Gruß vom Sand­korn

Jetzt erst durch ei­nen Hin­weis ent­deckt: Be­fragt über die Sinn­haf­tig­keit des Li­te­ra­tur­kri­ti­kers re­agier­te Ijo­ma Man­gold mit ei­nem häss­li­chen, aber gleich­zei­tig er­hel­len Wort:

»Die Stär­ke ei­ner Zei­tung sei ih­re Se­lek­ti­ons­au­to­ri­tät. Das Netz hin­ge­gen sei die Wü­ste der Se­lek­ti­on, in der es nur Sand gä­be«, so fasst Wolf­gang Ti­scher von literaturcafe.de Man­golds Äu­ße­rung zu­sam­men. (Als Aus­nah­me sieht Man­gold dann wie­der den Blog ei­nes ar­ri­vier­ten FA­Z/­FAS-Jour­na­li­sten.)

Die Al­le­go­rie ist auf ver­rä­te­ri­sche Wei­se er­hel­lend. Zum ei­nen il­lu­striert sie die Hy­bris der Par­al­lel­welt, in der Man­gold und sei­ne Kol­le­gen au­gen­schein­lich exi­stie­ren. Das Wort »Se­lek­ti­ons­au­to­ri­tät« hat im üb­ri­gen ei­nen sehr un­an­ge­neh­men Bei­geschmack, aber viel­leicht war Man­gold als er dies sag­te noch mit der Lek­tü­re von »Mein Kampf« be­schäf­tigt.

Ge­ra­de­zu un­glück­lich ge­wählt ist die de­nun­zia­to­ri­sche For­mu­lie­rung der Wü­ste und des San­des. Auch wenn man nicht zum Pa­thos neigt, so fällt ei­nem näm­lich so­fort Gün­ter Eich ein, der 1950 »for­der­te«: »Seid un­be­quem, seid Sand, nicht das Öl im Ge­trie­be der Welt!«

We­nig­stens ist es klar: Man­gold et. al. sind das Öl. Noch braucht man es viel­leicht. Aber bald ist es er­setzt. Gruß aus der Wü­ste. Vom Sand­korn.

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  1. Man­gold er­läu­tert ja wie der Be­trieb funk­tio­niert und sprich da­mit auch ein Ur­teil über ihn (und sich selbst). In­ter­es­sant, das ein­mal von je­man­dem so deut­lich zu hö­ren, der – so­zu­sa­gen – aus sei­nem Herz kommt.

    Dass Au­to­ri­tät (er­wor­be­ne hof­fent­lich!), ei­ne Rol­le, et­wa: wo le­se ich, spielt, ist klar, Man­gold ver­gisst dar­über aber völ­lig die Ebe­ne des Tex­tes (Ar­gu­men­ta­ti­on, Auf­bau, Stim­mig­keit, Stil, usw.), die vie­le Le­ser na­tür­lich be­wer­ten und ana­ly­sie­ren und dann erst (spe­zi­fisch) ur­tei­len (die Mar­ke al­lei­ne ent­schei­det eben nicht).

    Es stimmt frei­lich, dass man im Netz noch stär­ker ge­for­dert ist, sich ein ei­ge­nes Ur­teil zu bil­den, weil oft gar kei­ne Au­to­ri­tä­ten exi­stie­ren (und die ge­wohn­ten so oft ent­täu­schen; wie oft be­steht die Se­lek­ti­on im Ab­schrei­ben von Agen­tur­mel­dun­gen?).

    Und dass das In­fra­ge­stel­len von Au­to­ri­tä­ten mit Auf­klä­rung zu tun hat, nun ja ... will man über­haupt mün­di­ge Le­ser?

