Ju­dith Schal­an­sky: Der Hals der Gi­raf­fe

Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe

Ju­dith Schal­an­sky:
Der Hals der Gi­raf­fe


In­ge Loh­mark ist Leh­re­rin am »Charles-Dar­win-Gym­na­si­um« in ei­nem nicht nä­her ge­nann­ten Ort in Vor­pom­mern – schein­bar ei­ne Re­gi­on zwi­schen Wild­ostphantasien und deut­schem Mez­zo­gior­no. Loh­mark gibt als Klas­sen­leh­re­rin Bio­lo­gie und Sport in der neun­ten Klas­se – für nur noch zwölf Schü­ler – fünf Jun­gen, sie­ben Mäd­chen. Es gibt kei­ne Kin­der mehr; erst recht kei­ne Gym­na­si­um-Taug­li­chen. Es ist die letz­te neun­te Klas­se die­ser Schu­le, die in ei­ni­gen Jah­ren ge­schlos­sen wer­den soll. Nach­mit­tags be­her­bergt das Ge­bäu­de heu­te schon die Volks­hoch­schu­le (was von tei­len des Kol­le­gi­ums nicht gern ge­se­hen ist).

In­ge Loh­mark ist seit drei­ßi­ge­in­halb Jah­ren Leh­re­rin und vom al­ten Schlag. Wenn sie »Set­zen« sagt, set­zen sich die Schü­ler; die Sport­stun­de be­ginnt sie mit ei­nem zünf­ti­gen »Still­ge­stan­den«. Ihr Un­ter­richt ist krei­de­la­stig und fron­tal. Sie kennt kei­ne zärt­li­che Nach­gie­big­keit, denn es lohnt sich nicht, die Schwa­chen mit­zu­schlei­fen. Sie wa­ren nur Bal­last, der das Fort­kom­men der an­de­ren be­hin­der­te. Ge­bo­re­ne Wie­der­ho­lungs­tä­ter. Pa­ra­si­ten am ge­sun­den Klas­sen­kör­per. Nach we­ni­gen Sei­ten er­kennt man, wie der Na­me der Schu­le et­was mit dem Welt­bild von In­ge Loh­mark zu tun ha­ben soll (er­ste Skep­sis).

Auf den Sei­ten 20/21 fin­det sich der Sitz­plan ih­rer Klas­se. Je­der Schü­ler be­kommt dort die ent­spre­chen­den Loh­mark-At­tri­bu­te; der Le­ser braucht sie sich nicht müh­se­lig aus dem Text her­aus­su­chen (zwei­te Skep­sis). Ju­dith mit ih­rer skru­pel­lo­sen Ober­wei­te, Saski­as zwang­haf­te Fell­pfle­ge. Lau­ra ist un­auf­fäl­lig wie Un­kraut (spä­ter im Buch gibt es ei­ne dü­ster-zu­stim­men­de Vi­si­on auf die Flo­ra auf der Lau­er, die sich schon bald wie­der al­les zu­rück­ho­len wird; ei­ne ori­gi­nel­le In­ter­pre­ta­ti­on der »blü­hen­den Land­schaf­ten«). Ta­bea hat ei­nen krum­men Rücken vom links­hän­di­gen Schrei­ben und El­len ist ein dump­fes Dul­dungs­tier. Der Nerv­bol­zen heißt na­tür­lich Ke­vin. Des­sen stier­nacki­ger Wi­der­sa­cher ist Paul, im­mer­hin wi­der­stands­fä­hig. An­ni­ka hat ein lang­wei­li­ges Ge­sicht und Tom ist noch ganz be­nom­men von der nächt­li­chen Pol­lu­ti­on. Schließ­lich er­fährt man noch, dass ein Grot­ten­olm schö­ner sei. Spä­te­re Er­gän­zun­gen fol­gen. Schließ­lich muss­te noch ge­sagt wer­den, dass Tom dumm wie ein Kon­sum­brot ist.

