Der Wil­le zum Nicht­wis­sen (7/9)

An­mer­kun­gen zu ei­ner Hand­voll le­gen­dä­rer Sät­ze

7 – Wir goo­geln uns blöd!

Di­gi­ta­le De­menz lau­tet der rei­ße­ri­sche Ti­tel ei­nes Buchs, das vor ei­ni­gen Jah­ren in Deutsch­land ein Best­sel­ler­er­folg war. Doch der in zwei Wor­te ge­faß­te Be­fund des Ge­hirn­for­schers und Psych­ia­ters Man­fred Spit­zer ist wohl­über­legt und wohl­for­mu­liert. Bild­schirm­me­di­en hin­dern die Ge­hirn­tä­tig­keit eher, als daß sie sie för­dern: das galt schon für das Fern­seh­zeit­al­ter, und es gilt erst recht für die di­gi­ta­len Me­di­en. Das Ab­neh­men der Lei­stungs­fä­hig­keit des Ge­hirns be­zeich­net man als »De­menz«; es muß nicht zwangs­läu­fig erst im ho­hen Al­ter ein­set­zen. Ei­ne zwei­te Be­deu­tung der For­mel be­zieht sich auf ge­sell­schaft­li­che Aus­wir­kun­gen der in­zwi­schen über­mäch­ti­gen Di­gi­tal­kul­tur. Wer­den die Be­völ­ke­run­gen ten­den­zi­ell im­mer düm­mer? Spit­zer zi­tiert ei­ne Rei­he von Stu­di­en und Ex­pe­ri­men­ten, die die­sen Schluß na­he­le­gen. Ins­ge­samt ist die Schul- und Hochschul­bildung im Ver­lauf des 20. Jahr­hun­derts in den west­li­chen Län­dern si­cher viel brei­ter ge­wor­den. Ob sie – Mas­sen­uni­ver­si­tä­ten statt Eli­te­schmie­den – auch bes­ser ge­wor­den ist, ist ei­ne an­de­re Fra­ge. Wenn es ei­nen Um­kehr­punkt ge­ge­ben hat, wann ge­nau und wes­halb? Die Com­pu­ter wer­den nicht al­lein dar­an schuld sein.

Spit­zers zwang­haf­te Art, den Ein­druck wis­sen­schaft­li­cher Ab­si­che­rung zu er­wecken, ist ei­ne der Sei­ten, die an sei­nen Auf­trit­ten kri­ti­siert wer­den. Je­de Men­ge Sta­ti­sti­ken, Kor­re­la­tio­nen, aber kein Ent­fal­ten von Zu­sam­men­hän­gen. Und pau­scha­le Ver­ur­tei­lun­gen, ein ums an­de­re Mal wie­der­holt. We­nig Er­zäh­lung, wür­de ich hin­zu­fü­gen: We­nig kon­kre­te Bei­spie­le, we­nig ei­ge­ne Er­fah­run­gen. Aber das mag Auf­ga­be der Li­te­ra­tur sein, al­so mei­ne. Im gro­ßen und gan­zen stim­me ich Spit­zers Ein­schät­zun­gen zu, auch wenn mir sein häm­mern­der Stil auf die Ner­ven geht. Daß wir uns vom di­gi­tal-me­dia­len Über­bau nicht gänz­lich be­frei­en kön­nen und das folg­lich auch nicht ver­su­chen soll­ten, ge­steht er selbst zu, al­ler­dings tönt die Kon­zes­si­on viel lei­ser als sei­ne Un­ken­ru­fe. Wir soll­ten un­se­re Auf­ent­halts­zeit in der di­gi­ta­len Welt be­schrän­ken, d. h. re­gu­lie­ren (hor­ri­bi­le dic­tu!), manch­mal auch län­ge­re Pau­sen ein­le­gen, und vor al­lem soll­ten wir ei­ne sol­che Di­ät schon un­se­ren Kin­dern an­ge­dei­hen las­sen. Die viel­be­schwo­re­nen di­gi­ta­len Kom­pe­ten­zen las­sen sich nur in Ver­bin­dung mit »Vor­wis­sen«, wie Spit­zer es nennt, al­so mit tra­di­tio­nel­len gei­sti­gen Fä­hig­kei­ten, die man nicht am Bild­schirm er­wirbt, son­dern im Kon­takt mit der Er­fah­rungs­welt, mit Bü­chern und mit Er­zie­hungs­per­so­nen, sinn­voll aus­üben.

Ei­nen Pro­blem­ty­pus, der durch di­gi­ta­le Ma­schi­nen, Ro­bo­ter und Al­go­rith­men ent­steht, kann man mit dem Wort »Aus­la­ge­rung« be­nen­nen. Die ent­spre­chen­den Phä­no­me­ne rei­chen von Such­ma­schi­nen über GPS und Da­ten­trä­ger – Fest­plat­ten, USB-Sticks, Cloud – bis zu Über­set­zungs­ma­schi­nen, Sprach­as­si­sten­ten, Trans­port­droh­nen und selbst­fahrenden Au­tos (üb­ri­gens ein Pleo­nas­mus: »Au­to-Au­tos«). Wie al­le di­gi­ta­len Phä­no­me­ne sind auch die­se nicht ganz neu. Man hat im­mer schon ver­sucht, Wis­sen und Fer­tig­kei­ten aus­zu­la­gern, zum Bei­spiel in Bü­cher und Bi­blio­the­ken. Den­noch ha­ben Be­schleu­ni­gung, hö­he­re Quan­ti­tät und Vir­tua­li­sie­rung zu ei­ner neu­en Si­tua­ti­on ge­führt. Wer im Au­to mit GPS fährt, muß sich nicht ori­en­tie­ren; wer ein an­nä­hernd au­to­ma­ti­sier­tes, in­tel­li­gen­tes Au­to be­sitzt, muß nicht mehr viel len­ken, be­schleu­ni­gen, brem­sen (er wird wo­mög­lich die Kunst des Au­to­fah­rens ver­ler­nen); wer Über­set­zungs­ma­schi­nen be­sitzt, braucht kei­ne Spra­chen zu er­ler­nen; wer zahl­rei­che Fo­tos ge­spei­chert hat, braucht sich nicht zu er­in­nern, er kann Da­ten – im Sinn von Zeit-Punk­ten – je­der­zeit ab­ru­fen, so­fern er ei­nen mo­bi­len Com­pu­ter be­sitzt; Such­ma­schi­nen ent­la­sten uns von der Not­wen­dig­keit, Wis­sen im Kopf zu be­hal­ten – auch das in ei­nem be­lie­bi­gen Mo­ment ab­ge­ru­fe­ne Wis­sen müs­sen wir uns nicht mer­ken, wir kön­nen bei Be­darf ja neu­er­lich goo­geln; Strö­me von ste­hen­den und be­weg­ten Bil­dern auf dem Bild­schirm be­frei­en uns so­gar in der frei­en Na­tur vom Wunsch und der Not­wen­dig­keit, un­se­re Um­ge­bung wahr­zu­neh­men; wer vie­le Face­book-Freun­de hat, braucht in der Wirk­lich­keit kei­ne zu ha­ben.

Such­ma­schi­nen und al­les üb­ri­ge, was ich hier an­füh­re, sind prak­tisch; der­lei Gerät­schaften er­hö­hen die Be­quem­lich­keit des All­tags­le­bens. Aber ist das gut oder schlecht? Zu­nächst ein­mal, be­vor ich ei­ne Ant­wort ver­su­che (falls sie denn nö­tig sein wird), die Er­in­ne­rung an mei­ne ei­ge­ne Ju­gend, an die Vor­hal­tun­gen der Er­wach­se­nen, wir Jun­gen sei­en be­quem. Sol­che Vor­hal­tun­gen oder Er­mah­nun­gen wird es im­mer ge­ben, im­mer ge­ge­ben ha­ben. Mei­ne Kin­der sol­len es ein­mal bes­ser ha­ben... Und dann, wenn sie es bes­ser ha­ben: Mei­ne Kin­der sind so be­quem! Mitt­ler­wei­le bin ich alt ge­wor­den, aber ich glau­be nicht, daß es nur dar­an liegt, daß ich die durch die Di­gi­ta­li­sie­rung ent­stan­de­ne all­ge­mei­ne Be­quem­lich­keit für ge­fähr­lich hal­te. Ge­fähr­lich des­halb, weil sie dem Men­schen­we­sen – den Per­so­nen – den Bo­den ent­zieht. Im Grun­de ge­nom­men müs­sen wir in ab­seh­ba­rer Zeit gar nichts mehr tun, nichts mehr wis­sen, nicht ein­mal mehr mit Mit­men­schen kom­mu­ni­zie­ren. Wir müs­sen nicht le­sen und schrei­ben kön­nen, weil Sen­so­ren die In­for­ma­ti­ons­auf­nah­me und –wie­der­ga­be, In­put und Out­put, für uns er­le­di­gen. Spre­chen wer­den wir wei­ter­hin ler­nen, auf »na­tür­li­che« Wei­se – hof­fent­lich. Wir müs­sen nicht: Ge­nau dar­in liegt nicht nur ei­ne Ge­fahr, son­dern ei­ne Chan­ce, denn wir könn­ten ja ein­fach nur un­se­re Frei­heit ge­brau­chen, um zu ler­nen, wir müß­ten es nicht mehr aus Not­wen­dig­keit tun. Ob die Mas­se die­se Frei­heit wirk­lich ge­brau­chen wird, ist ei­ne gro­ße Fra­ge, der ich hier nicht nach­ge­hen will. Auch se­hen und hö­ren wer­den wir wei­ter­hin auf na­tür­li­che Wei­se ler­nen. Wir wer­den die Mög­lich­keit ha­ben, un­se­re Sin­ne auf gu­te, be­wuß­te, fort­ge­schrit­te­ne Wei­se aus­zu­bil­den. (Na­tür­lich kön­nen wir uns auch als Kon­su­men­ten di­gi­tal-vir­tu­el­le Bil­der am lau­fen­den Band rein­zie­hen und uns von Dauer­popmusik be­rie­seln las­sen.) Das, glau­be ich, sind we­sent­li­che Fra­gen und Auf­ga­ben für die Schu­len. Wahr­ge­nom­men wer­den sie von den Zu­stän­di­gen bis­her so gut wie gar nicht. Die Zu­stän­di­gen – Päd­ago­gen, Po­li­ti­ker – be­schrän­ken ih­re Be­mü­hun­gen auf das Ge­biet der Tech­no­lo­gie.

