Einblicke in die Abenteuer eines befreiten Lesers
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Peter Handke gehört zu den Autoren, von denen ich jede Neuerscheinung früher oder später lese; manchmal später, wenn die Erscheinung nicht mehr ganz neu ist, als Nicht-Kritiker kann ich mir das erlauben. Den Aktualitätsstreß, die Hysterie des Publizierens, den martialischen Konkurrenzkampf um Aufmerksamkeit, all das habe ich in meinem Sayonara-Essay beschrieben. Ich lese immer wieder mal die »Userkommentare« in den Foren von Tageszeitungen und stelle dann fest, wie sehr ein Teil des Publikums diese Hysterie verinnerlicht hat: Journalisten sind beim kleinen Mann unten durch, wenn sie ein, zwei Stunden später als andere Journalisten in anderen Medien an einem »Ereignis« dran sind. Als ginge es ihnen nicht um den Inhalt einer Nachricht, sondern darum, erster zu sein, der das Ding – meist fehlerhaft in der Online-Ausgabe – in die Tastatur klappert. Und darum geht es dem User auch, die Nachricht selbst er kaum, nur den Reiz der Großbuchstaben nimmt er auf. Das Internet, die digitale Verfügbarkeit, potenziert solches Verhalten, da jeder jederzeit ALLES »vergleichen« kann.
Genau das sind die neuralgischen Punkte, an denen unsereins Abstand und Langsamkeit einfordern müßte (Stifter- oder Handke-Lektüre kann Bereitwillige ein wenig dafür schulen). Ich konnte mich nach der spät gewordenen Lektüre der Obstdiebin nicht daran hindern, doch wieder mal eine Art Kritik zu schreiben, als Nichtkritiker sozusagen. Genau genommen ist es jedoch ein ironisch-dialektischer Essay geworden, den man in der Literaturzeitschrift manuskripte (Heft 224) nachlesen kann – eine Inhaltsangabe will ich hier nicht liefern. Als Titel hatte ich mir »Im Wechselbad der Gefühle« einfallen lassen, und habe damit zwei Bedeutungsebenen eingezogen: die erste betrifft den Text und seine Machart, die zweite meine Gefühle bei der Lektüre. Zwei Fliegen auf einen Schlag sozusagen.
Es kommt beim Lesen nicht selten vor, daß die Gefühle unsicher und wechselhaft sind; gute, riskante, herausfordernde oder neuartige Literatur ruft sie eher hervor als gefällige, die bestrebt ist, den Leser zu »packen«. Das Buch, das ich jetzt, während ich diesen Text abschreibe, lese, Der Riß der Zeit geht durch mein Herz von Hertha Pauli, ein Erinnerungsbuch an den Anschluß Österreichs an Deutschland, an Ödön von Horvath und Joseph Roth, an Flucht und Exil in Paris, ist gefällig, spannend, jungmädchenhaft, gutgelaunt trotz aller Schicksalsschläge. Ich lese es gern, wißbegierig, mit Zuneigung zu den meisten Figuren, aber ins Schwanken bringt es meine Gefühle und Urteile nicht.1) Literaturkritiker verschweigen solche Gefühle in der Regel, sie müssen zu einer Bewertung kommen, drei Sterne von fünf, oder doch dreieinhalb… Bei anderen Autoren ist der Wechsel der Lesegefühle über die lange Reihe ihrer Bücher verteilt, einige davon gefallen mir, andere nicht. Bei Haruki Murakami ist diese Unsicherheit selbst ein Grund, immer wieder etwas von ihm zu lesen. Kafka am Strand fand ich sehr gut, ein postmoderner, vielschichtiger und trotzdem leichtlebiger Mix, pubertäre Literatur à la Hermann Hesse, mag sein (Murakamis Held ist der Pubertät gerade eben entwachsen); Karl-Markus Gauß, einer der tapfersten und ausdauerndsten Literaturkritiker, hat sich in diesem Sinn geäußert, aber ich habe mich bei der Lektüre gut unterhalten und Zuneigung zu einzelnen Figuren gefaßt.2 Gut möglich, daß Murakami seine Figuren, auch die Bösewichte, zu sehr liebt, daß er sie verhätschelt und manchmal verdirbt: typischer Fall von amayakasu, von kawaigaru – beide Wörter verweisen auf japanische Stärken, die sich unmerklich in Übel verwandelt haben: kawaii und amae, die kleinen hübschen Dinge und das Lieb-und-angepaßt-Sein. Die Lektüre von Kafka am Strand hat mir durchaus Momente der Erkenntnis gewährt, in denen Zusammenhänge aufgegangen sind, ja, sogar etwas wie Erleuchtung ahnbar geworden ist.
