Nach­rich­ten aus der Un­ter­hal­tungs­bran­che (II)

oder: Wie ethi­sche Wer­te in der Des­in­for­ma­ti­ons­ge­sell­schaft zer­brö­seln

Teil I

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Ich ent­neh­me die­sen Über­le­gun­gen, die nichts an­de­res sind als Fest­stel­lun­gen des Of­fen­sicht­lich­sten (über das man nach wie vor we­nig spricht), zwei Punk­te, die ich ein we­nig wei­ter­spin­nen will. Er­stens, auf den Por­no­sei­ten und den so­ge­nann­ten Gesellschafts­seiten, in den so­cial net­works, wie es eu­phe­mi­stisch heißt, kann man Ama­teur­auf­nah­men von Ama­teur­spie­lern se­hen, doch bei wei­tem nicht in so gro­ßer Zahl, dass sie ne­ben dem pro­fes­sio­nel­len Por­no­ge­schäft ins Ge­wicht fal­len. Es ist dies ein Zei­chen da­für, das öffent­licher und pri­va­ter Be­reich auch auf der in­tim­sten Ebe­ne nicht mehr ge­trennt sind. Ei­ne nicht un­be­deu­ten­de Rol­le da­für spielt die Tat­sa­che, dass Re­pro­duk­ti­ons­in­stru­men­te, al­so Ka­me­ras al­ler Art, heu­te in­fol­ge tech­ni­scher Ent­wick­lun­gen, der all­ge­mei­nen Konsum­gier und des fak­ti­schen Wohl­stands für je­der­mann zu­gäng­lich sind. Je­der kann stän­dig Ab­bil­dun­gen von sich und sei­nen Näch­sten ma­chen und über­tra­gen und tut es auch. Ein Kind, das kein Han­dy mit Fo­to­ap­pa­rat be­sitzt, kann ne­ben sei­nen Freun­den nicht be­stehen. Ein Kind oh­ne In­ter­net­an­schluss kann auch nicht be­stehen. Mi­me­sis, Spie­ge­lung, ist ein Mas­sen­phä­no­men und ei­ne Mas­sen­zwangs­neu­ro­se ge­wor­den. Zu­gleich kön­nen bei wei­tem nicht al­le Per­so­nen vor den Schön­heits- und Geil­heits­idea­len be­stehen. Es fin­det ei­ne Aus­le­se statt. Die da­bei ent­ste­hen­den Krän­kun­gen wer­den durch se­kun­dä­re, pas­si­ve, vir­tu­el­le »Ak­ti­vi­tä­ten« in der Welt des Schein­tods kom­pen­siert.

Zwei­ter Punkt Pro­ble­me der In­for­ma­ti­ons­be­schaf­fung. In kei­ner Epo­che wa­ren die Men­schen so gut in­for­miert, so kom­mu­ni­ka­tiv, so kon­takt­freu­dig wie in un­se­rer, heißt es. Al­ler­dings, fü­ge ich hin­zu, nur se­kun­där, auf der Schwund­stu­fe, ver­schwin­dend. »Mei­ne« heu­ti­gen Facebook-»Nachrichten« hat­te ich schon ge­löscht, wie je­den Mor­gen; ich ho­le sie noch ein­mal her­vor: Meh­re­re Leu­te, die ich nie ge­trof­fen ha­be und de­ren Na­men mir nichts sa­gen, ha­ben ge­äu­ßert, dass ih­nen ein Fo­to ge­fällt, »auf dem ich mar­kiert wur­de«, was im­mer das hei­ßen mag, oder sie ha­ben ein Fo­to »von mir« kom­men­tiert, ein Fo­to, das, wie ich nach­ge­prüft ha­be, we­der mich zeigt noch von mir ge­macht wur­de. So geht das tag­ein, tag­aus mit mei­nen »Freund­schaf­ten«. Vie­le mei­ner »Freun­de« ha­ben drei‑, vier­hundert »Freun­de«, man­che brin­gen es auf tau­send und mehr. In die­sen Ge­wäs­sern müss­te man ei­gent­lich al­les un­ter An­füh­rungs­zei­chen schrei­ben, weil es un­ei­gent­lich oder, im schlech­te­ren Fall, ein­fach falsch ist. Die »Ak­ti­vi­tä­ten« in der Face­book-Zo­ne sind Status­meldungen, Pinn­wand­fi­xie­run­gen, Dau­men-rauf- und Daumen-runter-»Be­wegungen« usw. Das »Kom­men­tie­ren« (mei­stens von Fo­tos, die Schrift spielt ei­ne un­ter­ge­ord­ne­te Rol­le) wird in ei­ner Sprach­qua­li­tät be­trie­ben, die hin­ter Stan­dards, die in mei­ner Ju­gend ver­brei­tet und von den mei­sten ge­teilt wur­den, in­zwi­schen weit zurück­gefallen ist (wo­zu auch die Recht­schreib­re­form ein Schärf­lein bei­getra­gen hat). Wer an sol­chen Stan­dards fest­hält, ist in der Un­ter­hal­tungs­bran­che tä­tig, und wenn er Glück hat, ern­tet er von ei­ner zwan­zig­jäh­ri­gen Ver­käu­fe­rin da­für Sym­pa­thie. Clau­dio Magris hat sich neu­lich in ei­nem In­ter­view ent­setzt über die Aus­drucks­fä­hig­kei­ten von SMS­lern – heu­ti­ges Stan­dard­deutsch – ge­zeigt. Und nicht nur über die Ausdrucks‑, son­dern über Umgangs‑, Ver­ste­hens- und Aus­tausch­fä­hig­kei­ten. Die neu­en »Sprach­sti­le« (oder Sprachschwund­stile) wer­den an Uni­ver­si­tä­ten von so­ge­nann­ten Sprach­for­schern mit ern­ster Mie­ne er­forscht.

Ach, über In­for­ma­ti­on woll­te ich schrei­ben... Zwei­ter oder drit­ter Punkt, die ver­meh­ren sich, so ist das in un­se­rem Netz. Das In­ter­net ist ja der Hort der Viel­falt, in ihm gibt es Mil­li­ar­den von Ni­schen, wor­in man sich tum­meln und, wenn man will, für ei­ne Zeit hei­misch wer­den kann. Schön! Fak­tum ist aber, dass das In­for­ma­ti­ons­we­sen des In­ter­nets – von Aus­nah­men ab­ge­se­hen, die vor­aus­sicht­lich im­mer we­ni­ger wer­den – die Gleich­schaltung der In­for­mier­ten be­wirkt, so dass man sie letz­ten En­des als Des­informierte wird be­zeich­nen müs­sen. »Un­se­re« Ge­sell­schaft ist ei­ne Desinformations­gesell­schaft. Nie stand so­viel Wis­sen zur Ver­fü­gung, nie protz­ten die Leu­te so sehr mit ih­rem Wis­sen, nie wuss­ten sie fak­tisch so we­nig (das sa­ge ich im Be­wusst­sein mei­ner Ar­ro­ganz). So gut wie je­der bleibt, wenn er im In­ter­net nach In­for­ma­tio­nen sucht, bei Wi­ki­pe­dia hän­gen. Als »Be­weis« gilt heu­te ein link, das ei­ne Wort wur­de durch das an­de­re er­setzt, und als link gilt den al­ler­mei­sten nur ei­ner, der zu Wi­ki­pe­dia führt. Wi­ki­pe­dia ist de fac­to die ein­zi­ge Wissens­quelle; sucht man kon­kret nach ei­ner In­for­ma­ti­on, kommt der Wi­ki­pe­dia-Ein­trag im­mer an er­ster Stel­le. Was ist das, wenn nicht Gleich­schal­tung? Frei­wil­li­ge, au­to­ma­ti­sche, tech­nisch ge­stütz­te, eben­so wun­der­sa­me wie wun­der­ba­re Gleich­schal­tung. Ich schrei­be »wun­der­bar«, weil Wi­ki­pe­dia in sich selbst viel­fäl­tig ist, sei­nem Prin­zip der plu­ra­len und an­ony­men Au­tor­schaft fol­gend, des­sen Pro­blem, wie man weiß, die Kon­trol­le ist, oh­ne die es eben­falls nicht exi­stie­ren kann. Die Viel­falt kann sich ver­grö­ßern, und ei­ne der Denk­anstrengungen, die sich in die­sem Zu­sam­men­hang loh­nen, be­zieht sich auf die Fra­ge, wel­che Maß­nah­men kon­kret zu er­grei­fen wä­ren, um sie zu ver­grö­ßern und so die unver­meidliche Gleich­schal­tung ab­zu­mil­dern, zum Teil viel­leicht rück­gän­gig zu ma­chen. (Ei­ne Mög­lich­keit wä­re, zu ei­nem Stich­wort meh­re­re Ein­trä­ge zu ver­öf­fent­li­chen. Wo­bei sich als näch­ste Fra­ge er­hebt: Wie ru­bri­zie­ren? Wel­che Kri­te­ri­en wen­den wir an?)

