Chri­stoph Möl­lers: De­mo­kra­tie – Zu­mu­tun­gen und Ver­spre­chen

Christoph Möllers: Demokratie - Zumutungen und Versprechen

Chri­stoph Möl­lers: De­mo­kra­tie – Zu­mu­tun­gen und Ver­spre­chen

Wohl kaum ein Be­griff wird im po­li­ti­schen Dis­kurs in­zwischen der­art stra­pa­ziert und in­stru­men­ta­li­siert wie der der De­mo­kra­tie. Da­bei scheint fast je­der ei­ne an­de­re Vor­stellung da­von zu ha­ben, was De­mo­kra­tie ei­gent­lich be­deutet. Ist es ei­ne Art Volks­herr­schaft, in der die Bür­ger ple­biszitär über al­le wich­ti­gen Be­lan­ge di­rekt ent­schei­den? Oder wird die Volks­herr­schaft bes­ser an­hand von Institut­ionen auf ei­ner re­prä­sen­ta­ti­ven Ebe­ne (Par­la­men­te) in­di­rekt vor­ge­nom­men?

Ei­ni­gen er­scheint die De­mo­kra­tie so­gar als ein Export­produkt, wel­ches mög­lichst schnell al­len Men­schen Glück und Wohl­stand brin­gen soll. An­de­rer­seits pla­gen skep­ti­sche Zeit­ge­nos­sen Zwei­fel, ob und wie sie im Zeit­al­ter (soge­nannter) öko­no­mi­scher und po­li­ti­scher Glo­ba­li­sie­rung über­haupt noch funk­tio­nie­ren kann und nicht durch in­ter­national agie­ren­de Un­ter­neh­men und/oder Or­ga­ni­sa­tio­nen un­ter­höhlt und zum Sub-Sy­stem des Ka­pi­ta­lis­mus de­gra­diert wird.

Chri­stoph Möl­lers, Pro­fes­sor für Öf­fent­li­ches Recht an der Uni­ver­si­tät in Göt­tin­gen, hat ein auf den er­sten Blick klei­nes Büch­lein über »De­mo­kra­tie – Zu­mu­tun­gen und Ver­spre­chen« ge­schrie­ben. Man soll­te je­doch vom Um­fang des Bu­ches nicht auf des­sen Ge­halt schlie­ssen: Es hat es durch­aus »in sich«. Denn auf den 125 Sei­ten ent­wickelt Möl­lers 173 (numm­erierte) The­sen. Der er­ste Satz ist je­weils fett ge­druckt. Im wei­te­ren Text wer­den dann die The­sen er­läu­tert und manch­mal in Form le­xi­ka­li­scher Ver­wei­se mit an­de­ren Ka­pi­teln ver­knüpft.

Das Ver­spre­chen

Möl­lers’ Axi­om ist ein­fach: De­mo­kra­tie ist das Ver­spre­chen der Or­ga­ni­sa­ti­on von Herr­schaft un­ter den Be­din­gun­gen von Gleich­heit und Frei­heit sei­ner Teil­neh­mer.

Vor­aus­set­zung da­für ist (1.) die Un­ter­stel­lung von Wil­lens­frei­heit (Möl­lers be­rührt pi­kan­ter­wei­se den phi­lo­so­phi­schen Aspekt die­ser Fra­ge nicht, son­dern ar­gu­men­tiert ein­fach, dass, un­ab­hän­gig da­von, ob die­se freie Wil­le tat­säch­lich exi­stie­re, woll­ten wir doch so be­han­delt wer­den, als hät­ten wir ei­nen um dann gleich zu er­gän­zen: und wir ver­pflichten uns da­zu, auch die an­de­ren ent­spre­chend zu be­han­deln, wenn wir sie als frei an­er­ken­nen) und (2.) das Ver­mö­gen al­ler ei­ge­ne und öf­fent­li­che An­ge­le­gen­hei­ten zu be­ur­tei­len.

Po­li­ti­sches Ur­teils­ver­mö­gen sei, so Möl­lers, kei­ne Fä­hig­keit, die ein­fach mit Aus­bil­dung oder In­tel­lek­tua­li­tät zu­neh­men wür­de. Sie be­trä­fe die ele­men­ta­re Fä­hig­keit, be­ur­tei­len zu kön­nen, was für das ei­ge­ne Le­ben rich­tig und wich­tig ist und was nicht. Ein wört­lich ver­stan­den be­denk­li­cher An­satz, da Möl­lers auch be­tont, De­mo­kra­tie ver­spre­che kein gu­tes Le­ben. Rich­ti­ger­wei­se wird aus­ge­führt, dass, wenn der Maß­stab für das Urteils­vermögen die ei­ge­ne Wohl­fahrt wä­re (die ja nicht nur öko­no­misch zu ver­ste­hen sein muss), demo­kratische Ent­schei­dun­gen letzt­lich nur auf­grund mehr­heit­lich ge­trof­fe­ner Bedürfnis­befriedigungen ge­trof­fen wür­den. Den Ein­wand of­fen­sicht­lich vor­aus­ah­nend er­gänzt Möl­lers dann ein biss­chen sy­bil­li­nisch: Die Sicht auf un­se­re ei­ge­nen Angelegen­heiten ist aber eben­so in­ten­siv wie ver­zerrt. Auf Ar­gu­men­te zu­gun­sten von Äng­sten und Vor­ur­tei­len zu ver­zich­ten ist für al­le ei­ne Ver­su­chung un­ab­hän­gig vom Bil­dungs- und Er­fah­rungs­stand. Aus die­sem Grund traut die De­mo­kra­tie mit der glei­chen Frei­heit al­len die glei­che Ur­teils­kraft zu.

Bür­ger­fer­ne als Vor­teil?

Die­se Vol­te ist mehr als zwei­schnei­dig: Die Er­fah­rung zeigt ja – ge­ra­de in ei­ner media­lisierten Welt – dass die Ar­gu­men­te zu­gun­sten von Äng­sten und Vor­ur­tei­len im­mer wie­der ger­ne her­vor­ge­holt wer­den, ge­ra­de weil sie Mei­nung in ei­ne be­stimm­te Rich­tung zu be­ein­flus­sen mag. Zwar ist es rich­tig, dass der Bil­dungs­grad nichts über die »Verführ­barkeit« in die­se Rich­tung aus­sagt, aber so­zu­sa­gen die Rech­nung auf­zu­ma­chen, dass sich dies ir­gend­wie schon aus­gleicht, ist zu ein­fach. Zu­mal Möl­lers spä­ter be­merkt, dass Be­trof­fe­ne von Ent­schei­dun­gen zwar ih­ren Stand­punkt dar­stel­len sol­len, die­ser aber un­ter Um­stän­den bes­ser aus ei­ner ge­wis­sen Bür­ger­fer­ne (die Möl­lers kom­mu­nal bzw. fö­de­ral ver­steht, nicht zen­tra­li­stisch) her­aus ge­trof­fen wer­den sol­len, da Be­schlüs­se von Be­trof­fe­nen bei­na­he im­mer auch Aus­wir­kun­gen auf an­de­re ha­ben, die dann von die­ser Ent­schei­dung wie­der be­trof­fen wä­ren.

Das klas­si­sche Bei­spiel ist das des Aus­baus ei­ner Stra­sse. Die Ab­leh­nung der Mass­nah­me durch die An­woh­ner des Wohn­ge­bie­tes X hat un­mit­tel­bar zur Fol­ge, dass die Stra­sse an­ders­wo, in Y oder Z, ge­baut wer­den muss – und dort zu ähn­li­chen Re­ak­tio­nen führt. Und im Gro­ssen führt Möl­lers aus, dass der in­zwi­schen sehr stark ge­wor­de­ne Ein­fluss des Bun­des­ra­tes auf die Bun­des­po­li­tik höchst pro­ble­ma­tisch ist, da er, der Bun­des­rat, hier­für schlicht­weg nicht le­gi­ti­miert ist: Er ist zu ei­nem nicht­öf­fent­li­chen Bun­des­ge­setz­ge­ber ge­wor­den, des­sen Mit­glie­der für Lan­des­po­li­tik ge­wählt wur­den. […] Er schafft we­der in den Län­dern noch im Bund mehr De­mo­kra­tie, weil in ihm Herr­schaft für ei­ne Ebe­ne von de­nen aus­ge­übt wird, die für ei­ne an­de­re Ebe­ne ge­wählt wur­den. (Die­se Kri­tik ist kei­ne grund­le­gen­de Sy­stem­kri­tik am Fö­de­ra­lis­mus.)