Jahre später nahm ich mir die Zeit und las 1Q84, fand das Buch aber geschwätzig, die Seitenzahl von ca. 1600 ist eher dieser Plauderhaftigkeit (besonders natürlich in den Dialogen) geschuldet als einer überquellenden Substanz. Allzu großes Vertrauen in die Geläufigkeit des eigenen Schreibens schadet offenbar jener Substanz, über die Murakami zweifellos verfügt; oder ist es wirklich so, daß er bloß – bewußt? – heterogenes Material und flüssige Geschichten um ein leeres Zentrum herum anordnet? So lautet die Donut-Theorie, aber man könnte auch auf das leere Zentrum der Shinto-Heiligtümer verweisen. Murakamis Erzählwerk, ein west-östlicher Divan, produziert mit Hilfe amerikanischer fiction-skills. Zuletzt habe ich Wilde Schafsjagd gelesen, weil ein begabter Student, den ich eine Zeit lang betreute, bevor er nach Deutschland ging und ich ihn aus den Augen verlor, mir gestand, das sei seine Bibel. So drückte er sich aus, »meine Bibel«. Nun denn, eine Bibel sollte man immer wieder lesen, darin blättern, mal dieses, mal jenes Kapitel aufsuchen; ein solches Leseverhalten entspricht diesem heterogenen Buch, dem Buch der Bücher, bestehend aus einer Vielzahl von Büchern, auch »Divan« könnte man dazu sagen, es gestattet und fordert das Blättern. Zur Wilden Schafsjagd werde ich allerdings nicht zurückkehren, da habe ich zwar die Flüssigkeit genossen, diesen epischen soft drink (passend zu donuts), und – wie üblich – die Figuren sympathisch gefunden, aber genau das, was an Murakami so oft gelobt und bewundert wird, die Kunst des Plots – the art of plot, klingt nicht schlecht? – sucht man hier vergeblich, oder besser gesagt: Der grundlegende Plot dieses Romans, eine dunkle, yakuzamäßige Macht, la piovra, die ihre Krakenarme nach einzelnen Menschen ausstreckt und bald die ganze Gesellschaft zu umschlingen droht, konnte mich gar nicht überzeugen, diese dunkle, in Wahrheit aber nur unausgegorenen Verschwörungsgeschichte. In 1Q84, knapp dreißig Jahre nach Wilde Schafsjagd erschienen, spinnt Murakami einen ganz ähnlichen Plot aus, diesmal nicht durch die Yakuza, sondern durch eine religiöse Sekte »inspiriert«. Das Ergebnis ist breit, breiig und amüsant; wieder einmal haben sich dunkle Mächte verschworen.
