»Die Wahrheit der Lügen«: mit diesem vielleicht doch etwas billigen Paradox im Buchtitel faßte Mario Vargas Llosa einst seine Essays zur Literatur zusammen. Fiktion ist etwas Ähnliches wie Lügen, aber doch nicht ganz, denn der Lügner gibt vor, die Wahrheit zu sagen, der Romancier aber nicht, jedenfalls sagt er sie nicht unmittelbar mit seinen Erfindungen. Allenfalls tut er das in einem tieferen Sinn, wo immer der liegen mag. So auch Vargas Llosas in seinen eigenen Romanen, die dem Leser die Illusion »lebensnaher« Figuren und Handlungen zu vermitteln suchen, was ihnen auch hervorragend gelingt, zum Beispiel in dem großangelegten und großartigen Gespräch in der Kathedrale, wo sehr viel schwadroniert wird.
In einem wörtlicheren Sinn arbeitete der Argentinier Manuel Puig mit Lügen. Aber auch bei ihm wäre nachzufragen: Welche Art von Lügen sind das? Sehr oft keine Lügen im strengen Sinn, sondern Illusionen, Ausweichmanöver gegenüber Tatsachen, Angst vor deren Folgen, wenn man ihnen ins Auge blickt. Es sind Selbsttäuschungen, kleine Betrugsmanöver, ein Klammern an den vermeintlichen Sinn (des Lebens usw.). Und oft auch Ideologeme, mehr oder minder billige Überzeugungen, vermittelt durch Massenmedien, durch Popkultur, durch – in Argentinien – schmalzige Tangos und auch durch Literatur, vor allem durch triviale, die dem Massenpublikum seinerzeit, als es noch kein Fernsehen gab, aus dem Radio zuströmte.
Aber wie kann sich dann in Literatur Wahrheit zeigen? Zum Beispiel durch Collage, durch die Vielfalt der Stimmen, die sich begegnen und überlagern, durch die Äquidistanz des Erzählers oder des Autors, der sich nicht einmischt, sondern die Stimmen neben- und gegeneinanderstellt. Genau darin besteht seine Kunst und sein Wahrheitsanspruch. Ein sehr spezifischer, künstlerischer Wahrheitsanspruch. Puigs Roman – La traición de Rita Hayworth, zu deutsch (wenn ich nicht irre): Der schönste Tango der Welt – ist wahr, weil gut gemacht.
An einem der schönen Tage, an denen ich mit diesem Heft im Rucksack abwechselnd herumflanierte und herumsaß, zog es mich wieder einmal nach Arashiyama, aber diesmal ging ich nicht das rechte, sondern das linke Flußufer entlang, das die meiste Zeit des Tages im Schatten liegt. Nach einer Weile begegnete ich einem Mann, der dort auf einer Bank saß, eine Haube auf dem Kopf und mit einem Lächeln begabt, das sein Gesicht wohl dauerhaft zeigt, und mich ohne Umschweife ansprach: Where are you from?
Oh my god, dachte ich zuerst (im Deutsch meiner Tochter), gab dann aber doch eine brauchbare Antwort. Es stellte sich heraus, daß er fließend englisch sprach, dieser heitere, immer noch neugierige, lebensbegierige Mann von siebzig Jahren, der ebenso unerschütterlich wie geschmeidig eine Denkweise pflegt, die sich in der Zeit, als er jung war, einer Zeit des Aufbruchs, der Öffnungen, des Alles-ist-möglich ausgebildet haben muß. (Und ich, Starrkopf, hier am tristen Computer, rede von Abbrüchen!) In jungen Jahren war er als Mathematiklehrer an einer Oberschule tätig gewesen, die Arbeit hatte ihn zu langweilen begonnen, so versuchte er sich als Blumenhändler, gründete bald einen eigenen Betrieb, zog sich nach vielen Jahren auch von diesem zurück; jetzt ist er Manager in einem Transportunternehmen. Er wohnt nicht weit von meiner Schwiegermutter entfernt, also in meiner Nähe, wenn ich in Osaka bin, Nord-Osaka, um genau zu sein, Ibaraki-shi, und kommt oft nach Arashiyama, wegen der Schönheit und Ruhe des Orts, hier weiter oben im Tal, sitzt auf der Bank, liest in einem Buch, plaudert mit Passanten – schon nach wenigen Minuten kam ein Bekannter von ihm vorüber.
