»Ich ist ein an­de­rer, der ein an­de­rer ist«

»Wer war Emi­lio Ren­zi?« fragt Leo­pold Fe­der­mair in sei­ner »Spu­ren­su­che mit Ri­car­do Pi­glia«, ei­nem Es­say von statt­li­chen 245 Sei­ten, auf­ge­teilt in 24 Ka­pi­tel. Nur we­ni­gen dürf­te im deutsch­spra­chi­gen Raum Ri­car­do Pi­glia oder auch Emi­lio Ren­zi ein Be­griff sein. Sol­len die­se Men­schen die­ses Buch le­sen? Be­reits nach we­ni­gen Sei­ten ist für mich der Fall klar: Ja. ...

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Si­sy­phos auf dem Pla­teau ‑8/8-

Ein­blicke in die Aben­teu­er ei­nes be­frei­ten Le­sers

(← 7/8)

An ei­nem der schö­nen Ta­ge, an de­nen ich mit die­sem Heft im Ruck­sack ab­wech­selnd her­um­fla­nier­te und her­um­saß, zog es mich wie­der ein­mal nach Aras­hi­ya­ma, aber dies­mal ging ich nicht das rech­te, son­dern das lin­ke Fluß­ufer ent­lang, das die mei­ste Zeit des Ta­ges im Schat­ten liegt. Nach ei­ner Wei­le be­geg­ne­te ich ei­nem Mann, der dort auf ei­ner Bank saß, ei­ne Hau­be auf dem Kopf und mit ei­nem Lä­cheln be­gabt, das sein Ge­sicht wohl dau­er­haft zeigt, und mich oh­ne Um­schwei­fe an­sprach: Whe­re are you from?

Oh my god, dach­te ich zu­erst (im Deutsch mei­ner Toch­ter), gab dann aber doch ei­ne brauch­ba­re Ant­wort. Es stell­te sich her­aus, daß er flie­ßend eng­lisch sprach, die­ser hei­te­re, im­mer noch neu­gie­ri­ge, le­bens­be­gie­ri­ge Mann von sieb­zig Jah­ren, der eben­so un­er­schüt­ter­lich wie ge­schmei­dig ei­ne Denk­wei­se pflegt, die sich in der Zeit, als er jung war, ei­ner Zeit des Auf­bruchs, der Öff­nun­gen, des Al­les-ist-mög­lich aus­ge­bil­det ha­ben muß. (Und ich, Starr­kopf, hier am tri­sten Com­pu­ter, re­de von Ab­brü­chen!) In jun­gen Jah­ren war er als Ma­the­ma­tik­leh­rer an ei­ner Ober­schu­le tä­tig ge­we­sen, die Ar­beit hat­te ihn zu lang­wei­len be­gon­nen, so ver­such­te er sich als Blu­men­händ­ler, grün­de­te bald ei­nen ei­ge­nen Be­trieb, zog sich nach vie­len Jah­ren auch von die­sem zu­rück; jetzt ist er Ma­na­ger in ei­nem Trans­port­un­ter­neh­men. Er wohnt nicht weit von mei­ner Schwie­ger­mut­ter ent­fernt, al­so in mei­ner Nä­he, wenn ich in Osa­ka bin, Nord-Osa­ka, um ge­nau zu sein, Iba­ra­ki-shi, und kommt oft nach Aras­hi­ya­ma, we­gen der Schön­heit und Ru­he des Orts, hier wei­ter oben im Tal, sitzt auf der Bank, liest in ei­nem Buch, plau­dert mit Pas­san­ten – schon nach we­ni­gen Mi­nu­ten kam ein Be­kann­ter von ihm vor­über.

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Si­sy­phos auf dem Pla­teau ‑7/8-

Ein­blicke in die Aben­teu­er ei­nes be­frei­ten Le­sers

(← 6/8)

Salzburg, auf dem Mönchsberg. Hier soll vor Jahren ein berühmter Epiker gewohnt haben. © Leopold Federmair
Salz­burg, auf dem Mönchs­berg. Hier soll vor Jah­ren ein be­rühm­ter Epi­ker ge­wohnt ha­ben. © Leo­pold Fe­der­mair