Wun­der­bar, wun­der­sam und wun­der­lich: Die Re­la­ti­vi­täts­theo­rie steht da gleich­be­rech­tigt – ein biss­chen um­fang­rei­cher er­läu­tert, schon wahr – ne­ben x‑beliebigen Pop­stern­chen und dritt­klas­si­gen Fuß­ball­spie­lern, über die ir­gend­ein »Au­tor« die »In­for­ma­tio­nen« mit be­wun­derns­wer­ter Akri­bie zu­sam­men­ge­tra­gen hat.

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Ich ho­le Atem... At­men kann man ja noch, Luft gibt es, Na­tur, im­mer da. Der Him­mel oben, die Wol­ken, die Ster­ne, nachts. Nietz­sche war, das muss man bei al­ler Sym­pa­thie sa­gen, So­zi­al­dar­wi­nist. Er hat Dar­win, der da­mals im Schwan­ge war, für sich ent­deckt, ge­le­sen, mit sei­nen frü­hen Er­kennt­nis­sen und Be­ob­ach­tun­gen kurz­ge­schlos­sen. Der »Psy­cho­log« wird zum »Hy­gie­ni­ker«; Rei­ne­ma­chen im christ­lich-de­mo­kra­ti­schen Sau­stall der See­len. Okay. Als Ro­nald Rea­gan und Mar­ga­ret That­cher die Welt­herr­schaft des so­ge­nann­ten Neo­li­be­ra­lis­mus ein­läu­te­ten, konn­te man noch pro und kon­tra sein. Man konn­te ab­wä­gen und da­für­hal­ten. In Ar­gen­ti­ni­en ha­be ich er­lebt, wel­che flä­chen­decken­den Ver­wü­stun­gen der Pri­va­ti­sie­rungs­wahn in Wirt­schaft, Ge­sell­schaft und See­len an­ge­rich­tet hat. In Ja­pan ha­be ich ge­se­hen, dass es un­ter be­stimm­ten Be­din­gun­gen egal ist, ob ei­ne Ein­heit, ein Be­trieb, ei­ne Bahn­li­nie, ei­ne Grup­pe, ei­ne In­sti­tu­ti­on »pri­vat« oder »öf­fent­lich« ist. Die Be­din­gun­gen wa­ren und sind so, dass man zu­erst an den an­de­ren und dann an sich denkt. Ganz schlicht ge­spro­chen. Es ist die­sel­be Ethik, frag­los und oh­ne viel Re­fle­xi­on prak­ti­ziert, die der aus Li­tau­en stam­men­de Phi­lo­soph Em­ma­nu­el Lé­vi­n­as ge­dul­dig schrift­lich ent­wickelt hat, aus der wohl­ver­stan­den, ge­wiß auch kri­tisch be­trach­te­ten jü­disch-christ­li­chen Zi­vi­li­sa­ti­on her­aus und hin­ein in das mör­de­ri­sche 20. Jahr­hun­dert, das Leu­te wie Lé­vi­n­as in Gas­öfen steck­te. Nietz­sche, das ar­me Schwein, war der er­ste, der die­se Zi­vi­li­sa­ti­on in Bausch und Bo­gen und mit vie­len de­tail­lier­ten Ar­gu­men­ten, tau­sen­den Na­del­sti­chen, ver­warf.

Wir sind Tie­re, gut; aber war­um sol­len wir sein wie die Tie­re? War­um sol­len wir Tie­re wer­den? Nein, Mensch, Kon­su­ment, Usant: Wer­de nicht, was du bist! Wer­de ein an­de­rer, ein Nicht-Tier! Du hast al­le Trümp­fe in der Hand! Vor al­lem du, jun­ge Ver­käu­fe­rin! Du, Ju­gend­li­cher! Du, Kind! Du brauchst kein Com­pu­ter­spiel, kei­ne Love-Ac­tion, kei­ne Pa­ra­de, kei­ne So­zi­al­kon­tak­te! Du kannst das al­les selbst, al­lein, zu zweit, und was du nicht kannst, kannst du ler­nen! Du kannst spie­len, kannst lie­ben, kannst dich aus­tau­schen. Es ist nichts da­bei! Die dort, die grau­en Her­ren, al­so die Mas­sen­me­di­en –das, was heu­te, »Sy­stem« ist – die wol­len dir das nur ein­re­den. Sie re­den in ei­nem fort auf dich ein, mit und oh­ne Mu­sik, die frü­her ein­mal ein Frei­heits­born war. (Ma­don­na, was für Wör­ter es gibt!) Be­den­ke, du musst nie­man­den aus dem Feld schla­gen. Freund­schaft kann so aben­teu­er­lich sein wie der Über­le­bens­kampf im Dschun­gel im Fern­se­hen (ver­giss den Dschun­gel, ver­giss das Fern­se­hen). Be­den­ke, du bist nicht ein­sam, du bist nicht ge­fan­gen, du kannst je­der­zeit zwi­schen den Git­ter­stä­ben durch. »Flim­mer­tier Lid ru­dert nach oben, gibt ei­nen Blick frei...« Das hat Paul Ce­lan ge­schrie­ben, in ei­nem Ge­dicht na­mens Sprach­git­ter... Gar nicht so enig­ma­tisch, wie die aka­de­mi­schen Aus­le­ger tun. Nimm es dir ein­fach zu Her­zen: Gib den Blick frei und nimm den Blick dei­nes Ge­gen­übers auf, so kommst du auch zwi­schen dicke­ren Stä­ben durch.