Ein Ge­win­ner der Be­zirks­spar­ta­kia­de

In­ge Loh­mark er­scheint als ei­ne ver­knö­cher­te, ver­bit­ter­te Frau. Sie mag we­der die no­to­ri­schen Ver­sa­ger noch die die Em­sig­keit von Pfer­de­schwanz­pferd­chen, ih­rer Mu­ster­schü­le­rin. Sie stellt Fra­gen im Un­ter­richt und wenn sich vie­le mel­den, schränkt sie nach­träg­lich die Ant­wort­mög­lich­kei­ten ein und be­ob­ach­tet mit die­bi­schem Ver­gnü­gen, wie dann die Mel­de­fin­ger her­un­ter­ge­hen. Sie ge­nießt die fra­gen­den Blicke aus dem Fen­ster, wenn ein un­an­ge­kün­dig­ter Test den Schü­lern schweiß­nas­se Hän­de ver­ur­sacht. Sie denkt mit Weh­mut und Me­lan­cho­lie an ih­re schö­nen Mo­men­te in der DDR zu­rück (Jugend­weihe!) und re­ka­pi­tu­liert ih­re Er­fol­ge im da­ma­li­gen Sport­un­ter­richt (so­gar ei­nen Ge­win­ner der Be­zirks­spar­ta­kia­de). Na­tür­lich war sie auch bei der Sta­si (an­de­re hat­ten auch un­ter­schrie­ben; drit­te Skep­sis). Ihr Mann Wolf­gang, der mit gro­ßer Akri­bie Strau­ße züch­tet und mit sei­nen Kennt­nis­sen hier­über re­gel­mä­ßig zum Held der Re­gio­nal­bei­la­ge avan­ciert, bleibt im ge­sam­ten Ro­man ein Phan­tom. Na­ja, sie war nicht sei­ne ganz gro­ße Lie­be ge­we­sen. Lie­be, ein schein­bar was­ser­dich­tes Ali­bi für kran­ke Sym­bio­sen. Und Wolf­gang moch­te, wie er ihr noch vor der Hoch­zeit sag­te, Frau­en aus der zwei­ten Rei­he. Jetzt sprach man nur noch sel­ten mit­ein­an­der und das fiel gar nicht auf, wenn man sich ta­ge­lang nicht sah. Ir­gend­wann er­fährt man ein­mal, dass sie ein Ver­hält­nis mit ei­nem an­de­ren Mann nebst Ab­trei­bung hat­te. Den All­tagstratsch ge­stal­tet sie mit ih­rem Nach­barn; hier kann sie ganz nach Be­lie­ben das Ge­spräch be­en­den. Die Toch­ter Clau­dia ist schon vor Jah­ren in den USA ge­blie­ben und hat plötz­lich – mit 35 – ge­hei­ra­tet. Sie hat­te ei­ne Mail ge­schickt; In­ge Loh­mark sieht kei­ne Ver­an­las­sung zu ant­wor­ten.

Im Leh­rer­kol­le­gi­um be­geg­net sie dem ost­al­gi­schen Thie­le und des­sen kru­de So­zia­lis­mus-Ver­klä­rung mit der glei­chen Ver­ach­tung wie die af­fek­tier­te Gut­men­schen-Kum­pel­haf­ti­g­keit ih­rer An­ti­po­din, Frau Schwen­ne­ke, die ih­ren Schü­lern ab der 11. Klas­se ge­stat­tet, sie zu du­zen. Beim Mit­tag­essen ge­lingt es Loh­mark mit nur ei­ner pri­va­ten Fra­ge Schwen­ne­ke zu er­schüt­tern. Mein­hard, der Re­fe­ren­dar, ist ein tap­sen­der San­gui­ni­ker mit ei­nem Mut­ter­kör­per. Er fällt krank­heits­be­dingt häu­fi­ger aus. Ge­lei­tet wird das sie­chen­de Gym­na­si­um von Kat­tner, des­sen Idea­lis­mus na­tür­lich so­fort als pri­mi­ti­ve Rea­li­täts­flucht ge­deu­tet wird und der mit mo­nat­li­chen An­spra­chen, die Durch­hal­te­pa­ro­len äh­neln, Schü­ler und Leh­rer fast phy­sisch quält.