Schluß. Mei­ne ab­ge­bro­che­nen Lek­tü­ren woll­te ich doch un­ter den Tep­pich keh­ren. Bes­ser, du machst mal halt und blickst zu­rück (auf die­sen Rück­blick hier). Die Re­de ist da nur von Er­zähl­li­te­ra­tur, fast al­les Ro­ma­ne. Da­bei ha­be ich doch auch Es­says ge­le­sen, nicht nur von Fo­ster Wal­lace, auch von Ol­ga Mar­ty­n­o­va und Tho­mas Stangl. Mon­tai­gne, den le­se ich so­wie­so im­mer, mei­ne Bi­bel, die es­sais. Auch so­ge­nann­te Sach­li­te­ra­tur, Grund­fra­gen der Ma­schi­nen­ethik zum Bei­spiel, die Na­men von Sach­buch­au­to­ren ver­ges­se ich mitt­ler­wei­le fast aus­nahms­los. Und Ge­dich­te? Ich ge­hö­re zu de­nen, die die Ly­rik für den Kern des Pla­ne­ten Li­te­ra­tur hal­ten: ein hei­ßer, glü­hen­der Kern, der in der Epik manch­mal Erup­tio­nen zei­tigt; em­ble­ma­tisch in Bo­la­ños Wil­den De­tek­ti­ven. Ri­car­do Pi­glia hat so gut wie gar kei­ne Ge­dich­te ge­schrie­ben – nur ei­nes, im Traum:

Soy
el equi­li­bri­sta que
en el ai­re ca­mi­na
de­s­cal­zo
sob­re un alambre
de púas

Ich bin
der Seil­tän­zer der
in der Luft geht
oh­ne Schu­he
auf dem
Sta­chel­draht

– aber 2008 zur Er­öff­nung der Buch­mes­se in Bue­nos Ai­res sag­te er in sei­ner (wie üb­lich im­pro­vi­sier­ten) Re­de, in den ei­li­gen Zei­ten, in de­nen wir heu­te leb­ten, sei die Dich­tung ei­ner der we­ni­gen Räu­me, in de­nen man ei­ne ei­ge­ne Zeit­lich­keit ent­fal­ten kön­ne. Und er wi­der­sprach Ador­nos Ver­dikt, nach Ausch­witz sei das Schrei­ben von Ge­dich­ten bar­ba­risch (die Über­lie­fe­rung trans­por­tiert das Ad­verb »un­mög­lich«, doch Ador­no hat­te »bar­ba­risch« ge­schrie­ben, fast so, als mach­te sich ein Dich­ter al­lein durch sein Da­sein mit der Na­zi-Bar­ba­rei ge­mein): Die ar­gen­ti­ni­sche Er­fah­rung nach »un­se­rem klei­nen Ausch­witz« zei­ge, daß dies sehr wohl mög­lich sei, sag­te Pi­glia und ver­wies auf Ju­an Gel­man1 und Leó­ni­das Lam­bor­ghi­ni. »Wir, die Er­zäh­ler«, fuhr Pi­glia fort, »brin­gen den Dich­tern Hoch­ach­tung ent­ge­gen, weil sie mit Spra­che in Rein­kul­tur ar­bei­ten.«

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  1. Diese Mitteilung verbanne ich in die Fußnote, weil die Fülle des Getanen, Gelesenen, Geschriebenen langsam ein bißchen angeberisch wirkt; andererseits gehört das halt alles zum Bericht, dessen Teile sich wechselseitig erhellen sollen: Kürzlich habe ich zwei Gedichte von Gelman für eine zweisprachige Anthologie spanischer und lateinamerikanischer Dichtung übersetzt, und vor einigen Jahren auch einen ganzen Gedichtband, der bisher – auf deutsch – nicht veröffentlicht ist. Von Gedichten bin ich umgeben, mehr als von Romanen, Erzählungen oder Essays. Mit den Gedichten lebe ich. Freilich, sie lassen mir auch keine Ruhe, treten nicht so zurück in ihre Schlafkammer wie, zum Beispiel, die ersten beiden Bände der Suche nach der verlorenen Zeit. Man liest öfter und genauer, es kommt zu Verschiebungen und Überlagerungen des Sinns. So daß wir beim Übersetzen manchmal zu zweifeln beginnen: Was steht hier: amo oder amor, zwei grundverschiedene Wörter, grundverschiedene Bedeutungen. Herr oder Liebe? Mit Susanne Lange, einer großartigen Übersetzerin, der wir u. a. den neuen deutschen Don Quijote verdanken, tausche ich mich jetzt gerade darüber aus. Übersetzen ist ein genaueres, eindringliches, schöpferisches Lesen. 