  2. Ei­gent­lich er­zählt Man­gold ja mit ei­ner ver­blüf­fen­den Of­fen­heit all das, was man längst schon weiß. Das von ihm ge­schil­der­te Ver­fah­ren war ja nie an­ders, es ist ein­fach nur noch ver­fei­ner­ter ge­wor­den. Man­ches ist tau­to­lo­gisch, d. h. weil ein Au­tor wie Wal­ser be­kannt ist, ist er be­kannt – und kann dann nicht mehr über­se­hen wer­den. Sei­ne Äu­ße­run­gen zu »Form«-Fragen sind auch eher klein­gei­stig. – Man­gold et. al. kommt es längst nicht mehr auf die Li­te­ra­tur an; es ist al­les nur noch »Be­trieb«. Ver­mut­lich hegt je­der Hand­wer­ker mehr In­brunst in sei­ne Ar­beit als er. Sein »lei­den­schaft­li­ches In­ter­es­se für Li­te­ra­tur« ist ein Lip­pen­be­kennt­nis (bzw.: es kommt so rü­ber).

  3. Ge­nau. Und ir­gend­wie scheint er trotz­dem dar­an zu glau­ben, dass er da­mit sei­nen Le­sern dient und sei­nen »Auf­trag er­füllt« (je­den­falls kling es so). Ei­gen­ar­tig, ei­gent­lich.

  4. Aus ei­nem Esel wird kein Renn­pferd, egal wie stark man die Spo­ren gibt.
    Die Aus­sa­gen von Man­gold kann man eben­so gut als läp­pi­sche Schutz­be­haup­tung le­sen. Was soll er denn sa­gen?! Die Rou­ti­ne und die Mit­tel­klas­se-Blind­heit las­sen die Li­te­ra­tur-Ver­wal­tung via Feuil­le­ton doch ziem­lich bil­lig aus­se­hen.
    Dass über­haupt noch nach­ge­fragt wird, ist schon er­staun­lich.
    Läuft!, sagt der Zeit­geist.

  5. Manch­mal kann es aber heil­sam sein, je­man­den ein­fach re­den zu las­sen. Das hat Man­gold ge­tan. Wir ha­ben ei­ne Men­ge »er­fah­ren«: 140 Bü­cher in der »Zeit«/Jahr, die be­spro­chen wer­den. Kri­te­ri­en: Be­kannt­heit des Au­tors; man be­kommt Be­such von Ver­la­gen (De­but!); Eta­blie­rung von »Mar­ken« (so­wohl auf Kri­ti­ker- als auch Schrift­stel­ler­sei­te). Da­mit ist ein­deu­tig be­schrie­ben, dass es in der »Zeit« nie­mals mehr Avant­gar­de ge­ben wird – nur das be­kann­te, strom­li­ni­en­för­mi­ge, von Ver­la­gen als sol­ches vor­ge­kau­te wird re­pli­ziert. Er­in­nert doch stark an den Jour­na­lis­mus, der Pres­se­agen­tur­mel­dun­gen um­schreibt. Wem das aus­reicht, der ist da gut auf­ge­ho­ben. Aber so ehr­lich hat­te ich das noch nicht öf­fent­lich ge­hört.

  6. Ge­stern ha­be ich, nach­dem sie lan­ge un­ge­le­sen an mei­nem Bett ge­le­gen ist, die letz­te Zeit-Li­te­ra­tur­bei­la­ge in den Pa­pier­müll ge­ge­ben: Das hät­te ich schon vor Wo­chen tun sol­len. Mein Pro­blem da­mit: Kei­ne wirk­li­che Über­ra­schung bei den vor­ge­stell­ten Bü­chern, aber das auch noch in ei­nem der­ma­ßen vor­her­seh­ba­ren selbst­ge­fäl­lig, brä­si­gem Stil – und dann na­tür­lich der vi­su­el­le Schwer­punkt auf der apart, kli­schee­hüb­schen Ost­eu­ro­päe­rin (»Viel­leicht Esther«). Das kann ei­gent­lich nur noch die Funk­ti­on ha­ben, dem näch­sten Small Talk mit der Frau Ober­stu­di­en­rat und dem Herrn Kul­tur­de­zer­nent ei­ne schön ebe­ne Stand­flä­che zu ver­pas­sen. Mit In­ter­es­se für Li­te­ra­tur und dem, was die Leu­te tat­säch­lich le­sen, hat das ei­gent­lich gar­nix mehr zu tun.