Loh­mark se­ziert vor ih­rem in­ne­ren Au­ge all die­se Phra­sen und vor­ge­stanz­ten Welt­bil­der. Und mit ihr die Au­torin, die ei­nen per­so­na­len Er­zäh­ler »vor­ge­schal­tet« hat, da­mit dann noch die Di­stan­zie­rung of­fi­zi­ell ge­lin­gen kann. Na­tür­lich lässt auch sie kein Kli­schee aus und be­dient sich üp­pig am Phra­sen­trog. Die Men­del-Kar­te ist ein Kes­sel Bun­tes, Kat­tners Streit­schlich­tun­gen wer­den mit Frie­de, Freu­de, Mut­ter­ku­chenkom­men­tiert und – ganz klar – der Letz­te macht das Licht aus. Die kurz­fri­sti­ge un­ge­teil­te Auf­merk­sam­keit der Schü­ler er­ringt Loh­mark durch das Dik­tum, dass Män­ner ei­gent­lich nur Nicht-Frau­en sei­en und mit der aus­führ­li­chen Schil­de­rung wie Bul­len ih­ren Sa­men für Zucht­zwecke her­ge­ben müs­sen. (Aus der Skep­sis wird Är­ger.)

Zwi­schen Sar­ra­zin und Mr. Spock

»Der Hals der Gi­raf­fe« ist ein er­mü­den­des, ein fa­des Buch. Wenn der Le­ser nicht die Lek­tü­re nicht ir­gend­wann ab­bricht, ent­wickelt er viel­leicht mit der Zeit ei­ne ge­wis­se Horn­haut und er­trägt da­mit halb­wegs un­ver­sehrt den Rest des Bu­ches. Das wird mit et­was schlech­tem Wil­len als In­ten­ti­on des Ro­mans aus­ge­legt wer­den kön­nen. Die an­de­re Mög­lich­keit be­steht dar­in, sich an den zu­wei­len wind­schie­fen Me­ta­phern weit un­ter sei­nem Ni­veau zu er­göt­zen und durch die gro­tes­ken Über­zeich­nun­gen die­ses Mis­an­thro­pis­mus am En­de so­gar ei­ne Ka­thar­sis zu er­lan­gen. Nicht aus­zu­den­ken, wenn die­se Leh­re­rin an ei­ner groß­städ­ti­schen Schu­le mit ho­hem Mi­gran­ten­an­teil un­ter­rich­ten wür­de: Ihr ar­chai­scher Vul­gär-Dar­wi­nis­mus hät­te wo­mög­lich sar­ra­zineske Aus­ma­ße er­reicht.

Schon hört man die Ent­geg­nun­gen: Ja, die Fi­gur sei furcht­bar und die Ver­hält­nis­se eben­so. Aber dies sei al­les ab­sichts­voll ge­sche­hen: Die end­lo­sen Vor­trä­ge über al­le mög­li­chen bio­lo­gi­schen The­men (auf den ge­ra­den Sei­ten im Buch oben links der Na­me des Ka­pi­tels und auf den un­ge­ra­den Sei­ten oben rechts ein the­ma­ti­sches Schlag­wort), die Vorherseh­barkeit der Re­ak­tio­nen der Prot­ago­ni­stin, die Kla­ge über die hoff­nungs­lo­se Ju­gend, die Ver­schwö­rungs­theo­rie ei­ner In­dok­tri­na­ti­on des Sy­stems durch so et­was wie die Schul­pflicht. Und ei­ne Em­pö­rung über das Welt­bild Loh­marks dürf­te ei­nen Vor­trag über Fik­tio­na­li­tät und/oder die Kunst der Über­trei­bung in der Li­te­ra­tur pro­vo­zie­ren. Schließ­lich däm­mert als ul­ti­ma­ti­ve Ver­tei­di­gungs­stra­te­gie am Ho­ri­zont be­reits die Ka­te­go­rie »Sa­ti­re«.