Ge­ra­de ha­be ich Em­ma­nu­el Lé­vi­n­as »ge­goo­gelt«, wie man sagt (ei­nes der neu­en »Tätigkeits­wörter«). Er­ster Ein­trag Wi­ki­pe­dia, was sonst. Der Um­fang et­wa so groß wie bei ei­nem zweit­klas­si­gen Fuß­bal­ler. Haar­sträu­bend, echt: Mir sträu­ben sich die Haa­re. Über Fer­nan­do Ca­ve­n­aghi, ei­nen Fuß­ball­spie­ler der zwei­ten ar­gen­ti­ni­schen Li­ga, er­fährt man mehr als über Lé­vi­n­as, der sich den­kend und schrei­bend mit sei­nem Jahr­hun­dert aus­ein­an­der­ge­setzt hat (wur­de neun­zig Jah­re alt und war bis zu­letzt gei­stig re­ge). Aber egal, an der­lei sind wir ge­wöhnt, ich ent­neh­me dem Ein­trag im­mer­hin die In­for­ma­ti­on, dass er Be­geg­nung als grund­le­gen­de Mög­lich­keit zum An­gel­punkt des ethi­schen Den­kens ge­macht hat (et­was, das der So­zi­al­dar­wi­nis­mus nicht vor­sieht) und den Näch­sten, das Ge­gen­über, zum Al­ter Ego er­klärt, dem man schon aus Grün­den der Ei­gen­lie­be kei­nen Scha­den zu­fü­gen soll­te. Al­te, jü­disch-christ­li­che, aber an­pas­sungs­fä­hi­ge, er­neu­er­ba­re, kei­nes­wegs re­li­gi­ös ge­bun­de­ne Wer­te. Die na­tür­lich die kon­kre­ten Pro­ble­me, et­wa im Ge­fol­ge der so­ge­nann­ten Glo­ba­li­sie­rung, nicht lö­sen wer­den, aber viel­leicht lö­sen hel­fen. Wer­te die­nen der Ori­en­tie­rung, sie wer­den kaum je im vol­len Sinn »ver­wirk­licht« – Nietz­sche hat die­se Tat­sa­che, die­ses Ver­hält­nis viel zu we­nig be­rück­sich­tigt, er hat im­mer so ge­tan und oft wahr­schein­lich ge­glaubt, dass das, was christ­li­che und so­zia­li­sti­sche Pre­di­ger ver­kün­den, ge­sell­schaft­li­che Rea­li­tät sei. Nein, eben weil es nicht Rea­li­tät ist, brau­chen wir die Wer­te, die die Er­bärm­lich­keit un­se­rer Rea­li­tät – die­ser se­kun­dä­ren Pseu­do-Rea­li­tät heu­te – mil­dern hel­fen. Franz Schuh hat es un­längst so for­mu­liert: »Mo­ra­li­sche An­sprü­che an an­de­re Men­schen und an ei­nen selbst kön­nen stim­men, selbst wenn auf der Welt nie­mals ein Mensch exi­stier­te, der sie je er­füll­te.«

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Schuh hat noch et­was an­de­res for­mu­liert, d. h. zu­ge­spitzt, sei­ner Kunst und Vor­lie­be ent­spre­chend. Er hat vor­ge­schla­gen, den Wer­te­re­la­ti­vis­mus, oh­ne den ei­ne de­mo­kra­ti­sche, plu­ra­li­sti­sche, der in ih­rem Schoss wir­ken­den Gleich­schal­tungs­ten­denz wi­der­ste­hen­de Ge­sell­schaft nicht exi­stie­ren kann, mit ei­ner Wert­hal­tung zu ver­bin­den. Mit »Wert­haltung« meint er, wenn ich ihn rich­tig ver­ste­he, das Fest­hal­ten auf ei­ner über­schaubaren Zahl von Grund­wer­ten, die zwar dis­ku­tier­bar, aber den­noch ver­bind­lich sein sol­len. Die­ses Pro­jekt be­zeich­net er als »Qua­dra­tur des Krei­ses«, mit Recht: Je­des gei­sti­ge Unter­nehmen, das sei­nen Na­men ver­dient, ist ei­ne sol­che Qua­dra­tur. Wenn wir, mit wel­chen Be­grif­fen auch im­mer, un­ser Da­sein be­den­ken, oh­ne bei ei­ner Tran­szen­denz Zu­flucht zu neh­men, führt es uns in sei­ner Im­ma­nenz zu Apo­rien, die wir nicht »über­winden«, mit de­nen wir aber auf die­se oder je­ne Wei­se zu­recht­kom­men kön­nen (und müs­sen).

Mit der Kier­ke­gaard-Krücke auf­ge­zäumt: Viel­leicht ist es im je ein­zel­nen Da­sein mög­lich, das Äs­the­ti­sche und das Ethi­sche zu ver­bin­den. Viel­leicht kann es so­gar ge­nü­gen (schließ­lich wol­len wir kei­ne über­mensch­li­chen An­stren­gun­gen ver­lan­gen, nur et­was recht Nor­males), bald den Au­gen­blick zu ge­nie­ßen, al­so sich in ero­ti­schen und/oder äs­the­ti­schen Si­tua­tio­nen zu be­haup­ten, und ethi­sche Prin­zi­pi­en zu ver­wirk­li­chen, die Rück­sicht und Vor­aus­sicht ver­lan­gen. Viel­leicht wird man nicht schi­zo­phren, wenn man bald das ei­ne, bald das an­de­re tut – oder schi­zo­phren in ei­nem an­de­ren, po­si­tiv ge­wer­te­ten Sinn, ein biss­chen wie bei De­leu­ze und Guat­ta­ri. Je nach den kon­kre­ten Maß­ga­ben wird man das äs­the­ti­sche oder das ethi­sche Kri­te­ri­um vor­zie­hen und gel­tend ma­chen. Ein sol­ches Ver­hal­ten nennt man »prag­ma­tisch«, und ein schi­zo­phre­nes Ver­hal­ten könn­te man, mit ei­nem äl­te­ren, an­ti­ki­schen Wort, als pa­ra­dox be­zeich­nen. So dass sich so­gar ei­ne For­mel er­gä­be, für Wer­be­kam­pa­gnen ge­eig­net: PARADOXE PRAGMATIK.

Der pa­ra­do­xe Prag­ma­ti­ker stellt sich nicht vor die tra­gisch an­ge­hauch­te Ent­schei­dung des Ent­we­der-Oder. Er lebt in ei­nem So­wohl-Als-auch, ei­nem, un­ter zeit­li­chem Ge­sichts­punkt, »Bald dies, bald je­nes«, und er muss sich je­des­mal neu ent­schei­den, Tag für Tag, wis­send, dass es kei­ne Tra­gö­die ist, son­dern mei­stens wie­der gut­zu­ma­chen, wenn er sich ein­mal täuscht.

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Ach ja, Wi­ki­pe­dia... In den USA kann man die Sei­te der Sei­ten heu­te gar nicht be­su­chen, es herrscht dort ein ein­tä­gi­ges In­for­ma­ti­ons-Black­out. Im Ernst: Un­ter heu­ti­gen Be­din­gun­gen weiß oh­ne Wi­ki­pe­dia nie­mand mehr ir­gend et­was, die Leu­te spei­chern ja sel­ber nichts; ih­re Ge­dächt­nis­lei­stungs­fä­hig­keit ist tief ge­sun­ken, statt nach­zu­den­ken klicken sie an ih­ren Ma­schin­chen her­um. Der US-ame­ri­ka­ni­sche Ge­setz­ge­ber, durch den sich die Wi­ki­pe­dia-Be­trei­ber be­droht se­hen, ist durch den Schutz des »Ei­gen­tums« mo­ti­viert, d. h. durch be­stimm­te Ei­gen­tü­mer, de­ren öko­no­misch-po­li­ti­sche Macht rie­sig und welt­um­span­nend ist.

Ich selbst, nun ja, ich ha­be nichts zu sa­gen, aber sei’s drum: Ich bin kein Frei­heits­apo­stel. Ich pro­du­zie­re, falls über­haupt et­was, gei­sti­ge Din­ge (die auf ma­te­ri­el­le Trä­ger an­ge­wie­sen sind), hat­te aber noch nie das Ge­fühl, sie ge­hör­ten mir, noch nie das Be­dürf­nis, sie zu schüt­zen. Im Ge­gen­teil, ich wür­de mir wün­schen, dass sich mehr Men­schen mei­ne Her­vor­brin­gun­gen an­eig­nen. Je­ne, die am lau­te­sten nach dem Schutz von gei­sti­gem Ei­gen­tum ru­fen, sind die Her­ren der »Un­ter­hal­tungs­bran­che« im en­gen und har­ten Sinn, nicht un­be­dingt (oder nicht ganz) in dem von mei­ner Ver­käu­fe­rin ge­mein­ten, es sind die Kul­tur­kon­zer­ne, die ei­ne der gro­ßen kul­tu­rel­len Hoff­nun­gen zer­stört ha­ben, näm­lich die Pop-Mu­sik und nicht nur die Mu­sik, son­dern die ge­sam­te Pop-Kul­tur. Statt des­sen, im Na­men des »Pop«, der jetzt auch sei­ne An­füh­rungs­zei­chen ver­dient, be­ackern sie die Welt mit ih­ren Ver­däm­li­chungs­stra­te­gien. Sie ha­ben die Neue­run­gen der sech­zi­ger und sieb­zi­ger Jah­re ih­rer Wirt­schafts­ord­nung ein­ge­glie­dert und dem le­ben­di­gen Aus­druck der Schöp­fer den Bo­den ent­zo­gen.

