Einblicke in die Abenteuer eines befreiten Lesers
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Der Vater Dora Bruders, auch er in Auschwitz ermordet, ist 1899 in Wien geboren. Modiano sichert auch seine Spuren, wenige, viel war nicht herauszubringen. Wahrscheinlich hatte er in der Leopoldstadt gelebt, dem Judenviertel von Wien. So etwa, durchaus wirklichkeitsgerecht, skizziert Modiano den von der Donau, den Praterauen und den Geleisen der Nordbahn umgrenzten Bezirk. Bei einem Seminar mit dem Wiener Schriftsteller Thomas Stangl habe ich dessen Bücher, oder einige davon, als »Donauromane« bezeichnet, der Ausdruck war mir beim Reden eingefallen. In Ihre Musik und in Was kommt ist eine Wohnung am Karmelitermarkt, der auch bei Modiano erwähnt wird, der – ziemlich stille – Mittelpunkt, das Kraft- und auch Schwächezentrum der Erzählungen. Eine Ebene der Handlung von Was kommt ist zeitlich-historisch genau bestimmt, 1937, die Protagonisten sind junge Leute im Alter Dora Bruders, als sie im Winter 41/42 vom Internat oder von Zuhause ausreißt; ein junges Liebespaar bei Stangl, er Jude, sie nicht – ein Unterschied, der anfangs für sie gar keine Rolle spielt. Auch Stangls Erzählungen entfalten eine Aura des Ungesagten, doch ihre Poetik ist der von Modiano fast transversal entgegengesetzt. Während Modiano Raum läßt, die Szenen und Bilder locker nebeneinandersetzt (wie Frido Lampe, der 1945 in Berlin erschossene deutsche Autor, den Modiano als »Freund, den ich nicht kennenlernen durfte«, in sein Buch aufnimmt), schafft Stangl durch immer weiter gehende Differenzierung der Aspekte, Perspektiven, Vorstellungen und Vermutungen Erzählgewebe oder –mosaike (oder beides: stoffliche Mineralstrukturen, mineralische Stoffmuster) von äußerster, schwer zu durchdringender Dichte, in welchen der Sinn, die Beziehungen, die Identitäten unsicher sind oder werden. Ein französischer Autor, der eine ähnliche Poetik entwickelt hat, ist Pierre Michon: Gespenster, ungreifbare Identitäten, bevölkern seine Bücher. Modiano steht, wenn man sich eine wackelige Hängebrücke vorstellen mag, am anderen Ende, auf der anderen Seite. In der Mitte, über dem reißenden Fluß, das Gespenst. Die Autoren nähern sich von verschiedenen Seiten, aber da ist eine Gemeinsamkeit im Schöpferischen, das Nachzeichnen oder Erzeugen, das nachzeichnende Erzeugen und erzeugende Nachzeichnen von unsicheren Identitäten. Sichern oder verunsichern? Oder beides? Den Absturz riskieren; vermeiden.
Brücke: als Metapher abgegriffen, und doch. Das Gemeinsame, die Mitte zwischen den Enden: Neugier für Menschen, Sorge um sie; Einfühlung und Zurückhaltung; Nähe und Distanz. Die Brücken spannen sich in uns selbst (im Autor, im Leser). Vor einigen Jahren ist mir ein Begriff zugeflogen, Transversalität, ich habe daraus den Rohbau einer transversalen Ästhetik geschaffen und hatte dabei das Aufeinander-Beziehen von unterschiedlichen kulturellen Elementen im Auge, das sprachliche Hin und Her, auch Übersetzen genannt, zwischen Ufer und Ufer (eigentlich ein Brückenschlagen und Herüberholen, oder im Kahn transportieren), ein Kreuzen von Sprachen, überraschende Begegnung, vielleicht nur ein Anstreifen, flüchtiges Berühren von Werken, Autoren, von Orten auf dem Globus, von Erfahrungen und auch: von Zeiten. Für diese Haltung, diesen Knäuel von Ansätzen und Aussichten habe ich den Begriff usurpiert, ein unvollendbares Bauwerk, wie gesagt, work in progress: transversale Ästhetik, im weiteren Sinn, schräge Wahrnehmungskunde1. Dabei hatte ich zunächst Leute im Auge, Autoren und Künstler, Flaneure, Betrachter, aktiv Wahrnehmende, ob sie nun ein Werk schaffen oder nicht; Leute, die die Kulturkreise wechseln, verbinden, schneiden, »hybridisieren«, um ein Modewort zu gebrauchen, das langsam aus der Mode zu kommen scheint. Die meisten Menschen machen heute solche Erfahrungen, oft unbewußt oder passiv, jeder ist ständig Einflüssen, Reizen, Daten aus allen Richtungen ausgesetzt und muß auswählen kreuzen hybridisieren, sofern er die Auswahl, das Arrangement etc. nicht einer Maschine (einem »Algorithmus«) überläßt, und das tun leider die meisten.