Und es bleibt auch al­les hübsch or­dent­lich in der deut­schen Pro­vinz, die (si­cher­lich zum Er­göt­zen der Kri­tik) zum Re­vier um­fas­sen­der De­nun­zia­ti­on frei­ge­ge­ben wird. Als Loh­mark mit dem Schul­bus fah­ren muss, weil ihr Au­to de­fekt ist, be­kommt sie schon mehr mit, als sie möch­te. Sie be­ob­ach­tet die Fahr­schü­ler (ei­ne un­ge­wöhn­li­che Be­zeich­nung für die auf den Schul­bus war­ten­den), die Hier­ar­chien und Grup­pen­spiel­chen der Meu­te mit foren­sischem In­ter­es­se und fürch­tet nichts mehr, als doch noch ir­gend­wie in Rau­fe­rei­en ord­nend ein­schrei­ten zu müs­sen.

Lau­ter Halb­star­ke und Spät­zün­der, som­nam­bu­le Ge­spen­ster, ge­dächt­nis­lo­se We­sen, für al­le Zei­ten ver­lo­ren. Aber war­um auf­re­gen? Der Mensch war ein flüch­ti­ges Vor­komm­nis auf Pro­te­in­ba­sis. Ein zu­ge­ge­ben recht er­staun­li­ches Tier, das den Pla­ne­ten für kur­ze Zeit be­fal­len hat­te und schließ­lich, ge­nau wie ein paar an­de­re wun­der­sa­me We­sen, wie­der ver­schwin­den wür­de. Fern­seh­ve­te­ra­nen kom­men zu­wei­len die hoch­ge­zo­ge­ne Au­gen­braue des Halb-Vul­ka­ni­ers Com­man­der Spock in den Sinn und ver­ge­ben bei die­sen ach so zi­vi­li­sa­ti­ons­kri­ti­schen Ein­wür­fen groß­zü­gig ein »fas­zi­nie­rend«. In­ge Loh­marks Ide­al, die Zucht, die­se Er­zie­hung zum Gu­ten des Men­schen, ist mit den Mit­teln des öf­fent­li­chen Dien­stes nicht mög­lich. Vor al­lem des­halb weil sie gar nicht er­wünscht ist.

Be­dürf­ti­ge Li­te­ra­tur

Es bleibt of­fen, war­um die Gen­re­bezeich­nung »Bil­dungs­ro­man« ge­wählt wur­de. Wird in den bio­lo­gi­sti­schen Vor­trä­gen der Le­ser ge­bil­det (un­ter­stützt durch hüb­sche Zeich­nun­gen, da­mit die Au­torin nicht so viel zu be­schrei­ben hat)? Oder wird hier – ganz klas­sisch – ein »Bil­dungs­pro­zess« von In­ge Loh­mark auf­ge­zeigt? Ist das am En­de schüch­ter­ne In­ter­es­se für die Schü­le­rin Eri­ka (sie holt sie so­gar ein­mal von ih­rem ent­le­ge­nen Bau­ern­hof ab, als der Schul­bus ei­nen Un­fall hat) In­diz für ei­nen Ab­fall »vom Glau­ben an Gott Dar­win« wie ihn der »Klap­pen­text« un­ter­stellt? Soll­te dies in­ten­diert sein, schei­tert Schal­an­sky auf gan­zer Li­nie. Denn die Fi­gur zeigt kei­ne mar­kan­te Ent­wick­lung, auch wenn sie am En­de ph(r)asenweise von ih­ren ei­ge­nen Re­den über­rascht wird. Als sie wäh­rend ei­ner Schul­stunde – es geht um den Hals der Gi­raf­fe und de­ren Ent­ste­hen in der Evo­lu­ti­on – von Kat­tner her­aus­ge­ru­fen, mit den Ag­gres­sio­nen der Mit­schü­ler El­len ge­gen­über kon­fron­tiert (man hat­te sie voll­kom­men ver­schüch­tert und mal­trä­tiert auf dem Jun­gen­klo ge­fun­den) und ei­ne Ver­let­zung der Auf­sichts­pflicht mit »Kon­se­quen­zen« an­ge­droht be­kommt, ent­sinnt man sich der Pas­sa­ge zu Be­ginn, als El­len schon jetzt über­flüs­sig wie ei­ne al­te Jung­fer und als Op­fer auf Le­bens­zeit ka­te­go­ri­siert wur­de. Soll­te ei­ne Em­pa­thie für die ge­quäl­te Schü­le­rin ent­stan­den sein, bleibt sie gut ver­bor­gen; kaum mehr als blo­ße Be­haup­tung. Loh­mark kehrt in die Klas­se zu­rück und setzt ih­ren Vor­trag über die Gi­raf­fe fort. Dann schaut sie Mäd­chen beim Ball­spie­len zu, ent­sinnt sich an ih­re Toch­ter, die ei­nes Ta­ges mit­ten im Un­ter­richt wei­nend auf sie, Leh­re­rin und Mut­ter, zu­kam. Da­bei er­in­nert sie sich mehr an den Zwie­spalt zwi­schen (par­tei­li­cher) Mut­ter und (sich neu­tral zu ge­ben­der) Leh­re­rin als um die Nö­te Clau­di­as. Am En­de steht sie am Zaun und schau­te.