Der Aus­tausch soll frei sein! Es soll ein Aus­tausch sein, der die­sen Na­men ver­dient! Das sagt ei­ner der lei­sen Ru­fer, ein Ver­spreng­ter der Un­ter­hal­tungs­bran­che, der sich nicht mit dem Klicken auf OK-Fel­der be­gnü­gen will.

© Leo­pold Fe­der­mair


Die­ser Text ist erst­ma­lig in der Gra­zer Li­te­ra­tur­zeit­schrift »Lich­tun­gen« er­schie­nen; Heft 129 des Jahr­gangs 2012.


Be­mer­kung: In­zwi­schen ist der Ein­trag in der deut­schen Wi­ki­pe­dia über Lé­vi­n­as aus­führ­li­cher als der über den ar­gen­ti­ni­schen Fuss­ball­spie­ler. Was viel­leicht auch ein Zei­chen sein könn­te. – G. K. -

14 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Das im­mer­hin könn­te man dem Wi­ki­pe­dia-Ein­trag ent­neh­men, dass Le­vi­n­as sich eben so schreibt und nicht Lé­vi­n­as ... À pro­pos Schreib­wei­se: Ich fra­ge mich, was die Recht­schreib­re­form mit der Sprach­qua­li­tät der Face­book-Kom­men­ta­re zu­tun ha­ben kann. Wie kann ei­ne Ver­än­de­rung der Schreib­wei­sen ei­ni­ger Wör­ter den Sprach­ge­brauch bein­flus­sen?

  2. Es kann sein, dass ich das »é« ge­gen das »e« er­setzt ha­be, weil ich ein Buch von ihm mit die­ser Schrei­bung be­sit­ze. Im an­gel­säch­si­schen Raum wird er sehr häu­fig »Lé­vi­n­as« ge­schrie­ben. Sa­lo­mon Mal­kas Bio­gra­phie folgt auch die­ser Schreib­wei­se, was dar­an lie­gen kann, dass er Fran­zo­se ist (im Per­len­tau­cher-Vor­ab­druck hat man das dann ge­tilgt).

    Ih­re Fra­ge ob die un­ter­schied­li­che Schreib­wei­se den Sprach­ge­brauch be­ein­flus­sen kann, ist in­ter­es­sant. (Bei Lé­vi­n­as oder Bo­hè­me ge­gen Le­vi­n­as und Bo­he­me kann ich das min­de­stens was die Aus­spra­che an­geht, be­ja­hen.)

  3. Will man die­ses sprach­li­che De­tail wirk­lich er­ör­tern, soll­te man zu­nächst be­den­ken, daß Le­vi­n­as in Li­tau­en ge­bo­ren ist. Dort wur­de sein Na­me wohl oh­ne Ak­zent ge­schrie­ben. »Lé­vi­n­as« ist ei­ne An­pas­sung an die in Frank­reich üb­li­che Aus­spra­che des Na­mens, aber tat­säch­lich fin­det man bis heu­te bei­de Schreib­wei­sen. Im fran­zö­si­schen Wi­ki­pe­dia­ein­trag steht Le­vi­n­as oh­ne Ak­zent, im eng­li­schen mit.
    (Mei­ne fran­zö­si­schen Freun­de schrei­ben mich manch­mal spon­tan »Lé­o­pold«. Mir ge­fällt das. Im deutsch­spra­chi­gen Be­reich bin ich na­tür­lich »Leo­pold«.)
    Was die Recht­schreib­re­form an­be­langt: Ich ha­be nie die Not­wen­dig­keit ver­stan­den, die Kon­junk­ti­on »daß« nach Jahr­hun­der­ten pro­blem­lo­sen or­tho­gra­phi­schen Ge­brauchs auf »dass« zu än­dern. Nach mei­ner Be­ob­ach­tung ist ein gro­ßer Teil der deutsch­spra­chi­gen Be­völ­ke­rung seit­her un­si­cher, wenn sie zwi­schen »das« und »dass« un­ter­schei­den soll. Die Kon­junk­ti­on von Dass-Sät­ze wird sehr oft falsch ge­schrie­ben, wie man z.B. in In­ter­net-Fo­ren se­hen kann. Mir scheint, daß die Re­form in ei­ni­gen Punk­ten lang­fri­stig Ver­wir­rung ge­stif­tet und nicht zur Stär­kung des all­ge­mei­nen Sprech- und Schreib­ver­mö­gens bei­getra­gen hat, was nach mei­ner Auf­fas­sung Ziel ei­ner sol­chen Re­form sein soll­te (falls man sie über­haupt für nö­tig er­ach­tet).
    Viel­leicht nur ei­ne per­sön­li­che Sa­che: Ich wer­de mich nie an Schrei­bun­gen wie »im Üb­ri­gen«, »im Fol­gen­den« usw. ge­wöh­nen. Je­des­mal, wenn ich hier den Groß­buch­sta­ben le­se, zucke ich zu­sam­men.

  4. Hm, ich emp­fin­de das »im Üb­ri­gen«, u.ä., als fol­ge­rich­tig, wo­mit ich we­ni­ger zu recht kom­me, ist, dass vie­le Wor­te nicht mehr zu­sam­men­ge­setzt blei­ben, son­dern, mei­nem Emp­fin­den nach, aus ein­an­der ge­ris­sen wer­den.

  5. Die Ge­trennt­schrei­bung stört mich auch manch­mal. In die­sen Be­rei­chen soll­te es mehr Frei­heit ge­ben, den­ke ich, oder man nimmt sich die Frei­heit eben. »Im Üb­ri­gen« ist lo­gisch, ja, weil vor dem Wort ja ein Ar­ti­kel steht. Aber dem se­man­ti­schen Emp­fin­den ent­spricht es (bei mir) nicht. Ähn­lich wie wenn in ei­nem Text für ein Kind im­mer wie­der das Pro­no­men »es« ver­wen­det wird.

    Zum Hin­weis Keu­sch­nigs auf Wi­ki­pe­dia: Ich ge­hö­re zu de­nen, die die gro­ßen Mög­lich­kei­ten von Wi­ki­pe­dia zu schät­zen wis­sen. Zum Bei­spiel das dau­ern­de Kor­ri­gie­ren und Ak­tua­li­sie­ren von Bei­trä­gen.
    Ei­nes der we­sent­li­chen Pro­ble­me scheint mir mit dem Wu­che­rungs­cha­rak­ter des In­ter­nets zu­sam­men­zu­hän­gen; die Re­dak­teu­re von Wi­ki­pe­dia ver­su­chen ja durch­aus, dem ent­ge­gen­zu­wir­ken. Die dem so­zu­sa­gen ob­jek­ti­ven Wu­chern ent­spre­chen­de sub­jek­ti­ve Ver­hal­tens­wei­se ist das Sur­fen. Ich fürch­te, daß bei jün­ge­ren und noch kom­men­den Ge­ne­ra­tio­nen da­durch die Art und Wei­se fun­da­men­tal ge­prägt wird, wie In­for­ma­ti­on und Wis­sen auf­ge­nom­men bzw. an­ge­streift wer­den, und auch, wie Zu­sam­men­hän­ge her­ge­stellt wer­den, näm­lich im zu­falls­ge­steu­er­ten Selbst­lauf. Die All­ge­gen­wart sol­cher En­zy­klo­pä­dien – und letzt­lich die­ser ei­nen, denn auf an­de­re greift kaum noch ein »User« zu­rück – führt da­zu, daß man sich Wis­sen nicht mehr »an­eig­nen« muß, weil man sie ja im­mer aufs neue »an­klicken« kann. Man muß sich so­zu­sa­gen gar nichts mehr mer­ken und ist trotz­dem nicht dumm. Man muß nur die Klick- und Surf­tech­nik be­herr­schen.