Ricardo Piglia hat oft darauf hingewiesen, daß die Idee eines Komplotts der Motor zahlreicher Erzählungen der argentinischen Literaturgeschichte ist. Dunkle Mächte, bohrende Verdächte – aus Ängsten und Mutmaßungen werden literaturfähige Geschichten. Dieser Mechanismus ist sicher nicht nur in Argentinien anzutreffen, er war und ist in vielen Gegenden der Weltliteratur am Werk. Meine derzeitige Abneigung dagegen, auch gegen Piglias Theorie, hat mit der allseitigen Beliebtheit von zumeist vollkommen idiotischen Verschwörungstheorien zu tun, die den Anspruch erheben, komplexe Sachverhalte auf einen einzigen Punkt zu reduzieren, mit der Tendenz, die ganze Welt mit ein paar raschen Gesten zu erklären. In den Internetforen kann man nachlesen, wie hartnäckig und oft grotesk, Schiffbrüchigen gleich, sich viele Leute – ich fürchte, die Bevölkerungsmehrheit – an solche Erklärungsplanken klammern. Nach dem zweiten Weltkrieg konnte man ein paar Jahrzehnte lang denken, Komplexitätstoleranz habe sich nicht nur im obersten Überbau durchgesetzt (Popper, Habermas, um nur zwei Namen zu nennen), sondern auch in den Massenmedien, die die Massen – und mich in der Menge – in geduldiger Tagesarbeit aufzuklären und zu verbessern verstanden, so daß komplexes Denken zwar nicht immer nachvollzogen, aber wenigstens mit gesellschaftlichem Ansehen bedacht wurde. Im einzelnen will ich hier nicht auseinandersetzen, weshalb mich der Mechanismus des Komplotts gerade in den erwähnten Romanen Murakamis nicht überzeugt. Ich fürchte, ich habe diesen Mechanismus als Schreibender manchmal selbst bedient. Dieser Frage müßte ich nachgehen, aber ich will hier eigentlich gar nichts erklären und mich nicht noch mehr in den Verzweigungen des wilden Denkens verlieren, sondern die transversalen Abenteuer des mehr oder minder befreiten Lesens schildern.
Michel Houellebecq. Auch ihn muß ich immer wieder lesen, weil ich seinen ersten Roman übersetzt habe, Ausweitung der Kampfzone: ein Stein, der etwas ins Rollen gebracht hat, sowohl in der lärmenden Öffentlichkeit als auch bei der stilleren Leserschaft und bei mir selbst. Was nicht heißt, daß ich je das Bedürfnis verspürt hätte, mich zu Houellebecq zu bekennen. Ihn zu verteidigen, das ja, wie einen fremden Bruder. So einen verläßt man nicht, und auch andersrum: man wird ihn nicht los. Soumission, »Unterwerfung«, tatsächlich trifft er wieder mal einen Nerv, nicht nur wegen der schleichenden Islamisierung, die quasi den Plot darstellt, wiederum eine Art Verschwörung von dunklen, ungreifbaren Mächten, mit einer Galionsfigur, deren ostentativer Gutwilligkeit man nicht trauen kann, eine vorsätzlich überzeichnete Darstellung gesellschaftlicher Verhältnisse, die auf andere, gewöhnlichere und gar nicht beunruhigende Weise ohnehin längst europäischer Alltag sind, da Leute, die dem islamischen Kulturkreis entstammen, in Machtpositionen gewählt wurden, wie Sadiq Khan, seit 2016 Bürgermeister von London (Soumission war anderthalb Jahre vorher erschienen, am 7. Januar, dem Tag des blutrünstigen Angriffs islamistischer Terroristen auf die Wochenzeitung Charlie Hebdo in Paris), oder neuerdings Alma Zadic, die junge Justizministerin der österreichischen Regierung. Bei der Lektüre von Unterwerfung habe ich mich gefragt, wie man ein Buch, das in der nahen Zukunft – 2022 – spielt, in dieser nahen Zukunft, wenn sie dann Gegenwart ist, lesen wird: Etwa den Finger auf Stellen legend, Präsidentschaftswahlergebnisse zum Beispiel, die von der Wirklichkeit bestätigt oder widerlegt wurden? Aber nicht nur mit dem im Grunde genommen leicht kalkulierbaren Spiel mit den Ängsten vor orientalischer Überschwemmung des Westens trifft er einen Nerv und bringt ihn zum Schmerzen, sondern auch und mehr noch, für mich jedenfalls triftiger und dringlicher, in der erzählerischen Extrapolation einer neuen Unterwürfigkeit weiter Bevölkerungsteile (einschließlich der Universitätsdozenten) unter moralische Vorgaben, Arbeitsdisziplin und Verfügbarkeitsforderungen, vernünftelnd-irre Sprachregelungen, Alternativlosigkeitsdogmen, all die Zwänge der »posthistorischen«, ach so freien spätkapitalistischen Gesellschaft, die uns der Terror der Ökonomie, wie es eine hellsichtige Autorin einst nannte, eingeträufelt hat.