Der Vater Dora Bruders, auch er in Auschwitz ermordet, ist 1899 in Wien geboren. Modiano sichert auch seine Spuren, wenige, viel war nicht herauszubringen. Wahrscheinlich hatte er in der Leopoldstadt gelebt, dem Judenviertel von Wien. So etwa, durchaus wirklichkeitsgerecht, skizziert Modiano den von der Donau, den Praterauen und den Geleisen der Nordbahn umgrenzten Bezirk. Bei einem Seminar mit dem Wiener Schriftsteller Thomas Stangl habe ich dessen Bücher, oder einige davon, als »Donauromane« bezeichnet, der Ausdruck war mir beim Reden eingefallen. In Ihre Musik und in Was kommt ist eine Wohnung am Karmelitermarkt, der auch bei Modiano erwähnt wird, der – ziemlich stille – Mittelpunkt, das Kraft- und auch Schwächezentrum der Erzählungen. Eine Ebene der Handlung von Was kommt ist zeitlich-historisch genau bestimmt, 1937, die Protagonisten sind junge Leute im Alter Dora Bruders, als sie im Winter 41/42 vom Internat oder von Zuhause ausreißt; ein junges Liebespaar bei Stangl, er Jude, sie nicht – ein Unterschied, der anfangs für sie gar keine Rolle spielt. Auch Stangls Erzählungen entfalten eine Aura des Ungesagten, doch ihre Poetik ist der von Modiano fast transversal entgegengesetzt. Während Modiano Raum läßt, die Szenen und Bilder locker nebeneinandersetzt (wie Frido Lampe, der 1945 in Berlin erschossene deutsche Autor, den Modiano als »Freund, den ich nicht kennenlernen durfte«, in sein Buch aufnimmt), schafft Stangl durch immer weiter gehende Differenzierung der Aspekte, Perspektiven, Vorstellungen und Vermutungen Erzählgewebe oder –mosaike (oder beides: stoffliche Mineralstrukturen, mineralische Stoffmuster) von äußerster, schwer zu durchdringender Dichte, in welchen der Sinn, die Beziehungen, die Identitäten unsicher sind oder werden. Ein französischer Autor, der eine ähnliche Poetik entwickelt hat, ist Pierre Michon: Gespenster, ungreifbare Identitäten, bevölkern seine Bücher. Modiano steht, wenn man sich eine wackelige Hängebrücke vorstellen mag, am anderen Ende, auf der anderen Seite. In der Mitte, über dem reißenden Fluß, das Gespenst. Die Autoren nähern sich von verschiedenen Seiten, aber da ist eine Gemeinsamkeit im Schöpferischen, das Nachzeichnen oder Erzeugen, das nachzeichnende Erzeugen und erzeugende Nachzeichnen von unsicheren Identitäten. Sichern oder verunsichern? Oder beides? Den Absturz riskieren; vermeiden.
Brücke: als Metapher abgegriffen, und doch. Das Gemeinsame, die Mitte zwischen den Enden: Neugier für Menschen, Sorge um sie; Einfühlung und Zurückhaltung; Nähe und Distanz. Die Brücken spannen sich in uns selbst (im Autor, im Leser). Vor einigen Jahren ist mir ein Begriff zugeflogen, Transversalität, ich habe daraus den Rohbau einer transversalen Ästhetik geschaffen und hatte dabei das Aufeinander-Beziehen von unterschiedlichen kulturellen Elementen im Auge, das sprachliche Hin und Her, auch Übersetzen genannt, zwischen Ufer und Ufer (eigentlich ein Brückenschlagen und Herüberholen, oder im Kahn transportieren), ein Kreuzen von Sprachen, überraschende Begegnung, vielleicht nur ein Anstreifen, flüchtiges Berühren von Werken, Autoren, von Orten auf dem Globus, von Erfahrungen und auch: von Zeiten. Für diese Haltung, diesen Knäuel von Ansätzen und Aussichten habe ich den Begriff usurpiert, ein unvollendbares Bauwerk, wie gesagt, work in progress: transversale Ästhetik, im weiteren Sinn, schräge Wahrnehmungskunde1. Dabei hatte ich zunächst Leute im Auge, Autoren und Künstler, Flaneure, Betrachter, aktiv Wahrnehmende, ob sie nun ein Werk schaffen oder nicht; Leute, die die Kulturkreise wechseln, verbinden, schneiden, »hybridisieren«, um ein Modewort zu gebrauchen, das langsam aus der Mode zu kommen scheint. Die meisten Menschen machen heute solche Erfahrungen, oft unbewußt oder passiv, jeder ist ständig Einflüssen, Reizen, Daten aus allen Richtungen ausgesetzt und muß auswählen kreuzen hybridisieren, sofern er die Auswahl, das Arrangement etc. nicht einer Maschine (einem »Algorithmus«) überläßt, und das tun leider die meisten.