  6. Als ich En­de der 1970er Jah­re mei­ne Aus­bil­dung mach­te, sag­te ein von mir da­mals ge­schätz­ter Chef zu mir, man müs­se sich nicht al­les mer­ken, es ge­nü­ge, wenn man wüss­te, wo man es nach­le­sen könn­te.

    In­zwi­schen ist dies tat­säch­lich Rea­li­tät ge­wor­den. Ich be­nut­ze die Wi­ki­pe­dia ja auch und ver­lin­ke sie manch­mal hier. Aber der Schein der all­um­fas­sen­den und vor al­lem kor­rek­ten In­for­ma­ti­on ist doch sehr trü­ge­risch. Wenn man sich auf dem ein oder an­de­ren Ge­biet et­was bes­ser aus­kennt, merkt man durch­aus Feh­ler und Er­gän­zungs­not­wen­dig­kei­ten. Ich ha­be das frü­her dann kor­ri­giert, aber schnell wie­der sein­ge­las­sen, weil es teil­wei­se wie­der zu­rück­ge­nom­men wur­de und von mir Be­le­ge ver­langt wur­den.

    Die Ge­fahr be­steht, dass sol­che Feh­ler zur Wahr­heit er­klärt wer­den – und um­ge­kehrt, ab­wei­chen­de Aus­sa­gen im Ver­gleich zur Wi­ki­pe­dia al­lei­ne des­we­gen als falsch gel­ten. Such­ma­schi­nen ver­stär­ken sol­che Ef­fek­te noch, weil sie nur quan­ti­ta­tiv vor­ge­hen kön­nen. Wenn ‑zig­mal Sach­ver­halt A1 ge­nannt ist und ein­mal Sach­ver­halt A2 wird auf den er­sten Sei­ten der Such­ergeb­nis­se im­mer A1 ge­nannt wer­den und als Fak­tum gel­ten.

    Zur Recht­schreib­re­form: Ich kann mich noch dar­an er­in­nern, dass man in den 80ern so­gar die Gross- und Klein­schrei­bung ab­schaf­fen woll­te. Ich be­haup­te, wenn wir da­mals be­reits »glo­ba­li­siert« ge­we­sen wä­ren, hät­te man das wo­mög­lich mit dem Ar­gu­ment der »Wett­be­werbs­fä­hig­keit« der deut­schen Spra­che durch­ge­boxt. Wo­mög­lich wä­ren dann auch Um­lau­te und das »ß« voll­kom­men ver­schwun­den.

    Ich ge­ste­he, in et­li­chen Punk­ten bei der »rich­ti­gen« Recht­schrei­bung nicht mehr durch­zu­blicken. Zu­sam­men-/Ge­trennt­schrei­bung; »im üb­ri­gen« oder »im Üb­ri­gen« – ich muss das im­mer nach­schla­gen und wenn die Aus­sa­gen nicht ein­deu­tig sind, ent­schei­de ich nach Ge­fühl. Das gilt ins­be­son­de­re für die Set­zung von Kom­ma­ta. Das Doppel‑s statt »ß« macht mir nichts aus; eher im Ge­gen­teil. Ich stel­le fest, dass ich hand­schrift­lich au­to­ma­tisch »daß« schrei­be; in Tex­ten aber fast im­mer »dass« (so ha­be ich auch die­sen Es­say von Leo­pold Fe­der­mair ent­spre­chend ver­än­dert, was ich nach­träg­lich be­daue­re).

    Beim Le­sen von Tex­ten be­mer­ke ich die Dif­fe­ren­zen kaum (au­ßer im »daß«/»dass«). Pro­ble­me ha­be ich mit län­ge­ren, durch­gän­gig in Klein­buch­sta­ben ge­schrie­be­nen Tex­ten (wie bei der frü­hen Je­li­nek bspw). Ei­ne grö­ße­re Ge­fahr als die Schreib­wei­se von Wör­tern stellt für mich die fort­schrei­ten­de Ver­hun­zung der Spra­che durch An­gli­zis­men dar. Nicht, dass ich für ei­ne »rei­ne« Spra­che ein­tre­ten wür­de, aber wenn rd. 80% der Ge­schäf­te in den Ein­kaufs­zen­tren mit »SALE« wer­ben, so fra­ge ich mich, wie be­scheu­ert man da­für sein muss. (Mei­ne Schwie­ger­mut­ter, 86, kann da­mit rein gar nichts an­fan­gen und frug mich ein­mal, was die da ei­gent­lich ver­kau­fen.)

  7. Was sich mit den be­schrie­be­nen Pro­zes­sen ver­än­dert hat, ist, dass Wis­sen kaum noch sy­ste­ma­ti­siert an­ge­eig­net bzw. an­ge­legt wird; ich se­he das an mir selbst, wenn ich mit äl­te­ren Se­me­stern spre­che, ich mei­ne dort auf ei­ne Ord­nung zu tref­fen, die ich gar nicht mehr ken­ne (wo­bei hin­zu kommt, dass ich grund­sätz­lich zum Chao­ti­schen ten­die­re). Na­tür­lich hat das auch mit der Viel­falt zu tun auf die man zu­grei­fen kann.

    Die Er­run­gen­schaf­ten der Wi­ki­pe­dia sind un­be­strit­ten, für sie gilt was für je­de En­zy­klo­pä­die gilt: Sie muss sich be­schrän­ken, um das sein zu kön­nen was sie sein soll. An die Gren­zen je­der En­zy­klo­pä­die stößt man m.E. recht schnell, wenn man sich mit ei­nem The­ma ein­ge­hen­der be­schäf­tigt, aber das liegt, wie ge­sagt, in der Na­tur der Sa­che. Pro­ble­ma­ti­scher ist da eher ih­re vor­herr­schen­de Stel­lung, toll wä­re, wenn es meh­re­re kon­kur­rie­ren­de und frei zu­gäng­li­che En­zy­klo­pä­dien gä­be.

    Zur Recht­schrei­bung: Mir geht es ähn­lich wie Gre­gor, ge­wis­se Din­ge weiß ich ein­fach nicht. Das schei­nen aber kei­ne Ein­zel­fäl­le zu sein, und viel­leicht ist in die­sem Kon­text Frei­heit (die ich sonst sehr schät­ze) gar kei­ne so gu­te Idee ge­we­sen, weil sie Un­si­cher­heit bzw. Un­klar­heit mit sich bringt.