Was bleibt? Dem so­zi­al­de­mo­kra­ti­sier­ten Mit­tel­schicht-Bil­dungs­bür­ger des 21. Jahr­hunderts wird das an­ge­neh­me Ge­fühl ge­bo­ten, auf der rich­ti­gen Sei­te zu ste­hen. Statt die tief­trau­ri­ge und ver­letz­te Per­sön­lich­keit ei­ner In­ge Loh­mark hin­ter die­sem Pan­zer aus Sar­kas­men und Zy­nis­men zu su­chen, statt sich der Prot­ago­ni­stin zu nä­hern und ih­re Ge­schich­te zu er­zäh­len be­gnügt sich Ju­dith Schal­an­sky fast im­mer mit dem Zei­gen der rau­en Ober­flä­che und De­nun­zia­tio­nen. Der­art we­nig In­ter­es­se an ei­ner Fi­gur, ei­nem The­ma, ei­ner Land­schaft, ei­ner Ge­schich­te er­zeugt am En­de nur dürf­ti­ge, ja be­dürf­ti­ge Li­te­ra­tur.

Die kur­siv ge­setz­ten Pas­sa­gen sind Zi­ta­te aus dem be­spro­che­nen Buch.


PS: Ob­wohl Sperr­frist bis 10.09., lo­ben di­ver­se Pres­se­er­zeug­nis­se das Buch be­reits. Die Au­torin tritt auch schon im Fern­se­hen auf und ist auf Le­se­rei­se. So­viel zum The­ma Wich­tig­keit von Sperr­fri­sten.

25 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. klar, daß wie­der Vor­pom­mern her­hal­ten muß, um ei­nen dump­fen Hin­ter­grund für die­ses dü­ste­re Ge­schreib­sel ab­zu­ge­ben.

    Per­ma­nen­te De­nun­zia­ti­on die­ser Re­gi­on scheint ja DAS li­te­ra­ri­sche The­ma die­ser Sai­son zu sein, sie­he auch »Letz­te Lo­sung«

    ... da kommt Uwe Timm mit »Frei­tisch« und Ju­dith Zan­ker mit »Din­ge die wir heu­te sag­ten« nicht ge­gen an

  2. »Fahr­schü­ler« ist ein au­then­ti­sches, ost­deut­sches Wort, ich ken­ne es noch von frü­her. Das Buch ha­be ich nicht ge­le­sen, aber die Schil­de­rung der Leh­re­rin kommt mir sehr ver­traut vor. Viel­leicht ist das wie­der ein Buch, des­sen Re­zep­ti­on in Ost- und West­deutsch­land völ­lig un­ter­schied­lich aus­fällt?

  3. @Köppnick
    Die Au­torin ist 1980 ge­bo­ren – ich weiss nicht, ob man da von »au­then­tisch« ost­deut­scher Iden­ti­tät re­den kann.