Dis­ku­tier­bar ist auch die De­fi­ni­ti­on von Gleich­heit. De­mo­kra­ti­sche Gleich­heit wird strikt in Be­zug auf die po­li­ti­sche Frei­heit der In­di­vi­du­en ver­stan­den; sie darf nicht mit Gleich­macherei ver­wech­selt wer­den. Das de­mo­kra­ti­sche Ver­spre­chen der Gleich­heit be­zieht sich nur auf die Frei­heit. Gleich­heit be­deu­tet, so Möl­lers, eben nicht ei­ne Nivell­ierung bei­spiels­wei­se von pe­ku­niä­ren Mit­teln, die dem Bür­ger zu­ste­hen. Wer mehr Gleich­heit ver­langt, stellt die De­mo­kra­tie in Fra­ge, weil er be­reits vor­gibt, was doch erst demo­kratisch ent­schie­den wer­den soll. Die Gleich­heit, so Möl­lers, frisst dann die Frei­heit auf. Wir bleiben…unterschiedlich – auch in den Mög­lich­kei­ten, aus un­se­rer demo­kratischen Frei­heit et­was zu ma­chen. Und wenn er auf ei­ne So­li­da­ri­tät als Teil des demo­kratischen Ver­spre­chens hin­weist, so ist da­mit nicht die Ga­ran­tie ei­nes be­stimm­ten Lebens­standards ge­meint, son­dern nur – nur? – die Grund­la­gen, die es er­lau­ben, Entscheid­ungen tref­fen zu kön­nen.

Gu­te Grün­de schaf­fen kei­ne de­mo­kra­ti­sche Legitim­ation. – Grund­sätz­li­che Skep­sis, aber kei­ne Angst vor Po­pu­lis­mus

Kei­ne Angst hat Möl­lers da­bei vor dem, was man ge­mein­hin »Po­pu­lis­mus« nennt: Po­pu­lis­mus und De­mo­kra­tie sind zu un­ter­schei­den, nicht zu tren­nen. Das klingt nur auf den er­sten Blick harm­los. Denn wenn ei­ne de­mo­kra­ti­sche Ent­schei­dung als un­po­pu­lär wahr­ge­nom­men wird – von Me­di­en und auch Po­li­ti­kern – und Men­schen auf die Stra­ße ge­hen, um ge­gen ei­ne Ent­schei­dung des de­mo­kra­ti­schen Wil­lens zu pro­te­stie­ren, dann ge­hö­ren trotz­dem all die­se Äu­sse­run­gen – so Möl­lers – nicht zum de­mo­kra­ti­schen Wil­len. Die Be­grün­dung ist ver­blüf­fend: Wir ha­ben nicht si­cher­ge­stellt, dass ei­ne Mehr­heit sich hier äu­ßert. Wir ha­ben kein Ver­fah­ren, dass aus sol­chen Äu­ße­run­gen ei­ne Ent­schei­dung ma­chen könn­te. Viel­leicht un­ter­stützt ei­ne schwei­gen­de Mehr­heit trotz des über­wältigenden ge­gen­tei­li­gen Ein­drucks wei­ter­hin die um­strit­te­ne po­li­ti­sche Entscheid­ung. Viel­leicht hat ei­ne gut or­ga­ni­sier­te Min­der­heit die öf­fent­li­che Wahr­nehmung un­ter Kon­trol­le be­kom­men.

Das be­deu­tet aber nicht, dass »po­pu­li­sti­sche Strö­mun­gen« kei­ne Re­le­vanz für die De­mo­kra­tie hät­ten. Sie ha­ben de­mo­kra­ti­sche Be­deu­tung oh­ne de­mo­kra­ti­sche Form. Die­se Form, so ist Möl­lers’ Axi­om kon­stru­iert, müs­sen sie al­ler­dings in demo­kratische Ver­fah­ren über­füh­ren, denn An­spruch auf Le­gi­ti­ma­ti­on in ei­ner De­mo­kra­tie hat nur der for­ma­li­sier­te de­mo­kra­ti­sche Wil­le, wenn er un­ter den Be­din­gun­gen der Gleich­heit und Frei­heit ar­ti­ku­liert wer­den kann (in­ter­es­san­ter Ex­kurs im Buch: Da die Zu­stim­mung in ei­ner Dik­ta­tur dem Herr­scher bzw. Sy­stem ge­gen­über nicht un­ter den Be­din­gun­gen der Gleich­heit und Frei­heit zu­stan­de kommt, ist sie – für Möl­lers – nicht le­gi­ti­miert, auch wenn das Sy­stem »po­pu­lär« sein soll­te).

Al­les ei­ne Fra­ge der Le­gi­ti­ma­ti­on

Mit ähn­lich kri­ti­scher Di­stanz be­trach­tet Möl­lers den Ein­fluss von Nichtregierungs­organisationen (NROs): Je nä­her in­ter­na­tio­na­le Or­ga­ni­sa­tio­nen der Frei­heit von In­di­vi­du­en kom­men, de­sto dring­li­cher stellt sich die Fra­ge nach ih­rer Le­gi­ti­ma­ti­on. Tat­säch­lich ist der Ein­wand, dass in­ter­na­tio­na­le Or­ga­ni­sa­tio­nen man­gels de­mo­kra­ti­scher Ver­fah­ren und rechts­staat­li­cher Kon­trol­le wenn sie dann Herr­schaft aus­üben soll­ten, schlech­ter kon­trol­liert sei­en als de­mo­kra­ti­sche Rechts­staa­ten, nicht so schnell von der Hand zu wei­sen.

Wohl ge­merkt: Der Man­gel de­mo­kra­ti­scher Le­gi­ti­ma­ti­on hat nichts da­mit zu tun, dass Or­ga­ni­sa­ti­on A in sich de­mo­kra­tisch or­ga­ni­siert ist. Die Dis­kre­panz für Möl­lers be­steht dar­in, dass die­se Le­gi­ti­ma­ti­on nur von den Mit­glie­dern von A aus­ge­übt wur­de und da­mit die Prin­zi­pi­en der Gleich­heit (= Par­ti­zi­pa­ti­on al­ler) und Frei­heit ver­letzt wur­den. Zwar kön­nen und sol­len NROs sehr wohl da­zu bei­tra­gen, ei­ne glo­ba­le Pro­blem­wahr­neh­mung zu ent­wickeln und da­mit so et­was wie die zar­te Knos­pe ei­ner glo­ba­len de­mo­kra­ti­schen Iden­ti­tät er­schaf­fen. Aber all die­se Bei­trä­ge er­set­zen nicht die Le­gi­ti­ma­ti­on demo­kratischer Staa­ten (so lan­ge – das führt Möl­lers in an­de­ren Ka­pi­teln aus – die Legitim­ation von fö­de­ra­len Staa­ten­bun­den wie EU oder den Ver­ein­ten Na­tio­nen der­art un­strukturiert und ne­bu­lös sind wie im Mo­ment).

Denn letzt­lich ver­tre­ten NROs mit ih­ren An­lie­gen nur be­stimm­te Spe­zi­al­in­ter­es­sen. Dar­in sind sie – bei al­lem gu­ten po­li­ti­schen Wil­len – von mul­ti­na­tio­na­len Kon­zer­nen nicht zu un­ter­schei­den. Möl­lers sträubt sich ge­gen ei­ne for­ma­li­sier­te Rechts­stel­lung von NROs in in­ter­na­tio­na­len Or­ga­ni­sa­tio­nen. Im Er­geb­nis ent­stün­de ei­ne Art ega­li­tä­rer Kor­po­ra­tis­mus. Ei­ne ein­deu­ti­ge Ab­sa­ge an das Ex­per­ten­ge­spräch, in dem sich Fach­leu­te über ein be­stimm­tes Pro­blem aus­tau­schen und oh­ne ega­li­tär Ver­fah­ren zur »rich­ti­gen« Lö­sung kom­men.

Äu­sserst skep­tisch ar­gu­men­tiert Möl­lers dem­zu­fol­ge auch, wenn po­li­ti­sche Entscheid­ungen im Ge­wand der Ex­per­ti­se da­her­kom­men und Le­gi­ti­ma­ti­on be­an­spru­chen, wie dies bei­spiels­wei­se bei OECD-Stu­di­en der Fall ist. Die Ge­fah­ren wer­den stu­pend ana­ly­siert: Die Welt der in­ter­na­tio­na­len Ord­nung be­steht aus ei­ner Fül­le sol­cher öf­fent­li­chen und pri­va­ten Agen­tu­ren, die Pro­gramm ent­wickeln, Ge­set­ze schrei­ben, die nur noch von Staa­ten über­nom­men wer­den müs­sen. De­mo­kra­ti­sche Staa­ten bau­en Ord­nun­gen nach, die ih­nen von in­ter­na­tio­na­len Or­ga­ni­sa­tio­nen vor­ge­ge­ben wur­den, oh­ne dass des zu er­ken­nen wä­re: von Bil­dungs­stan­dards bis zu Ka­pi­tal­markt­re­geln. Hin­ter die­sen Or­ga­ni­sa­tio­nen ste­hen wie­der­um an­de­re, zu­meist west­li­che Staa­ten, die ih­re Mo­del­le ex­por­tie­ren. Hier ent­steht auf un­sicht­ba­rem Weg ei­ne Art re­gu­la­to­ri­scher Mo­no­kul­tur. Und Möl­lers scheut in die­sem Zu­sam­men­hang auch von post­de­mo­kra­ti­schen Welt­ent­wür­fen zu spre­chen.