Si­sy­phos auf dem Pla­teau ‑6/8-

Ein­blicke in die Aben­teu­er ei­nes be­frei­ten Le­sers

(← 5/8)

Pe­ter Hand­ke ge­hört zu den Au­toren, von de­nen ich je­de Neu­erschei­nung frü­her oder spä­ter le­se; manch­mal spä­ter, wenn die Er­schei­nung nicht mehr ganz neu ist, als Nicht-Kri­ti­ker kann ich mir das er­lau­ben. Den Ak­tua­li­täts­streß, die Hy­ste­rie des Pu­bli­zie­rens, den mar­tia­li­schen Kon­kur­renz­kampf um Auf­merk­sam­keit, all das ha­be ich in mei­nem Sayon­a­ra-Es­say be­schrie­ben. Ich le­se im­mer wie­der mal die »User­kom­men­ta­re« in den Fo­ren von Ta­ges­zei­tun­gen und stel­le dann fest, wie sehr ein Teil des Pu­bli­kums die­se Hy­ste­rie ver­in­ner­licht hat: Jour­na­li­sten sind beim klei­nen Mann un­ten durch, wenn sie ein, zwei Stun­den spä­ter als an­de­re Jour­na­li­sten in an­de­ren Me­di­en an ei­nem »Er­eig­nis« dran sind. Als gin­ge es ih­nen nicht um den In­halt ei­ner Nach­richt, son­dern dar­um, er­ster zu sein, der das Ding – meist feh­ler­haft in der On­line-Aus­ga­be – in die Ta­sta­tur klap­pert. Und dar­um geht es dem User auch, die Nach­richt selbst er kaum, nur den Reiz der Groß­buch­sta­ben nimmt er auf. Das In­ter­net, die di­gi­ta­le Ver­füg­bar­keit, po­ten­ziert sol­ches Ver­hal­ten, da je­der je­der­zeit ALLES »ver­glei­chen« kann.

Ge­nau das sind die neur­al­gi­schen Punk­te, an de­nen un­ser­eins Ab­stand und Lang­sam­keit ein­for­dern müß­te (Stif­ter- oder Hand­ke-Lek­tü­re kann Be­reit­wil­li­ge ein we­nig da­für schu­len). Ich konn­te mich nach der spät ge­wor­de­nen Lek­tü­re der Obst­die­bin nicht dar­an hin­dern, doch wie­der mal ei­ne Art Kri­tik zu schrei­ben, als Nicht­kri­ti­ker so­zu­sa­gen. Ge­nau ge­nom­men ist es je­doch ein iro­nisch-dia­lek­ti­scher Es­say ge­wor­den, den man in der Li­te­ra­tur­zeit­schrift ma­nu­skrip­te (Heft 224) nach­le­sen kann – ei­ne In­halts­an­ga­be will ich hier nicht lie­fern. Als Ti­tel hat­te ich mir »Im Wech­sel­bad der Ge­füh­le« ein­fal­len las­sen, und ha­be da­mit zwei Be­deu­tungs­ebe­nen ein­ge­zo­gen: die er­ste be­trifft den Text und sei­ne Mach­art, die zwei­te mei­ne Ge­füh­le bei der Lek­tü­re. Zwei Flie­gen auf ei­nen Schlag so­zu­sa­gen.

Der Sittich der spanischen Übersetzerin dieeses Buchs hat hier seine Spuren hinterlassen © Leopold Federmair
Der Sit­tich der spa­ni­schen Über­set­ze­rin die­ses Bu­ches hat hier sei­ne Spu­ren hin­ter­las­sen © Leo­pold Fe­der­mair