Auf diese Weise entsteht ein besonderer Realismus-Effekt, eine Art Aktualitätsanspruch, der in den ersten beiden Roman Houellebecqs nicht da war und der literarischen Qualität womöglich nicht guttut: Unterwerfung liest sich wie ein Kolportageroman, literarisch aufgepäppelter Journalismus. Ich schreibe »Kolportage«, col à porter, Hausiererliteratur, aber vielleicht sollte ich besser »Konfektionsroman« sagen. Industriell gemacht (Konfektion)? Vielleicht, ein wenig au second degré: nach Mustern gestrickt. Cocktailroman, Ingredienzienmix. Wie Murakami? Globales Rezept.
Und dann Nabokov. Der bezeichnete Faulkners Romane als »corncob chronicles«, Maiskolbenchroniken. »Kukuruzliteratur«, würde ich lieber sagen. Wird in Yoknapatawpha County nicht Kukuruz angebaut? Ach ja, Nabokov dürfte dabei eher an den sexuellen Mißbrauch eines solchen Dings als Penetrationsinstrument in einem von Faulkners Romanen gedacht haben. Faulkner ist ihm zu bombastisch, zu spätromantisch. Der Richard Wagner der amerikanischen Literatur. Ich werde den Verdacht nicht los, daß selbst der große Nabokov manchmal von Neidgefühlen gestreift wurde: Faulkner erhielt 1950 den Nobelpreis, genau in dieser Zeit kamen ihm seine Bücher Nabokov erstmals unter die Augen. Aber klar, Spätromantik, man könnte auch sagen: Shakespearianismus, sowas paßt nicht zu Nabokovs Geschmack und Selbstverständnis. Da ist er viel zu sehr Ironiker zu. Desillusioniert, d. h. mit allen Wassern gewaschen. Revenu de tout, sicher auch ein wenig blasiert, wie es sich für einen Adeligen gehört. Im Ranking der New Yorker Modern Library für die besten Romane des 20. Jahrhunderts liegt Lolita an vierter Stelle, knapp vor Faulkners Schall und Wahn Freut sich Nabokov im Grab darüber? In einer ähnlichen Liste von Le Monde, die jedoch auf eine Umfrage zurückgeht und nicht, wie die der Modern Library, durch eine Jury zustande gekommen ist, liegen Camus und Proust vorne, dann erst kommt Kafka, zwei weitere »Ausländer« unter den ersten zehn folgen auf Rang sieben und acht, Steinbeck und Hemingway; Lolita und Ulysses unter »ferner liefen«, aber auch da benachbart, Schall und Wahn etwas weiter hinten. Soviel zu den Rankings, die angeblich die Weltliteratur spiegeln.3
Lolita gehört zu den Büchern, die ich mir in jungen Jahren zu lesen vorgenommen hatte, aber nie las. Vorletzten Sommer habe ich mich endlich darangemacht. Über diesen Roman hatte ich immer nur Gutes gehört, oft in den höchsten Tönen. Und dann ging es mir so ähnlich wie mit Faulkner. Vielleicht ist meine Offenheit, meine Begeisterungsfähigkeit nicht mehr groß genug, aber irgendwie fand ich diese endlosen Jungmädchengeschichten, all die Verschrobenheiten und Ulkigkeiten dieses Mr. Humbert Humbert und auch das Machtstreben und die Selbstbewußtheit einiger dieser Fräuleins – ich könnte nicht sagen, welcher, sie sind mir alle ferngerückt, Schatten im Nebel der Erinnerung – anstrengend und übertrieben. Auf andere Art bombastisch. Ich sage das nicht, weil ich Nabokov an Faulkners statt einen Schlag heimzahlen will, sondern weil es mir ähnlich erging wie beim anderen. Aber ich will meine alte Ausdauer nicht verlieren. Nabokov werde ich wieder lesen (und wahrscheinlich nicht wiederlesen). Ebenso Faulkner.