De­mo­kra­tie ist nicht Herr­schafts­lo­sig­keit

Die Be­to­nung, die Möl­lers auf »Herr­schafts­form« in Be­zug auf De­mo­kra­tie an­wen­det, ist deut­lich: Die De­mo­kra­tie ver­spricht kei­ne Herr­schafts­lo­sig­keit. Wo De­mo­kra­tie ist, wird Herr­schaft sicht­bar und aus­drück­lich. De­zi­diert ar­gu­men­tiert er ge­gen an­ar­chi­sche Herr­schafts­lo­sig­keits­mo­del­le und ver­weist sie ent­we­der ins Reich des Idea­lis­mus oder er­kennt dar­in – voll­kom­men schlüs­sig – to­ta­li­tä­res Den­ken.

Das Er­fri­schen­de an die­sem Buch ist un­ter an­de­rem, dass Möl­lers die De­mo­kra­tie nicht ver­klärt – im Ge­gen­teil. Ge­ra­de die gröss­ten Fein­de der De­mo­kra­tie wür­den die­se idea­li­sie­ren und ho­he Er­war­tun­gen schü­ren, um dann die un­ter Um­stän­den »kümm­erlichen« Re­sul­ta­te ge­gen sie zu wen­den. Möl­lers macht kei­nen Hehl aus Interessen­konflikten, die in de­mo­kra­ti­schen Ge­sell­schaf­ten auf­tre­ten. Et­wa das Pro­blem, dass die Ent­schei­dung für De­mo­kra­tie in ge­wis­sem Rah­men zu­nächst die Frei­heit ein­zu­schrän­ken droht, et­wa in dem sie zu Ko­ope­ra­tio­nen mit der Ge­mein­schaft zwingt. Oder dass ei­ne voll­stän­di­ge De­mo­kra­ti­sie­rung der Ge­sell­schaft die De­mo­kra­tie zer­stö­ren wür­de und ein Wi­der­spruch zwi­schen pri­vat aus­ge­üb­ter Herr­schaft und de­mo­kra­ti­scher Ord­nung an­er­kannt wer­den muss (er bleibt die De­fi­ni­ti­on der Gren­zen die­ser pri­va­ten Herr­schaft lei­der schul­dig, ob­wohl er sehr wohl er­kennt, dass zu vie­le Räu­me au­to­ri­tä­rer Pri­vat­heit die de­mo­kra­ti­sche An­er­ken­nung be­hin­dern).

Aber wenn ich den an­de­ren brau­che, um mei­ne Selbst­be­stim­mung zu ver­wirk­li­chen, dann er­wei­tert ge­mein­sa­mes Han­deln die Reich­wei­te mei­ner Frei­heit – so heisst es ein biss­chen ver­zückt. Wich­tig da­bei: De­mo­kra­ti­scher Wil­le ist…Resultat ei­ner Verfahrens­form glei­cher Frei­heit. Durch die de­mo­kra­ti­sche Wil­lens­bil­dung wer­den Ver­fah­ren zum Aus­druck ge­bracht, nach de­nen sich ei­ne Ge­mein­schaft or­ga­ni­siert (es gibt an­fäng­lich ge­wis­se Pro­ble­me bei Möl­lers die­ses wir als Ge­mein­schaft zu de­fi­nie­ren).

Re­prä­sen­ta­tiv vs. »ex­pres­siv«

Sehr stark ge­wöh­nungs­be­dürf­tig und letzt­lich un­deut­lich bleibt die The­se von der Ex­pres­si­vi­tät der de­mo­kra­ti­schen Wil­lens­bil­dung. Kern der Be­trach­tung ist, dass de­mo­kra­ti­sche Wil­lens­äu­sse­run­gen nicht ab­bil­den, was be­reits be­stand, son­dern zum Aus­druck brin­gen, was in Ver­fah­ren erst ent­steht. (Ei­ne Art dia­lek­ti­scher Pro­zess ist da­mit si­cher­lich nicht ge­meint.)

De­mo­kra­tien sind nicht re­prä­sen­ta­tiv, son­dern ex­pres­siv, so lau­tet das Er­geb­nis. Be­er­digt wird da­mit die The­se, de­mo­kra­ti­sche Ent­schei­dun­gen spie­gel­ten das Be­stehen­de ein­fach »nur« wi­der. Wir soll­ten auf­hö­ren zu glau­ben, der de­mo­kra­ti­sche Wil­le re­prä­sen­tie­re et­was au­sser­halb sei­ner selbst. Statt­des­sen sei er Aus­druck ei­ner ge­mein­sa­men Pra­xis und ent­steht durch In­sti­tu­tio­nen, die wir für de­mo­kra­ti­sche Po­li­tik ein­ge­rich­tet ha­ben. Es gibt nicht erst ein Volk – und dann sei­nen Wil­len. In ei­ner Pra­xis schaf­fen wir ei­nen Wil­len, des­sen Au­tor – al­so uns – wir als Volk be­zeich­nen kön­nen. Das nennt Möl­lers in An­leh­nung an ei­nen Sprach­ge­brauch aus der Sprach­phi­lo­so­phie ex­pres­si­ve De­mo­kra­tie.

Das »Ex­pres­si­ve« der De­mo­kra­tie ist – dar­an lässt Möl­lers’ Em­pha­se kei­nen Zwei­fel – ein pro­zes­sua­ler Akt, ge­schaf­fen in de­mo­kra­ti­schen (oft ge­nug lang­wie­ri­gen) Ver­fah­ren (und üb­ri­gens stän­di­ger Ver­än­de­rung un­ter­wor­fen, wes­halb er nach­hal­ti­gen Ent­schei­dun­gen kri­tisch ge­gen­über­steht). De­mo­kra­ti­scher Wil­le ist nicht der Spie­gel et­was Äu­ßer­li­chen. Zwar schreibt Möl­lers de­zi­diert ge­gen den ehe­ma­li­gen Ver­fas­sungs­rich­ter Böcken­för­de und sein Mo­dell der re­prä­sen­ta­ti­ven De­mo­kra­tie an, aber was ge­nau mit die­ser Ex­pres­si­vi­tät ge­meint ist, bleibt ne­bu­lös (in der Fuss­no­te wird auf eng­lisch­spra­chi­ge Li­te­ra­tur ver­wie­sen).

Kei­ne Angst vor der Mehr­heit?

Di­rekt mit der Fra­ge »re­prä­sen­ta­tiv oder ex­pres­siv« kor­re­spon­diert auch der ei­gent­li­che Punkt, den Möl­lers lan­ge um­kreist: die Mehr­heits­ent­schei­dung. Das Wort taucht nur we­ni­ge Ma­le buch­stäb­lich auf, ob­wohl es na­tür­lich im­mer mit­schwingt. Zum er­sten Mal auf Sei­te 31 im Punkt 37, der über­schrie­ben ist mit Kon­sens ist kein de­mo­kra­ti­sches Ide­al und wei­ter heisst es: Der Wil­le der ein­fa­chen Mehr­heit ist nicht we­ni­ger de­mo­kra­tisch als der Wil­le der qua­li­fi­zier­ten. Und lan­ge muss man über die Re­le­vanz vom fol­gen­dem nach­den­ken: Ent­schei­dun­gen mit ein­fa­cher Mehr­heit, 51 ge­gen 49, er­hö­hen für al­le die Chan­ce, zur Mehr­heit zu ge­hö­ren. Ein Plä­doy­er für das Mehr­heits­wahl­recht? Bedauer­licherweise äu­ssert sich Möl­lers aus­ge­rech­net nicht zu Wahl­rechts­fra­gen.

Viel spä­ter, wenn es um die de­mo­kra­ti­schen Gren­zen der De­mo­kra­tie geht, liest man ver­blüfft, dass die Angst vor der Ty­ran­nei der Mehrheit…in der De­mo­kra­tie un­be­grün­det sei. Sie re­sul­tie­re dar­aus, dass Ge­sell­schaf­ten mit to­ta­li­tä­ren Er­fah­run­gen der De­mo­kra­tie im­mer auch das Schlimm­ste zu­trau­en wür­den. Ein Sei­ten­hieb auf die häu­fig hi­sto­risch be­grün­de­te Vor­sicht, Macht in zu ein­deu­ti­gen Mehr­hei­ten zu kon­zen­trie­ren. Non­cha­lant über­geht Möl­lers al­ler­dings, dass die­ser Aus­druck be­reits im 19. Jahr­hun­dert for­mu­liert wur­de.

Für ei­ne De­mo­kra­tie im hier ver­stan­de­nen Sinn, für Ord­nun­gen, die de­mo­kra­ti­sche Gleich­heit durch Rechts­form si­chern, ist die­se An­nah­me [die Ty­ran­nei der Mehr­heit] aber we­der sy­ste­ma­tisch plau­si­bel noch em­pi­risch be­leg­bar. De­mo­kra­tien schüt­zen Rech­te von Min­der­hei­ten bes­ser als an­de­re Ord­nun­gen, so Möl­lers, der das da­mit be­grün­det, dass aus Min­der­hei­ten Mehr­hei­ten wer­den kön­nen. Schlüs­sig er­scheint das nur zum Teil. Wenn es sich bei­spiels­wei­se um eth­ni­sche oder re­li­giö­se Min­der­hei­ten han­delt, de­ren In­ter­es­sen ver­han­delt wer­den (zu dem viel­leicht noch oh­ne Mög­lich­kei­ten der di­rek­ten Par­ti­zi­pa­ti­on die­ser Min­der­hei­ten – wo­zu Möl­lers je­doch pro­gres­si­ve Vor­schlä­ge un­ter­brei­tet, die bei­spiels­wei­se da­hin ge­hen, steu­er­zah­len­den Bür­gern das Wahl­recht un­ab­hän­gig von ih­rer Na­tio­na­li­tät zu ver­lei­hen und da­mit die Teil­nah­me nicht län­ger zu ver­weh­ren), dann ist mit ei­nem Um­schlag von der Min­der­heit zur Mehr­heit nur in sehr lan­gen Zeit­läuf­ten zu rech­nen.