Es kommt beim Le­sen nicht sel­ten vor, daß die Ge­füh­le un­si­cher und wech­sel­haft sind; gu­te, ris­kan­te, her­aus­for­dern­de oder neu­ar­ti­ge Li­te­ra­tur ruft sie eher her­vor als ge­fäl­li­ge, die be­strebt ist, den Le­ser zu »packen«. Das Buch, das ich jetzt, wäh­rend ich die­sen Text ab­schrei­be, le­se, Der Riß der Zeit geht durch mein Herz von Her­tha Pau­li, ein Er­in­ne­rungs­buch an den An­schluß Öster­reichs an Deutsch­land, an Ödön von Hor­vath und Jo­seph Roth, an Flucht und Exil in Pa­ris, ist ge­fäl­lig, span­nend, jung­mäd­chen­haft, gut­ge­launt trotz al­ler Schick­sals­schlä­ge. Ich le­se es gern, wiß­be­gie­rig, mit Zu­nei­gung zu den mei­sten Fi­gu­ren, aber ins Schwan­ken bringt es mei­ne Ge­füh­le und Ur­tei­le nicht.1) Li­te­ra­tur­kri­ti­ker ver­schwei­gen sol­che Ge­füh­le in der Re­gel, sie müs­sen zu ei­ner Be­wer­tung kom­men, drei Ster­ne von fünf, oder doch drei­ein­halb… Bei an­de­ren Au­toren ist der Wech­sel der Le­se­ge­füh­le über die lan­ge Rei­he ih­rer Bü­cher ver­teilt, ei­ni­ge da­von ge­fal­len mir, an­de­re nicht. Bei Ha­ru­ki Mu­ra­ka­mi ist die­se Un­si­cher­heit selbst ein Grund, im­mer wie­der et­was von ihm zu le­sen. Kaf­ka am Strand fand ich sehr gut, ein post­mo­der­ner, viel­schich­ti­ger und trotz­dem leicht­le­bi­ger Mix, pu­ber­tä­re Li­te­ra­tur à la Her­mann Hes­se, mag sein (Mu­ra­ka­mis Held ist der Pu­ber­tät ge­ra­de eben ent­wach­sen); Karl-Mar­kus Gauß, ei­ner der tap­fer­sten und aus­dau­ernd­sten Li­te­ra­tur­kri­ti­ker, hat sich in die­sem Sinn ge­äu­ßert, aber ich ha­be mich bei der Lek­tü­re gut un­ter­hal­ten und Zu­nei­gung zu ein­zel­nen Fi­gu­ren ge­faßt.2 Gut mög­lich, daß Mu­ra­ka­mi sei­ne Fi­gu­ren, auch die Bö­se­wich­te, zu sehr liebt, daß er sie ver­hät­schelt und manch­mal ver­dirbt: ty­pi­scher Fall von amay­a­ka­su, von ka­wai­ga­ru – bei­de Wör­ter ver­wei­sen auf ja­pa­ni­sche Stär­ken, die sich un­merk­lich in Übel ver­wan­delt ha­ben: ka­waii und amae, die klei­nen hüb­schen Din­ge und das Lieb-und-an­ge­paßt-Sein. Die Lek­tü­re von Kaf­ka am Strand hat mir durch­aus Mo­men­te der Er­kennt­nis ge­währt, in de­nen Zu­sam­men­hän­ge auf­ge­gan­gen sind, ja, so­gar et­was wie Er­leuch­tung ahn­bar ge­wor­den ist.

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  1. Von Anfang an hörte ich aus diesem Buch einen bestimmten Ton, der sich bis zum Ende durchzieht: den fast mädchenhaften Ton der guten Laune, der selbstständigen, lebensfrohen jungen. Hertha Pauli hat das Buch im Alter von sechzig Jahren geschrieben, die "Erlebnisse" – sie nennt es tatsächlich "Erlebnisbuch" –, von denen die Rede ist, zeigen sie um 1938/39 im Alter von 31, 33 Jahren, da ist sie wirklich frei und ungebunden, doch als Halbjüdin und österreichische Patriotin auch bedroht, ohne Zukunftsaussichten. Der Widerspruch – Elend und Gefälligkeit – ist in diesem Fall nicht wirklich produktiv, die Erzählung zu linear und einsinnig, um mehr entstehen zu lassen als einen Bericht, den man gern verschlingt, weil man natürlich wissen will, wie die Geschichte einer Flucht ausgeht, und zweitens, weil die Frau so viele interessante Bekannte hatte, die meisten von ihnen Schriftsteller. Hier ein Beispiel für den unbekümmerten Ton. Pauli beschreibt eine Kellnerin in einem Dorf in Südwestfrankreich: "Da ihre Oberlippe zu kurz war, um über die vorstehenden Zähne zu reichen, blieb ihr Mund stets wie fragend offen. Auch Sanftmut und Wehrlosigkeit hatte sie mit einem Kaninchen gemein. So war Paulette die allgemeine Jagdbeute des Ortes, und als sie schließlich ein Kind gebar, war wohl der ganze Burschenstammtisch der Papa." In Zeiten von Me too kaum vorstellbar, daß eine emanzipierte Frau und Anftifaschistin so naiv und spaßhaft über die sexuellen Umtriebe einer Dorfjugend und so "lookistisch" über eine hart arbeitende junge Kellnerin schreibt. Da könnten glatt Rufe nach Zensur und Ächtung laut werden… Lest dieses Buch, das in der Reihe "Die Frau in der Literatur" – 1990, lang ist's her – neu aufgelegt wurde, bloß nicht! Aber nein, Frauensolidarität geht vor, lest es oder kauft es zumindest. Dank Google – danke! – erfahre ich, daß erst vor kurzem ein Roman von Hertha Pauli über ein Mädchen, welches das KZ überlebt hat, erschienen ist, und zwar in einem sogenannten Frauenverlag. Die Geschichte erinnert ein wenig an die von Ariel Magnus' Großmutter. (Inzwischen habe ich sie zu lesen begonnen. Der Riß der Zeit lohnt die Lektüre unbedingt; Jugend nachher, Paulis Nachkriegsroman über die Schicksale eines Mädchens, das das KZ überlebt hat, eher nicht. Der Titel verweist ungeschickt auf Jugend ohne Gott von Ödön von Horvath, den die Autorin in jungen Jahren heiß geliebt hatte. Einiges über diese alles in allem unglückliche Liebe kann man in Der Riß der Zeit erfahren. 