Thomas Bernhard. Auch so ein Fall. Ich hatte Lust, etwas von ihm zu lesen, das ich noch nicht kannte; einige Jahre zuvor hatte ich Das Kalkwerk wiedergelesen, mit gemischten Gefühlen, nachzulesen in meinem Essay Als ich das Kalkwerk von Thomas Bernhard las (enthalten in dem Band Formen der Unruhe). Die Bibliothek der Universität, an der ich unterrichte, besitzt bei weitem nicht alle Werke von Thomas Bernhard; hätte ich Frost in ihre Katalog gefunden, ich hätte wahrscheinlich nicht widerstehen können und hätte Bernhards ersten Roman wiedergelesen. So bin ich auf Beton gestoßen und habe das Buch vor der Baumgrenze, der Hundert-Seiten-Grenze zurückgegeben. So hatte ich meinen Bernhard nicht in Erinnerung! Schlampig, lustlos, der ewige Automatismus von Gegensatz-Steigerung-Umkehrung, diese rhetorische Leier. Langweiliger als Hegels Dialektik-Maschine. Ob die Schwester jenes Möchtegernschreibers – wie hieß er noch gleich? Rudolf? Richtig, wie mein Bruder – störend (Extrem: vernichtend) oder hilfreich (Extrem: rettend) wirkt auf seine »Arbeit«, diese wiedergekäute Frage ließ mich nicht nur kalt, sie hat mich ärgerlich gemacht.
© Leopold Federmair
→ Teil 7/8 folgt
Von Anfang an hörte ich aus diesem Buch einen bestimmten Ton, der sich bis zum Ende durchzieht: den fast mädchenhaften Ton der guten Laune, der selbstständigen, lebensfrohen jungen. Hertha Pauli hat das Buch im Alter von sechzig Jahren geschrieben, die "Erlebnisse" – sie nennt es tatsächlich "Erlebnisbuch" –, von denen die Rede ist, zeigen sie um 1938/39 im Alter von 31, 33 Jahren, da ist sie wirklich frei und ungebunden, doch als Halbjüdin und österreichische Patriotin auch bedroht, ohne Zukunftsaussichten. Der Widerspruch – Elend und Gefälligkeit – ist in diesem Fall nicht wirklich produktiv, die Erzählung zu linear und einsinnig, um mehr entstehen zu lassen als einen Bericht, den man gern verschlingt, weil man natürlich wissen will, wie die Geschichte einer Flucht ausgeht, und zweitens, weil die Frau so viele interessante Bekannte hatte, die meisten von ihnen Schriftsteller. Hier ein Beispiel für den unbekümmerten Ton. Pauli beschreibt eine Kellnerin in einem Dorf in Südwestfrankreich: "Da ihre Oberlippe zu kurz war, um über die vorstehenden Zähne zu reichen, blieb ihr Mund stets wie fragend offen. Auch Sanftmut und Wehrlosigkeit hatte sie mit einem Kaninchen gemein. So war Paulette die allgemeine Jagdbeute des Ortes, und als sie schließlich ein Kind gebar, war wohl der ganze Burschenstammtisch der Papa." In Zeiten von Me too kaum vorstellbar, daß eine emanzipierte Frau und Anftifaschistin so naiv und spaßhaft über die sexuellen Umtriebe einer Dorfjugend und so "lookistisch" über eine hart arbeitende junge Kellnerin schreibt. Da könnten glatt Rufe nach Zensur und Ächtung laut werden… Lest dieses Buch, das