Dis­sens statt Kon­sens

Da­bei ist die vor­her be­reits zi­tier­te Äu­sse­rung, dass Kon­sens kein de­mo­kra­ti­sches Ide­al dar­stellt, viel­leicht der Schlüs­sel zum Ver­ständ­nis. Möl­lers’ Skep­sis des Kon­sens ge­gen­über ist strin­gent be­grün­det: In de­mo­kra­ti­schen Aus­ein­an­der­set­zun­gen be­steht die Gelegen­heit, Po­si­tio­nen dar­zu­stel­len und ver­ständ­lich zu ma­chen, sie wei­ter­zu­ent­wickeln und so­gar zu be­grün­den. Ein po­li­ti­scher Kon­sens er­for­dert nichts von al­le­dem. Legi­timation kann ein Zu­stand aber nur be­an­spru­chen, so­weit be­wusst über ihn ent­schie­den wur­de. Nach­drück­lich preist Möl­lers die de­mo­kra­ti­sche Iden­ti­tät von bi­po­la­ren Konflikte[n]. Kon­sens sei nur für Fra­gen zu ha­ben, die nie­man­dem be­wusst sind oder kei­nen in­ter­es­sie­ren. De­mo­kra­ti­sche Iden­ti­tä­ten ent­ste­hen an Kon­flik­ten.

Denn ein Dis­sens, über den ent­schie­den wur­de, schafft mehr Le­gi­ti­ma­ti­on als ein Kon­sens, über den nicht ent­schie­den wur­de. Wie kaum sonst im Buch schim­mert hier das dis­kur­si­ve Ele­ment der De­mo­kra­tie durch (über die Funk­ti­on und Aus­ge­stal­tung von Me­di­en fin­det man ent­täu­schend we­nig im Buch). In­dem Möl­lers be­schreibt, wie im­pli­zi­te Kon­sen­se un­ter Um­stän­den schnel­le Pro­blem­lö­sun­gen an­bie­ten, je­doch durch die Aus­sparung be­wuss­ter Ent­schei­dungs­fin­dung kei­ne Le­gi­ti­ma­ti­on be­an­spru­chen kön­nen, und als Bei­spiel die arg »kon­sen­su­el­le« Art der deut­schen Eu­ro­pa­po­li­tik her­an­zieht, wird sei­ne In­ten­ti­on deut­lich: Es mag gu­te Grün­de und noch bes­se­re In­ter­es­sen für die eu­ro­päi­sche In­te­gra­ti­on ge­ben, aber wir hat­ten man­gels de­mo­kra­ti­scher Ausein­andersetzung nie Ge­le­gen­heit, sie ken­nen­zu­ler­nen. So bleibt die eu­ro­päi­sche In­te­gra­ti­on in Deutsch­land ei­ne Art Na­tur­er­eig­nis und die Zu­stim­mung zu ihr ein auf die Dau­er eher zu­fäl­li­ger Um­stand, auf den man erst ver­trau­en könn­te, wenn sich ei­ne Ge­gen­an­sicht ar­ti­ku­liert hät­te.

Wer al­so von vorn­her­ein mit dem Kon­sens statt mit dem Wil­len zur po­li­ti­schen Kon­flikt­aus­tra­gung ins Ren­nen geht, »ver­rät« den de­mo­kra­ti­schen Pro­zess. Die­se The­se ist nicht neu und wird bei­spiels­wei­se von Ralf Dah­ren­dorf ver­foch­ten. Möl­lers ver­säumt es lei­der, die Dif­fe­renz zwi­schen Kon­sens und Kom­pro­miss ge­nau­er her­aus­zu­ar­bei­ten. Die Ne­ga­ti­on ei­nes prä-kon­sen­su­el­len Dis­kur­ses hat mit der Ak­zep­tanz von Kom­pro­mis­sen nichts zu tun. Aus­drück­lich ver­wehrt sich Möl­lers da­her ge­gen das so schnell ge­brauch­te At­tri­but »faul« im Zu­sam­men­hang mit Kom­pro­mis­sen. Dies wür­de be­deu­ten, es gäbe…so et­was wie ei­ne »rei­ne« po­li­ti­sche Ent­schei­dung. Und letzt­lich folgt das Be­dürf­nis nach ei­ner kom­pro­miss­lo­sen de­mo­kra­ti­schen Entscheidung…der au­to­ri­tä­ren Fik­ti­on ei­nes rei­nen po­li­ti­schen Wil­lens.

Im­pe­ra­ti­ve Ver­pflich­tung oder Di­stanz?

Möl­lers’ Ver­fech­tung des Mehr­heits­prin­zips kol­li­diert al­ler­dings mit­un­ter mit sei­nem »Ver­fah­rens­mo­tiv«. Zwar wird deut­lich, dass die Un­ab­hän­gig­keit des po­li­ti­schen Man­dats­trä­gers, des Ab­ge­ord­ne­ten, so­wohl vom Wil­len sei­ner Par­tei, als auch von dem der Wäh­ler die Vor­aus­set­zung sei­ner Ver­ant­wort­lich­keit dar­stellt und dem­zu­fol­ge unab­dingbar ist. Wo­bei na­tür­lich die Fra­ge der Ver­ant­wort­lich­keit ge­klärt wer­den müss­te: Wer legt die­se fest? Wor­in be­steht sie? Ist sie – die Ver­ant­wort­lich­keit – ein­klag­bar? Wohl kaum. Wenn der Ab­ge­ord­ne­te nur sei­nem Ge­wis­sen ver­ant­wort­lich ist (was Möl­lers nicht aus­drück­lich wie­der­holt) – wer kann die­se Ver­ant­wort­lich­keit ein­kla­gen? Und letzt­lich: Wenn je­mand nicht ein­mal sei­nen Wäh­lern »ver­ant­wort­lich« ist – was zählt denn dann das Man­dat noch? Wer zieht die Gren­ze zwi­schen im­pe­ra­ti­vem Man­dat und Frei­heit des Ab­ge­ord­ne­ten, d. h. wer zieht die Gren­ze der Le­gi­ti­ma­ti­on und der »Will­kür« ei­nes Man­dats­trä­gers?

Aber wei­ter: Möl­lers bricht so­wohl ei­ne Lan­ze für ei­ne ge­wis­se Di­stanz zur Welt des Par­la­ments als Teil ei­ner Ar­beits­tei­lung (durch die Ge­wal­ten­auf­tei­lung) und auch Bü­ro­kra­tie ist für ihn mehr als nur ei­ne ne­ga­ti­ve prak­ti­sche Fol­ge idea­ler An­for­de­run­gen an de­mo­kra­ti­sche Ver­wal­tun­gen, son­dern als Preis für Selbst­be­stim­mung an­zu­se­hen, weil Ver­wal­tun­gen Be­tei­lig­te an­hö­ren, nie­man­den dis­kri­mi­nie­ren und ihr Tun so dokumen­tieren, dass es nach­voll­zieh­bar und kon­trol­lier­bar ist (trans­pa­rent wird die­se Argu­mentation, wenn man sich ver­ge­gen­wär­tigt, dass man Ver­wal­tung im­mer dann for­dert, wenn sie ei­ge­nen In­ter­es­sen die­nen soll – und als »bü­ro­kra­tisch« ab­lehnt, wenn sie die­sen zu­wi­der läuft). Und auch der Mut zur Wahr­heit, ein Stück Re­si­stenz ge­gen Po­pu­lis­mus ist un­ter Um­stän­den not­wen­dig, in dem be­schränk­te Hand­lungs­mög­lich­kei­ten of­fen zu be­nen­nen sind und ein­fach zu­zu­ge­ste­hen, dass nach man­chen Er­eig­nis­sen nichts ge­tan wer­den kann .