    Ich kann­te das Wort »Fahr­schü­ler« bis­her nur als Schü­ler von Fahr­schu­len. Von ehe­ma­li­gen Ost­deut­schen hat­te ich in den 70er Jah­ren schon das Wort »Fahr­erlaub­nis« ge­hört – statt des im We­sten üb­li­chen »Füh­rer­schein«. Es ge­fiel mir so­fort bes­ser.

    Sol­che Leh­rer gab und gibt es si­cher­lich so­wohl im We­sten wie im Osten. Ich hal­te sie nicht für ty­pisch.

  4. fahr­schue­ler kann­te ich auch als west­deut­sche in ge­nau der von schal­an­sky be­zeich­ne­ten wei­se.

    ich muss mich fuer die ab­len­kung ent­schul­di­gen, aber wol­len sie mir nicht ihr in­ter­es­se an lud­wig hohl be­schrei­ben? ich le­se so ger­ne von men­schen, die ihn eben­falls schaet­zen.

  5. Die Aus­drücke »Fahr­schü­ler« und »dumm wie ein Kon­sum­brot« ken­ne ich auch aus der Kind­heit. Ob die Aus­drücke nun au­then­tisch aus 1. Hand der Au­torin sind oder nicht, sei mal da­hin­ge­stellt.

  6. »Fahr­schü­ler« für Schul­kin­der, die mit dem Au­to­bus fah­ren, fin­de ich ja in­ter­es­sant – mir war die­se Kon­no­ta­ti­on un­be­kannt. Es geht aber nicht dar­um, ob die von ih­rer Haupt­fi­gur ver­wen­de­ten At­tri­bu­te ir­gend­wo »ge­klaut« sind oder nicht. Es geht eher um Ty­po­lo­gi­sie­run­gen und Kli­schees, die hier als kon­sti­tu­ie­rend ver­wen­det wer­den. Da­her ist es auch ir­rele­vant, ob es sol­che Lehrer/Lehrerinnen in der Wirk­lich­keit gibt. Bzw. das es sie gibt, ist kein Kri­te­ri­um da­für, wie die­ser Ro­man äs­the­tisch zu be­ur­tei­len ist.

  7. Und noch ei­nes: http://www.faz.net/artikel/C30712/andreas-altmanns-neues-buch-scheissgebete-30496762.html

    Wirk­lich drängt sich da das Ge­fühl auf – ich muss­te an die blöd(gewordene) For­mel „Es gibt kein rich­ti­ges Le­ben im fal­schen.“ den­ken – dass es nur um Ab­wer­tung, De­nun­zia­ton geht:
    Doch wirk­lich ge­än­dert ha­be sich nichts. Er spricht von „Mief“ und „nicht ge­leb­tem Le­ben“. (Von sei­ner Bio­gra­phie her lie­ße sich das.... und da lugt schon Ihr »Neo-Rea­lis­mus« um die Ecke.)

    Ge­le­sen hat­te ich die Re­zen­si­on nur, weil ich dach­te, dass es sich um den Ly­ri­ker Alt­mann han­de­le, aber da wur­de mir schnell klar, dass das nicht pas­sen könn­te... Viel­leicht nur um mal ein an­de­res Bild zu ha­ben:

    ei­ne ge­schich­te vom land

    du woll­test nicht se­hen wie sich
    der schat­ten auch oh­ne dich be­wegt,
    dem das gras bis zum kopf ge­schnit­ten wur­de.
    der kör­per hat dich zu­rück­ge­las­sen.
    den zaun, über den du ge­stie­gen bist,
    gibt es nicht mehr. das licht geht an.
    au­gen ver­stum­men das ge­sicht.
    un­be­wegt hält es den kopf in den him­mel
    über der decke des zim­mers.
    du gehst, vom feld­weg be­stäubt,
    in das haus. die mut­ter spricht durch dich
    an der tür, der va­ter hat sich tot
    ge­schwie­gen, schlug nä­gel in holz,
    da­mit die bäu­me zu­sa­men­hal­ten,
    wie er ge­sagt hat als du ihn an­sahst.
    der schrank mit den hüb­schen klei­dern
    steht of­fen. je­dem bist zu eng.
    das kind schaut dich an, hast es
    ge­hen las­sen. ein fahr­rad kommt nä­her.
    du steigst her­un­ter und blu­test wie heut.
    kei­ne be­we­gung, die nicht dar­an er­in­nert
    (an­dre­as alt­mann)
    [na­tür­lich weiß ich, dass ich da viel­leicht nur ver­tei­di­ge, weil ich selbst ein Pro­vin­zei bin – aber soll­te die Li­te­ra­tur nicht für Über­hö­hun­gen in al­le Rich­tun­gen of­fen sein?.. Ken­nen Sie ei­gent­lich Ul­la Hahns »Das ver­bor­ge­ne Wort«? Ein Ver­riss von MRR macht es ja fast noch in­ter­es­san­ter, aber...]