  2. Daß Hesse von den Snobs mit größter Hartnäckigkeit niedergemacht wird, ist eine andere Geschichte. Meine Tochter liest gerade Unterm Rad, das allein ist für mich ein Grund, meinen sicherlich verschmutzten Wertungsfilter wieder einmal zu reinigen. Ich erinnere mich an eine sehr ferne Lektüre von Narziß und Goldmund. Auch dieses Buch hat in meinem Tiefengedächtnis Spuren hinterlassen und erinnert mich immer – besser: für immer – an den unauflösbaren Konflikt mit meinem Bruder. "Erinnert mich", heißt in diesem Fall: beeinflußt meine Art, mit diesem Konflikt umzugehen. Überhaupt kriege ich Lust, das Pubertäre, Unreife in Schutz zu nehmen – und denke auch gleich an einen Vorläufer, Witold Gombrowicz, den Verfechter der Unreife. 

Si­sy­phos auf dem Pla­teau ‑3/8-

Ein­blicke in die Aben­teu­er ei­nes be­frei­ten Le­sers

(← 2/8)

War­um ei­gent­lich ha­be ich in mei­ner neu­en, freie­ren Epo­che als Le­ser be­gon­nen, mich Faul­k­ner an­zu­nä­hern? Ich kann kaum sa­gen, daß ich ihn »wie­der­le­se«, weil ich ihn zwar seit mei­nen zwan­zi­ger Jah­ren hoch­hal­te, d. h. seit den Jah­ren um 1980, als er ei­ni­ger­ma­ßen aus der Mo­de ge­kom­men war, er mir aber von Gerd-Pe­ter Eig­ner ans Herz ge­legt wur­de, der sich zwan­zig Jah­re frü­her li­te­ra­risch ge­bil­det (»for­miert«) hat­te, als Faul­k­ner, der No­bel­preis lag ein knap­pes Jahr­zehnt zu­rück, noch in Mo­de war. So geht der Sta­fet­ten­stab über die Ge­ne­ra­tio­nen. Wirk­lich ge­le­sen ha­be ich Faul­k­ner da­mals aber nicht, nur ei­ne al­te, au­ßen hell­blaue Ta­schen­buch­aus­ga­be von Ab­sa­lom! Ab­sa­lom! ge­kauft und oft ein­mal auf­ge­blät­tert, die er­ste Über­set­zung ins Deut­sche, die, glau­be ich, in den drei­ßi­ger Jah­ren an­ge­fer­tigt wor­den war. Spä­ter ist mir der Ein­fluß Faul­k­ners auf den ganz frü­hen Hand­ke auf­ge­fal­len, und wie­der spä­ter ha­be ich ge­merkt, wie stark der nord­ame­ri­ka­ni­sche Süd­staa­ten­au­tor auf die Ro­man­li­te­ra­tur La­tein­ame­ri­kas wirk­te, von Ju­an Car­los Onet­ti über Gar­cía Már­quez und Var­gas Llosa bis hin zu Ri­car­do Pi­glia. Es gibt tat­säch­lich so et­was wie ei­ne ame­ri­ka­ni­sche Li­te­ra­tur, Nor­den und Sü­den um­fas­send, und zwar jen­seits ideo­lo­gi­scher Kon­zep­tio­nen, wie sie Pa­blo Ne­ru­da ver­trat, zu er­schlie­ßen al­lein aus der Li­te­ra­tur selbst, aus den Tex­ten, Per­spek­tiv­set­zun­gen, Wahr­neh­mungs­wei­sen, Er­zähl­for­men. Ei­nen der­art ein­fluß­rei­chen Au­tor woll­te ich nun doch ein­mal in al­ler Frei­heit, oh­ne kon­tex­tu­el­le Zwän­ge, ken­nen­ler­nen. Die Qua­li­tät li­te­ra­ri­scher Wer­ke läßt sich nicht aus ih­rem Pu­bli­kums­er­folg mut­ma­ßen, eher schon aus der In­ten­si­tät und – even­tu­ell – Ex­ten­si­tät, mit der sie von nach­fol­gen­den Au­toren auf­ge­nom­men wur­den. »Ecri­vain pour ecri­vains«, für mich be­deu­tet die­se un­ter­schied­lich ge­brauch­te, oft pe­jo­ra­ti­ve Cha­rak­te­ri­sie­rung kei­ne Ab­wer­tung, im Ge­gen­teil. Ich ha­be so­gar, der Na­me des Ver­fas­sers ist mir ent­fal­len, ei­ne Bio­gra­phie über Faul­k­ner ge­le­sen1; »so­gar« ist viel­leicht das fal­sche Wort, weil ich Schrift­stel­ler­bio­gra­phien mit größ­ter Neu­gier zu le­sen pfle­ge; ja, ich muß so­gar ge­ste­hen – »so­gar« ist hier am Platz –, daß mir die Bio­gra­phie fast mehr ge­sagt hat, mich mehr ein­ge­nom­men hat für die­sen Ro­man­cier, der lan­ge sei­nen Weg nicht und noch län­ger kei­nen Er­folg fand, als die ein­zel­nen Ro­ma­ne und Er­zäh­lun­gen (aus­ge­nom­men viel­leicht Als ich im Ster­ben lag).