All die­se Ar­gu­men­ta­tio­nen, ei­ne Art Plä­doy­er für ei­nen po­li­ti­schen Weit­blick der de­mo­kra­tisch le­gi­ti­mier­ten Or­ga­ne, los­ge­löst von Par­ti­ku­lar­in­ter­es­sen, sind ge­wiss ver­nünf­tig. Aber ist De­mo­kra­tie nach Ver­nunft­grün­den prak­ti­zier­bar? Möl­lers be­zwei­felt das (Der Zu­sam­men­hang zwi­schen De­mo­kra­tie und Ver­nunft [bleibt] schwach und kann von der Ent­schei­dungs­lo­gik de­mo­kra­ti­scher Po­li­tik ein­fach über­wu­chert wer­den.) Da­mit stellt er aber un­ter Um­stän­den auch das Pri­mat der Ur­teils­fä­hig­keit des Bür­gers wie­der in­fra­ge. Denn wenn die Ent­schei­dungs­lo­gik de­mo­kra­ti­scher Po­li­tik dann doch popu­listischen Ma­xi­men folgt – ob­wohl viel­leicht wi­der bes­se­res Wis­sen -, dann liegt der »Feh­ler« nicht aus­schliess­lich beim Man­dats­trä­ger, son­dern min­de­stens ge­nau so beim Bür­ger. Wenn sich aber die Man­dats­trä­ger – wie oben be­schrie­ben, der Welt ein Stück ent­rücken sol­len, tref­fen sie viel­leicht we­ni­ger »po­pu­li­sti­sche« Ent­schei­dun­gen – ver­lie­ren je­doch un­ter Um­stän­den ih­re Mehr­heit. Den Man­dats­trä­ger für die Dau­er sei­nes Man­da­tes un­ter Um­stän­den in ei­nen hö­he­ren ge­sell­schaft­li­chen Rang zu be­för­dern, wür­de letzt­lich den Gleich­heits­grund­satz in­fra­ge stel­len (in der Pra­xis gibt ja bei­spiels­wei­se sehr wohl die Im­mu­ni­tät).

Opu­lenz – lei­der nicht bei der Haupt­ar­gu­men­ta­ti­ons­li­nie

Das Buch ent­hält ei­ne Fül­le in­ter­es­san­ter An­sich­ten. Möl­lers’ Art, schlag­wort­ar­tig zu poin­tie­ren (oh­ne da­bei al­ler­dings zu tri­via­li­sie­ren), lie­fert so man­ches Bon­mot. Et­wa, wenn er die Not­wen­dig­keit der Ge­wal­ten­tei­lung dar­legt (Par­la­men­te ha­ben das er­ste Wort, Ge­rich­te das letz­te.). Oder wenn er so­wohl ge­gen den zi­vi­len Un­ge­hor­sam Stel­lung be­zieht (Wer ge­gen de­mo­kra­ti­sche Ge­set­ze zum Wi­der­stand auf­ruft, bricht die Gleich­heit der de­mo­kra­ti­schen Ge­sell­schaft. Er gibt sei­nem An­lie­gen mehr Ge­wicht als dem der an­de­ren – ein ty­pi­sches In­tel­lek­tu­el­len­phä­no­men.) als auch ge­gen ver­schwur­bel­te Not­stands­ar­gu­men­ta­ti­on von Po­li­ti­kern po­le­mi­siert (Die Be­ru­fung auf über­ge­setz­li­chen Not­stand durch de­mo­kra­ti­sche Amts­trä­ger ist ein rhe­to­ri­scher Staatstreich…) und der Di­cho­to­mie Frei­heit ver­sus Si­cher­heit ei­ne kla­re Ab­sa­ge er­teilt (…be­ruht auf ei­ner Ka­te­go­rien­ver­wechs­lung). Sei­ne Aus­füh­run­gen zum Völ­ker­recht und Menschenrechts­fragen sind eben­falls pro­non­ciert – et­wa wenn er schreibt, dass in­ter­na­tio­na­ler Menschenrechtsschutz…sich auf ein zi­vi­li­sa­to­ri­sches Mi­ni­mum be­schrän­ken soll­te.

Lei­der gibt es auch mit­un­ter är­ger­li­che Wi­der­sprü­che, wie bei­spiels­wei­se die Aus­füh­run­gen zu Volks­ent­schei­den. Am An­fang steht Möl­lers die­sen skep­tisch ge­gen­über: Die Be­ant­wor­tung ei­ner Fra­ge mit ja oder nein in ei­ner Volks­ab­stim­mung zwingt zu klä­ren, wer de­mo­kra­tisch le­gi­ti­miert ist, sol­che Fra­gen an al­le zu stel­len. Und an­ders als Par­la­men­te oder Volks­ver­samm­lun­gen ha­ben Volks­ab­stim­mun­gen kei­nen in­sti­tu­tio­nel­len Ort, an dem die de­mo­kra­ti­sche Wil­lens­bil­dung ver­ste­tigt wer­den kann. Letzt­lich wird durch die Di­cho­to­mie ja/nein die Mög­lich­keit von nu­an­cier­ter Auseinander­setzung und Kom­pro­miss­bil­dung aus­ge­schlos­sen. Dann ir­gend­wann die The­se, Re­ferenden könn­ten für be­deu­ten­de völ­ker­recht­li­che Ver­pflich­tun­gen, et­wa für die Ver­tie­fung der EU oder den Bei­tritt der Welt­han­dels­or­ga­ni­sa­ti­on ge­bo­ten sein, um de­mo­kra­ti­sche Le­gi­ti­ma­ti­on in au­ssen­po­li­ti­schen Fra­gen zu ge­ne­rie­ren (war­um das Ar­gu­ment ge­gen »ja/nein«-Entscheidungen jetzt nicht mehr gilt, bleibt of­fen). Und ge­gen En­de des Bu­ches dann ei­ne end­gül­ti­ge Wen­de: die Ab­nei­gung ge­gen Volks­ab­stim­mun­gen sei über­holt, und sie könn­ten das Be­wusst­sein für die Be­deu­tung de­mo­kra­ti­scher Po­li­tik he­ben. Da hät­te man sich mehr Strin­genz ge­wünscht.

Ve­he­ment wird der Au­tor, wenn er auf die Igno­ranz und Dis­kre­di­tie­rung gro­sser Tei­le der In­tel­lek­tu­el­len hin­sicht­lich der deut­schen De­mo­kra­tie­tra­di­ti­on hin­weist. Man le­se, so echauf­fiert sich Möl­lers, auf ei­nem staat­lich fi­nan­zier­ten Denk­mal des Künst­lers Hans Haacke Zi­ta­te von Ro­sa Lu­xem­burg. Die er­ste frei ge­wähl­te Na­tio­nal­ver­samm­lung in ei­nem de­mo­kra­ti­schen Deutsch­land be­zeich­ne­te sie als »über­leb­tes Erb­stück bür­ger­li­cher Re­vo­lu­tio­nen« und »Hül­se oh­ne In­halt«. Au­to­ri­tä­re Geg­ner der Wei­ma­rer Re­pu­blik hät­ten die­ser par­la­ments­feind­li­chen Be­wer­tung si­cher zu­ge­stimmt. Im­mer­hin de­mon­striert die­ser öf­fent­lich fi­nan­zier­te an­ti­par­la­men­ta­ri­sche So­zi­al­kitsch un­se­re de­mo­kra­ti­schen Tra­di­ti­ons­lo­sig­keit be­son­ders deut­lich.

Die Fül­le der Phä­no­me­ne, die Möl­lers kom­men­tiert, ist be­acht­lich. Ob der Bun­des­prä­si­dent jetzt vom Volk ge­wählt wer­den soll oder nicht, ist si­cher­lich in­ter­es­sant, ist je­doch we­ni­ger in dem Sin­ne we­ni­ger re­le­vant, weil man sich ei­gent­lich nä­he­re Aus­füh­run­gen der Haupt­ar­gu­men­ta­ti­ons­strän­ge von Möl­lers’ Denk­ge­bäu­de ge­wünscht hät­te. Im Lau­fe des Bu­ches be­kommt man im­mer mehr das Ge­fühl, der Au­tor möch­te lie­ber noch den ein oder an­de­ren Ne­ben­schau­platz kom­men­tie­ren. Im selbst­iro­ni­sie­ren­den Vor­wort be­schreibt Möl­lers zwar die Dis­kre­panz zwi­schen dem Wunsch, wie die­ses Buch sich ent­wickeln soll­te – und dem tat­säch­li­chen Re­sul­tat, aber das ist ein biss­chen fi­shing for com­pli­ments.

Den­noch ist »De­mo­kra­tie – Zu­mu­tun­gen und Ver­spre­chen« ein sehr lehr­rei­ches, im Gro­ssen und Gan­zen leicht (aber nicht seicht) ge­schrie­be­nes Buch; fast ei­ne Art Va­de­me­cum. Es ist höchst an­re­gend – auch und vor al­lem dort, wo man mit den An­sich­ten des Au­tors nicht über­ein­stimmt und/oder die ei­ge­nen Stand­punk­te plötz­lich ins Wan­ken ge­ra­ten. Da­bei ist es auf ei­ne be­ru­hi­gen­de Wei­se bar je­dem hoh­len Pa­thos­ge­re­de sonn­täg­lich ge­stimm­ter Po­li­ti­ker oder Ver­bands­funk­tio­nä­re. Das Buch könn­te die not­wen­di­ge und wich­ti­ge De­bat­te um un­se­re De­mo­kra­tie be­för­dern. Un­ab­ding­bar hier­zu wä­re es al­ler­dings, dass sich ei­ni­ge Me­di­en wie­der mehr auf ih­ren Auf­klä­rungs­auf­trag kon­zen­trie­ren und sol­che – im De­tail durch­aus kon­tro­ver­sen und auch un­an­ge­neh­men The­sen – auf­neh­men, ei­ner brei­ten Öf­fent­lich­keit vor­stel­len und dis­ku­tie­ren. Al­so fast ge­nau das Ge­gen­teil des­sen, was im Mo­ment ge­schieht.