Transversalität heißt, Querverbindungen zu ziehen. Willentlich oder gezwungenermaßen, wobei der Zwang in sanft totalitären Gesellschaften naturgemäß sanft abläuft. In letzter Zeit beschleicht mich der Verdacht, das von mir usurpierte Begriffsbild meine nichts wesentlich anderes als das, was Milliarden des Internets unter »Surfen« verstehen. Das Individuum des digitalen Zeitalters ist eben ein surfendes, ungreifbares; als Menge sind sie alle – wir ALLE – Gespenster, sind bloß »irgendwer«, sind ALLE und NIEMAND, haben sich (uns) selbst nicht im Griff und streben das auch nicht an, und die kleine Minderheit der Autoren, Künstler, Leser, aktiv Wahrnehmenden, Denkenden, können gar nichts anderes tun, als auf ihre Art diesen Status quo zu rezipieren, wiederzugeben, zu be- und verarbeiten. Mit dem Konzept – ein solches ist es nach und nach geworden – der Transversalität will und kann ich nichts anderes tun, als Aufmerksamkeit, Beständigkeit, Langsamkeit und altbackenen Humanismus einzufordern in dieser Surfgesellschaft, an der ich – nicht selten mit Freude – teilnehme. Entautomatisierung in diesem globalen Automaten. Die Punkte (Elemente, Orte, Werke) sollen eher nicht nach dem Zufalls- und nicht ausschließlich nach dem Ähnlichkeitsprinzip defilieren, vielmehr sollen sie durch jeweilige Anstrengung geortet, ausgewählt, festgehalten und verbunden werden, so daß in der Transversalität eine, sei es auch geringe, Dauer entstehen kann. Eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Eine Struktur. Selbstgeschaffene, freiwillige, lebendige Ordnung.
Was Literaturwissenschaftler »Intertextualität« nennen, funktioniert auf ähnliche Weise. In und zwischen den Texten ist eine ständige Bewegung im Gang, ein Ein- und Ausgehen fremder Texte im eigenen Schreibgebiet, viel von diesem Verkehr ist auch für gebildete und gewissenhafte Leser nicht erkennbar, von Algorithmen nicht erfaßbar, und manches dem Autor selbst unbewußt. Vieles kann auch erschlossen werden, aber der Jubel oder die Arroganz, womit manch ein Forscher Parallelen ausfindig macht, mutet den Autor, der weiß, daß er in jedem Augenblick in einem Meer von Zitaten, Wiederholungen, Variationen zu schwimmen hat, seltsam an. Und damit meine ich nicht nur die »postmodernen« Autoren. In Was kommt erwähnt der Erzähler einmal Franz Grillparzer und dessen Geschichte vom armen Spielmann. Stangl bittet diese seltsame – queere – Figur, diesen alten Geiger, der, schenkt man Grillparzers Erzählung glauben, nach jahrzehntelangem Üben keinen wohlklingenden Ton hervorzubringen imstande ist, in seinen Roman und stellt damit eine Que(e)rverbindung her, tut einen Griff tief in die Zeit, in die Literaturgeschichte, ins 19. Jahrhundert, als die Leopoldstadt häufig von Hochwassern heimgesucht wurde. Die Regulierung der Donau, fast eine Verdrängung des vielbesungenen Stroms aus dem realen Stadtbild, mag man romantisch bedauern, sie hat das Leben in dieser Gegend von Wien sicherer und hygienischer gemacht. Stangl schildert ein solches Hochwasser, kein historisches zwar, sondern ein surreales und suprareales, wie es uns in Österreich und sonstwo bevorstehen könnte, mit einem Wasserwesen, das mir jetzt, im augenblicklichen Kontext, als mutierter Wiedergänger des alten Spielmanns erscheinen will.