  8. Viel­leicht ha­be ich den Ar­ti­kel falsch ge­le­sen und nicht mit­be­kom­men, dass es um Recht­schrei­bung geht. Ich per­sön­lich muss schon über­le­gen, ob Kom­mu­ni­ka­ti­on zwei mm auf­weist oder ob: Hol’s der Kuckuck ei­nen Apo­stroph braucht. Wenn es aber um Kon­tak­te zum Näch­sten geht, ge­nüg­te mir schon oft ein feh­ler­haf­tes Spre­chen in ei­ner Fremd­spra­che, um span­nen­de Au­gen­blicke her­auf­zu­be­schwö­ren im di­rek­ten Aus­tausch mit ei­nem Ge­gen­über aus Fleisch und Blut. So ha­be ich den Ar­ti­kel ei­gent­lich ver­stan­den, dass wir ech­te Be­geg­nun­gen aus dem Au­gen­blick her­aus su­chen, an­statt in der vir­tu­el­len Welt um­her­zu­g­ei­stern. So­mit su­che ich das Lä­cheln der Ver­käu­fe­rin und be­trach­te ih­ren fremd­län­di­schen Ak­zent als Be­rei­che­rung. Ich lie­be die Viel­falt der Spra­che, ich lie­be sie auch als Spiel­feld, wo­bei ich die Gren­zen gern nach Be­lie­ben aus­wei­te und gern auch ein we­nig Ver­wir­rung stif­te, denn Re­geln sind da um ein­ge­hal­ten zu wer­den oder eben auch nicht.

  9. Recht­schrei­bungs­fra­gen sind in dem Ar­ti­kel nur ein Ne­ben­aspekt. Ich per­sön­lich mes­se ih­nen auch kei­nen all­zu gro­ßen Stell­wert bei. Wie man heut­zu­ta­ge mit Wis­sen um­geht, ist die Aus­gangs­fra­ge, aber auch, wie die ent­spre­chen­den Ver­än­de­run­gen auf mensch­li­che Be­zie­hun­gen wir­ken. In mei­nen Es­says kom­me ich von Er­klä­run­ges­ver­su­chen zum Er­zäh­len und um­ge­kehrt. Manch­mal sa­ge ich mir, ich soll­te we­ni­ger er­klä­ren.
    Keu­sch­nig spricht die Ran­kings der Such­ma­schi­nen an: ei­ne Dy­na­mik, die der Ten­denz zur end­lo­sen Plu­ra­li­sie­rung scharf ent­ge­gen­wirkt und die schein­ba­re Viel­falt auf ein Ein­heits­den­ken zu­rück­biegt. Meh­re­re kon­kur­rie­ren­de En­zy­klo­pä­dien im In­ter­net zu ha­ben, wä­re prin­zi­pi­ell nicht schlecht. An­de­rer­seits ent­hält Wi­ki­pe­dia in sich die­se Mög­lich­kei­ten, man könn­te zu ein­zel­nen Stich­wor­ten meh­re­re Ar­ti­kel ak­zep­tie­ren. Da­zu müß­te die re­dak­tio­nel­le Ar­beit al­ler­dings we­sent­lich mehr ent­wickelt wer­den. Prin­zi­pi­ell kann ja je­der, kön­nen al­le Sicht­wei­sen und Denk­rich­tun­gen an dem Pro­jekt mit­wir­ken. Ich ha­be selbst nie an ei­nem Wi­ki­pe­dia-Ar­ti­kel ge­schrie­ben, aber nach dem, was Keu­sch­nig von sei­nen Er­fah­run­gen er­zählt, ist ei­ne kon­trol­lier­te Di­ver­si­fi­zie­rung die­ser Art nicht zu er­war­ten.

  10. Ein An­re­gen­der Text.

    Be­ein­spru­chen möch­te ich die Gleich­set­zung des Äs­the­ti­kers (der viel­leicht zu de­fi­nie­ren wä­re) mit Don Gio­van­ni: Ich ge­he mit, dass letz­te­rer, hin­sicht­lich der Ma­xi­mie­rung von Ver­gnü­gen oder Sinn­lich­keit, die er als blo­ße Quan­ti­tät be­greift, der »Mann« un­se­rer Ta­ge ist; aber: Tut der Äs­the­ti­ker nicht et­was gänz­lich an­de­res? Für ihn ist das sinn­li­che Er­leb­nis doch a) nicht gleich­mä­ßig über die Welt ver­teilt, al­so, so­zu­sa­gen, an das Ob­jekt mit sei­ner Be­son­der­heit und das Sub­jekt mit sei­nen Fä­hig­kei­ten ge­bun­den, und dar­über hin­aus: Ist er nicht der­je­ni­ge, der sein Er­leb­nis ent­ge­gen der Ab­stump­fung sei­ner Sin­ne, des zu viel, zu er­hal­ten trach­tet (und auch weiß)? Und ist, in die­sem Letz­ten, weil es kei­ne rei­ne Sinn­lich­keit mehr ist, weil Ver­stand und Ver­nunft be­reits her­ein spie­len, nicht schon die Grund­la­ge ei­ner Ethik ent­hal­ten, Ih­re pa­ra­do­xe Prag­ma­tik?

    Ist der Kon­su­ment tat­säch­lich Kö­nig oder nicht viel­mehr das Ge­gen­teil (mir schlägt an der be­tref­fen­den Stel­le ei­gent­lich kei­ne Iro­nie ent­ge­gen)? Und ist das Spiel, dass er spielt, über­haupt ei­nes? Nicht schon längs (auch) Zwang? Die im­mer wei­ter auf­ge­ho­be­ne Tren­nung von öf­fent­li­chen und pri­va­ten An­ge­le­gen­hei­ten, das Sich-ver­kau­fen-müs­sen um je­den Preis, ist das nicht ein In­diz da­für (Ich er­in­ne­re mich ge­ra­de an den Hin­weis ei­nes Be­kann­ten, ei­ne De­tail am Ran­de: Dass man sei­ne Hob­bys in ei­ner Be­wer­bung auf­li­stet, ist völ­lig nor­mal ge­wor­den.)? — Spä­ter schrei­ben Sie auch von »Mas­sen­zwangs­neu­ro­se«.

    Dass das In­ter­net ei­ne Gleich­schal­tung der In­for­mier­ten be­wirkt, be­zweif­le ich (oder an­ders: Wenn dann ge­schieht das in den üb­ri­gen Me­di­en ge­nau­so, oder noch in viel stär­ke­rem Maß, war­um soll das Netz hier ei­ne her­aus­ra­gen­de Po­si­ti­on ein­neh­men, nir­gend­wo an­ders kann man sich durch ei­ge­nes Be­mü­hen so leicht und schnell an­de­ren Sicht­wei­sen zu­wen­den, vor­aus­ge­setzt man will das?).

    Dass Wi­ki­pe­dia die ein­zi­ge Wis­sens­quel­le wä­re, ist ein­fach nicht rich­tig, das kann ich nach fast zehn­jäh­ri­ger Dis­kus­si­ons­er­fah­rung im Netz zu­min­dest für mein Um­feld sa­gen; wo Wi­ki­pe­dia im­mer ei­ne Rol­le spielt, ist, wenn man an ei­nem Abend in hei­te­rer Run­de zu­sam­men sitzt und rasch ei­ne Streit­fra­ge lö­sen will (aber meist in­ter­es­siert das nach fünf Mi­nu­ten nie­mand mehr). — Ei­nen Link ver­ste­he ich als Ver­weis auf ei­ne Quel­le, die ge­nau­so kri­tisch zu be­trach­ten ist, wie je­de an­de­re, die her­kömm­li­chen in­klu­diert. Und ich fin­de, be­vor man, zu­ge­ge­ben nicht ganz falsch, kri­ti­siert, dass nie­mand mehr et­was weiß, soll­te man auch the­ma­ti­sie­ren, wie die Po­le des­sen, was man wis­sen soll­te und über­haupt noch kann, ein­an­der ge­gen­über ste­hen, wie kom­pli­ziert und un­über­sicht­lich die Welt ge­wor­den ist (den­ken wir nur ein­mal an die un­glaub­li­che An­häu­fung des nach na­tur­wis­sen­schaft­li­cher Me­tho­de ge­schaf­fe­nen Wis­sens).