Al­le kur­siv ge­druck­ten Pas­sa­gen sind Zi­ta­te aus dem be­spro­che­nen Buch.

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  1. Wenn De­mo­kra­tie das Ver­spre­chen der Or­ga­ni­sa­ti­on von Herr­schaft un­ter den Vor­aus­set­zun­gen von Frei­heit und Gleich­heit ist, dann muss sie doch im sel­ben Mo­ment auch Ver­pflich­tung zur Par­ti­zi­pa­ti­on an den öf­fent­li­chen Be­lan­gen sein, sonst kann sie auf kurz oder lang nicht funk­tio­nie­ren.
    In je­dem Fal­le ist die­se Be­stim­mung (Ver­spre­chen) sehr at­trak­tiv, da sie die In­stru­men­ta­li­sie­rung der De­mo­kra­tie – qua­si als »Kro­ne al­ler Staats­for­men« – durch die dar­in ent­hal­te­ne Un­si­cher­heit von vorn­her­ein aus­schließt.

    Dan­ke für den Bei­trag, ich wer­de mich (hof­fent­lich) noch zu dem ei­nen oder an­de­ren Punkt äu­ßern. In je­dem Fal­le lehr­reich.

  2. Ich weiss nicht ge­nau, was Du mit Ver­pflich­tung zur Par­ti­zi­pa­ti­on meinst.

    Die »nor­ma­le« Par­ti­zi­pa­ti­on des Bür­gers fin­det bei Möl­lers durch in­sti­tu­tio­nel­le Wahl­ver­fah­ren statt, die aber – nach sei­ner Dik­ti­on – nicht un­be­dingt Volks- oder Bür­ger­ent­schei­de sein müs­sen. Es reicht ihm (häu­fig ge­nug), dass die In­sti­tu­tio­nen de­mo­kra­tisch le­gi­ti­miert sind.

    Bleibt die Teil­nah­me an den Wah­len aus, ist das – so in­ter­pre­tie­re ich ihn – nicht un­be­dingt ei­ne Fra­ge der Le­gi­ti­ma­ti­on. Ob nun 40% Wahl­be­tei­li­gung oder 80% – das spielt kei­ne Rol­le. Denn die 60%, die nicht zur Wahl ge­gan­gen sind, hat­ten die Mög­lich­keit, von der sie – aus un­ter­schied­lich­sten Grün­den – kei­nen Ge­brauch ge­macht ha­ben. DAS be­klagt Möl­lers (wie ich ihn le­se) nicht.

  3. Ich mein­te fol­gen­des
    De­mo­kra­tie funk­tio­niert mei­nes Er­ach­tens nicht, wenn sie ein­sei­tig »ge­wich­tet« ist, was ein Ver­spre­chen not­wen­di­ger Wei­se ist (ich ver­spre­che Dir et­was, das nimmt Dich aber nicht in die Pflicht). Kurz­um: Geht »kei­ner« mehr wäh­len, oder ver­ebbt der öf­fent­li­che Dis­kurs (et­wa das, was man mit De­mo­kra­tie­mü­dig­keit be­zeich­net), dann wird die »po­li­ti­sche Ka­ste« auf kurz, oder lang ihr »Süpp­chen ko­chen«, dann wird sich Kor­rup­ti­on breit­ma­chen, oder be­stimm­te Grup­pen ih­re In­ter­es­sen durch­setz­ten – die über­wie­gen­de Mehr­heit kümmert’s nicht (mehr).

  4. Was ist dran an »De­mo­kra­tie­ver­dros­sen­heit«?
    Die SPD-na­he Fried­rich-Ebert-Stif­tung (FES) hat die »De­mo­kra­tie­ver­dros­sen­heit« in ei­ner ak­tu­el­len Stu­die (Zu­sam­men­fas­sung; PDF-Do­ku­ment) un­ter­sucht. Ich hal­te die Schlüs­se in An­be­tracht der Fra­ge­stel­lun­gen für ge­wagt:

    S. 8 – Ein­stel­lun­gen zur Re­form­po­li­tik
    Lei­der ist nicht de­fi­niert, wie Re­form­po­li­tik de­fi­niert wird, d. h. ob sie aus­schliess­lich im Sin­ne von Schrö­ders »Agen­da 2010« ge­se­hen wird. In den 70er Jah­ren hat­te »Re­form« ei­ne ganz an­de­re Kon­no­ta­ti­on. Wel­che wird aber bei Zu­grun­de­le­gung die­ser Fra­ge be­rück­sich­tigt?

    S. 9 – Fra­ge zur Ein­schät­zung der Funk­ti­ons­wei­se der De­mo­kra­tie
    Neu­lich wur­de be­reits in ei­ner Um­fra­ge von in­fra­test di­map in der »Ta­ges­schau« mit gro­ssem Tha­ter­don­ner die­se Fra­ge ge­stellt (»Deutsch­land am Ran­de der De­pres­si­on« hiess es da – und »Ver­trau­ens­ver­lust in das de­mo­kra­ti­sche Sy­stem«). Aber ein »Nein« auf die Fra­ge »Sind Sie mit dem Funk­tio­nie­ren der De­mo­kra­tie zu­frie­den« be­deu­tet per se ja noch nicht, dass man mit der De­mo­kra­tie an sich un­zu­frie­den ist bzw. die­se ab­lehnt, son­dern zu­nächst ein­mal, dass man die Funk­ti­ons­fä­hig­keit der ak­tu­el­len de­mo­kra­ti­schen Man­dats­trä­ger bzw. In­sti­tu­tio­nen kri­tisch hin­ter­fragt. (Ich hät­te durch­aus auch mit »Nein« ant­wor­ten kön­nen, wenn ich ge­fragt wor­den wä­re.)

    In­dem man je­doch sug­ge­riert, dass da­durch die De­mo­kra­tie an sich ab­ge­lehnt wür­de, trägt man zu dem Ef­fekt bei, den man un­ter­sucht und be­klagt.

    Ge­ne­rell zeigt die Stu­die die FES-Stu­die, dass rechts- und links­extre­me An­hän­ger Wert und Pro­blem­lö­sungs­kom­pe­tenz der De­mo­kra­tie in­fra­ge stel­len. Das ist – wenn man sich die Pro­gram­ma­tik die­ser Par­tei­en ab­sieht – kei­ne so gro­sse Über­ra­schung. Ei­nen Trend kann man hier­aus nur in­so­fern ab­lei­ten, als es zu ei­ner Art Teu­fels­kreis kom­men kann: Im Ma­ße, wie die­se Par­tei­en bei Wah­len an Zu­stim­mung ge­win­nen, wird die Dis­kus­si­on um »De­mo­kra­tie­ver­dros­sen­heit« Nah­rung er­hal­ten.

    Die auf­ge­stell­te The­se, dass so­zia­le Dis­pa­ri­tät zum De­mo­kra­tie­ver­druss führt (S. 15), lässt lei­der au­sser acht zu klä­ren, wie De­mo­kra­tie ei­gent­lich ver­stan­den wird. Ich glau­be, dass – auch auf­grund von me­dia­ler Ver­mitt­lung – De­mo­kra­tie land­läu­fig als ei­ne Mi­schung zwi­schen ei­ner Art Wohl­fahrts­he­do­nis­mus, Teil­ha­be des Ein­zel­nen an der ka­pi­ta­li­sti­schen Öko­no­mie und ei­nem dif­fu­sen Un­ver­ständ­nis de­mo­kra­ti­scher Pro­zes­se ge­gen­über (= Ob­rig­keits- bzw. Füh­rer­den­ken) ver­stan­den wird. Die Sehn­sucht nach kla­ren, ein­fa­chen und vor al­lem schnel­len Pro­blem­lö­sun­gen ist in An­be­tracht der häu­fig kom­pli­zier­ten Ver­fah­ren gross. Hin­zu kommt – we­nig­stens in Deutsch­land – das ka­ko­pho­ni­sche Kon­zert der po­li­ti­schen Klas­se, die – oft ge­nug be­rech­tigt – als in­ter­es­sen­ge­lei­tet wahr­ge­nom­men wird.

    Möl­lers weicht die­ser Pro­ble­ma­tik nicht aus. Wenn ich ihn rich­tig ver­stan­den ha­be, dann stellt er letzt­lich auch die Fra­ge nach der Er­war­tung an »die De­mo­kra­tie«. er warnt aus­drück­lich vor über­zo­ge­nen Er­war­tun­gen. Das oft schwül­sti­ge Ge­re­de, die »toll« denn die De­mo­kra­tie ist, lässt ver­ges­sen, dass es sich um ei­nen Pro­zess han­delt, der – hier­auf müss­te man viel mehr Ak­zent le­gen – ein Ge­ben und Neh­men ist.

  5. Was dran ist...
    Das Wort »Re­form« an sich ist neu­tral, hat aber mitt­ler­wei­le wohl ei­ne eher ne­ga­ti­ve Kon­no­ta­ti­on (»man re­for­miert, aber nichts wird bes­ser«). In­so­fern ist das Er­geb­nis – die ver­brei­te­te ne­ga­ti­ve Ein­stel­lung ge­gen­über Re­for­men in so­zia­len Schich­ten die die­se ei­gent­lich be­grü­ßen müss­ten – nicht ganz über­ra­schend (ob die­se Ein­stel­lung nun be­grün­det ist, oder nicht, ver­mag ich nicht zu be­ur­tei­len).