Es würde mir gefallen, hier eine Parallele – oder Transversale – zum englischen Wort und der entsprechenden Vorstellung von queer zu sehen, aber das ideologische Fundament, die akademische Strenge und die Kanalisierung des Blicks auf "Gender" sowie auf Homo-, Bi- und Transsexualität der sogenannten Queer Studies nimmt mir jede Lust auf diesen Vergleich. Das Wort scheint sich übrigens aus dem Deutschen (von "quer") in den englischen Sprachschatz geschwindelt zu haben: quer, abweichend, seltsam, ungewöhnlich ↩
1. Bei sporadischen Lektüren von akademischen Aufsätzen zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, besonders zu solcher mit sogenanntem Migrationshintergrund, ist mir aufgefallen, daß in den letzten Jahren die Vorsilbe »trans-« an Häufigkeit gewonnen hat im Verhältnis zur Vorsilbe »inter-«, die sie manchmal ersetzt. »Trans-« verweist auf Bewegung, auf Dynamik; »inter-« auf ein Dazwischen, auf Beziehungen, die zwar nicht ohne Bewegung stattfinden, aber doch erstarren können, so daß sie zu Konstellationen werden. Es ist eine Frage des Akzents, der Aufmerksamkeitsrichtung, der in den Blick genommenen Aspekte. Ich selbst bin, ohne mich in meinem Tun und Lassen ständig sprachkritisch zu reflektieren (und ohne akademische Absichten), auf den Begriff der Transversalität gekommen, um bestimmten Erfahrungen des Schreibens, Lesens und Lebens Ausdruck zu verleihen. Es ist möglich, daß sich im mikrostrukturellen Paradigmenwechsel etwas vom Zeitgeist spiegelt; ja, daß es sich letztlich nur um terminologische Moden handelt. Niemand ist darüber erhaben, aber eine Aufgabe des Schriftstellers besteht darin, ein Sensorium für solche Vorgänge zu entwickeln und zur Geltung zu bringen.
2. Es ist nicht Aufgabe des Schriftstellers, Begriffe zu definieren, gegeneinander abzugrenzen und Begriffshierarchien zu errichten. Auf der Hand liegt, daß in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Autoren und Werke an Zahl und Bedeutung zugenommen haben, die auf unterschiedliche Weise mit Ortswechseln, Reisen, Erfahrung des Fremden, Behauptung des Eigenen in fremder Umgebung, Berührung und Vermischung von Kulturen, Infragestellung von Identitäten usw. zu tun haben. Es gibt dabei freilich, wie bei anderen Phänomenen, etwa der technologisch beschleunigten Globalisierung, eine lange Vorgeschichte. Unter Germanisten war in der Zeit, als ich studierte, die Exilliteratur beliebt. Sie wurde durchforstet, ob ausreichend oder nicht, sei dahingestellt. Heute haben sich die Blickwinkel geändert, das deutschsprachige Exil ist in historische Ferne gerückt, umgekehrt sind Autoren aus anderen Weltgegenden in Erscheinung getreten, die die heimische Literatursprache bereichert haben und bereichern. Bertolt Brecht, Thomas Mann, Joseph Roth haben die Sprache nicht gewechselt, aus mehreren Gründen, vor allen Dingen lag es nicht in ihrer Absicht, ein neues Zielpublikum anzusprechen, außerdem ist ein Sprachwechsel im fortgeschrittenen Alter aufwändig, schwierig bis unmöglich. (Es gibt Beispiele wie Arthur Koestler und Stefan Heym, für die das nicht gilt. Beide sind in relativ jungen Jahren emigriert.)