Den transversalen Schub dieser Lektüre aufnehmend, habe ich Grillparzers Novelle wiedergelesen; in einem Text aus meinem eigenen Schreibgebiet, einem kleinen Roman, der ursprünglich als kurze Erzählung gedacht war, ist eine Figur herangewachsen, die ich als Verwandte des namenlosen Spielmanns zu sehen begann, was ich möglicherweise der Lektüre von Was kommt zu verdanken habe, oder auch nicht, vielleicht wären die Dinge ohnehin so gekommen, wie sie gekommen sind. Die Novelle hat, das sei hier nebenbei angemerkt, eine einzigartige Stellung in Grillparzers Gesamtwerk, das mir durch seinen spätklassizistischen Duktus eher verleidet worden war, und in der deutschsprachigen Literatur jener Zeit (obwohl der komische Kauz ja regelrecht zum Typus wurde und mich Der arme Spielmann während der Lektüre doch hin und wieder an Stifter denken läßt, zum Beispiel an Der Hagestolz, weniger an die wunderlichen Gestalten bei Jean Paul oder E. T. A. Hoffmann, so witzig waren Stifter und Grillparzer nie). Der Spielmann hat gar nichts Ulkiges, er ist ein unschuldiges Opfer seines Schicksals und der Bosheit der Welt, ist bei aller Sanftmut auch starrsinnig, was ihn mit Melvilles Bartleby verbindet, nur daß ihm nicht die geringste charakterliche Härte anhaftet: Er ist ein äußerst zartes Wesen, ein Pflänzchen, das die geringe Energie, die ihm zur Verfügung steht, in seine vielleicht minderwertige, von allen verachtete, auch vom Erzähler, der sich für die Figur interessiert, geringgeschätzte Kunst steckt.
Von Stangl hatte ich früher, als ich noch Rezensionen schrieb, einen Roman besprochen. Schon damals schien mir, daß dieser Autor unbekümmert um Moden und ohne irgendwem gefallen zu wollen (auch nicht den Kritikern, die ihn überwiegend lobten), Schritt für Schritt seine eigene Poetik ausbildete. In Essays bezog er sich auf untergründige, surrealistische Traditionen, nannte und besprach Autoren wie Raymond Roussel, Antonin Artaud, Michel Leiris, Maurice Blanchot, Felisberto Hernández, Peter Weiss, Chris Marker (den Filmemacher), die um das Jahr 2000 nicht sehr im Schwange waren. Dann wurde Stangl zu dem schon erwähnten Literaturseminar in Nagano (Nozawa Onsen) eingeladen, was ich zum Anlaß nahm, alle seine Bücher zu lesen. Ich habe es nicht bereut, verspürte aber momentweise den Wunsch, zu einfacheren Formen zurückzukehren; zu einer Wahrnehmungs- und Schreibweise, die nicht ständig an den eigenen Grundlagen zerrt und rüttelt; einer Literatur, die nicht auf Sprach- und Wahrnehmungsskepsis, sondern auf Sprach- und Wahrnehmungsvertrauen fußt; einen Blick, der nicht hinterfragt, daß etwas das ist, was es in diesem Augenblick zu sein scheint, auch wenn er, der Blick bzw. das zugehörige Gehirn, weiß, daß Schein und Sein auf Konventionen beruhen, die auch ganz anders sein könnten.