    Sehr schön und auch er­grei­fend das Plä­doy­er an »die jun­ge Ver­käu­fe­rin«, auch wenn ich mir manch­mal, war­nend den­ke, dass man von au­ßen Vor­stel­lun­gen und Bil­der an an­de­re her­an trägt. In­ter­es­sant auch der Hin­weis auf die Zer­stö­rung der Hoff­nun­gen der Pop-Kul­tur. Was hat­ten Sie da im Sinn?

  11. Ah, wenn ich jetzt nicht auf Face­book ge­guckt haet­te, wae­re mir die­ser Ar­ti­kel bzw. die­se Sei­te nicht un­ter die au­gen ge­kom­men. Oh,oh, und ich ge­hoe­re zu den sprachschluderinnen;also ent­schul­digt. Le­ben wir nicht in ei­ner Zeit wo »Wis­sen« mal wie­der ver­lo­ren geht wie schon im so­ge­nann­ten »fin­ste­ren« Mit­tel­al­ter ?
    Doch ich ma­che mir Ge­dan­ken auch wenn ich sie hier nicht so schrift­lich au­e­s­sern kann, wie ich viel­leicht ger­ne moech­te.

  12. An me­tep­si­lo­me­na (aber nicht nur):
    In mei­nem Es­say wei­se ich dar­auf hin, daß ich die Ge­gen­über­stel­lung »ethi­sche vs. äs­the­ti­sche Le­bens­wei­se« von Kier­ke­gaard über­nom­men ha­be. Kier­ke­gaard ex­em­pli­fi­ziert sie mit der Fi­gur des Don Gio­van­ni (nach Mozart/Da Pon­te) – und beim ethisch ori­en­tier­ten Fa­mi­li­en­va­ter denkt er wo­mög­lich an sich selbst, oder be­schreibt ein­fach ei­nen Ide­al­ty­pus. Es ist dies ein an­re­gen­des Denk­mo­dell, nicht mehr und nicht we­ni­ger, ein Her­aus­ar­bei­ten von Ge­gen­sät­zen ähn­lich wie Nietz­sche es mit dem Dio­ny­si­schen und dem Apol­li­ni­schen ge­macht hat. Ich weiß nicht, ob man das Mo­dell im­mer auf die Wirk­lich­keit an­wen­den kann. Wirk­li­che Men­schen sind in der Re­gel viel mehr ge­mischt und wi­der­sprüch­lich in ih­ren Hal­tun­gen und Hand­lun­gen als sol­che Ide­al­ty­pen. Das ge­sam­te bür­ger­li­che Zeit­al­ter hat ja der Ethik den Vor­zug ge­ge­ben, die Äs­the­ti­ker wa­ren durch ih­re blo­ße Exi­stenz Kri­ti­ker der bür­ger­li­chen Ge­sell­schaft, oder, et­was be­schei­de­ner ge­sagt: Stö­ren­frie­de, Au­ßen­sei­ter, Leu­te, die be­wußt oder un­be­wußt zeig­ten, daß et­was an­de­res mög­lich ist. Wäh­rend der Um­wäl­zun­gen in den Jahr­zehn­ten nach dem zwei­ten Welt­krieg hat sich die­ses Ver­hält­nis mei­ner An­sicht nach um­ge­kehrt, das Äs­the­ti­sche (im Sin­ne Kier­ke­gaards), al­so die Au­gen­blicks­be­zo­gen­heit, der He­do­nis­mus, auch ei­ne ge­wis­se Rück­sichts­lo­sig­keit ge­gen­über dem an­de­ren (für die Don Gio­van­ni ste­hen kann), locke­re Fa­mi­li­en­struk­tu­ren, Sin­gle-Da­sein, das al­les wur­de mehr und mehr po­si­tiv be­wer­tet und in die Öko­no­mie ein­be­zo­gen: man kann da­mit sehr viel Geld ma­chen. Na­tür­lich gab und gibt es Ge­gen­be­we­gun­gen, Wi­der­stän­de, Un­be­ha­gen. Es gibt die Kon­ser­va­ti­ven, die auf al­ten Wer­ten be­stehen, und es gibt in der Blü­te­zeit der Pop­kul­tur groß ge­wor­de­ne Men­schen wie mich, die sich im Rück­blick fra­gen, wo­hin uns das ge­bracht hat. In den sech­zi­ger und sieb­zi­ger Jah­ren be­deu­te­te Pop Be­frei­ung von ver­knö­cher­ten Struk­tu­ren, die Be­we­gung hat­te oft auch po­li­ti­sche Im­pli­ka­tio­nen, ih­re Re­prä­sen­tan­ten wa­ren am Rand der Kul­tur­in­du­strie tä­tig oder so­gar ge­gen sie. Wood­stock kam oh­ne Event­agen­tu­ren aus, die Mu­sik von Bob Dy­lan oder Ji­mi Hen­drix fuß­te nicht auf tech­nisch per­fek­ten Sound­ma­schi­nen. Heu­te ist der Pop weit­ge­hend von der In­du­strie auf­ge­fres­sen wor­den, Al­ter­na­ti­ves blüht al­len­falls im Ver­bor­ge­nen (auch wenn prin­zi­pi­ell durch In­ter­net usw. gro­ße Mög­lich­kei­ten be­stün­den: Ich ver­wen­de den Kon­junk­tiv). Im­mer wie­der be­geg­ne ich jun­gen Leu­ten, die sa­gen: Das war da­mals Mu­sik, das war Aus­drucks­stär­ke, das hat­te Le­ben. Und sie hö­ren die­se Mu­sik auch, oder se­hen die Fil­me der Nou­vel­le Va­gue, bei­spiels­wei­se. Man kann sich dank der Zu­gäng­lich­keit von al­lem und je­dem, was kom­mer­zia­li­sier­bar ist, ja Zu­gang ver­schaf­fen. Sol­che Stim­men des Frü­her-war-es-bes­ser hö­re ich von Leu­ten, die die­ses Frü­her nicht selbst er­lebt ha­ben, in Ja­pan, wo ich woh­ne, al­ler­dings nur in sehr klei­nen Krei­sen; ich hö­re sie in Ar­gen­ti­ni­en, wo die Jun­gen die frü­he Mu­sik des »rock nacio­nal« (um 1970, die Jah­re vor der Mi­li­tär­dik­ta­tur) hö­ren; ich le­se sie im In­ter­net, auf You­tube, in Kom­men­ta­ren zum Bei­spiel zu Auf­nah­men von Grace Slick und Jef­fer­son Air­plane. Im Gro­ßen und Gan­zen scheint mir die Ent­wick­lung über die­se Be­we­gun­gen, die vor vier Jahr­zehn­ten viel­leicht die Mehr­heit (!) der Ju­gend­li­chen in den west­li­chen Län­dern er­reich­te, un­ter­drückt oder, im bes­se­ren Fall, ka­na­li­siert wor­den zu sein, von ei­nem öko­no­misch-ideo­lo­gi­schen Kom­plex, der sie für sei­ne Zwecke, d.h. na­tür­lich Pro­fitzwecke, dienst­bar zu ma­chen ver­stand – Stich­wort »Ur­he­ber­recht« (ich ge­brau­che be­wußt An­füh­rungs­zei­chen).
    Nicht al­les läßt sich un­ter­drücken, das ist wahr. Vor kur­zem bin ich zu ei­nem »Fan« ge­wor­den – mit den Jah­ren wird es na­tür­lich schwie­ri­ger, sich ei­ner Sa­che zu ver­schrei­ben, und bei sol­chen Rück­blicken, das sa­ge ich mir selbst, soll­te man im­mer be­den­ken, was aus ei­nem selbst ge­wor­den ist und wel­che Ver­ant­wor­tung man da­für trägt. Ich bin zu ei­nem Mar­tha-Wain­w­right-Fan ge­wor­den und ha­be die größ­te Freu­de, wenn ich ver­fol­gen kann, wie sich die Mu­sik­fa­mi­lie Wain­w­right ent­wickelt hat. Ei­ne oft strei­ten­de, selt­sa­me, längst ge­trenn­te und zeit­wei­se wie­der­ver­ei­nig­te Fa­mi­lie, wie es un­se­ren post­mo­der­nen, äs­the­ti­schen, he­do­ni­sti­schen, ego­isti­schen, neo­li­be­ra­len Zei­ten ent­spricht. 1973 ha­be ich als Ju­gend­li­cher in ei­nem Su­per­markt in den USA ei­ne LP von Lou­don Wain­w­right III ge­kauft, dem Va­ter von Mar­tha und Ru­fus. Und jetzt könn­te ich hier die­se Ge­schich­te er­zäh­len als Bei­spiel für ei­nen auf­rech­ten Al­ter­na­tiv-Pop-Par­cours über die Ge­ne­ra­tio­nen hin­weg – aber ich den­ke, das wür­de den Dis­kus­si­ons­rah­men hier spren­gen.