  7. Äh, ich hab mich wohl ver­le­sen: »Avant­gar­de« wa­ren die strom­li­ni­en­för­mi­gen Bü­ro­kar­rie­ri­sten aus Ham­burg noch nie. Ich weiß nicht, wo­her die­se Zu­wei­sung stammt. Sa­gen das die ZEIT­ler von sich selbst?
    Nee, ich glau­be, was Du meinst, ist die »Er­war­tung Li­te­ra­tur«. Ganz ideo­lo­gie­frei, das künf­ti­ge Buch. Vom Buch, vom gro­ßen Buch er­war­tet man das Neue, das Un­vor­her­seh­ba­re, glor­reich Zwin­gen­de, etc. Das ha­ben al­le Li­te­ra­tur-Lieb­ha­ber, selbst die Spie­ßer, ge­mein­sam. Dass sich auch hier die Ge­schmäcker schei­den, mal bei­sei­te.
    Du be­haup­test, wenn mei­ne Ver­mu­tung zu­trifft: Nie im Le­ben fin­den die noch ei­nes von die­sen fas­zi­nie­ren­den Bü­chern. Schon auf­grund der kor­rup­ten Me­tho­de! Und das scheint mir ziem­lich aus der Luft ge­grif­fen. Fin­den ist Glück­sa­che, und wer weiß schon, ob es die­se Bü­cher im Mo­ment gibt. Hab ich so mei­ne Zwei­fel!

  8. @die_kalte_Sophie
    »Avant­gar­de« sagt er nicht, aber es klingt im Ge­spräch doch an: De­buts ent­decken. Lei­der wur­den die Kri­te­ri­en nicht be­kannt – au­ßer die üb­li­chen: Pro­mi­nenz, Ver­lags­wer­bung, etc. Ein De­but ei­nes Schau­spie­lers, Ma­lers oder Künst­lers ist ja nicht »ent­deckt«, son­dern nur Ver­mark­tung. – Rad­datz hat­te sei­ner­zeit schon den An­spruch mehr als nur Pro­mi-Feuil­le­ton zu sein (oh­ne das geht es frei­lich auch nicht).

    Viel­leicht ist mei­ne The­se aus der Luft ge­grif­fen, dass man heu­te Kaf­ka, Shake­speare oder auch ei­nen Hand­ke oder Grass nicht mehr »ent­decken« wür­de. Sie wür­den na­tür­lich al­le ih­ren Ver­lag fin­den, kei­ne Fra­ge. Aber viel­leicht nicht die Pu­bli­kums­ver­la­ge, von de­nen man sich be­cir­cen lässt. Legt man Man­gold streng aus, hät­te der »Self-Pu­blisher« Proust heu­te kei­ne Chan­ce mehr. Dass man sich als Au­tor, als Au­torin viel­leicht nicht den zu­wei­len stren­gen Vor­schrif­ten von Ver­la­gen beu­gen möch­te – das kommt ihm nicht in den Sinn.

    Na­tür­lich ist Su­che im­mer an­stren­gend. Sich die Häpp­chen ser­vie­ren zu las­sen ist leich­ter als sie zu­zu­be­rei­ten oder gar beim Ein­kauf die Zu­ta­ten zu ge­wich­ten. Man­golds Se­lek­ti­ons­the­se ar­gu­men­tiert rein öko­no­misch. Er re­du­ziert – oh­ne Not! – das Buch als Han­dels­wa­re. Dass Ver­le­ger und Buch­händ­ler dies ma­chen müs­sen, ist lo­gisch. Dass sich aber ein Li­te­ra­tur­chef der­art der Kom­merz-Hu­re er­gibt und dies auch noch zu­gibt – das ist schon...kühn.

    @Doktor D
    Ich fra­ge mich ja, ob je­mand wie Man­gold nicht so den­ken muss. An­son­sten kommt er gar nicht in ei­ne sol­che Po­si­ti­on.

    Ei­ne Bach­mann­preis­ge­win­ne­rin kann man na­tür­lich nicht über­ge­hen. Sie ist Mi­gran­tin, was die Kri­ti­ker der­zeit ge­ra­de­zu ent­zückt (war­um, weiss ich nicht) und zu al­ler­lei ko­mi­schen Lo­bes­hym­nen ver­an­lasst (im Fall von Sta­nišić et­wa). Dann ist da was über den Na­zis­mus drin; da­von kann man ja nie ge­nug krie­gen. Und so ganz schlecht ge­schrie­ben ist das auch nicht. All das reicht dann für ei­nen mitt­le­ren Hype (SWR- und ORF-»Bestenliste«). Man­gold und die an­de­ren sind froh. Ver­mut­lich lau­tet die drit­te Fra­ge, über was ihr näch­stes Buch so hand­le.