So ist es letzten Endes ein Hin und Her, Transversalität als Hin und Her im Feld der Vielfalt, der Spannungen, die man als Subjekt durchquert. Klingt tautologisch, dieser Satz, aber auch das soll sein, Tautologien, womöglich bilden wir uns ohnehin nur ein, ihnen entgehen zu können. Vollkommen frei kann die Lektüre nicht (mehr) sein, das Freiheitsgefühl bei den ersten Entdeckungen – in meinem Fall: Thomas Bernhard – bleibt unwiederbringlich zurück. Ein erfahrener, mit den Büchern alt gewordener Leser ist in der Lage, tausend Zusammenhänge herzustellen, er bewegt sich in einem äußerst dichten Netz der Transversalität, wird nie durch die Maschen fallen, aber diese Tatsache reduziert seine Freiheit, mitunter wird er das Gefühl haben, im Netz zu ersticken – und doch gibt es immer wieder Neues, und neue Sichtweisen auf Altes, bei den Wiederlektüren kann man sich daran erproben. Die Frische aber, die Tiefe des Eindrucks, die Prägbarkeit ist in jedem Fall auf der Strecke geblieben.
Alsdann, die Wiederlektüren. Über einen ziemlich langen Zeitraum hinweg habe ich Thomas Mann wiedergelesen, teils aus freien Stücken, teils in meiner Eigenschaft als Universitätsdozent (zu der ich einst gekommen bin wie die Jungfrau zum Kind), wo ich Studenten bei ihren Forschungsarbeiten, nennen wir’s mal so, zur Seite zu stehen versuche. Den Zauberberg habe ich wiedergelesen, weil ich ihn mit Musils Mann ohne Eigenschaften vergleichen wollte, auch schriftlich, essayistisch, begleitschreibend, oder besser: hinter-(und manchmal voraus?)-schreibend. Diesen epochalen Roman – epochal mindestens in zwei Bedeutungen – hatte ich im Alter von etwa dreißig Jahren das erste Mal gelesen, und dreißig Jahre später waren mein Eindruck und mein Interesse, meine Teil- und Anteilnahme nicht sonderlich verändert. Ich glaube immer noch, daß Thomas Mann in diesem Werk, auch wenn er vielleicht zu sehr typisiert und sich als Schöpfer von der in Formen zu gießenden, aus Enzyklopädien und Standardwerken bezogenen – heute wär’s Wikipedia – Wissensfülle abhängig macht, fundamentale Denkmöglichkeiten der europäischen Neuzeit literarisch umfaßt und gestaltet hat, und dies auf eine Weise, die den Leser heute so berühren kann wie vor hundert Jahren. Dieses Buch ist die letzte Variante jener dualistischen Großkonzepte, die – hier mehr philosophisch, dort mehr literarisch ausgeprägt2 – das 19. Jahrhundert hervorgebracht hat und die dieses Jahrhundert prägten.
Buddenbrooks wiederum habe ich früh gelesen, in mehreren Anläufen, nie zur Gänze, glaube ich. Womöglich fand ich die sich in Variationen wiederholenden Familiengeschichten, das wattierte Geplauder und Getue, womit sie erzählt werden, auf die Dauer langweilig. Bei der Wiederlektüre letztes Jahr war ich erstaunt über die frische Erzählkraft, die den Szenen, Dialogen und Detailschilderungen entströmt: ein Mann mit Beschreibungspotenz, wahrhaftig! Wahrscheinlich kann ein Autor nur sein erstes großes Werk auf solche Art schreiben, wenn der junge Schöpfer staunend sich selbst und seine unendlichen Möglichkeiten entdeckt. Auch Thomas Mann vermochte diese Schöpfungsenergie nicht auf dem anfänglichen Intensitätsniveau halten – was ihn nicht davon abhielt, eifrig weiterzuschreiben bis zu seinem Tod im Greisenalter. Doktor Faustus, schon ein Spätwerk, war für mich aus mehreren Gründen von Bedeutung, als ich es mit 22 oder 23 Jahren las. Einerseits, weil sich mir die tragische Weltanschauung überhaupt erst durch diese Lektüre zu erschließen begann. Aber auch aus privaten Gründen, ungefähr so, wie Ricardo Piglia seinen