  13. Ge­le­gent­lich er­tap­pe ich mich sel­ber als »Stim­me des Frü­her-war-es-bes­ser«, aber das hat viel­leicht mit dem Al­ter zu tun und der zu­neh­men­den Ver­wei­ge­rung ei­ner zum Teil künst­lich ver­kom­pli­zier­ten Welt. Dann hö­re ich mir manch­mal be­wusst Mu­sik aus den 70ern an oder schaue (wie ver­gan­ge­nes Jahr) für ei­ne hal­be Stun­de das »Jahr­hun­dert­spiel«. Und da­bei ent­decke ich, wie­viel Ver­klä­rung zu­meist in die­sen Ur­tei­len liegt. Ich durf­te da­mals das Spiel im Fern­se­hen an­schau­en und är­ger­te mich un­säg­lich über den un­ge­rech­ten Schieds­rich­ter. Nicht, weil ich ein ex­pli­zi­ter Deutsch­land-Fan war, son­dern weil es nach Be­trug roch. Es ist der Au­gen­blick, die Si­tua­ti­on, an dem man heu­te noch mit Me­lan­cho­lie oder von mir aus Weh­mut zu­rück­denkt, der ei­nem das Frü­he­re als »bes­ser« er­schei­nen lässt. Die­ser »ge­glück­te Au­gen­blick« (An­leh­nung an Hand­kes ge­glück­ten Tag, den es ja gar nicht gibt, wie er auch sel­ber schreibt), der durch­aus auch ei­ne Kri­se oder ein trau­ri­ger An­lass sein kann, hält sich als Pflock in der Bio­gra­phie. Das wird na­tür­lich sel­te­ner im Lau­fe der Zeit und ge­ra­de da­her wird es dann so wir­kungs­mäch­tig.

    (Das Spiel sel­ber war, wenn man heu­ti­ge Spie­le da­mit ver­gleicht, lang­sam, fast po­ma­dig. Heu­te wird Fuß­ball schnel­ler und da­durch at­trak­ti­ver ge­spielt, aber dar­auf kommt es eben in die­sem Mo­ment nicht an.)

    Ich ha­be neu­lich ei­ne Le­sung ei­ner Schrift­stel­le­rin im Ra­dio ge­hört. Sie ist auch ei­ne gu­te Freun­din und ich weiss von ih­rer schwe­ren Krank­heit, die sie kurz nach der Le­sung (es war ei­ne Auf­zeich­nung) an­ging, zu be­kämp­fen (der­zeit sieht es ganz gut aus). Als die Le­sung hör­te er­in­ner­te mich an mei­ne Lek­tü­re ih­res Bu­ches. Ich las es als ich auf Ur­laub an der Nord­see war (mit mei­ner Frau und mei­ner Schwie­ger­mut­ter) und ob­wohl erst an­dert­halb Jah­re ver­gan­gen wa­ren, kam es mir wie ei­ne Ewig­keit vor. Wir hat­ten gu­tes Wet­ter, hat­ten an­re­gen­de Ge­sprä­che mit den Freun­den und vor al­lem er­in­ner­te ich mich der Nach­mit­ta­ge, als ich das Buch ge­le­sen hat­te und den Blick auf die herbst­li­che Nord­see. Ich wer­de die­ses Buch nie oh­ne die­se Er­in­ne­rung le­sen kön­nen. Und wäh­rend ich ihr zu­hör­te er­in­ner­te ich mich an ein Buch von Hand­ke (»Don Ju­an, er­zählt von ihm selbst«), dass ich nach der Lek­tü­re nie mehr auch nur in die Hand ge­nom­men hat­te, weil ich es da­mals, wäh­rend hei­ßer, un­er­träg­li­cher Ju­li-Ta­ge las, an de­nen ich gro­ße Rücken­schmer­zen hat­te und we­der län­ge­re Zeit sit­zen noch lie­gen konn­te.

    War­um heu­te 30jährige mit die­ser Weh­mut auf Dy­lan oder von mir aus die Beat­les schau­en, weiss ich al­ler­dings auch nicht. Ich hät­te ei­ni­ge we­sten­ta­schen­psy­cho­lo­gi­sche Er­klä­run­gen im An­ge­bot, aber das hül­fe nicht wei­ter.

    Ih­re Ge­schich­te zu Mar­tha Wain­w­right wür­de mich schon sehr rei­zen. Die­ser Blog steht Ih­nen zur Ver­fü­gung – wir könn­ten, kön­nen ei­nen ei­ge­nen Bei­trag dar­aus ma­chen.

  14. Ein an­re­gen­des Denk­mo­dell, in der Tat. Aber be­steht der Wert ei­nes sol­chen nicht ge­ra­de (auch) in der Kon­tra­stie­rung mit dem was wir Rea­li­tät, Ge­sell­schaft oder Men­schen nen­nen? Vor al­lem in dem vor­lie­gen­den Kon­text? Und er­ge­ben sich dar­aus nicht ei­ne Fül­le neu­er Aspek­te? Ich muss dar­an den­ken, dass z.B. die Er­fah­rung von Schön­heit, sei es in der Na­tur, in der Kul­tur oder Kunst, doch ei­gent­lich im­mer auch ei­ne Wert­set­zung be­inhal­tet: Der Schutz­ge­dan­ke, der be­wuss­te Er­halt von Na­tur, ist der oh­ne un­ser äs­the­ti­sches Er­le­ben der­sel­ben über­haupt denk­bar?

    Ich bin ei­ner der selt­sa­men Men­schen, die mit Pop re­la­tiv we­nig an­fan­gen kön­nen, ich hö­re ge­le­gent­lich die­ses oder je­nes, und man kann, glau­be ich, in den mei­sten Fäl­len er­ken­nen ob et­was gut oder ge­konnt ge­macht ist oder nicht. Vor we­ni­gen Jah­ren hat sich mir ei­ne Tür (eher: ein Tür­chen) zur ba­rocken und al­ten Mu­sik hin ge­öff­net, das sehr lan­ge fest ver­schlos­sen war, ich le­be da, zu Tei­len, qua­si in ei­ner an­de­ren Zeit.

    In bei­de, Ver­gan­gen­heit und Zu­kunft, mi­schen sich un­se­re Hoff­nun­gen, Pro­jek­tio­nen und Wün­sche: Auf die er­ste­re blickt man zu­rück, die an­de­re ahnt man be­sten­falls: Viel­leicht hakt man sich in dem was »kon­kre­ter« vor­liegt, wes­sen man hab­haf­ter ist, leich­ter und bes­ser fest. — Je­den­falls tut man es nicht, oder we­ni­ger, wenn die Ge­gen­wart in­ten­siv her­vor tritt.