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  1. Stephen B. Oates, inzwischen habe ich nachgesehen. 

Si­sy­phos auf dem Pla­teau ‑1/8-

Ein­blicke in die Aben­teu­er ei­nes be­frei­ten Le­sers

Vor bald vier Jah­ren ha­be ich in die­sem Blog mei­ne Er­klä­run­gen dar­über ver­öf­fent­licht, war­um ich kei­ne Li­te­ra­tur­kri­tik mehr schrei­be. Da­mals be­kam ich un­er­war­tet vie­le Re­ak­tio­nen, von Au­toren, Kri­ti­kern, Le­sern, al­le stimm­ten dem von mir ge­trof­fe­nen Be­fund zu, die mei­sten zeig­ten am En­de ein Schul­ter­zucken: Was soll man denn ma­chen?

Auf die­se Fra­ge weiß ich na­tür­lich auch kei­ne Ant­wort. Viel­leicht kann man wirk­lich nichts tun ge­gen die all­ge­mei­ne Kom­mer­zia­li­sie­rung, Hy­ste­ri­sie­rung, Me­dia­ti­sie­rung, und mög­li­cher­wei­se ist es ge­schei­ter, Un­mög­li­ches erst gar nicht zu ver­su­chen, son­dern an­de­re We­ge – Schleich­we­ge – zu su­chen, um sei­ne Schäf­lein – oder wa­ren es Scherf­lein? – ins Trocke­ne zu brin­gen.

Ein Kol­le­ge, ich ken­ne ihn seit un­se­ren Stu­den­ten­ta­gen und schät­ze ihn als ge­wis­sen­haf­ten Le­ser, der seit Jahr­zehn­ten die Ge­gen­warts­li­te­ra­tur mit sei­nen Ana­ly­sen und Kom­men­ta­ren be­glei­tet, be­stand ein we­nig zer­knirscht und zu­gleich trot­zig dar­auf, wei­ter­zu­ma­chen: Er für sei­nen Teil wer­de nicht auf­hö­ren, Li­te­ra­tur­kri­tik zu schrei­ben. Zum Glück für uns, Au­toren wie Le­ser, fü­ge ich hin­zu. Ich woll­te mit mei­nem Text nicht sa­gen, es sei ge­ne­rell sinn­los ge­wor­den, das zu tun, und fin­de es eh­ren­wert, ge­gen Wind­müh­len zu kämp­fen und Stei­ne den Berg hin­auf­zu­rol­len. Ich tue es selbst, Stei­ne berg­auf, al­ler­dings seit vier Jah­ren nicht mehr auf die­sem Ge­biet, dem li­te­ra­tur­kri­ti­schen, des­sen Her­vor­brin­gun­gen ih­rer­seits li­te­ra­ri­sche Qua­li­tät ha­ben kön­nen. Für mei­nen Rück­zug ha­be ich auch per­sön­li­che Grün­de (die ich da­mals hint­an­hielt); nicht zu­letzt den, daß mir spät, aber doch, auf­ge­gan­gen ist, daß all­zu­viel kri­ti­sches Schrei­ben die ei­ge­ne Au­tor­schaft be­hin­dern kann. Ri­car­do Pi­glia, den ich in den ver­gan­ge­nen Jah­ren viel ge­le­sen ha­be, be­son­ders die Ta­ge­bü­cher des Emi­lio Ren­zi, die kurz vor und nach sei­nem Tod in Spa­ni­en er­schie­nen sind, aber auch die Ro­ma­ne, von de­nen ich die mei­sten schon kann­te – in die­sem Be­richt hier möch­te ich u. a. mit­tei­len, was, war­um und wie ich in die­ser »neu­en Zeit« ge­le­sen ha­be –, Ri­car­do Pi­glia al­so äu­ßer­te vor lan­ger Zeit, tief im 20. Jahr­hun­dert, Au­toren wür­den und soll­ten nicht sy­ste­ma­tisch, plan­mä­ßig, wie Aka­de­mi­ker le­sen, son­dern vom Zu­fall ge­lei­tet, ih­rer spon­ta­nen, wech­seln­den Ein­ge­bung und Neu­gier fol­gend.