ersten Roman, Die Pest von Camus, nur las, um einem Mädchen zu imponieren, in das er verliebt war. Doktor Faustus gehört zu den Büchern, die mich bei der Wiederlektüre eher enttäuscht haben; vielleicht hatte ich es bei der Erstlektüre Jahrzehnte zuvor auch zu hochgestellt, zu sehr verehrt (wie die Frau, wegen der ich es las). Thomas Mann hat sich nie einer Theorie des Essayismus à la Musil verschrieben, doch dieser Roman ist vollgepfropft mit gelehrten Abhandlungen, die man oft etwas knapper hätte halten können (abgesehen davon, daß Musikfachleute an der Triftigkeit mancher Ausführungen zweifeln). Thomas Mann zeichnet sein Alter-Ego, den Lateinlehrer Zeitblom, mit ironischer Distanz, d. h. selbstkritisch, als stets korrekten, ein wenig pedantischen Oberstudienrat, doch diese Eigenschaften eignen halt doch auch dem Autoren-Ich und prägen damit die Machart des Romans. Der mit dem Teufel verbündete, in musikalischen Schöpfungen gegen seine Leiden ankämpfenden Leverkühn ist der Andere, das zweite Alter-Ego, die poète maudit-Seite in Thomas Mann: das Schwule, Kranke und Geniale (ich weiß, liebe Schwulenlobby, daß »schwul« nicht gleich »krank« ist, und ich weiß auch, daß nicht alle Schwule Genies sind, und umgekehrt!), im Verhältnis der beiden Freunde aber doch mehr »Alter« als »Ego«. Thomas Mann, der Möchtegern-Verrufene? Kein anderer hatte einen so guten Ruf wie er, sogar in den USA, wo er zweimal den Staatspräsidenten treffen und sogar im Weißen Haus logieren durfte (die Thomas Mann-Biographie von Hermann Kurzke habe ich mir auch zu Gemüte geführt). Liest man Buddenbrooks und Doktor Faustus unmittelbar nacheinander, so wird der Abstand zwischen unbekümmerter Freude an sprachlichem Ausdruck, an detaillierter Beschreibung einerseits und gelehrter Umständlichkeit andererseits besonders sinnfällig. Geschichte eines schriftstellerischen Verfalls? So möchte ich es nicht nennen, der Verlust wird ja aufgewogen: der mit Brocken von Lutherdeutsch und altertümlichen Grobianismen jonglierende Gottseibeiuns, nur zum Beispiel, ist echt gelungen, wirklich witzig, im schönsten Sinn unzeitgemäß.
© Leopold Federmair
Es würde mir gefallen, hier eine Parallele – oder Transversale – zum englischen Wort und der entsprechenden Vorstellung von queer zu sehen, aber das ideologische Fundament, die akademische Strenge und die Kanalisierung des Blicks auf "Gender" sowie auf Homo-, Bi- und Transsexualität der sogenannten Queer Studies nimmt mir jede Lust auf diesen Vergleich. Das Wort scheint sich übrigens aus dem Deutschen (von "quer") in den englischen Sprachschatz geschwindelt zu haben: quer, abweichend, seltsam, ungewöhnlich ↩
Kierkegaard war mehr Dichter als Denker; Hegel hatte, obwohl er drei Bände über Ästhetik verfaßte, wenig künstlerisches Gespür; Schopenhauer beherrschte die Kunst des Sätzebaus und der Darstellung, des Umgießens von altem Wein in neue Schläuche; Nietzsche lebte das Pathos, über das er schrieb, wollte ein Dichter sein und war es zuweilen. Entweder – oder, Ethik vs. Ästhetik, Wille vs. Vorstellung, Dionysos vs. Apoll, und über/in allem die Mechanik der Gegensätze in Natur und Erkenntnis bis zum Ende der Geschichte. ↩
Vielen Dank für Ihren mäandernden Gedankenstrom, es ist mal wieder ein großes Vergüngen sich treibend lassen seinen Verästelungen zu folgen.
Die vielen Echos, die er hervorruft, würde ich am liebsten zu einem Antwortessay systematisieren, aber hier in der Kommentarspalte ist ja viel Platz und die Finger tippen hoffentlich schnell genug, bevor die Gedanken erkühlt, erloschen und vergessen.