in der Reihe "Die Frau in der Literatur" – 1990, lang ist's her – neu aufgelegt wurde, bloß nicht! Aber nein, Frauensolidarität geht vor, lest es oder kauft es zumindest. Dank Google – danke! – erfahre ich, daß erst vor kurzem ein Roman von Hertha Pauli über ein Mädchen, welches das KZ überlebt hat, erschienen ist, und zwar in einem sogenannten Frauenverlag. Die Geschichte erinnert ein wenig an die von Ariel Magnus' Großmutter. (Inzwischen habe ich sie zu lesen begonnen. Der Riß der Zeit lohnt die Lektüre unbedingt; Jugend nachher, Paulis Nachkriegsroman über die Schicksale eines Mädchens, das das KZ überlebt hat, eher nicht. Der Titel verweist ungeschickt auf Jugend ohne Gott von Ödön von Horvath, den die Autorin in jungen Jahren heiß geliebt hatte. Einiges über diese alles in allem unglückliche Liebe kann man in Der Riß der Zeit erfahren. ↩
Daß Hesse von den Snobs mit größter Hartnäckigkeit niedergemacht wird, ist eine andere Geschichte. Meine Tochter liest gerade Unterm Rad, das allein ist für mich ein Grund, meinen sicherlich verschmutzten Wertungsfilter wieder einmal zu reinigen. Ich erinnere mich an eine sehr ferne Lektüre von Narziß und Goldmund. Auch dieses Buch hat in meinem Tiefengedächtnis Spuren hinterlassen und erinnert mich immer – besser: für immer – an den unauflösbaren Konflikt mit meinem Bruder. "Erinnert mich", heißt in diesem Fall: beeinflußt meine Art, mit diesem Konflikt umzugehen. Überhaupt kriege ich Lust, das Pubertäre, Unreife in Schutz zu nehmen – und denke auch gleich an einen Vorläufer, Witold Gombrowicz, den Verfechter der Unreife. ↩
Selbstkommentar: Man merkt hier, wie du jetzt doch wieder bei Google Zuflucht nimmst. (L. F.) ↩
Ich folge gerne Ihren verschlungenen Lektüre-Schilderungen. Fast zu jedem Autor fiele mir auch etwas ein – zum Beispiel Modiano, von dem ich vor einigen Jahren eine ganze Reihe von Büchern gelesen habe, angefangen mit dem von Handke übersetzten »Jugend«, das mich mit seiner Leichtigkeit und Beiläufigkeit bezaubert hatte. Es war dann wie Serien-Schauen, nur nicht mit den unangenehmen Nach- oder Nebenwirkungen, wenn man die »Masche« durchschaut hat, bei Modiano ist es keine Masche. Fast keine Serie habe ich hibgegen dass bis zum Ende angeschaut habe und derzeit schaue ich überhaupt keine Serien mehr. Derzeit schaue ich Filme von Koreeda und lese Kent Haruf. Beide erzählen schlicht, aber mit subtilen Zwischentönen, die wiederum zur Komplexität hinführen. Koreeda sagt in dem Interview, das in dem schönen Begleitheft zur DVD-Box abgedruckt ist, ein westlicher Kritiker habe zu ihm gesagt, auffallend sei, dass er seine Figuren nicht verurteile. Das kann man auch von Haruf sagen. Es schimmert durch die Art, wie erzählt wird, etwas Humanes durch, etwas, was in der Realität (mehr und mehr?) zu fehlen scheint.