  9. @Gregor Keu­sch­nig:
    Das fasst es ganz gut zu­sam­men. Weil sie aus der Ukrai­ne kommt, gab’s da­zu noch ein paar ob­li­ga­to­ri­sche Fra­gen.
    Mitt­ler­wei­le re­agie­re ich qua­si kon­tra­zy­klisch auf die­se Hy­pes: »Viel­leicht Esther« ist erst­mal von mei­ner Le­se- und An­schaf­fungs­li­ste ge­stri­chen.
    Ich le­se ge­ra­de ei­ne Bio­gra­phie von Pe­ne­lo­pe Fitz­ge­rald, die erst mit 60 über­haupt ei­nen Fuß in den bri­ti­schen Li­te­ra­tur­be­trieb be­kom­men hat – und ca. bis zu ih­rem Tod mit 80 von vie­len Be­triebs­nu­deln als ei­ne Art Be­triebs­un­fall an­ge­se­hen wur­de. Un­ter an­de­rem we­gen ih­res ho­hen Al­ters und weil sie über­haupt nicht fo­to­gen und re­prä­sen­ta­bel war. Durch Zu­fäl­le al­ler Art (un­ter an­de­rem Über­nah­me­cha­os bei den füh­ren­den Ver­la­gen, so dass kei­ne kon­zen­trier­te Lob­by-Ar­beit mög­lich war) be­kam sie völ­lig über­ra­schend den Boo­ker Pri­ze – die be­lei­dig­te Re­ak­ti­on der Li­te­ra­tur­kri­ti­ker spricht dann Bän­de. Und das war noch in den gol­de­nen Zei­ten des Feuil­le­tons. Wenn ich durch bin, schrei­be ich vlt. noch was dar­über.

  10. »Aber so ehr­lich hat­te ich das noch nicht öf­fent­lich ge­hört.« Man kann es gar nicht oft ge­nug be­to­nen (viel­leicht hat ja ein An­flug von Selbst­ge­fäl­lig­keit den Aus­schlag zur Plau­de­rei ge­ge­ben).

    Die Be­triebs­blind­heit und die Zwän­ge oder auch der Rah­men des Be­triebs be­din­gen ein­an­der: Wenn es so ist, dass man be­triebs­blind wer­den muss oder nicht mehr an­ders kann, als ihn wei­ter am Lau­fen zu hal­ten, dann wä­re Man­gold al­ler­dings der fal­sche Adres­sat un­se­rer Kri­tik, er wä­re nicht (mit)verantwortlich: Die Sy­stem­be­din­gun­gen wä­ren zu än­dern.

  11. Man­gold ist kein Prak­ti­kant, son­dern »Li­te­ra­tur­chef« der »ZEIT«. ich er­war­te von ihm kein avant­gar­di­sti­sches Pro­gramm mit Ly­rik aus Bur­ki­na Fa­so und die Be­spre­chung ei­ner So­net­ten­samm­lung ei­nes is­län­di­schen Dich­ters aus dem 12. Jahr­hun­dert. Es gibt im­mer Mit­tel­we­ge. Nie­mand zwingt ihn da­zu, al­les so zu ma­chen, wie die an­de­ren.

  12. Die Li­te­ra­tur­sei­ten der NZZ ken­ne ich nicht so gut, aber ich ha­be dort (NZZ) ei­gent­lich im­mer un­auf­ge­reg­te, ab­wä­gen­de Ar­ti­kel ge­le­sen, in­so­fern stim­me ich zu.