Su­chen im gren­zen­lo­sen In­ter­net sind in den mei­sten Fäl­len ober­fläch­lich; der Aus­druck »Be­nut­zer­ober­flä­che« ist tref­fend und auch ver­rä­te­risch. Di­gi­tal ge­spei­cher­tes Wis­sen wird »ab­ge­ru­fen«, ge­streift, an­ge­tippt, an­ge­klickt, aber auf­ge­nom­men, as­si­mi­liert, an­ge­eig­net, ver­ar­bei­tet, wei­ter­ent­wickelt wird es nicht. Der Su­chen­de be­schränkt sich ge­wöhn­lich auf die er­sten zwei, drei der von ei­nem Al­go­rith­mus ge­fil­ter­ten und ge­reih­ten Ein­trä­ge, liest wo­mög­lich ein paar Sät­ze ei­nes auf­ge­fun­den Tex­tes, sieht flüch­tig ein Bild an – und springt dann wei­ter. Ich se­he die­se Ge­fahr bei mir selbst, auch wenn ich glau­be, daß mein prä­di­gi­ta­les Vor­wis­sen es mir er­mög­licht, trotz al­lem im­mer wie­der in die Tie­fe zu ge­hen. Oft pas­siert es mir, daß ich nach et­was Be­stimm­tem su­che, mich dann aber trei­ben las­se – es ist ja al­les so in­ter­es­sant! – und am En­de nicht mehr weiß, wo­nach ich ur­sprüng­lich ge­sucht hat­te. Die­se Art, mit Wis­sen, oder ge­nau­er: mit Da­ten um­zu­ge­hen, ist di­sper­siv, die ge­zo­ge­nen Spu­ren, die man in der hi­sto­ry nach­voll­zie­hen kann (was man aber kaum je tut, weil die Men­ge der an­ge­klick­ten Punk­te ein­fach zu groß ist), sind zen­tri­fu­gal, sie ver­lie­ren sich in, wie es so schön heißt, den Wei­ten des Net­zes. By­ung-Chul Han un­ter­schei­det zwi­schen Wis­sen und In­for­ma­ti­on, Ri­car­do Pi­glia – der »Wis­sen« in et­wa so ver­steht wie »In­for­ma­ti­on« – zwi­schen Wis­sen und Er­fah­rung. Die zwei­te Dif­fe­ren­zie­rung scheint mir nütz­li­cher, denn tat­säch­lich er­spart uns das In­ter­net Er­fah­run­gen, da wir kei­ne Er­le­bens- und Er­ar­bei­tungs­pro­zes­se mehr auf uns neh­men, weil eh schon al­les da und ver­füg­bar ist. Am En­de der an­thro­po­lo­gi­schen Mu­ta­ti­on, de­ren Sym­pto­me die hier an­ge­deu­te­ten Ver­hal­tens­wei­sen sind, ste­hen er­fah­rungs- und ge­schichts­lo­se, auch per­spek­tiv­lo­se We­sen, die sich im Au­gen­blickstakt durch die vir­tu­el­len Zo­nen der ho­ri­zont­lo­sen Wei­te zap­pen. Daß di­gi­ta­le Such­ma­schi­nen grund­sätzlich die Dumm­heit för­dern, wür­de ich im Un­ter­schied zu Man­fred Spit­zer nicht sa­gen. Auch die di­gi­ta­le Su­che führt doch re­gel­mä­ßig zu Tex­ten, zum Bei­spiel zu häu­fig re­vi­dier­ten, oft sehr gu­ten Ein­trä­gen in Wi­ki­pe­dia, wie auch zu al­ten Tex­ten, wie sie et­wa im Pro­jekt Gu­ten­berg ge­spei­chert sind. Und die muß man dann eben le­sen, um sich wirk­lich zu »in­for­mie­ren«, sei es am Com­pu­ter oder in der Bi­blio­thek. Es stimmt aber auch, daß die di­gi­ta­len Such­ma­schi­nen da­zu ver­füh­ren, kei­ne gan­zen Bü­cher, son­dern le­dig­lich Ti­tel, Stich­wor­te, ab­stracts, Text­an­fän­ge zu le­sen. In den Kom­men­ta­ren der di­gi­ta­len Fo­ren kann man häu­fig ein Stöh­nen hö­ren, so­bald der Nut­zer ei­ne Sei­te nach un­ten scrol­len soll – das heißt, so­bald der Text ei­ne ge­wis­se Län­ge über­schrei­tet.

Bei mei­nen ja­pa­ni­schen, chi­ne­si­schen und tai­wa­ne­si­schen Stu­den­ten stel­le ich im­mer wie­der fest, daß sie zwar in ei­nem fort ihr Smart­phone be­nüt­zen, aber nicht wis­sen, wie man sy­ste­ma­tisch nach Wis­sens­ele­men­ten sucht und wie man die­se, wenn man über­haupt wel­che auf­ge­spürt hat, mit­ein­an­der in Ver­bin­dung bringt. An den Schu­len ha­ben sie das of­fen­sicht­lich nicht ge­lernt. Ich muß es ih­nen dann, im drit­ten oder vier­ten Stu­di­en­jahr, wenn sie ei­ne Di­plom­ar­beit schrei­ben sol­len, bei­brin­gen – falls es dann nicht zu spät ist. Goo­geln al­lein, her­um­klicken auf Stich­wör­tern und Stich­bil­dern, nützt über­haupt nichts, es führt in die Ir­re, wenn der Su­chen­de kei­ne Fä­den zwi­schen den Da­ten­punk­ten zie­hen kann. Ich ver­mu­te, daß die so gut wie lücken­lo­se Ver­brei­tung von Smart­phones ge­gen­über der Epo­che, in der man Per­so­nal­com­pu­ter, al­so Note­books und ähn­li­ches ver­wen­de­te, noch ein­mal ei­nen Fort­schritt im all­ge­mei­nen Nicht­wis­sen be­deu­tet, d. h. ei­nen Rück­schritt in dem, was ich als »Wis­sen und Er­fah­rung« be­zeich­nen möch­te. Ul­rich Gu­ten­berg, der zu Be­ginn des Jahr­tau­sends, sei­nem Fa­mi­li­en­na­men zur Eh­re, das medienpäda­gogische Kon­zept »Disch­ba« (Di­gi­ta­le Schul­bank) ent­wickel­te, schrieb un­längst: »Ha­ben vor ei­ni­gen Jah­ren jun­ge Men­schen noch ei­nen Ar­beits­com­pu­ter be­ses­sen, so ist heu­te zu be­ob­ach­ten, daß er­staun­lich vie­le jun­ge Men­schen und Ju­gend­li­che zwar Smart­phones be­sit­zen, aber kei­ne Er­fah­run­gen mit pri­va­ten Zu­gän­gen zu voll­stän­di­gen Personal­computern ha­ben.« Smart­phones sind ge­wis­ser­ma­ßen am­pu­tier­te Com­pu­ter, mit de­nen man nicht das ge­sam­te Netz er­reicht, wäh­rend sich die mei­sten Nut­zer je­doch in der Il­lu­si­on un­end­li­cher Wei­te wie­gen. Als Text­ver­ar­bei­tungs­ge­rä­te, wie man Personal­computer En­de des 20. Jahr­hun­derts ent­spre­chend ih­rer vor­ran­gi­gen Nut­zung nann­te, tau­gen Smart­phones nicht.