Wie al­le Men­schen, die sich die Li­te­ra­tur zur Ach­se ih­res Le­bens er­wählt ha­ben, le­se ich mei­stens meh­re­re Bü­cher gleich­zei­tig, in un­ter­schied­li­chem Tem­po und Rhyth­mus und mit un­ter­schied­li­chem En­ga­ge­ment, man­che nicht bis zum En­de – auch ei­ne Än­de­rung, seit ich kei­ne Li­te­ra­tur­kri­tik mehr schrei­be: Ich füh­le mich nicht mehr, ei­ner ne­bu­lo­sen Ge­rech­tig­keit hal­ber, ver­pflich­tet, le­send ab­zu­war­ten, ob ich dem Buch nicht doch noch et­was ab­ge­win­nen kann. Der­zeit al­so Pa­ve­se, Mo­dia­no und viel­leicht, falls ich zu ihm zu­rück­fin­de, Faul­k­ner. Mo­dia­no ha­be ich heu­te wie­der auf­ge­nom­men, ich ha­be ei­nes sei­ner eher schma­len Bü­cher ins eher leich­te Ge­päck für die Rei­se nach Osa­ka und den Auf­ent­halt dort ge­steckt, weil ich et­was Ver­gnüg­li­ches da­bei­ha­ben woll­te; et­was, das mein Herz er­freut. Mag selt­sam klin­gen bei ei­nem Ro­man, der mit ei­ner Ver­miß­ten­an­zei­ge in Pa­ris En­de 1941 be­ginnt, und der Na­me der Per­son lau­tet noch da­zu Do­ra Bru­der. Ich le­se die­ses Buch im Ori­gi­nal, auch dies für mich ein Ver­gnü­gen, nicht bei al­len fran­zö­si­schen Bü­chern, doch im­mer bei Mo­dia­no. Ei­ne mir be­freun­de­te spa­ni­sche Über­set­ze­rin schreibt mir, sie kön­ne kei­ne li­te­ra­ri­schen Über­set­zun­gen mehr le­sen (kei­ne aus dem Deut­schen oder Eng­li­schen, die­se Ein­schrän­kung un­ter­schlägt sie), sie sei miß­trau­isch ge­gen­über dem Wort­laut, hin­ter­fra­ge ihn, kon­trol­lie­re und kri­ti­sie­re die Über­set­zung. Da wä­re es wohl bes­ser, gleich die Ori­gi­na­le zu le­sen; wo­ge­gen na­tür­lich nichts spricht. Ab und zu hö­re ich ir­gend­ei­nen Snob be­haup­ten, er le­se oh­ne­hin nur in der Ori­gi­nal­spra­che; auf mein Nach­fra­gen stellt sich dann im­mer her­aus, daß die­ser ori­gi­nel­le Le­ser nur in ei­ner, höch­stens zwei Fremd­spra­chen zu le­sen im­stan­de ist (nur bei zwei­spra­chi­gen Ly­rik­aus­ga­ben tut er so, als kön­ne er im­mer al­les »sa­vou­rie­ren«), mei­stens in der eng­li­schen. Der Rest der Welt­li­te­ra­tur soll ihm ver­schlos­sen blei­ben? Das will der ori­gi­nel­le Le­ser dann auch wie­der nicht zu­ge­ben.

