philosophischer+Entwurf?hl=zum+ewigen+frieden
Was die Frage angeht, ob Politik vernünftig sein könne oder gar müsse, käme es mir schon sehr darauf an, wie Politik definiert wird. Ich für meinen Teil sehe all das als Politik an, was auf das Gemeinwesen zu wirken Potential hat, bzw. tatsächlich auf es einwirkt. Da es nun zum Beispiel für die meisten Menschen sehr vernünftig ist, die Bevölkerung mit allem Notwendigen zu versorgen und Gewalt und Unfreiheit zu verhindern, und was der Dinge noch mehr sind, liegt die Vernunft dem politischen Handeln absolut zugrunde und ist ihr also immanent. Daß es in der Praxis zu unvernünftigem Handeln kommt, will ich natürlich nicht bestreiten.
Sofern »philosophische Entwürfe« im zarten Alter von 70 Jahren noch als brennendes politisches Interesse ausgelegt werden können...
Es handelt sich um eine vor-demokratische Abhandlung, nach unseren Maßstäben. Kant taxiert die Möglichkeit eines »internationalen Friedenszustand« zwischen repräsentativen quasi-monarchischen Republiken, die rechtsstaatlich verfasst sind. Da kommen heutige Problemstellungen gar nicht vor.
Diskutabel schon, aber nicht relevant.
@ 46, 47 Ich erachte jede grundsätzlich diskutable Aussage als relevant, ganz gleich, ob sie von Heraklit kommt oder von Byung-Chul Han oder von Ihnen oder mir, so lange sie der Thematik einen Gedanken oder eine Sichtweise hinzuzufügen vermag. Schließlich geht es immer um Menschengemachtes. Das Zeitverhaftete sollte natürlich weggeschnitten werden, um zu sehen, was übrig bleibt.
Naja, da ist zum Beispiel der Satz »Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein« (»Erster Definitivartikel«), der zu Zeiten Kants ziemlich exotisch geklungen haben muss, zumal er mit den preußischen Zensuredikten (1788) zu kämpfen hatte (das eher liberale Preußen [für damalige Verhältnisse] endete 1786 mit dem Tod Friedrich II). Die Einschränkung, dass mit »republikanisch« nicht »demokratisch« gemeint ist, ist wohl diesen Zeitläuften geschuldet. Sein Begriff des »republikanischen« beruht auf dem, was man Gewaltentrennung nennt: »Der Republikanism ist das Staatsprinzip der Absonderung der ausführenden Gewalt (der Regierung) von der gesetzgebenden.« Natürlich kann Kant hier nicht aus seiner Haut und dockt an seine philosophischen Schriften an.
Ob er beim Verfassen des Textes 70, 43 oder 17 war, spielt für mich keine Rolle. Kant interessierte sich wohl eher nicht für das, was wir heute Tagespolitik nennen, sondern entwickelte in dieser Schrift eine Art utopisch-strategische Vision. Der Föderalismus freier Staaten, auf dem Kants Konstrukt beruht, ist nicht deswegen gescheitert, weil die UN laufend versagt.
@metepsilonema
Ich glaube, dass man Diskurs und Diskussion (bzw. Debatte) versuchen sollte, zu trennen. Ein Diskurs ist lösungsorientiert; am Ende steht ein Ergebnis, ein politisches, ökonomisches oder gesellschaftliches Problem wird entschieden. Das Ideal ist, dass der Diskurs ergebnisoffen ist. Dabei ist abzusehen, dass sich nie eine Partei alleine »durchsetzen« kann. Im Diskurs wird ein Konsens ermittelt (wobei ein Konsens mehr ist als ein Kompromiß, der beide Seiten unzufrieden zurücklässt). Eine Diskussion ist unter Umständen eine Vorstufe zum Diskurs, hier werden Argumente ausgetauscht. Diskussionen können einen Diskurs anstoßen und/oder befruchten. – Hier ist eine ganz nette Übersicht dazu.
Ich plädiere ebenfalls dafür, Kant’s Aussagen umfassend zu begreifen. Sie haben nicht den Schwierigkeitsgrad resp.Verdunklungsgrad spätmoderner Schriften, und können recht gut verstanden werden.
Das allerdings führt uns direkt ins Zentrum einer höchst einfältigen Staatstheorie, wo fast in jedem Absatz ein »agent collectif« bemüht wird, der genau das sagt, beherzigt oder bestätigt, was Kant im Sinn hat. Das ist philosophisches Bauchredner-Theater.
Es ist doch genau das Fehlen, die absolut vorhersehbare und doch irgendwie bestürzende Abwesenheit eines immanenten kollektiven Subjekts, des berühmten geisterhaften WIRs, –das uns heute so sehr beschäftigt.
»Für das diskursive Regelwerk selbst, ist die Erkennbarkeit der Welt nicht von Nöten, für seine Sinnhaftigkeit ist sie aber Voraussetzung (andernfalls unterhielten wir uns über Einbildungen, Hirngespinste und Täuschungen).«
Politik: Der Versuch, etwas zu »regeln«, was nicht geregelt werden kann, solange es sich durch das vom Kapitalismus befreite Spiel der Marktkräfte nicht selbst regelt.
Mit anderen Worten: In der ganzen politischen Seifenoper unterhält man sich seit jeher und ausschließlich über Einbildungen, Hirngespinste und Täuschungen.
Die Erkennbarkeit der Welt setzt die Überwindung der Religion, den elementaren Erkenntnisprozess der Auferstehung, voraus:
http://www.juengstes-gericht.net