  13. Mir fällt noch ei­ne Be­mer­kung von Hei­ner Mül­ler ein, der ja ger­ne über Ost und West, Kunst und Kul­tur phi­lo­so­phiert hat. Er mein­te in den Neun­zi­gern,
    die Kul­tur, resp. der Kul­tur­be­trieb im We­sten wä­re nur ei­ne Art Fei­gen­blatt, dass die Scham ver­steckt, die wie­der­um vom öko­no­mi­schen Sy­stem er­zeugt wird.
    Ei­ne bö­se sta­li­ni­sti­sche Be­mer­kung, aber nach 20 Jah­ren muss ich sa­gen: da iss was dran. Ge­ra­de die »Ideo­lo­gie« rund um die Li­te­ra­tur, sprich die Di­stink­ti­on, die Auf­wer­tung des Ge­wöhn­li­chen, die re­prä­sen­ta­ti­ven Be­spre­chun­gen ge­stützt auf die (Man­gold) Se­lek­ti­ons­kom­pe­tenz...
    Wenn man die dün­ne Decke der Hoch­kul­tur weg­zieht, dann er­scheint die Angst vor ei­ner völ­lig de­kul­tu­ra­li­sier­ten Um­welt, der Un­ter­wick­lung der Per­sön­lich­kei­ten, der Un­gleich­heit der Chan­cen, etc.
    Man muss kein Sta­li­nist sein, aber »Hoch­kul­tur« (selbst die kor­rup­te) hat ei­ne Ver­drän­gungs­funk­ti­on, oder?! Je kor­rup­ter, de­sto of­fen­sicht­li­cher, würd ich sa­gen, dass es um was ganz an­de­res geht als LITERATUR.

  14. Hoch­kul­tur und Hoch­li­te­ra­tur sind ent­behr­li­che Be­grif­fe: Kul­tur, Kunst, Hand­werk rei­chen doch, oder (zu­min­dest wenn Li­te­ra­tur un­ter den Kunst­be­griff sub­su­miert wird, was ich tue)?

    Aber ist es nicht eher so, dass der Kul­tur­be­trieb nichts ver­steckt, son­dern Re­sul­tat der Öko­no­mi­sie­rung von fast al­lem ist? Kunst und Kul­tur wer­den in­stru­men­ta­li­siert und ver­mö­gen dann, den ei­nen oder an­de­ren, (noch) zu täu­schen. — Die Kunst (wenn der Be­griff »Hoch­kul­tur« die­se meint) war von je­her (nicht im­mer, aber häu­fig) ein Ge­gen­stück zu so­zia­len und an­de­ren Rea­li­tä­ten, ihr Wert liegt ja ge­ra­de in die­ser (mo­ra­li­schen) Un­zu­läng­lich­keit (und auch in ih­rer doch im­mer wie­der auf­tre­ten­den Be­züg­lich­keit auf eben die­se Zu­stän­de).

  15. »Se­lek­ti­ons­kom­pe­tenz« – nun ist der Be­griff ge­fal­len, der ei­gent­lich viel nä­her liegt als »Se­lek­ti­ons­au­to­ri­tät«. Aber Man­gold hat »Se­lek­ti­ons­au­to­ri­tät« ge­sagt. »Se­lek­ti­ons­kom­pe­tenz« be­schreibt die (wo­her auch im­mer ge­nom­me­ne) Fä­hig­keit, zu un­ter­schei­den. »Se­lek­ti­ons­au­to­ri­tät«, Man­golds Be­griff, er­zählt von dem Ver­trau­en, das der Un­ter­schei­dung ent­ge­gen­ge­bracht wird, vom Ver­trau­en in die Au­to­ri­tät des Un­ter­schei­den­den. Es ver­trau­en ihm ei­ne gan­ze Men­ge Le­ser die­ser Wo­chen­zei­tung fürs Ge­müt, könn­te man ihm ant­wor­ten, und das ist ei­gent­lich al­les, müss­te man hin­zu­fü­gen.

  16. @Josef Bloch
    Dan­ke für den Hin­weis und die Dif­fe­ren­zie­rung, die na­tür­lich wich­tig ist. Wenn je­mand für sich Au­to­ri­tät be­an­sprucht (zu­mal der­art of­fen­siv und ein­deu­tig), setzt er sich da­mit ja im­pli­zit kom­pe­tent.