Da­von ab­ge­se­hen stellt sich die Fra­ge, wo­zu jun­ge Leu­te – und auch äl­te­re – ih­re mo­bil-di­gi­ta­len Ge­rä­te in er­ster Li­nie ver­wen­den. Wohl doch weit eher zum Spie­len, zur Un­ter­hal­tung, zum Vi­deo­schau­en und Mu­sik­hö­ren, zum Chat­ten, zum Pho­to­gra­phie­ren, zum Hoch­la­den von Fo­tos, zum Por­no­gra­phie­kon­sum, manch­mal zur Ori­en­tie­rung auf der Stra­ße, zur In­for­ma­ti­ons­be­schaf­fung über die Spei­se­kar­te ei­nes Re­stau­rants, zum Win­dow­s­hop­ping (und zum ech­ten Ein­kau­fen) usw., aber sel­ten zur Wei­ter­bil­dung, zum Stu­di­um, zur Lek­tü­re.

A pro­pos Lek­tü­re. Trotz die­ser Be­ob­ach­tun­gen, die ich tag­täg­lich ma­che, weil ich den Smart­phonern gern über die Schul­ter schaue, macht mich die Ver­zweif­lung ge­bil­de­ter Men­schen an­ge­sichts all der Mit­bür­ger, die sich klei­ne Bild­schir­me vor die Na­se hal­ten, zu­nächst ein­mal skep­tisch. War­um? Weil man mit ei­nem Smart­phone oder Ta­blet oder di­gi­ta­len Le­se­ge­rät al­les mög­li­che an­stel­len kann, zum Bei­spiel auch Bü­cher le­sen. Wer sagt mir, daß ein Mäd­chen in der U‑Bahn, das über das Glas sei­nes Ta­blets wischt, nicht Ma­dame Bo­va­ry liest? Und um­ge­kehrt, wenn je­mand ein Buch vor sich hat, ist das schon Grund ge­nug, um mich über den Fort­be­stand der Le­ser­schaft in di­gi­ta­len Zei­ten zu freu­en? Wer sagt mir, daß der Be­tref­fen­de nicht ir­gend­ei­nen Schund liest? Ein Buch ist nicht von vorn­her­ein bes­ser als ein Smart­phone. Und um­ge­kehrt.

Frei­lich, der­lei Ab­wä­gun­gen än­dern nichts an der Tat­sa­che, daß die im­mer ra­di­ka­ler um sich grei­fen­de Be­quem­lich­keit pro­por­tio­nal zum stei­gen­den Klick-und-Wisch-Ak­ti­vis­mus, auch zum so­ge­nann­ten, oft re­flex­haf­ten Mul­ti­tas­king, die gei­sti­ge Reg­sam­keit zwangs­läufig min­dert. Ein letz­tes Bei­spiel noch, Man­fred Spit­zer führt es an: in­tel­li­gen­te Schul­ta­feln, Smart­boards ge­nannt. Auch in die­sem Fall wird uns, al­so den Schü­lern, aber auch den Leh­rern, et­was ab­ge­nom­men: Das Auf- und Ab­schrei­ben von Lehr­stoff. Künf­tig wird es ge­nü­gen, wenn die Schü­ler die an der Ta­fel auf­schei­nen­de In­for­ma­ti­on ko­pie­ren und even­tu­ell an ei­ne be­stimm­te Stel­le in ih­rer di­gi­ta­len Map­pe kle­ben, al­so »pa­sten«. Und es ist denk­bar, daß auch die Kon­trol­le des Wis­sens sich auf das di­gi­ta­le »Ab­ru­fen« be­schrän­ken wird. Ei­ne neue Form von mul­ti­ple choice: Der Schü­ler muß nur an die rich­ti­ge Stel­le klicken bzw. auf sei­nem smar­ten Bild­schirm das rich­ti­ge Feld be­ta­sten. Oh­ne­hin geht die päd­ago­gi­sche Ten­denz längst da­hin, per­sön­li­ches, im ei­ge­nen Ge­hirn zu spei­chern­des und zu ver­ar­bei­ten­des Wis­sen nicht mehr zu ver­mit­teln und spä­ter zu prü­fen, son­dern Tech­ni­ken der In­for­ma­ti­ons­be­schaf­fung ein­zu­üben. Ob die Schü­ler das, was sie be­schafft ha­ben, auch ver­ste­hen, wird ei­ne im­mer ge­rin­ge­re Rol­le spie­len. Sol­len doch Al­go­rith­men das Den­ken für uns er­le­di­gen, sol­len sie den gan­zen Out­put lie­fern. Wenn sämt­li­che Din­ge in un­se­rer Reich­wei­te so in­tel­li­gent sind, wel­chen Grund ha­ben wir dann noch, selbst in­tel­li­gent zu wer­den.

→ 8 – Den­ken ist vor al­lem Mut.

← 6 – Der schma­le Grat zwi­schen Ge­fähr­dung und Idio­tie.

© Leo­pold Fe­der­mair

19 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Goog­le ist – wie ich ge­stern er­fah­ren ha­be – erst 20 Jah­re alt, d. h. die Such­ma­schi­ne gibt es erst seit sehr kur­zer Zeit. In der klei­nen Fir­ma, in der ich ar­bei­te­te, dis­ku­tier­ten wir 1998, ob wir viel­leicht doch ei­nen in­ter­net­taug­li­chen PC an­schaf­fen soll­ten (Kun­den. und Lie­fe­ran­ten­da­tei­en gab es längst über den Com­pu­ter). Das Fax spiel­te noch DIE Rol­le in der Kom­mu­ni­ka­ti­on und ich er­in­ner­te mich noch an ei­nen »Fax-Ver­wei­ge­rer« zu Be­ginn der 1990er Jah­re, der sei­nen Han­del auch wei­ter­hin mit Te­lex und Te­le­fon aus­rei­chend aus­ge­stat­tet sah (und die Fir­ma dann ir­gend­wann ver­kauf­te).

    En­zy­klo­pä­dien wur­den von dem Mo­ment an wich­tig als es den Uni­ver­sal­ge­lehr­ten nicht mehr gab bzw. nicht mehr ge­ben konn­te. Das Wis­sen der Welt war zu um­fang­reich ge­wor­den; ein Ver­dienst der Na­tur­wis­sen­schaf­ten. Die Ge­lehr­ten der un­ter­schied­li­chen Fa­kul­tä­ten bün­del­ten ihr Wis­sen in um­fang­rei­chen Bü­chern, die dann ir­gend­wann Mit­te des 19. Jahr­hun­derts auch dem Bür­ger­tum zur Ver­fü­gung stan­den. Sie wa­ren ve­ri­fi­ziert durch die Au­to­ri­tät ih­rer Ver­fas­ser.

    Das ist bei den Such­ma­schi­nen der di­gi­ta­len Zeit an­ders. Die Au­to­ri­tä­ten ver­schwim­men hier zu Gun­sten an­de­rer, am En­de un­be­stimmt blei­ben­der Kri­te­ri­en (die ge­mein­hin Al­go­rith­men ge­nannt wer­den). Der ober­ste Ein­trag bei Goog­le ist nicht ve­ri­fi­ziert.

    In­so­fern ist das In­ter­net ei­ne ge­wal­ti­ge Her­aus­for­de­rung. Es ist näm­lich not­wen­dig, die ge­fun­de­nen In­for­ma­tio­nen zu über­prü­fen und zu ge­wich­ten. Nichts ist si­cher. Der »User« wird so­mit fast im­mer zu ei­nem »Wis­sen­schaft­ler«, der sei­ne Re­sul­ta­te über­prü­fen soll­te. Das ist nicht nur an­stren­gend, son­dern auch schwie­rig.

    Spit­zers The­se von der »di­gi­ta­len De­menz« ist fast ein Wunsch­den­ken. Das Po­ten­ti­al der Mög­lich­kei­ten, die zum Bei­spiel Goog­le bie­tet, wird erst gar nicht aus­ge­lo­tet. In Wirk­lich­keit ist es ei­ne kru­de Ver­teu­fe­lung wie wei­land die Groß­el­tern das Buch als Quell al­len Übels ver­teu­felt hat­ten. Ein mar­ki­ger Spruch, der ei­nen Gran Wahr­heit ent­hält, so­fern man sich so ver­hält, wie es Spit­zer vor­aus­setzt. Aber mehr auch nicht.

    Die Nach­tei­le des aus­schließ­lich di­gi­ta­len Ar­bei­tens hat Han schon bes­ser weil we­ni­ger alar­mi­stisch be­schrie­ben. Um­so wich­ti­ger wä­re es an Bil­dungs­ein­rich­tun­gen wie Schu­len und Uni­ver­si­tä­ten den Ver­füh­run­gen nicht klein bei­zu­ge­ben, son­dern sie zu ka­na­li­sie­ren. In­zwi­schen fin­det aber ein ra­di­ka­les Um­den­ken statt, was sich an Macrons An­sin­nen zeigt, Smart­phones in Schu­len zu ver­bie­ten. Das wird in­zwi­schen als Ka­ta­stro­phe an­ge­se­hen. Ein Mit­tel­weg zwi­schen Sa­kra­li­sie­rung und Ver­teu­fe­lung scheint an der man­geln­den po­le­mi­schen Durch­drin­gung zu schei­tern.