  8. (ge­ra­de erst fällt mir die­se as­so­nanz auf:
    scheiß schoß­ge­bie­te,
    schoss er scheiß­ge­be­te
    wi­der den schoß,
    der in ge­bar)

  9. Es könn­te Stoff für ei­ne def­ti­ge Ko­mö­die (um nicht zu sa­gen: Kla­mot­te) sein. Dann stö­ren die Kli­schees auch nicht so sehr. Aber da­zu müss­te der Ro­man erst ein­mal ko­misch sein, was ich nach der Be­schrei­bung be­zwei­feln möch­te.
    Um Sa­ti­re zu sein, müss­te der Ro­man wohl in ei­ner Groß­stadt, in ei­nem »Pro­blem­vier­tel«, spie­len – und die Prot­ago­ni­stin ih­ren alt­mo­di­sche Vul­gär-Dar­wi­nis­mus tat­säch­lich auf sar­ra­zineske Wei­se »mo­der­ni­sie­ren« (even­tu­ell als Ent­wick­lung – von der Rest­be­stän­de ei­nes so­zia­li­stisch ge­färb­ten Er­zie­hungs­op­ti­mis­mus »Os­si-Dar­wi­ni­stin« an An­fang zur knall­hart »Neo­li­be­ral« ar­gu­men­tie­ren­den »Sar­ra­zin-So­zi­l­a­dar­wi­ni­stin« – na­tür­lich so, dass der Prot­ago­ni­stin In­ge Loh­mark selbst gar nicht be­wusst ist, dass sie sich in­ner­halb re­la­tiv kur­zer Zeit gra­vie­rend ver­än­dert. Und na­tür­lich auch so ge­schrie­ben, dass ihr »Sar­ra­zi­nie­rungs­pro­zess« eben nicht »durch die Um­stän­de« ent­schul­digt wer­den kann – son­dern als »Up­date« ih­re Vor­ur­tei­le kennt­lich wird.

  10. @MartinM
    Das klingt wie ein per­fek­ter Ent­wurf für die Ver­fil­mung des Bu­ches.

    Ich ge­ste­he, nicht an die Mög­lich­keit ei­ner Ko­mö­die ge­dacht zu ha­ben. Eben ge­nau we­gen der Re­gi­on, in der das Buch spielt.

  11. Ih­re Re­zen­si­on ist mir am 4.9. »durch die Lap­pen ge­gan­gen«.

    Zum Glück. Viel­leicht wä­re ich ein ver­lo­re­ner Le­ser für die­ses Buch, das ich für das be­ste Stück mir be­kann­ter deut­scher Ge­gen­warts­li­te­ra­tur der letz­ten Jah­re hal­te, ver­lo­ren ge­we­sen.

    Ich las ge­stern die Be­spre­chung von Bo­na­ven­tura und bin so­fort zum Buch­händ­ler: http://bonaventura.musagetes.de/2011/judith-schalansky-der-hals-der-giraffe/#comment-16595

    Merk­wür­dig, das ist das er­ste Mal, dass ich mit Ih­rem Ur­teil so über­haupt nicht über­ein­stim­me.

  12. @JuergenL
    Die­se bei­den Sicht­wei­sen sind doch ein schö­nes Bei­spiel wie Li­te­ra­tur­kri­tik funk­tio­niert, Ei­nig­keit soll­te man nicht er­war­ten, gibt die Li­te­ra­tur viel­leicht auch nicht her (was auch gut so ist). Und sehr wahr­schein­lich gibt es noch wei­te­re Stim­men.