    Du hast na­tür­lich Recht: Man darf nicht von der der­zei­ti­gen Un­zu­frie­den­heit ge­gen­über dem Funk­tio­nie­ren der De­mo­kra­tie auf ei­ne Un­zu­frie­den­heit mit der De­mo­kra­tie im all­ge­mei­nen schlie­ßen. Man darf auch nicht ver­ges­sen: De­mo­kra­tie­ver­dros­sen­heit ist ei­ne auf­sehenser­re­gen­de (und auf­la­gen­för­dern­de, und da­mit gern ge­se­he­ne) Schlag­zei­le.

    Aber ich mein­te ei­gent­lich nicht die ak­tu­el­le Si­tua­ti­on in Deutsch­land, oder an­ders­wo, son­dern grund­sätz­lich: Kann De­mo­kra­tie funk­tio­nie­ren, wenn sich die Bür­ger in ih­rer über­wie­gen­den Mehr­heit nicht mehr da­für in­ter­es­sie­ren? Län­ger­fri­stig kann ich mir das nicht vor­stel­len, und wenn Möl­lers sie als – ein not­wen­di­ger Wei­se ein­sei­ti­ges – Ver­spre­chen ver­steht, heißt das (ent­ge­gen mei­ner Po­si­ti­on): Ja, sie wür­de trotz­dem funk­tio­nie­ren. Dein »Ge­ben und Neh­men« ist eher zu­tref­fend.

    Was man von der De­mo­kra­tie er­war­tet (er­war­ten kann, in Gren­zen), ist, in ei­nem Wort: Ge­rech­tig­keit.

  6. Es gab vor sehr lan­ger Zeit ein­mal ein Fern­seh­spiel, in dem es um ei­nen Wahl­abend nach der Bun­des­tags­wahl ging. Die Poin­te war: Schnell stell­te sich ei­ne Wahl­be­tei­li­gung von 5% her­aus (ich weiss nicht, ob das wirk­lich stimmt – viel­leicht wa­ren es auch 8%; die Sen­dung ist Jahr­zehn­te alt und ich ha­be sie nie mehr ge­se­hen). Der Witz be­stand dar­in, dass na­tür­lich et­li­che Be­ob­ach­ter die Le­gi­ti­mi­tät die­ser Wahl an­zwei­fel­ten, wäh­rend die Po­li­ti­ker der sieg­rei­chen Par­tei (Ko­ali­ti­on) da­von nichts wis­sen woll­te.

    Letzt­lich ist Dei­ne The­se na­tür­lich rich­tig: Wenn die Bür­ger (die ja mehr als nur Wäh­ler sind) sich kon­ti­nu­ier­lich und dau­er­haft aus der Par­ti­zi­pa­ti­on ent­fer­nen, dann gibt es ir­gend­wann ein Le­gi­ti­ma­ti­ons­pro­blem. Das oben ge­nann­te Bei­spiel ist ein Ex­trem, aber wir ha­ben in Deutsch­land schon Kom­mu­nal­wah­len mit 40% Wahl­be­tei­li­gung. Die Prä­si­den­ten­wah­len in den USA er­rei­chen (mei­nes Wis­sens) kaum über 50%.

  7. An­ders for­mu­liert
    Was Du als Le­gi­ti­ma­ti­on an­sprichst, kann man – von der an­de­ren Sei­te ge­se­hen – auch als Recht­fer­ti­gung für das ei­ge­ne Tun, und als Mo­ti­va­ti­on, be­zeich­nen: Po­li­ti­kern, die – im Ide­al­fall – für die Ge­rech­tig­keit al­ler strei­ten, kommt mit stei­gen­dem Des­in­ter­es­se der Wäh­ler, die Mo­ti­va­ti­on für ihr ei­ge­nes Han­deln ab­han­den, und auf kurz oder lang, wird man im­mer mehr ei­ge­ne In­ter­es­sen und Ab­sich­ten ver­fol­gen (»Da mei­ne »Ar­beit für al­le« nicht ge­schätzt wird, ar­bei­te ich von nun an in die ei­ge­ne Ta­sche, in­ter­es­sie­ren tut es oh­ne­hin nie­man­den«).

  8. Ist Möl­lers’ Gleich­heit (hin­sicht­lich der Frei­heit der Bürger)als grund­le­gen­de zu ver­ste­hen, d.h. be­deu­tet sie nur, dass al­le Bür­ger Wil­lens­frei­heit be­sit­zen müs­sen, da­mit De­mo­kra­tie funk­tio­niert, oder macht er ir­gend­wel­che er­gän­zen­den Aus­sa­gen (man könn­te z.B. fest­stel­len, dass man­che Bür­ger zwar Wil­lens­frei­heit be­sit­zen, aber ih­re Par­ti­zi­pa­ti­ons­mög­lich­kei­ten be­schränkt sind, weil sie bei­spiels­wei­se auf Grund ih­rer öko­no­mi­schen Si­tua­ti­on nicht das­sel­be Maß an Bil­dung, oder den glei­chen Zu­gang zu be­stimm­ten Me­di­en ha­ben; sie kön­nen zwar wäh­len, aber ihr Ur­teil wird ver­mut­lich ein­ge­schränkt sein. Und vi­ze ver­sa: an­de­re, öko­no­misch bes­ser ge­stell­te Per­so­nen, ha­ben mög­li­cher Wei­se Vor­tei­le.)? Muss es nicht ei­ne ge­wis­se Gleich­heit ge­ben (ich mei­ne hier auch kei­ne »Gleich­ma­che­rei«, aber zu­min­dest ein »Fun­da­ment« an dem al­le teil­ha­ben kön­nen, so sie wol­len)? Wil­lens­frei­heit mag un­ab­ding­ba­re Grund­la­ge sein, aber ist sie al­lei­ne hin­rei­chend?

  9. Gleich­heit à la Möl­lers
    Auf Sei­te 16 heisst es (Punkt 12): De­mo­kra­ti­sche Gleich­heit ist nicht Gleich­heit. Die de­mo­kra­ti­sche Gleich­heit be­trifft nur ei­ne spe­zi­fi­sche, wenn auch sehr wich­ti­ge un­se­rer Ei­gen­schaf­ten: eben un­se­re po­li­ti­sche Frei­heit. An­son­sten blei­ben wir un­ter­schied­lich – auch in den Mög­lich­kei­ten, aus un­se­rer de­mo­kra­ti­schen Frei­heit et­was zu ma­chen. Es ist et­wa für den­je­ni­gen ein­fa­cher, ih­re glei­che Frei­heit zu nut­zen, die gut re­den kön­nen oder wohl­ha­bend sind. Trotz­dem be­schränkt sich die De­mo­kra­tie im Aus­gangs­punkt auf die Gleich­heit der Frei­heit.

    Das ist na­tür­lich in höch­stem Mas­se an­greif­bar, weil Möl­lers da­mit ex­pli­zit ei­ne Art Aus­gleich zwi­schen »un­glei­chen« ge­sell­schaft­li­chen Schich­ten nicht an­ta­stet. Er geht so­gar wei­ter: Wer mehr Gleich­heit ver­langt, stellt die De­mo­kra­tie in Fra­ge, weil er be­reits vor­gibt, was doch erst de­mo­kra­tisch ent­schie­den wer­den soll. Die Gleich­heit frisst dann die Frei­heit auf.

    Im wei­te­ren Ver­lauf be­schäf­tigt er sich kurz mit Carl Schmitt (das las­se ich mal weg), um dann fort­zu­fah­ren: Aber ge­ra­de Kon­flik­te, die ja nicht sel­ten durch Un­gleich­heit zwi­schen Ar­men und Rei­chen oder zwi­schen Eth­ni­en ent­ste­hen, sind ein Grund für de­mo­kra­ti­sche Herr­schaft. De­mo­kra­ti­sche Wil­lens­bil­dung braucht stets ei­nen Raum der Wi­der­sprü­che. Über an­de­re Gleich­heits­pro­ble­me, über so­zia­le Un­ge­rech­tig­keit, über glei­che Er­zie­hung, ist auf der Grund­la­ge de­mo­kra­ti­scher Gleich­heit zu ent­schei­den. Ei­ne Ge­mein­schaft mag sich das Ziel so­zia­ler Gleich­heit set­zen und ei­ne be­stimm­te Wirt­schafts­po­li­tik vor­neh­men, um die­ses Ziel zu er­rei­chen. So­lan­ge bei­des um­strit­ten ist, muss dar­über de­mo­kra­tisch ent­schie­den wer­den. De­mo­kra­ti­sche Gleich­heit geht in der De­mo­kra­tie al­ler an­de­ren Gleich­heit vor.

    Das ist na­tür­lich har­ter To­bak für In­ter­ven­tio­na­li­sten je­der Art.