  2. Die Per­spek­ti­ve auf Schu­le, Frei­zeit und pri­va­tes Bil­dungs­ver­hal­ten, um auf ei­ne con­di­tio hu­ma­na zu schlie­ssen, ist et­was be­schränkt. Auch künf­tig wer­den sich Ju­ri­stin­nen, Ärz­te, Sach­be­ar­bei­ter oder Elek­tri­ke­rin­nen nicht je­de Fall­kon­stel­la­tio­nen erst ein­mal zu­sam­men­goog­len kön­nen, son­dern müs­sen »gei­sti­ge Reg­sam­keit« pa­rat ha­ben, wenn sie in pro­fes­sio­nel­len Funk­tio­nen ein­ge­spannt sind, was auf ab­seh­ba­re Zeit der Fall blei­ben wird. Dass die­sel­ben Leu­te dann abends in der U‑Bahn auf Smart­phones wi­schen, än­dert dar­an nichts.

  3. Ich weiß nicht, wie es an­de­ren geht, aber mei­ne Be­ob­ach­tun­gen in der Öf­fent­lich­keit, vor al­lem wäh­rend des täg­li­chen Fah­rens mit öf­fent­li­chen Ver­kehrs­mit­teln, aber auch wäh­rend mei­ner Fuß­we­ge, zei­gen mir ei­ne deut­li­che Ver­än­de­rung im zwi­schen­mensch­li­chen Ver­hal­ten, die mit der Prä­senz di­gi­ta­ler Ge­rä­te zu tun hat. Ich de­stil­lie­re den Re­gel­fall, den ich für be­sorg­nis­er­re­gend hal­te: Ei­ne Mut­ter oder ein Va­ter über­se­hen oder igno­rie­ren Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ver­su­che ih­rer Kin­der (oder die­se grund­sätz­lich), die ne­ben ih­nen sit­zen oder ste­hen, die sie im Kin­der­wa­gen spa­zie­ren oder an der Hand füh­ren, weil sie mit ih­rem Smart­phone be­schäf­tigt sind. Kin­der, die in ih­rer Ent­wick­lung und Er­zie­hung auf Zu­wen­dung und Be­zie­hung (al­so Auf­merk­sam­keit und Vor­bild­wir­kung Er­wach­se­ner [!]) an­ge­wie­sen sind, die ba­sa­le, uns selbst­ver­ständ­li­che Fä­hig­kei­ten, erst er­ler­nen müs­sen. Das hat zwei Di­men­sio­nen, ei­ne kul­tu­rel­le (al­so ei­ne sym­bo­li­sche) und ei­ne so­zia­le.

    In Zei­ten vor dem Smart­phone konn­te man kaum der­art ab­we­send sein, dass man sein Kind nicht mehr be­merkt hät­te, zu­ge­spitzt kann man al­so von ei­ner Ab­we­sen­heit oder Teil­an­we­sen­heit er­zie­hen­der Per­so­nen spre­chen. Um deut­lich zu ma­chen was das heißt: Ei­ne Be­zie­hung ist tria­disch de­fi­niert: Ein Kind, ein Er­wach­se­ner und ein – so­ge­nann­tes – ge­mein­sa­mes Drit­tes, auf das sich die Auf­merk­sam­keit kon­zen­triert, z.B. ein Bil­der­buch, das zu Hau­se ge­le­sen wird oder ein Bau­fahr­zeug, das man aus der U‑Bahn oder auf ei­nem Spa­zier­gang sieht und für das Kind neu ist. Die stän­di­ge Prä­senz von Bild­schir­men stört und zer­stört die tria­di­sche Be­zie­hung zwi­schen Kind, Er­wach­se­nem und dem Drit­ten, weil der Er­wach­se­ne sei­ne Auf­merk­sam­keit nicht mehr un­ge­teilt zur Ver­fü­gung stellt oder ein Bild­schirm die Auf­merk­sam­keit bei­der auf­saugt und schließ­lich zum ge­mein­sa­men Drit­ten wird (z.B. ein stän­dig lau­fen­der Fern­se­her). Die Kon­se­quen­zen sind, dass Kin­der, die Bild­schirm­ereig­nis­se – an­ders als Er­wach­se­ne – vor al­lem als stän­di­gen Wech­sel er­le­ben, un­auf­merk­sam wer­den, noch we­ni­ger Zeit in Ru­he und wie­der­ho­len­dem Tun (im Sin­ne Kier­ke­gaards) ver­brin­gen und Sym­bo­li­sie­rungs­schwie­rig­kei­ten be­kom­men. Auf der Ebe­ne des Kin­des be­deu­tet das, dass es Pro­ble­me hat ei­ge­ne Vor­stel­lun­gen zu ent­wickeln und über sei­ne Be­find­lich­kei­ten zu spre­chen, auf die Ebe­ne der Kul­tur ge­bracht ist das de­ren Ver­fall (den ich hier nicht be­haup­ten möch­te, aber auf des­sen Di­men­si­on als An­deu­tung ver­wie­sen sein soll), im Sinn von Wie­der­ho­lung, Auf­merk­sam­keit und Sym­bol­bil­dung.

  4. @metepsilonema
    Ja, man kann sol­che Be­ob­ach­tun­gen ma­chen. Wo­bei das Phä­no­men, Kin­der bei­u­spiels­wei­se vor dem Fern­se­her »zu par­ken« nicht neu ist. Man auch zu­wei­len von so­ge­nann­ten »He­li­ko­pter-El­tern« hö­ren – das pu­re Ge­gen­teil: El­tern, die auf Schritt und Tritt ih­re Kin­der be­ob­ach­ten, be­vor­mun­den, usw. Ver­mut­lich aus Furcht, ir­gend­wann Ver­nach­läs­si­gung vor­ge­hal­ten zu be­kom­men. (Das ist nicht der al­lei­ne Grund, aber viel­leicht ei­ner da­von.)

    Ei­ne Lö­sung ken­ne ich nicht. Die viel­be­schwo­re­ne Um­gangs­er­zie­hung mit neu­en Me­di­en – Me­di­en­kom­pe­tenz ge­nannt – setzt im­mer ei­ne ge­wis­se kri­ti­sche Di­stanz vor­aus. El­tern, die sel­ber den gan­zen Tag vor dem Smart­phone und dem Fern­se­her ver­brin­gen, wer­den ih­ren Kin­dern nicht das Le­sen na­he­brin­gen. Und wenn man die Dä­mo­ni­sie­rung zu stark be­treibt, ge­schieht ir­gend­wann das Ge­gen­teil.

    Den­noch glau­be ich nicht, dass »das Me­di­um« da­für ver­ant­wort­lich zu ma­chen ist. Es ist im­mer der Mensch, der sich er­gibt (oder wi­der­steht). Die Fra­ge ist, wie wir mit die­sen neu­en Me­di­en um­ge­hen.

  5. @Gregor
    Neu sind die Ent­wick­lun­gen nicht, aber die Me­di­en­trä­ger ha­ben sich ver­viel­facht, ih­re Reich­wei­te, Mo­bi­li­tät und Mög­lich­kei­ten sich deut­lich er­höht, die Be­die­nungs­schran­ken sind ge­sun­ken; par­al­lel da­zu ha­ben Di­stan­zie­rungs- und Re­fle­xi­ons­ver­mö­gen (Vor­aus­set­zung und Er­geb­nis von Bil­dung), die ein an­ge­mes­se­ner Um­gang er­for­dert, freund­lich for­mu­liert, nicht ent­spre­chend zu­ge­nom­men.

    Mir ist der Grund nicht ganz klar, aber Bild­schir­me ha­ben ei­ne ho­he An­zie­hungs­kraft, auch und ge­ra­de dann, wenn man gar nicht hin­schau­en will, aber trotz­dem ei­ner im Blick­feld ist (die­se An­zie­hungs­kraft scheint hö­her zu sein, wenn dort et­was »Selbst­tä­ti­ges« pas­siert, das nicht auf die In­ter­ak­ti­on mit dem Be­nut­zer an­ge­wie­sen ist, al­so ein Über­ra­schungs­mo­ment be­sitzt). Ein ent­lee­ren­des, über­wäl­ti­gen­des Mo­ment bei gleich­zei­tig nur ein­ge­schränkt tä­ti­ger Mo­to­rik, kommt noch hin­zu.

    Die­ses Be­wusst­sein von Schwä­che muss ei­ner der Aus­gangs­punk­te im Nach­den­ken über un­ser Han­deln in Be­zug auf die­se Bild­schirm­me­di­en sein. In­so­fern: Nein, das Me­di­um al­lei­ne ist es nicht, aber es steht auch nicht ei­gen­schafts­los und oh­ne Wir­kung auf uns im Raum.

    He­li­ko­pter­el­tern sind m.E. El­tern, die Schwie­rig­kei­ten da­mit ha­ben, Kin­der an ei­nem Ort, in ei­ner Tä­tig­keit, oh­ne oder mit nur ein­ge­schränk­ter Kon­trol­le »zu­rück zu­las­sen«.