    Ein Muss für Man­gold sind wohl For­mal­qua­li­fi­ka­tio­nen. Im Ver­riss des wahr­lich
    scheuß­li­chen Pirinçci‎-Buches steht ein klei­ner, viel­leicht Auf­schluss ge­ben­der Satz: »Die­ses Buch ist das Pro­dukt ei­nes wild ge­wor­de­nen Au­to­di­dak­ten.« Da­mit ist un­ter­schwel­lig der Au­to­di­dakt per se ver­däch­tig. Was zählt ist die »or­dent­li­che« Aus­bil­dung (al­so Stu­di­um), egal wie.

  17. @ me­tep­si­lo­me­na
    Ja und Nein, der Kul­tur­be­trieb ist voll­stän­dig öko­no­mi­siert, aber das zwingt ihn nicht, sei­ne ökon. Be­din­gun­gen zu re­flek­tie­ren. Das Pro­blem gei­stert jetzt schon seit Bourdieu’s Ana­ly­sen zum kul­tu­rel­len Ka­pi­tal her­um. Im Spät­ka­pi­ta­lis­mus ist je­de ar­beits­tei­li­ge Un­ter­neh­mung mo­ne­ta­ri­siert, so­gar die Hilf­ak­tio­nen für Sy­ri­en. Das Selbst­ver­ständ­nis ist da­mit aber nur teil­wei­se de­fi­niert.
    Die »co­ope­ra­ted iden­ti­ty« wird (ich fürch­te, die Mar­xi­sten ha­ben Recht!) von den Geld­ge­bern vor­ge­ge­ben. Grob ge­sagt: Wer zahlt, de­fi­niert!
    Ich weiß, das klingt al­les sehr un­frei, des­halb wer­den die­se Ana­ly­sen im­mer gleich ver­wor­fen, es stimmt aber, denn die In­di­vi­du­en ent­schei­den sich frei für die­se Auf­ga­be und wer­den nicht ge­zwun­gen. Ei­ne der Stär­ken des Ka­pi­ta­li­mus be­steht dar­in sei­ne »Se­lek­ti­ons­kom­pe­tenz« als Frei­heit zu kom­mu­ni­zie­ren.

  18. Ja und Nein, der Kul­tur­be­trieb ist voll­stän­dig öko­no­mi­siert, aber das zwingt ihn nicht, sei­ne ökon. Be­din­gun­gen zu re­flek­tie­ren.

    So­weit ein­ver­stan­den, auch, dass die »co­ope­ra­ted iden­ti­ty« meist ei­ne die­nen­de Funk­ti­on ge­gen­über dem wirt­schaft­li­chen Er­folg hat. Die näch­sten Sät­ze er­schei­nen mir wi­der­sprüch­lich: Kön­nen sich die In­di­vi­du­en nun frei ent­schei­den oder wird die­se Frei­heit bloß kom­mu­ni­ziert (was nicht ih­re rea­le Exi­stenz be­deu­ten muss)?

    Zu­letzt, die­ser Satz aus dem vo­ri­gen Kom­men­tar: »Er mein­te in den Neun­zi­gern,
    die Kul­tur, resp. der Kul­tur­be­trieb im We­sten wä­re nur ei­ne Art Fei­gen­blatt, dass die Scham ver­steckt, die wie­der­um vom öko­no­mi­schen Sy­stem er­zeugt wird.« Dass Kul­tur als Fei­gen­blatt ge­braucht wer­den kann, ein­ver­stan­den, aber der Kul­tur­be­trieb, auch noch dann, wenn er als sol­cher er­kannt wur­de? Doch eher nein, oder?

    Man kann öko­no­mi­schen Zwän­gen si­cher­lich be­geg­nen, die Fra­ge wä­re: Wie weit? (Oder: Wie we­nig weit?)