Auf dem Buchrücken von Haruf sind zwei Stimmen abgedruckt: eine von Christine Westermann, die ungefähr sagt, dass Harufs Schlichtheit ihr Herz ergreife. Dann Bernhard Schlink, der beteuert, dass Haruf ein großer amerikanischer Autor sei. Nun bin ich weder von Christine Westermann als Literaturkritikerin begeistert noch von Bernhard Schlink als Autor. Allerdings frage ich mich, ob meine literaturkritischen Urteile sich nicht inzwischen auf Christine Westermann-Niveau bewegen, insofern, als mich Bücher emotional berühren müssen, damit ich sie gut finde. Jedenfalls irgendetwas mit mir innerlich anstellen. Das nicht nur intellektuell, sondern seelisch, existentiell oder wie immer man das nennen mag. So wie damals, als ich zum ersten Mal Kafkas »Verwandlung« las. In einer Ausgabe, in der als Nachwort ein Essay Nabokovs abgedruckt war. Zu Nabokov habe ich ein ambivalentes Verhältnis. So sehr ich seine Prosa bewundere, sein Können, lassen mich seine Bücher doch eher gleichgültig, vielleicht mit Ausnahme »Der Gabe«. Nun zu Schlink: Mir fällt auf, dass ich, wenn mich ein Autor begeistert, nie sagen kann, ob es sich um einen großen Autor handelt, die Frage stellt sich mir dann gar nicht.
»Mein Leben als Leser« – und wie sich die Lektüre mit dem eigenen Leben verbindet und man seine eigene Lebenserfahrungen im Spiegel fiktionaler Werke reflektiert. Daraus könnte man wiederum einen Roman machen. Jedenfalls habe ich mir immer Rezensionen vorgestellt, in denen dies thematisiert wird.
Handke-Lektüren waren ein Zeitlang für mich in dem Sinn mehr als Literatur. So »Der lange Brief ...«, »Die Stunde der wahren Empfindung« und vor allem »Langsame Heimkehr«. Aber auch die Versuche. Eine Zeitlang habe ich ihn dann aus den Augen verloren, aber ich habe ihn nie »aussortiert« wie manche Autoren; diese Lektüreerlebnisse blieben haften, und vor ein paar Jahren habe ich ihn von neuem entdeckt. Geprägt hat mich Handke ausserdem als verlässlicher Tippgeber. Dazu gehören: Hermann Lenz, Walker Percy, Tomas Tranströmer, Jan Skacel, Gerhard Meier, John Cheever oder Patrick Modiano. Das ist ganz erstaunlich. Das Erstaunliche ist, dass ich zu den Werken dieser Autoren immer wieder greife wie sonst nur zu wenigen; zu den Wenigen gehören sicher Kafka und Robert Walser.
Ja. Nur zu Koreeda: Es gibt das eine regelrechte Traditionslinie im japanischen Kino, dieses schlichte Bilderzählen von menschlichen Angelegenheiten, meist unspektakulär, aber eine starke Intensität entfaltend: Yasujiro Ozu, Shohei Imamura, Hirokatsu Koreeda. Unlängst habe ich eine Verfilmung einer Erzählung von Jiro Asada gesehen, »Poppoya«, auf deutsch etwa »Der Bahnvorstand« (englisch »The Stationmaster«, ich erwähne das Buch irgendwo in meinem Essay), mit großartigen Schauspielern, oben im Schneeland spielend (Regie Yasuo Furuhata). Meine Tochter hat danach sehr geweint, ich auch ein bißchen, bin bei Japanisch ohne Untertitel etwas schwerer von Begriff. Ich glaube, es geht doch immer wieder um diese emotionale Berührung. Aber auch diese Dinge sind komplex, Weinen allein sagt noch gar nichts, die meisten Hollywoodfilme laufen auch darauf hinaus.
Kent Haruf kannte ich gar nicht. Ist notiert.