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Der Wil­le zum Nicht­wis­sen (7/9)

An­mer­kun­gen zu ei­ner Hand­voll le­gen­dä­rer Sät­ze

7 – Wir goo­geln uns blöd!

Di­gi­ta­le De­menz lau­tet der rei­ße­ri­sche Ti­tel ei­nes Buchs, das vor ei­ni­gen Jah­ren in Deutsch­land ein Best­sel­ler­er­folg war. Doch der in zwei Wor­te ge­faß­te Be­fund des Ge­hirn­for­schers und Psych­ia­ters Man­fred Spit­zer ist wohl­über­legt und wohl­for­mu­liert. Bild­schirm­me­di­en hin­dern die Ge­hirn­tä­tig­keit eher, als daß sie sie för­dern: das galt schon für das Fern­seh­zeit­al­ter, und es gilt erst recht für die di­gi­ta­len Me­di­en. Das Ab­neh­men der Lei­stungs­fä­hig­keit des Ge­hirns be­zeich­net man als »De­menz«; es muß nicht zwangs­läu­fig erst im ho­hen Al­ter ein­set­zen. Ei­ne zwei­te Be­deu­tung der For­mel be­zieht sich auf ge­sell­schaft­li­che Aus­wir­kun­gen der in­zwi­schen über­mäch­ti­gen Di­gi­tal­kul­tur. Wer­den die Be­völ­ke­run­gen ten­den­zi­ell im­mer düm­mer? Spit­zer zi­tiert ei­ne Rei­he von Stu­di­en und Ex­pe­ri­men­ten, die die­sen Schluß na­he­le­gen. Ins­ge­samt ist die Schul- und Hochschul­bildung im Ver­lauf des 20. Jahr­hun­derts in den west­li­chen Län­dern si­cher viel brei­ter ge­wor­den. Ob sie – Mas­sen­uni­ver­si­tä­ten statt Eli­te­schmie­den – auch bes­ser ge­wor­den ist, ist ei­ne an­de­re Fra­ge. Wenn es ei­nen Um­kehr­punkt ge­ge­ben hat, wann ge­nau und wes­halb? Die Com­pu­ter wer­den nicht al­lein dar­an schuld sein.

Spit­zers zwang­haf­te Art, den Ein­druck wis­sen­schaft­li­cher Ab­si­che­rung zu er­wecken, ist ei­ne der Sei­ten, die an sei­nen Auf­trit­ten kri­ti­siert wer­den. Je­de Men­ge Sta­ti­sti­ken, Kor­re­la­tio­nen, aber kein Ent­fal­ten von Zu­sam­men­hän­gen. Und pau­scha­le Ver­ur­tei­lun­gen, ein ums an­de­re Mal wie­der­holt. We­nig Er­zäh­lung, wür­de ich hin­zu­fü­gen: We­nig kon­kre­te Bei­spie­le, we­nig ei­ge­ne Er­fah­run­gen. Aber das mag Auf­ga­be der Li­te­ra­tur sein, al­so mei­ne. Im gro­ßen und gan­zen stim­me ich Spit­zers Ein­schät­zun­gen zu, auch wenn mir sein häm­mern­der Stil auf die Ner­ven geht. Daß wir uns vom di­gi­tal-me­dia­len Über­bau nicht gänz­lich be­frei­en kön­nen und das folg­lich auch nicht ver­su­chen soll­ten, ge­steht er selbst zu, al­ler­dings tönt die Kon­zes­si­on viel lei­ser als sei­ne Un­ken­ru­fe. Wir soll­ten un­se­re Auf­ent­halts­zeit in der di­gi­ta­len Welt be­schrän­ken, d. h. re­gu­lie­ren (hor­ri­bi­le dic­tu!), manch­mal auch län­ge­re Pau­sen ein­le­gen, und vor al­lem soll­ten wir ei­ne sol­che Di­ät schon un­se­ren Kin­dern an­ge­dei­hen las­sen. Die viel­be­schwo­re­nen di­gi­ta­len Kom­pe­ten­zen las­sen sich nur in Ver­bin­dung mit »Vor­wis­sen«, wie Spit­zer es nennt, al­so mit tra­di­tio­nel­len gei­sti­gen Fä­hig­kei­ten, die man nicht am Bild­schirm er­wirbt, son­dern im Kon­takt mit der Er­fah­rungs­welt, mit Bü­chern und mit Er­zie­hungs­per­so­nen, sinn­voll aus­üben.

Wei­ter­le­sen ...