  6. @metepsilomena

    Ei­ne fun­da­men­ta­le Un­ter­schei­dung vor­mo­der­ner Zei­ten, die wie­der­kehrt: Li­te­ra­te und il­li­te­ra­te Be­völ­ke­rung, was auf Mas­se vs. Eli­te hin­aus­lief und hin­aus­läuft. Ge­braucht man Smart­phones u. dgl. in er­ster Li­nie als au­dio­vi­su­el­le Me­di­en, wer­den die Sin­ne be­dient. Le­sen, Wahr­neh­mung von Tex­ten, Nach­den­ken, In­ne­hal­ten, Wie­der­ho­len usw. er­for­dern den Ein­satz in­tel­lek­tu­el­ler Fä­hig­kei­ten, brau­chen mehr Zeit (die der Smart­phone­wi­scher na­tür­lich auf sei­ne Art ver­tut). Das ist an­stren­gen­der, als sich ei­ne un­end­li­che Fol­ge von Bil­dern (ge­ge­be­nen­falls mit Kurz­tex­ten) »rein­zu­zie­hen«. Die al­te Spal­tung ist zu­rück­ge­kehrt, mit­samt der po­li­ti­schen Pro­ble­ma­tik, daß die Mas­sen von den Eli­ten – manch­mal zu­recht, oft auch zu un­recht – nichts mehr wis­sen wol­len. Was tun? Ich zucke, wie Gre­gor K., die Ach­seln. In man­cher Hin­sicht ist Be­wah­rung nö­tig, wo­bei man nach der Ver­träg­lich­keit tra­dier­ter mensch­li­cher Kom­pe­ten­zen mit den neu­en Tech­no­lo­gien ach­ten soll­te.

    By­ung Chul Han be­schreibt die­se Phä­no­me­ne viel fein­sin­ni­ger als Spit­zer, mir kom­men sei­ne Ana­ly­sen al­ler­dings mei­stens recht auf­ge­pappt vor, ein biß­chen Jour­na­lis­mus, ein biß­chen Zeit­geist mit Phi­lo­so­phie, v. a. dem tech­nik­kri­ti­schen Heid­eg­ger, zum süf­fi­gen Cock­tail ge­mixt. Von ei­ner Durch­drin­gung der Ge­gen­stän­de kann da m. E. nicht die Re­de sein.

    Ei­ne An­ek­do­te noch: Neu­lich saß ei­ne Frau mit Klein­kind im Flug­zeug in mei­ner Nä­he. Das Kind auf dem Schoß, zwang sie es stun­den­lang, auf den klei­nen, an ei­ner Stan­ge be­fe­stig­ten, be­weg­li­chen Bild­schirm an­zu­schau­en, auf dem ver­mut­lich ir­gend­wel­che Kin­der­pro­gram­me lie­fen. Der klei­ne Jun­ge woll­te das aber die mei­ste Zeit über­haupt nicht, er schau­te nach links und nach rechts, Leu­ten ins Ge­sicht, nahm in die Hand, was er in die Hand be­kam usw. Zeit­wei­se schrie er, und die Mut­ter ver­such­te erst Recht, sei­nen Blick mit dem Bild­schirm zu fes­seln. – Ich bin kein Ent­wick­lungs­psy­cho­lo­ge (wie Spit­zer), aber nach mei­nen Be­ob­ach­tun­gen bil­den Klein­kin­der auf na­tür­li­che Wei­se al­le ih­re mensch­li­chen Fä­hig­kei­ten aus, ha­ben Ge­fal­len und Spaß an die­sen Pro­zes­sen. Sie wol­len auch nicht im­mer das Ein­fach­ste, Na­he­lie­gen­de, Be­kann­te ha­ben bzw. tun (wie es das »per­so­na­li­sier­te« In­ter­net von den Per­so­nen an­nimmt). Die hier be­schrie­be­ne Mut­ter sym­bo­li­siert, glau­be ich, den di­gi­ta­len Zwang, der die Ent­wick­lungs­pro­zes­se der Kin­der heu­te we­sent­lich prägt. Ir­gend­wann wird auch der von mir be­ob­ach­te­te Jun­ge sich von sei­ner Um­welt ab- und dem di­gi­ta­len, au­dio­vi­su­el­len Dau­er­pro­gramm zu­wen­den.

    Ich glau­be, das ist die Si­tua­ti­on, »di­gi­tal be­trach­tet«,

  7. Man ma­che ein­mal fol­gen­des, klei­nes Ex­pe­ri­ment. Mit ei­ni­gen Freun­den, die man sich aus wel­chem An­lass auch im­mer ein­ge­la­den hat, be­gibt man sich nach ei­nem schö­nen Abend­essen mit dem Wein ins Wohn­zim­mer. Dort läuft al­ler­dings – oh­ne Ton! – der Fern­se­her. Es gibt al­so ein Bild, aber kei­ne Aku­stik. Egal, was dort zu se­hen ist: Die Auf­merk­sam­keit rich­tet sich so­fort auf das Bild. Es be­gin­nen Mut­ma­ßun­gen über das, was man sieht. Ist es ein Film? Wenn ja, wel­cher? Wor­um geht es? Ei­ne Dis­kus­si­ons­run­de? Wer sind die Teil­neh­mer? Wenn man als Gast­ge­ber ver­sucht, die­se Ab­len­kung zu igno­rie­ren, wird dies nicht ge­lin­gen (noch schlim­mer ist es, wenn es sich um Kin­der ab ca. 10 Jah­re han­delt). Das sich be­we­gen­de Bild er­hält au­to­ma­tisch ei­ne hö­he­re Auf­merk­sam­keit als die un­mit­tel­ba­re Um­ge­bung. Es bleibt nur das Fern­se­hen ab­zu­schal­ten. Da­nach wer­den die Ge­sprä­che je­doch an­ders ver­lau­fen als vor der »Stö­rung«.

  8. Span­nen­de Dis­kus­si­on. Die Brei­te des The­mas ist bei­na­he schon kom­plett, von der Il­lu­si­on der Schnell-Ver­füg­bar­keit des Wis­sens bis zur äs­the­ti­schen Kon­di­tio­nie­rung auf das Be­wegt­bild. Und im Hin­ter­grund die über­for­der­te Me­di­en­päd­ago­gik; die steckt in der Li­be­ra­li­täts­klem­me, ge­nau wie die ge­sam­te Er­zie­hungs­bran­che. Die klei­nen Frat­zen müs­sen ja um­ständ­lich aus­führ­lich über­zeugt wer­den, da­mit die Au­to­no­mie von mor­gen nicht be­droht ist.
    Man möch­te am lieb­sten gar nicht er­zie­hen...
    Das Ide­al des li­be­ra­len Er­zie­hers und der Drang zur stän­di­gen Be­auf­sich­ti­gung ge­hen ei­ne fast schon bi­got­te Ver­bin­dung ein.
    Da­bei ge­hö­ren die Ent­schei­dun­gen über die Me­di­en der Kin­der in­zwi­schen zum All­tag der El­tern­schaft, nur hat zeit­gleich die Ge­sell­schaft ein Ver­bot »für das Ver­bot« aus­ge­spro­chen. Wer den Kon­sum un­ter­sa­gen will, muss al­ter­na­tiv bes­se­re An­ge­bo­te for­mu­lie­ren. Schö­ne neue Welt. Leg die Scho­ko­la­de weg, ich ha­be ei­ne lecke­re Ka­rot­te für dich.
    Da­bei geht die Ge­sell­schaft ins­ge­samt de­zen­tral vor. Auf­ge­fal­len ist es mir bei der letz­ten Kam­pa­gne des BM für Er­zie­hung und (!) Wis­sen­schaft: Schau hin, was dein Kind mit Me­di­en macht...
    Das ist ein for­mal-li­be­ra­les Über­wa­chungs­mo­dell. Ähn­lich wie das schwe­di­sche Pro­sti­tu­ti­ons­ge­setz. Man muss die Nut­zer be­stra­fen bzw. kon­trol­lie­ren. Der An­bie­ter hat in wei­ten Gren­zen freie Hand. Löst das in ir­gend­ei­ner Wei­se das Ver­ant­wor­tungs­di­lem­ma für die Un­mün­di­gen, wenn man die Über­wa­chung de­zen­tral or­ga­ni­siert?! Im Gegn­teil: wenn im In­ter­net al­les er­laubt ist, kom­men die El­tern welt­weit aus der Auf­sichts­funk­ti­on nicht mehr raus.
    Die li­be­ra­le Ge­sell­schaft ist ein biss­chen hilf­los, wenn sie Re­geln bzw. Maß­stä­be für die Nicht-Au­to­no­men, sprich die Kin­der for­mu­lie­ren muss. Das ist die von @mete be­nann­te Asym­me­trie, die ei­ne ein­sei­ti­ge Ver­ant­wor­tung vor­sieht.
    Die Bil­dung und die »hö­he­re Bil­dung« ha­ben of­fen­bar ei­nen kol­lek­ti­ven (po­li­ti­schen) und ei­nen in­di­vi­du­el­len Ge­stal­tungs­be­reich. Und wie sich das auf­schlüs­selt, ist nicht im­mer ganz klar. Mit dem Ein­set­zen der er­wach­se­nen Au­to­no­mie be­steht die Mög­lich­keit, hö­he­re Bil­dung und »sen­ti­men­ta­le Er­zie­hung« kom­plett aus­zu­schla­gen. Für die Kin­der kön­nen wir die­se Ent­schei­dung nicht ge­stat­ten. Es be­steht aber auch kein un­mit­tel­ba­rer Kon­flikt, da die­se Be­lan­ge erst in der Er­wach­se­nen­zeit re­le­vant wer­den.
    Das Wis­sen, die Bil­dung und die Ver­ant­wor­tung; ich wür­de die­se Fra­gen ger­ne bün­deln, aber nicht un­ter dem Aspekt des all­ge­mei­nen Wis­sens, und auch nicht mit der Vor­ga­be ei­nes al­ters­lo­sen Sub­jekts. Ei­ne we­sent­li­che Dif­fe­renz zwi­schen Kunst und All­ge­mein­wis­sen scheint mir in der Fra­ge zu lie­gen, ob sich Kunst und Kunst­ge­nuss mit Er­zie­hung oder mit Selbst­er­zie­hung be­fasst, bzw. ob die mo­ra­lisch neu­tra­li­sier­te Zo­ne, die Ex­pe­ri­men­tier­zo­ne, die sie vor­al­lem in der Dra­ma­tik aber auch in den Ro­ma­nen ab­steckt, so­wohl Wachs­tums- als auch De­ge­ne­ra­ti­ons­chan­cen bie­tet. Oder keck aus­ge­drückt: gibt es ei­ne Iro­nie der An­füh­rungs­zei­chen in der »hö­he­ren Bil­dung«, die gar kei­ne Iro­nie ist son­dern Am­bi­gui­tät, Ri­si­ko, Ex­pe­ri­ment?!
    Und wie­der­um ernst­haft: ist der Wil­le zum Nicht-Wis­sen und die Aus­schla­gung von An­ge­bo­ten der Kunst als ei­ne Ver­schwö­rung zur Bar­ba­rei zu be­grei­fen?!