Tränen lügen nicht, heisst es doch; vielleicht kann ja in dem allergrößten Schund ein wahrer Moment verborgen sein oder einen wahren Moment evozieren. Relativ allergisch reagiere ich, wenn ich den Eindruck habe, ich soll emotional manipuliert werden; bei Koreeda habe ich den Eindruck nicht, weil sich die Emotionalität da eher indirekt und dezent vermittelt. Einen Film von Ozu habe ich mir letzte Woche dann auch wieder angesehen. Und es stimmt, dass diese Schlichtheit eine starke Intensität entfalten kann, oder anders: es ist immer wieder überraschend, wie aus einem banalen Geschehen unmerklich existenziell verdichtete Momente hervorgehen. Beides – das Banale und das Existentielle – scheinen in diesen Filmen stärker verwoben. Mir hat sich auch die Frage gestellt, was daran ist Ost, was West. Lässt sich das überhaupt so klar voneinander trennen? Von Ozu heisst es, er sei der japanischste Regisseur, zugleich dass er westlichen Einflüssen offen gewesen sei. Koreeda sagt in dem Interview, er habe mit seinen Filmen gerade nicht westliche Erwartungen bedienen wollen, also eine Zen-Ästhetik der Leere – und doch habe er dies zu hören bekommen. Parallelen zu Ozu finde ich wiederum bei Bresson und Dreyer. Von Imamura habe ich noch keinen Film gesehen, will es nun aber tun; »Poppaya« ist leider nicht erhältlich.
Ich glaube nicht, daß man Werke wie die von Ozu allzusehr kontinental oder national festlegen sollte. In diesen Filmen spielen die Feinheiten im Gesichtsausdruck der Schauspieler, auch die Gesten eine wichtige Rolle (natürlich auch in »westlichen« Filmen). Meine Tochter sagte neulich zu »Poppaya«, die erstaunlichen Ausdrucksänderungen bei Nahaufnahmen seien eben »japanisch«, und ich glaube, da hat sich recht. Japanische, ostasiatische Gesichter werden von Europäern oft als starr angesehen, aber wenn man damit vertraut ist, sieht man, wie die Ausdrucksveränderung im Mikrobereich große Wirkungen erzeugen kann. Die Schauspieler gehen natürlich damit auf ihre Weise um – hier ist dann sicher der örtliche Kontext, die Biographie, die Gewordenheit des Körpers wichtig. Das beste Beispiel ist Ryu Chishu, der in den meisten Filme Ozus mitspielt. Wim Wenders hat ihn für seinen Dokumentarfilm »Tokyo-ga« interviewt, er meint dort in typischer Bescheidenheit, er habe alles dem Regisseur zu verdanken und immer nur getan, was der ihm sagte. (Ich glaube, ein ähnlich inniges Verhältnis entwickelt Koreeda zu seinen Schauspielern, auch zu Laiendarstellern, Kindern, das kann er besonders gut.) Ich könnte stundenlang dasitzen und nur Chishus Gesicht anschauen. Oder Ryoko Hirosues Gesicht in »Poppoya«.
Was ich im vorigen Kommentar auch noch sagen wollte: Diese japanischen Filme zeichnet ihre Sorgfalt aus. Und die ist tatsächlich Teil der japanischen Kultur. Im Film bei allen Beteiligten, Schauspieler Regisseur Kameramann, wenn ich zum Beispiel an eine Szene denke, wo man lange die japanischen Pflaumen im Gegenlicht erscheinen, die dann eingelegt werden sollen (ich weiß nicht, mehr, in welchem Film von Koreeda, und das spielt auch keine Rolle). »Mono no Aware«, das Herzzerreißende der Dinge, Berührtwerden von den Dingen, das kann man in solchen Filmen sehen, und es gilt auch für menschliche Gesichter. Das ist nicht »Zen«, der in Japan nicht gar so eine große Rolle spielt, wie Westler das oft glauben, es ist älter, jedenfalls schon ein Um und Auf der Heian-Kultur, wie sich auch im Genji-Monogatari dargestellt ist. Übrigens auch im heutigen Alltag, aber meist ohne Wissen um die lange Geschichte.
Ja, jetzt wo Sie’s sagen: Denke ich an den Ozu, den ich zuletzt gesehen habe, Autumn Afternoon, steht mir das Gesicht des Hauptdarstellers vor, es ist, wie ich durch Googlen erfuhr, Chishu. Ich glaube, die Szene mit den Pflaumen ist aus »Unsere kleine Schwester«.