In der Hauptsache vernehme ich den Versuch eine Lesehaltung zu skizzieren oder sich selbst vergewissernd im Essay zu erschreiben: einer zunehmenden Freiheit vom betrieblichen Neuveröffentlichungsmahlstrom, von Zwängen gewisse honorierte Hochgipfel erklimmen und schätzen zu müssen, ein entspanntes durch die Weltliteratur Treiben, Zurückkehren, Wiederentdecken, Verwerfen alter Leseeindrücke.
Eine ähnliche Haltung habe ich an mir trotz meinem Enddreißigseins auch schon ausgemacht. Meine fortgeschrittene Digitalitis hat mich schon fast zum Nichtleser werden lassen, dass ich um so mehr die wenigen Bücher, die ich lese, mit Bedacht wählen will und frei nach Lust und Neigung.
Und jetzt gerade verspüre ich große Lust einige der eigenen Lesestationen für mich selbst zu beleuchten:
Wie ich Nietzsches Zarathrustra in der Transsib las und wie mich dieses auf der Liege legende Lesen in seiner Plakativität vom eigenen Lesen entfremdete, als wäre da ein Betrachter, dessen Blick meine Pose entlarvte. Wie sich Gides »Falschmünzer« mehrfach lesend in eine als papierne, künstliche Literarizität, eine vollkommene und elaborierte Gefühlsmechanik wandelte, die mich nun kühl ließen. Wie ich Nabokovs »Ada« nach wenigen Seiten halb angewidert beiseite legte, ob der rekursiven Verschachtelung, mit deren Vollzug der Leser seiner eigenen Intelligenz schmeichelt und sich der kundigen Gemeinde zurechnet. Das stieß mich ab. Etc.
Muss wieder an Brochs »Vergil«, hoffe ich bin der Literatur nicht schon so sehr entfremdet, dass die Brücke dorthin schon abgebrochen.
Ich gestehe, dass ich auch Phasen habe, in denen ich nichts mehr lesen kann. Mindestens nichts sogenanntes Literarisches mehr. Und dann gibt es solche Texte wie den von Federmair, die mich wieder ein bisschen neugierig machen.
»hoffe ich bin der Literatur nicht schon so sehr entfremdet, dass die Brücke dorthin schon abgebrochen.«
Ja das hoffe ich bisweilen auch. Bisher hat es immer geklappt. Ich wünsche es Ihnen...
Es gibt so etwas wie Leserbiographien, in denen oft nicht oder nicht in erster Linie die Inhalte der Bücher gespeichert sind, sondern bestimmte Farben, Töne, Gefühle, Assoziationen. Und Lektüren verbinden sich oft mit bestimmten Abschnitten des Lebens, mit Momenten, besonders auch mit Orten, weil man ja nicht von der ersten bis zur letzten Seite im Buch versunken ist, sondern aufschaut, sich bewegt, zwischendurch etwas anderes tut. Dieses schizophrene Leseerlebnis in der Transsibirischen, von dem Phorkyas schreibt, finde ich interessant. Es erinnert mich an eine Szene in »Anna Karenina«, wo die Titelheldin ebenfalls im Zug liest, mit einer kleinen Lampe, die Erhellung (und manchmal Erleuchtung) des Lesens. Ich glaube, es ist nicht in der Transsibirischen, sondern auf der Strecke zwischen Moskau und St. Petersburg.
Diese Art des Erinnerns, wo sich Fiktion, Wirklichkeit, Gefühle mischen, scheint mir Büchern eigentümlich zu sein. Im Prinzip gibt es das natürlich auch bei anderen Aktivitäten, Konzerte z. B., oder Filme – allerdings nicht in dieser komplexen Dichte. Ich erinnere ziemlich genau den Abend, als ich in einem kleinen, schlauchförmigen Kino in Rom meinen ersten Pasolini-Film gesehen habe; und an meine Rührung nach »Le festin de Babette« (nach Karen Blixens Roman) in Paris. Aber auch an meinen ersten Kinofilm überhaupt, mit einer Bekannten meines Vaters, als ich etwa acht Jahre alt war, zu jung für »Der letzte Mohikaner« und entsprechend verstört. Ich glaube, ich hatte vorher – oder vielleicht nachher – »Lederstrumpf« gelesen, das Buch wurde öfters verfilmt.