    Der Kern­satz im zwei­ten Ab­satz ist mei­ner Mei­nung nach:
    Über an­de­re Gleich­heits­pro­ble­me, über so­zia­le Un­ge­rech­tig­keit, über glei­che Er­zie­hung, ist auf der Grund­la­ge de­mo­kra­ti­scher Gleich­heit zu ent­schei­den.

    Ist die­se Idee so schlecht (nur weil sie nicht be­son­ders zeit­ge­mäss scheint)?

  10. Nein, ist sie nicht. Ich ha­be nur ver­sucht ei­nen Ein­wand zu for­mu­lie­ren.
    Und es ist wahr­schein­lich die ein­zi­ge ehr­li­che Mög­lich­keit, denn öko­no­mi­sche Gleich­heit zu in­stal­lie­ren, und dann dar­über zu be­fin­den hie­ße zu­min­dest ei­nen Zir­kel zu ris­kie­ren. Und ja: Man will aus frei­en Stücken ein Ge­mein­we­sen zim­mern, das ist der An­fang. Wie das Ge­mein­we­sen aus­sieht, dar­über muss erst be­fun­den wer­den.

    Ei­gent­lich ei­ne schö­ne Idee.

  11. Der Ein­wand nagt auch an mir.
    Aber ich glau­be, dass die­ser Gleich­heits­be­griff auf Dau­er die ein­zi­ge Mög­lich­keit bleibt, ob­wohl man na­tür­lich im­mer gneigt ist, ge­gen­zu­steu­ern.

    Al­les an­de­re stürzt uns mehr und mehr in ei­ne Flut von Ver­ord­nun­gen, Re­ge­lun­gen, Be­stim­mun­gen und Ge­set­zen, die letzt­lich nur ei­ne all­ge­mei­ne Ni­vel­lie­rung zur Fol­ge ha­ben. Das kann aber auch nicht ge­wünscht sein.

    Es gibt zahl­rei­che Bei­spie­le da­für; die pro­mi­nen­te­sten sind die Sub­ven­tio­nen und Steu­er­erleich­te­run­gen, die für be­stimm­te Hand­lun­gen oder Un­ter­las­sun­gen be­zahlt bzw. ge­währt wer­den.

    Oder in der Bil­dung, wo man in den 70er und 80er Jah­ren glaub­te, durch neue Schul­for­men mehr Schü­ler zum Ab­itur zu brin­gen. Das Er­geb­nis war zwar ent­spre­chend – aber letzt­lich führ­te es da­zu, dass man das Ni­veau senk­te, statt in Ganz­tags­schu­len zu in­ve­stie­ren und ei­ne klei­ner Schü­ler­zahl pro Klas­se durch mehr Leh­rer­ein­stel­lun­gen zu be­schleu­ni­gen.

    Das die Ab­itur­quo­te ge­stie­gen ist führ­te da­zu, dass – zu­min­dest in Deutsch­land – in­zwi­schen für Hand­werks­be­ru­fe schon min­de­stens Mitt­le­re Rei­fe ge­for­dert wird, wäh­rend Ban­ken und Ver­si­che­run­gen nur noch Ab­itu­ri­en­ten aus­bil­den.

    In­ter­es­sant ist, wenn man die­se Ent­schei­dun­gen, die da­mals nach­weis­lich falsch wa­ren, wie­der als de­mo­kra­tisch ge­trof­fe­ne Ent­schei­dun­gen ein­ord­net – dann hat Möl­lers auch recht: Das Ge­mein­we­sen darf sich ir­ren (man kann auch »Zeit­geist« sa­gen). In ei­ner De­mo­kra­tie kann das aber je­der­zeit – durch ent­spre­chen­de in­sti­tu­tio­nel­le Ver­fah­ren wie­der ge­än­dert wer­den. Das macht die De­mo­kra­tie üb­ri­gens auch so »an­stren­gend«. Und des­halb ist bei vie­len der »star­ke Mann« so be­liebt...

    Die Be­suchs­zah­len zei­gen: Das liest hier kein Mensch. Schon den Bei­trag hat kaum ei­ner an­ge­klickt. Bü­cher oder Tex­te mit dem Wort »De­mo­kra­tie« im Ti­tel sind ver­mut­lich in­zwi­schen un­ver­käuf­lich ge­wor­den: Ent­we­der es ist zu theo­re­tisch – oder ei­ne ein­zi­ge Lob­hu­de­lei. Ich glau­be, dass der Be­griff De­mo­kra­tie in­zwi­schen der­ma­ssen stark ne­ga­tiv kon­no­tiert ist, dass die blo­sse Er­wäh­nung schon Di­stanz er­zeugt (Di­stanz – nicht un­be­dingt Ab­nei­gung).

  12. Mir geht es da an­ders.
    Mich springt »al­les« an was mit De­mo­kra­tie zu tun hat. Vor al­lem wenn es theo­re­tisch da­her­kommt.

    Das mit den Le­ser­zah­len ist scha­de, ha­be ich aber be­fürch­tet.

  13. Noch ei­ne kur­ze Fra­ge.
    Im­pli­ziert Kon­sens bei Möl­lers im­mer ein Feh­len jeg­li­cher Aus­ein­an­der­set­zung? Theo­re­tisch kann ein par­la­men­ta­ri­scher Dis­kurs, ja ei­nen Kon­sens frei­le­gen, über den dann in wei­te­rer Fol­ge ab­ge­stimmt wird. Dar­an kann ich nichts ne­ga­ti­ves ent­decken (na­tür­lich, ein Kon­sens von Be­ginn an ist be­denk­lich).

  14. Schwie­rig
    Zu dem, was ich in der Be­spre­chung zi­tiert ha­be, passt noch er­gän­zend (zum Kon­sens): Kon­sens­er­for­der­nis­se zwingen...alle, ih­re ei­ge­nen An­sich­ten an­zu­pas­sen, statt sie in der Aus­ein­an­der­set­zung um Mehr­hei­ten aus­drück­lich zu ma­chen. Wer über­stimmt wur­de, hat sei­nen Dis­sens zum Aus­druck ge­bracht und kann, nach­dem Er­fah­run­gen mit der Mehr­heits­ent­schei­dung ge­macht wur­den, bei der näch­sten Ent­schei­dung dar­an er­in­nern. Im Kon­sens geht die­se Lern­mög­lich­keit ver­lo­ren.

    Nicht ver­wech­selt wer­den darf Kon­sens mit Kom­pro­miss. Möl­lers ist aus­drück­lich für den Kom­pro­miss: Das Be­dürf­nis nach ei­ner kom­pro­miss­lo­sen de­mo­kra­ti­schen Ent­schei­dung folgt der au­to­ri­tä­ren Fik­ti­on ei­nes rein po­li­ti­schen Wil­lens. Ent­schei­dend ist für ihn – das bzw. die Ver­fah­ren.

    In­so­fern wür­de er sa­gen, dass par­la­men­ta­ri­sche Ver­fah­ren ei­nen Kom­pro­miss frei­le­gen, aber nicht un­be­dingt ei­nen Kon­sens. Ein Kom­pro­miss ist »er­ar­bei­tet« – Kon­sens ei­ne Um­ge­hung der Ver­fah­ren, die auf ei­ner in­for­mel­len Ebe­ne statt­fin­det bzw. ge­setzt wird. Das Bei­spiel der Eu­ro­pa­po­li­tik in Deutsch­land fin­de ich stark: Statt grund­sätz­lich über die EU und de­ren In­sti­tu­tio­na­li­sie­rung und Aus­ge­stal­tung zu dis­ku­tie­ren, wird dies als über­par­tei­li­cher Kon­sens vor­ge­ge­ben.

    Zu­min­dest ver­ste­he ich das so – aus mei­ner Lek­tü­re her­aus.

    Im Punkt des au­to­ri­tä­ren an­ti­kom­pro­miss­le­ri­schen Ver­hal­tens stim­me ich ihm zu. Den Be­griff des Kon­sens ver­wen­det Möl­lers ein­fach an­ders als man das land­läu­fig tut.

  15. Das klingt plau­si­bel.
    Für mich hät­te ich wie folgt de­fi­niert:

    Kon­sens ist das, wor­in man über­ein­stimmt und Dis­sens das, wor­in man nicht über­ein­stimmt. Bei­des kann man aber nur über ei­ne Dis­kus­si­on fest­stel­len (nach Möl­lers wird der Kon­sens vor­her fest­ge­legt). Ein Kom­pro­miss (auch nur über ei­ne Dis­kus­si­on fest­stell­bar), ist das wor­auf man sich letzt­lich ei­nigt (nicht un­be­dingt mit dem Kon­sens ident, da ein In­ter­es­sens­aus­gleich statt­ge­fun­den und die ei­ne Par­tei hier, und die an­de­re dort nach­ge­ge­ben ha­ben könn­te). Ein Kom­pro­miss kann – qua­si als Spe­zi­al­fall – mit dem Kon­sens ident sein, aber auch beim Feh­len jeg­li­chen Kon­sens ent­ste­hen.

    Im Prin­zip könn­te man (nach Möl­lers) sa­gen, dass der so­ge­nann­te Frak­ti­ons- oder Klub­zwang ei­nen Kon­sens dar­stellt. Und da­mit (zu­min­dest zum größ­ten Teil) un­er­wünscht ist.