  9. @Leopold Fe­der­mair
    Ich ken­ne die Bü­cher Hans nicht (au­ßer Gre­gors Be­spre­chun­gen), nur den ei­nen oder an­de­ren Zei­tungs­ar­ti­kel, die mich nicht so sehr be­gei­stert ha­ben. Von Spit­zer ha­be ich vor Jah­ren ein Buch ge­le­sen, ich tei­le ih­re Ein­schät­zun­gen und möch­te hin­zu­fü­gen, dass es – so weit ich das se­he – im­mer (meist) um ei­ne »tech­ni­sche« Be­trach­tung geht. An­ders: Un­längst las ich den Satz, dass kaum je­man­den mehr das in­ne­re Er­le­ben ei­nes Kin­des in­ter­es­sie­re. Ich fürch­te, dass das zu­trifft und mir fällt an­ge­sichts des­sen das Ach­sel­zucken schwer (ich mei­ne das nicht mo­ra­lisch, vie­le an­de­re Din­ge be­la­sten mich, ob­wohl sie es könn­ten oder soll­ten, nicht). Auch des­we­gen sind in­tel­lek­tu­el­le Fä­hig­kei­ten nicht al­les, mir scheint die­se di­gi­ta­le Un­kul­tur, al­so die Un­fä­hig­keit räum­li­che und zeit­li­che Gren­zen auf­zu­er­le­gen, doch dar­auf zu ver­wei­sen, dass ge­ra­de die sinn­li­che (äs­the­ti­sche) Sei­te mar­gi­na­li­siert wur­de (Ei­gen- und Fremd­wahr­neh­mung hän­gen zu­sam­men, sie sind dem Den­ken vor­gän­gig). — Die Eli­ten­fra­ge ist auch ei­ne von Macht, In­ter­es­se und Herr­schaft.

  10. @die_kalte_Sophie
    Er­zie­hung wird heu­te meist als Bil­dung ver­brämt, die tat­säch­lich et­was wie Ent­wick­lungs­op­ti­mie­rung ist; Kin­der sol­len mög­lichst früh ge­för­dert wer­den, da­mit sie spä­ter als kom­pe­ten­te Ar­beits­kräf­te zur Ver­fü­gung ste­hen (um Ih­re tref­fen­den Aus­füh­run­gen zur »Li­be­ra­li­tät« zu er­gän­zen).

    Bil­dung ist, wie ich sie ver­ste­he, Selbst­for­mung (Selbst­ein­ho­lung), die über ei­ne Art Tie­fen­be­schäf­ti­gung zu­stan­de kommt. Was dar­an »hö­her« sein kann, weiß ich nicht, sie kann wohl mehr oder we­ni­ger voll­stän­dig aus­ge­prägt sein oder ge­lin­gen. Nimmt man Selbst­for­mung beim Wort, ist das kei­ne mo­ra­li­sche Ka­te­go­rie (und wohl auch et­was, das schief­ge­hen kann).

    Wenn Er­zie­hung zu­erst und Bil­dung da­nach kommt (und nicht et­wa bei­de gleich­zei­tig statt­fin­den) und letz­te­re nur dann ei­ne ist, wenn man selbst den we­sent­lich­sten Bei­trag da­zu lei­stet, dann ha­ben Sie im Sinn ei­ner Ten­denz zur Bar­ba­rei si­cher­lich recht.

  11. Daß Den­ken mit sinn­li­cher Wahr­neh­mung und Emo­tio­nen ver­schränkt ist, ist ei­ne weit­hin ge­teil­te Er­kennt­nis der Ge­hirn­for­schung. Mir scheint ein Pro­blem ge­gen­wär­ti­ger (di­gi­tal ko­di­fi­zier­ter) Mas­sen­kul­tur zu sein, daß in­tel­lek­tu­el­le Be­tä­ti­gung ten­den­zi­ell aus­ge­schlos­sen wird und in der öf­fent­li­chen Mei­nung auch kei­nen gro­ßen Wert mehr hat. War viel­leicht im­mer so, die­ser Ein­wand kommt re­flex­haft bei sol­cher The­ma­tik... Nein, ganz so war es nicht im­mer; ich glau­be tat­säch­lich, daß ei­ne neue Form der Bar­ba­rei droht.

    Selbst­for­mung – ich sa­ge gern: Et­was aus sich ma­chen, oder auch, mit Nietz­sche: Wer­de, der du bist, oder auch: Was du er­erbt hast, wo­her auch im­mer, er­wirb es... – ha­be ich im­mer als Ho­ri­zont hu­ma­ni­sti­scher Hal­tun­gen ver­stan­den. Das »Et­was« wür­de ich be­to­nen, weil es dar­um geht, sich in­halt­lich dies und je­nes an­zu­eig­nen, die Form auch zu er­fül­len, so wi­der­sprüch­lich das im ein­zel­nen ab­lau­fen mag. Selbst­dar­stel­lung, wie die so­zia­len Me­di­en sie för­dern, ver­zich­tet auf In­hal­te, es geht um den Schein, nicht um das Sein, um das Image, hin­ter dem mög­li­cher­wei­se gar nichts steckt. Das hal­ten die Selbst­dar­stel­ler eben gar nicht für not­wen­dig.

    Auch un­ter die­sem Ge­sichts­punkt ist der al­te Wahr­heits- oder Wahr­haf­tig­keits­an­spruch im Rück­zug. Wie ich dir und den an­de­ren da drau­ßen er­schei­ne, auf mei­nen (ge­pho­to­shop­ten) Fo­tos und Vi­de­os, hat doch nichts da­mit zu tun, wie »ich« bin.

  12. Ich will nur kurz den Be­griff der »hö­he­ren Bil­dung« er­läu­tern, er­kenn­bar ein Ana­chro­nis­mus der Klas­sen­ge­sell­schaft. Er ist in Wahr­heit pha­sisch ge­meint (Bil­dung und sein up­grade), und im­pli­ziert auch ei­ne nicht-di­rekt-ver­wert­ba­re Qua­li­tät im Sin­ne des Ar­beits­markts. Er er­in­nert auch an das Ide­al des Hu­ma­nis­mus, das @Leopold an­spricht, wo­bei die Kon­tur bzw De­fi­ni­ti­on des Ide­als ty­pi­scher­wei­se teil-un­be­stimmt ist, auf­grund der Na­tur des Men­schen. Was der At­trak­ti­vi­tät des Ide­als nicht un­be­dingt ei­nen Ab­bruch tut, da je­der oh­ne­hin ei­ne in­di­vi­du­el­le An­nä­he­rung for­mu­lie­ren muss. Al­ler­dings wa­ge ich kei­ne ver­bind­li­che Aus­sa­ge dar­über, wie es um die At­trak­ti­vi­tät »im Me­di­an der Be­völ­ke­rung« be­stellt ist. Mir scheint, das Ide­al wird kul­tu­rell aus­sor­tiert. Ein Ide­al kann man eben­so gut ver­feh­len, bzw. wird es in tra­gi­scher Deu­tung im­mer ver­feh­len, al­so ist das Hö­he­re zu­gleich das Ver­mes­se­ne...
    Na­tür­lich lässt sich über Sinn und Un­sinn ei­nes Selbst­ide­als treff­lich strei­ten. Die Selbsteinholung/Selbstformung im Sin­ne der Ent­fal­tung al­ler An­la­gen kann dar­auf ver­zich­ten. Da will ich @mete bei­pflich­ten. An­de­rer­seits kann ein Ide­al auch da­zu die­nen, ei­ne Wi­der­stands­li­nie zu zeich­nen, was na­tür­lich den ewi­gen Wi­der­streit zwi­schen Po­li­tik und Au­to­no­mie auf­greift. Und nicht nur auf­greift, ich mei­ne so­gar, dass ein viel­leicht ty­pisch deut­scher Pes­si­mis­mus mich und an­de­re da­zu ver­lei­ten könn­te, ei­ne ka­te­go­ri­sche Tren­nung von Po­li­tik und Kul­tur wie­der zu ent­decken, als Fest­stel­lung ei­ner Di­ver­genz der Zie­le und Me­tho­den.
    Ich ha­be dar­über noch kei­ne Klar­heit, das will ich of­fen sa­gen. Aber das liegt zu­letzt auch an dem un­be­stimm­ten Aus­gang des Ex­pe­ri­ments, das die tech­no­lo­gi­sche Ent­wick­lung uns be­schert hat.
    Spit­zer be­fin­det sich ja auch in ge­wis­ser Wei­se auf dem Kriegs­pfad, er be­zieht sei­nen Wi­der­stand aus Er­geb­nis­sen bzw. Be­ob­ach­tun­gen der Ko­gni­ti­ons­for­schung bzw. Pa­tho­lo­gie, und legt ein Stück all­ge­mein­ärzt­li­che Ver­ant­wor­tung hin­ein. Mein Wi­der­stand ist so ein Mit­tel­ding aus Spi­ri­tua­li­tät und Äs­the­ti­scher Emp­fäng­lich­keit. Ich könn­te es gar nicht ge­nau sa­gen.