  19. Äh, stimmt, da ist die Ar­gu­men­ta­ti­on ist schräg. Ich mei­ne, die In­di­vi­du­en ha­ben die Wahl­frei­heit, und sie sind re­la­tiv frei, aber die Öf­fent­lich­keit wird »nor­ma­tiv über­co­diert«, d.h. das »se­lek­tier­te Per­so­nal« be­kommt ei­nen Sta­tus, der all­ge­mein­gül­ti­ge In­ter­es­sen be­dient. Will sa­gen, die »freie Pres­se« ist we­der frei, noch un­ab­hän­gig, noch re­prä­sen­ta­tiv. Al­le drei Kri­te­ri­en tref­fen streng ge­nom­men nicht zu, wer­den aber den­noch in An­spruch ge­nom­men. Will sa­gen, der We­sten ist auf­grund sei­nes so­zio-öko­no­mi­schen Bau­plans von An­fang an zur Heu­che­lei ver­ur­teilt. Er be­schreibt sich selbst als ei­ne For­de­rung, die er nicht ein­hält. Er un­ter­liegt dem Zwang zu idea­li­sie­ren. Er »kom­mu­ni­ziert« sei­ne Idea­le, oh­ne an sei­ne Struk­tu­ren zu rüh­ren.
    Das ist tat­säch­lich ein mo­ra­li­sches Pro­blem, denn von au­ßen wird das oh­ne wei­te­res er­kannt. So­gar von in­nen, dar­aus re­sul­tiert aber kei­ner­lei Wir­kung. Der en­do-kri­ti­sche Pro­zess ist völ­lig in­ef­fek­tiv.
    Ge­fragt, ob ich die west­li­che Ge­sell­schaft als mo­ra­lisch ein­wand­freie Kon­struk­ti­on be­trach­ten wür­de, wür­de ich ant­wor­ten: Nein, be­stimmt nicht!
    Ge­fragt, ob ich ei­ne wert­freie Be­schrei­bung der Ge­sell­schaft für ob­jek­tiv er­ach­ten wür­de, wür­de ich ant­wor­ten: Nein, be­stimmt nicht! So­bald die Be­schrei­bung wert­frei ist, ist sie schon ab­we­gig.
    [N.b. Da­her rührt auch un­ser »Kriegs­pro­blem«. Wenn wir mo­ra­lisch im Rei­nen wä­ren, dann wür­den wir den We­sten bis zum letz­ten Mann ver­tei­di­gen. Aber nie­mand glaubt mehr so recht an »un­se­re Sa­che«.]

  20. Kurz ge­sagt: Die Öf­fent­lich­keit wird durch ent­spre­chen­des Per­so­nal in ih­rem Han­deln zu len­ken ver­sucht (bei­na­he ver­schwö­rungs­theo­re­tisch).

    Wenn »der en­do-kri­ti­sche Pro­zess [...] völ­lig in­ef­fek­tiv« ist, spricht das da­für, dass wir un­ser Sy­stem nicht än­dern kön­nen, ent­we­der weil es an brei­ter Wil­lens­kraft man­gelt oder es von in­nen nicht (oder kaum) mög­lich ist.

    Das Pro­blem ist m.E. aber nicht mo­ra­lisch, nicht haupt­säch­lich je­den­falls, son­dern nur in sei­ner Be­wer­tung; die kann man fal­len las­sen und das Pro­blem, ge­bro­che­nen Rechts et­wa, bleibt be­stehen, man muss dem We­sten kei­ne Dop­pel­mo­ral vor­wer­fen, um ihn zu kri­ti­sie­ren.

    »Ge­fragt, ob ich ei­ne wert­freie Be­schrei­bung der Ge­sell­schaft für ob­jek­tiv er­ach­ten wür­de, wür­de ich ant­wor­ten: Nein, be­stimmt nicht! So­bald die Be­schrei­bung wert­frei ist, ist sie schon ab­we­gig.« Da möch­te ich wi­der­spre­chen, er­stens schließt ei­ne ab­we­gi­ge Be­schrei­bung Ob­jek­ti­vi­tät nicht aus, zwei­tens: Ei­ne funk­tio­na­le, sy­ste­mi­sche und sy­ste­ma­ti­sche Be­schrei­bung al­lei­ne kann die Pro­ble­me of­fen­le­gen, ob man das mo­ra­lisch be­wer­tet oder nicht ist be­lang­los, weil das nichts zum Ver­ständ­nis bei­trägt, das nö­tig für Ver­än­de­run­gen ist (mir scheint das ei­ne ideo­lo­gisch ge­färb­te Prä­mis­se zu sein). Der mo­ra­li­sche Vor­wurf al­lei­ne – sie­he heu­te – reicht ja nicht (bringt auch nichts).