  13. @Leopold Fe­der­mair
    Ich will gar nicht be­strei­ten, dass die »in­tel­lek­tu­el­le Be­tä­ti­gung ten­den­zi­ell aus­ge­schlos­sen wird«, ge­nau­so aber wer­den in­ne­re Vor­stel­lun­gen und Bil­der re­du­ziert und er­setzt, wird die Wahr­neh­mung ins­ge­samt auf schnel­les Er­fas­sen und Sche­ma­ti­sie­ren (bzw. Be­rie­seln) trai­niert, ein Schau­en (Hand­ke) und ein Hor­chen (Strauß), et­was wie Emp­fin­den, das eben Zeit braucht, weil es sich ein­stel­len muss, ist da nicht er­for­der­lich (oder vor­ge­se­hen). Das sind aber Fä­hig­kei­ten, die ein Den­ken, das die­sen Na­men ver­dient, be­nö­tigt. Ein Kunst­werk sieht man nicht im Vor­über­ge­hen an, es muss wir­ken kön­nen und das hat Vor­aus­set­zun­gen im Sub­jekt. — Muss sich ei­ne Ge­sell­schaft, die auf brei­ter Ba­sis ei­ne Ent­wick­lungs­op­ti­mie­rung ih­rer Kin­der be­treibt nicht fra­gen las­sen, ob sie die­se in ih­rem je­wei­li­gen So­sein und ih­ren exi­sten­zi­el­len Re­gun­gen über­haupt noch wahr­neh­men kann? Das ist ei­ne Fra­ge, die sich au­ßer­halb der Ge­hirn­for­schung stellt, das Ge­hirn kann bei­des (ra­sches Er­fas­sen und lang­sa­mes Schau­en) lei­sten, ist auf bei­des »trai­nier­bar«, die Ant­wor­ten dar­auf wird sie nicht ge­ben kön­nen. — An­son­sten kann ich kaum Dis­sens aus­ma­chen.

    @die_kalte_Sophie
    Ein Ide­al kann zur Wand­lung und Ver­bes­se­rung des Rea­len bei­tra­gen, es kann die­ses aber auch über­ge­hen oder ent­wer­ten, das ist (wie­der­ein­mal) ei­ne dia­lek­ti­sche An­ge­le­gen­heit.

  14. Zu­nächst ein­mal: Gro­ßen Dank für die­se Es­say-Rei­he und die an­re­gen­den Dis­kus­sio­nen dar­un­ter!

    Jetzt wo die Blogs tot sind, kann man es sich hier in der kul­tur­pes­si­mi­sti­schen Ecke noch viel ge­müt­li­cher ma­chen. Nein, das ist ja nicht Ihr und mein An­sin­nen. Die Ge­fah­ren der ge­gen­wär­ti­gen Ent­wick­lung, in die wir mal wie­der so hin­ein­trei­ben und dann als Fak­tum hin­neh­men müs­sen se­he ich auch. Mei­nen Fünf­jäh­ri­gen iso­lie­re ich noch so gut es geht von al­len di­gi­ta­len Spiel­zeug, das mir selbst das Hirn er­weicht.
    Nur ei­nes möch­te ich noch an­brin­gen: Wir soll­ten nicht so leicht­fer­tig den Jün­ge­ren pau­schal jeg­li­ches Re­fle­xi­ons­ver­mö­gen ab­spre­chen. Den mei­sten, die ih­ren di­gi­ta­len Ava­tar aus­staf­fie­ren dürf­te die Dis­kre­panz zum rea­len Ich be­wusst sein. Ge­wis­se Kon­zes­sio­nen ma­chen doch auch wir (al­ten Säcke), die wir mit der Her­de zie­hen müs­sen, wenn wir un­ser täg­li­ches Brot auf dem Tisch ha­ben wol­len. Kon­kret hat­te ich da mal zwei Ge­sprä­che mit Ju­gend­li­chen in der Ober­stu­fe über die Be­nut­zung von Face­book oder den neu­en For­ni­te-Hype – und die wa­ren die­sen Din­gen eher kri­tisch ein­ge­stellt. Ich den­ke, da ist un­ter der ober­fläch­li­chen Be­ja­hung und dem Mit­zie­hen noch ei­ni­ges an Skep­sis und Kri­tik.
    (Ir­gend­wo muss der stei­gen­de IQ der Leu­te ja auch hin, wenn der Flynn-Ef­fekt so zu­trifft – gut, IQ ist jetzt wie­der mehr so in­stru­men­tel­le Ver­nunft, aber kürz­lich im Ra­dio wur­den, wie ich fin­de zu Recht auf der sehr un­ter­schied­li­che Kom­ple­xi­tät der Cha­rak­te­re in heu­ti­ger Ju­gend­li­te­ra­tur (Har­ry Pot­ter, Hun­ger games,..) ge­gen­über den Karl May Papp­ka­me­ra­den hin­ge­wie­sen...)

  15. @Phorkyas
    Ge­müt­lich ist die kul­tur­pes­si­mi­sti­sche Ecke nicht, das Ge­gen­teil ist der Fall, zu­min­dest was mei­ne We­nig­keit be­trifft. Auch die Kon­zes­sio­nen spre­chen ge­gen die (ich weiß, nicht ernst ge­mein­te) Ge­müt­lich­keits­the­se. Und oh­ne Kon­zes­sio­nen, oh­ne ein ge­wis­ses, kon­trol­lier­tes Mit­ge­fan­gen­sein ist auch kein red­li­ches Ur­teil mög­lich. Poin­tiert ge­fragt: War­um lau­fen al­le in die­sel­be Rich­tung, wenn das kri­ti­sche Be­wusst­sein aus­rei­chend vor­han­den ist, in Din­gen und An­ge­le­gen­hei­ten, in de­nen ein Aus­wei­chen mög­lich ist?

  16. Das, was man heu­te »hö­he­re Bil­dung« nennt oder nen­nen könn­te, folgt ja noch dem Bil­dungs­ide­al des 19. Jahr­hun­derts. Spä­te­stens mit Aus­bruch des Er­sten Welt­kriegs war die­ses Ide­al mo­ra­lisch kor­rum­piert und ge­schei­tert. In den 1930er Jah­ren ver­sag­ten die »Bil­dungs­bür­ger« dann noch ein­mal na­he­zu kol­lek­tiv. In den 1950er Jah­ren flamm­te noch ein­mal die Idee des bür­ger­li­chen Ide­als auf, wel­ches dann aber end­gül­tig an ei­nem neu ent­stan­den Zeit­geist zer­schell­te. Ein­her ging dies mit ei­nem dif­fe­ren­zier­te­ren Um­gang von phi­lo­so­phi­schen und po­li­ti­schen Tex­ten. Le­sen galt nicht als Bil­dungs­zweck, son­dern als ge­sell­schaft­li­che Auf­ga­be. An­fangs wur­de dies als Be­frei­ung wahr­ge­nom­men, am En­de je­doch in­sti­tu­tio­na­li­sier­te sich das Re­bel­len­tum der 68er in die Ge­sell­schaft. Das ist ei­ne gro­ße Lei­stung ge­we­sen. In­zwi­schen kann nie­mand den li­be­ra­len Strö­mun­gen ent­kom­men. Und das Le­sen gilt zu­neh­mend als eli­tär, nicht zu­letzt weil es von ih­ren Ver­fech­tern im­mer noch auf ei­ne so­zio­ge­sell­schaft­li­che Ebe­ne ge­ho­ben wird.