    Zum »Kriegs­pro­blem«: Das kommt dar­auf an ge­gen wen man sich ver­tei­di­gen muss (rein theo­re­tisch be­trach­tet, in der Pra­xis fehlt wo­mög­lich der Mut).

  21. Ja, nee. Mein Kopf ist völ­lig ideo­lo­gie­frei. Im Ge­gen­teil würd ich be­haup­ten: ge­sell­schaft­li­che Än­de­run­gen kön­nen nicht durch Re­fle­xio­nen und Ur­sa­chen­for­schung ein­ge­lei­tet wer­den. Ge­nau die­ses »Theo­rem«, das die west­li­che Zo­ne u.a. de­fi­niert, hal­te ich für ideo­lo­gisch i.w.S. Ei­gent­lich dient es nur da­zu, ei­ne mög­li­che Ver­bin­dung von Macht und Den­ken an­zu­be­rau­men, die in die Zu­kunft weist. Ei­ne »schwa­che Uto­pie«, die nicht mit In­hal­ten aus­ge­füllt wird, aber da­zu ein­lädt.
    Ich bin si­cher, dass Än­de­run­gen, auch künf­ti­ge Än­de­run­gen nur noch durch Mäch­te und Ge­gen­mäch­te ver­ur­sacht wer­den. Na­tür­lich sind die Mäch­te nicht un­in­tel­li­gent, aber das macht sie noch nicht zu »mo­ra­li­schen Ak­teu­ren«.
    Ei­gent­lich bin ich raus aus der Num­mer, dass der We­sten für den ein­fa­chen Mann »in­ter­es­sant« sein könn­te. Die Kom­ple­xi­tät der Ana­ly­se ist ei­ne rie­si­ge Her­aus­for­de­rung, das reizt na­tür­lich. Das stimmt.

  22. Ich woll­te kei­nen Ideo­lo­gie­vor­wurf ma­chen, man kann auch vor­ein­ge­nom­men sa­gen, was ich mein­te war, dass man die ob­jek­ti­ve Be­schrei­bung der Ge­sell­schaft ken­nen oder mit ei­ni­ger Kon­se­quenz ver­sucht ha­ben muss, um sie als ab­we­gig be­zeich­nen zu kön­nen, da man ja auf ihr Er­geb­nis vor­greift (ich bin bei sol­chen Be­mer­kun­gen im­mer skep­tisch).

    Die Ein­lei­tung der Än­de­rung (die Ur­sa­che) soll­ten wir von der Rich­tung in die die­se ge­hen soll un­ter­schei­den: Ich möch­te zu­min­dest wis­sen was wie ge­än­dert wer­den soll (und war­um), be­vor es los­geht. Die­se Recht­fer­ti­gung hal­te ich für we­sent­lich, nicht zu­letzt weil, wenn wir zu­rück­blicken, ge­sell­schaft­li­che Ex­pe­ri­men­te oder Re­vo­lu­tio­nen oft mit ei­ner Viel­zahl an To­ten und ent­spre­chen­dem Leid ver­bun­den wa­ren.

  23. Da sagst Du was... In der Tat setzt ei­ne kri­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zung mit den Be­schrei­bun­gen der Ge­sell­schaft die Kennt­nis der Ge­sell­schaft vor­aus. Oder we­nig­stens in Tei­len.
    Das ist ge­nau der Punkt, war­um die Zeit­geist-Re­dak­teu­re sehr leich­tes Spiel ha­ben: nie­mand weiß es so recht viel bes­ser, ge­nau­er... Was ha­ben die schon zu be­fürch­ten, ihr Igno­ranz- und Sprach­ni­veau macht sie so gut wie un­an­greif­bar. Wann kann man schon sa­gen: Nein, das ist falsch!
    Die Selbst­im­mu­ni­sie­rung der Öf­fent­lich­keit durch Ver­dun­ke­lung ist ei­ner der schlimm­sten Tat­be­stän­de der Ge­gen­wart. Für mich hat die Kri­tik da aus­ge­dient, es hel­fen nur noch Boy­kott und Äch­tung.

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