    Das ist aber eher schein-li­be­ral, weil es im Kern na­tür­lich sehr wohl um Über­zeu­gun­gen und vor al­lem Au­to­ri­tä­ten geht (letz­te­re soll­ten ja ei­gent­lich be­fragt wenn nicht gar ab­ge­schafft wer­den; in Wahr­heit sind nur die Prot­ago­ni­sten aus­ge­tauscht wor­den). Das war bis weit in die 1990er Jah­re noch er­träg­lich, weil die Fil­ter­bla­sen ziem­lich un­durch­läs­sig und vor al­lem ver­ein­zelt wa­ren. Der dann mas­sen­haft ein­set­zen­de Di­gi­ta­lis­mus über­for­dert den an li­be­ra­len Grund­sät­zen ge­ket­te­ten In­fo­tain­ment­jün­ger. Er ist längst per­ma­nent ge­zwun­gen sich auf ei­ne Sei­te zu stel­len. Re­agiert er falsch, wird er zur per­so­na non gra­ta. Schlimm ist dies bei Di­gi­tal Na­ti­ves, weil sie die »ana­lo­ge« Vor­zeit nicht ken­nen. Sie ha­ben stän­dig das Ge­fühl et­was zu ver­pas­sen. Gleich­zei­tig wird ih­nen sug­ge­riert, dass al­les nach­schlag­bar und bin­nen kur­zer Zeit fak­ten­fest prüf­bar ist. Das ist na­tür­lich ei­ne Il­lu­si­on wie je­der, der ein­mal se­ri­ös im In­ter­net re­cher­chiert hat, fest­stellt. Zwar kann man die un­be­streit­ba­ren Da­ten pro­blem­los nach­schla­gen, aber schon bald be­gin­nen In­ter­pre­ta­tio­nen, die von Fak­ten nur schwer zu tren­nen sind. Ich re­de vor al­lem von ak­tu­el­lem, wie Nach­rich­ten.

    Die rei­ne Fül­le der ver­füg­ba­ren In­for­ma­tio­nen und Deu­tun­gen über­for­dert den Re­zi­pi­en­ten sehr schnell, zu mal er im All­tag we­der Zeit noch Lust hat, al­les bis ins De­tail nach­zu­prü­fen. Der Bil­dungs­be­griff ist ero­diert auf Wi­ki­pe­dia-Ni­veau mit ei­ni­gen an­de­ren Web­sei­ten, de­nen man – war­um auch im­mer – ver­traut. Man sucht sich längst neue Au­to­ri­tä­ten, weil man oh­ne sie nicht mehr aus­kommt.

    Das größ­te Pro­blem ist m. E. die Auf­ga­be von dem, was man ge­mein­hin Ob­jek­ti­vi­tät nennt. Jour­na­li­sten ge­ben in­zwi­schen oh­ne Pro­ble­me zu, nicht ob­jek­tiv zu sein. Sie ne­gie­ren so­gar die Mög­lich­keit. Das er­in­nert mich im­mer dar­an, dass, wenn über Dro­gen ge­spro­chen wird, die Sa­che der­art tri­via­li­siert wird, dass ir­gend­wann schon ei­ne Tas­se Kaf­fee als Dro­ge gilt. Wenn es Kon­sens ist, dass es kei­ne ob­jek­ti­ven Wahr­hei­ten mehr gibt (ich mei­ne jetzt den phi­lo­so­phi­schen Wahr­heits­be­griff), be­sitzt al­les die glei­che Wer­tig­keit. Was jetzt be­ginnt ist der vi­ra­le Kampf um Deu­tungs­mo­no­po­le. Bei all dem darf an nicht ver­ges­sen, dass in Deutsch­land nur rund 6% der Be­völ­ke­rung twit­tern. Das, was dort als »Shits­torm« an­ge­sto­ssen und über das in­zwi­schen in den Main­stream­m­e­di­en zum Teil pro­mi­nent be­rich­tet wird, be­rührt in Wirk­lich­keit nur ei­ne klei­ne An­zahl von po­ten­ti­el­len Re­zi­pi­en­ten. Und ob die Face­book-Mit­glie­der ih­re po­li­ti­schen In­for­ma­tio­nen in der Brei­te über Face­book be­zie­hen, muss man auch noch an­zwei­feln dür­fen. Die Bran­che bläst sich aber auf, um ih­re Be­deu­tung zu er­hö­hen.

    Die wirk­lich span­nen­de Fra­ge ist, wer uns über die di­gi­ta­len Me­di­en und de­ren Wir­kungs­macht aus der selbst­ver­schul­de­ten Un­mün­dig­keit her­aus­führt. Die Di­gi­tal-Gu­rus wo sie auch im­mer sit­zen be­stimmt nicht.

  17. @mete: Da war, pas­send zum Text, ein Iro­nie-Tag um den er­sten Satz, den das Kom­men­tar­ver­sen­de­for­mu­lar aber weg­ge­schnit­ten hat. Ich woll­te Dir si­cher­lich nicht auf die Fü­ße tre­ten, spre­che sehr aus mei­ner ei­ge­nen Be­find­lich­keit und Er­fah­rung. Dei­nen Ein­las­sun­gen konn­te ich fast im­mer bei­pflich­ten, fand sie meist sehr ge­nau und tref­fend – viel­leicht hat nur das mit der Er­zie­hung mir ein biss­chen auf die Fü­ße ge­tre­ten, bzw. mei­nen ei­ge­nen Er­zie­hungs­zwie­spalt an­ge­rührt.
    Ich weiß auch nicht mehr die an­ge­mes­se­ne Re­ak­ti­on auf.. all dies: Ach­sel­zucken, Wut, meist ein­fach Fas­sungs­lo­sig­keit. Oder Zy­nis­mus. Wie sonst soll man das sonst Neh­men, z.B. dass wir de­nen, die sich z.B. als lau­te­ste Kas­san­dra­ru­fer beim Kli­ma­wan­del en­ga­gie­ren, ei­nen Frie­dens­no­bel­preis um­hän­gen, nur um sie dann bes­ser zu igno­rie­ren.

  18. Lie­ber Phor­ky, ich ha­be es schon so (iro­nisch) ver­stan­den, ich woll­te nur an­mer­ken, dass ich mich in ei­ner ge­müt­li­chen Ecke be­fän­de, wenn man­che Din­ge an­ders stün­den als sie es tun. Man sucht sich das, das ei­nen um­treibt, nicht aus, oder? — Er­zie­hungs­zwie­spalt in­wie­fern?

    @Gregor
    Pe­ter Bie­ri schrieb ein­mal, dass Bil­dung et­was ist, das man mit sich selbst und für sich selbst tut. Ich möch­te ihm zu­stim­men; zu­gleich er­mög­licht Bil­dung aber die Ob­jek­ti­vie­rung des ei­ge­nen Stand­punkts, weil Bil­dung eben­die­se Aus­ein­an­der­set­zung mit sich ein­schließt, der »Ge­bil­de­te« ver­mag al­so gleich­sam durch sich auf die Ge­sell­schaft hin zu den­ken. Ei­ne (ge­wis­se) ge­sell­schaft­li­che Stoß­rich­tung hat­te der Bil­dungs­be­griff im­mer schon (wenn ich mich recht er­in­ne­re, seit Pla­to). Aber es stimmt schon, das ge­sell­schaft­li­che »Den­ken« ist heu­te stark au­to­ri­täts­ge­bun­den, so­zu­sa­gen vor­mo­dern (und me­di­al) ge­lenkt.

  19. Schon Kohl sah den WDR (und auch NDR) als »Rot­funk«, in dem sei­ne Po­li­tik in­ner­halb der ARD im­mer als schlecht dar­ge­stellt wur­de. Das hat­te da­mit zu tun, dass die In­ten­dan­ten in NRW (für WDR) und Nord­deutsch­land (NDR; auch Bre­men mit Ra­dio Bre­men) lan­ge Zeit von der SPD do­mi­niert wur­den und ent­spre­chend auch die Po­sten in den Rund­funk­gre­mi­en be­setzt wa­ren. Da­mals fiel das auf und wur­de prak­tisch in das Mei­nungs­ur­teil »ein­ge­ar­bei­tet«. Im Lau­fe der Zei­ten nä­her­ten sich ja die Po­si­tio­nen der Volks­par­tei­en (SPD auf der ei­nen und CDU/CSU auf der an­de­ren sei­te) im­mer mehr an, was sich nicht zu­letzt an di­ver­sen po­li­ti­schen Ko­ali­tio­nen (im Bund wie in den Län­dern) zeig­te. In­zwi­schen sind auch die Un­ter­schie­de in den Lan­des­rund­funk­an­stal­ten nicht mehr so groß (ähn­li­ches gilt für das ZDF – auch hier herrscht Pro­porz). Es gibt in vie­len Po­li­tik­fel­dern ei­ne ge­mein­sa­me Li­nie bei den Jour­na­li­sten, die in den Haupt­sen­dun­gen »durch­ge­zo­gen« wird. Hier­durch ent­steht der (ir­ri­ge) Ein­druck, es han­de­le sich um ein »Staats­fern­se­hen«. Das Pro­blem ist, dass die­ser Kon­sens den po­li­ti­schen Rän­dern dient. Das war, als die »Fron­ten« noch durch Volks­par­tei­en do­mi­niert wa­ren, nicht in die­sem Aus­maß der Fall.