  13. @ Gre­gor Keu­sch­nig
    Nun noch ein­mal ei­ne kur­ze Re­plik zu »Der Hals der Gi­raf­fe«.
    Seit wann muss ei­ne Sa­ti­re kurz sein? Swifts »Gul­li­ver « ge­hört nicht ge­ra­de zu den kur­zen Ro­ma­nen. Eben­so Hein­rich Mann »Der Un­ter­tan«. Das soll­te al­so kein Ar­gu­ment sein. Nun zur De­nun­zia­ti­on.
    Seit Jah­ren wun­de­re ich mich, dass fast kein Ro­man die neu­en wis­sen­schaft­li­chen Er­kennt­nis­se oder über­haupt wis­sen­schaft­li­che Er­kennt­nis­se zur Kennt­nis nimmt oder gar im Ro­man ver­ar­bei­tet. Die­se Ver­wun­de­rung liegt viel­leicht dar­an, dass ich seit ei­ni­gen Jah­ren mich in­ten­siv mit der Evo­lu­ti­ons­theo­rie und den Er­kennt­nis­sen der Neu­ro­wis­sen­schaf­ten be­schäf­ti­ge. Man mag sie bei Kri­mi­nal­ro­ma­nen noch eher ver­mis­sen, aber auch in bel­le­tri­sti­schen Pro­duk­tio­nen soll­ten sie ei­gent­lich auch wahr­nehm­bar sein. Des­halb war ich auch so be­ein­druckt durch sie sa­ti­ri­sche Dar­stel­lung der Leh­re­rin Loh­mark, die über­haupt nicht den­nu­ziert wird, weil eben auf jeg­li­che Psy­cho­lo­gie ver­zich­tet wird, zu­mal ja aus der Per­spek­ti­ve Loh­marks das Ge­sche­hen er­zählt wird. Es wird je­mand ge­zeigt, dem Em­pa­thie völ­lig ab­geht. Dies muss nicht er­klärt wer­den, der Le­ser kann die­se Ent­wick­lung ima­gi­nie­ren.
    Zu­ge­ge­ben ist der Na­me Loh­mark et­was zu of­fen­sicht­lich, zu­mal ja der Ti­tel des Ro­mans den Hin­weis schon gibt.
    Bil­dungs­ro­man oder Ant-Bil­dungs­ro­man ist schon kor­rekt, denn der Le­ser lernt viel, es geht um die Schu­le und Schü­ler.
    Auch wer­den über das vor­ran­gi­ge Schul­the­ma hin­aus noch The­men wie Über­al­te­rung der Leh­rer­schaft und Be­völ­ke­rung, Land­flucht, Be­völ­ke­rungs­ver­schie­bung, Ab­wick­lung von öf­fent­li­chen Ein­rich­tun­gen an­ge­schnit­ten.
    Las­sen wir es doch da­bei, dass je­der Ro­man doch erst durch den je­wei­li­gen Le­ser zu dem wird, was in ihm an­ge­legt ist, wenn es denn ein gu­ter Ro­man ist. Und wir ha­ben zwei ver­schie­de­ne Les­ar­ten auf­ge­zeigt, nicht das schlech­te­ste Zeug­nis für ei­nen Ro­man.

  14. @Norbert
    [Ich ha­be mir er­laubt, Ih­ren Kom­men­tar un­ver­än­dert hier­her zu ver­schie­ben.]
    Ei­ne Sa­ti­re muss nicht kurz sein, aber dann soll­te sie et­was mehr zei­gen, als ei­ne um sich selbst dre­hen­de Fi­gur, de­ren Kom­men­ta­re ir­gend­wann der­art vor­aus­be­re­chen­bar sind, dass sie nur noch lang­wei­len. Ei­ne Sa­ti­re darf ih­re Figur(en) nicht de­nun­zie­ren. Aber ge­nau das macht Schal­an­sky. Auch die be­haup­te­te Ent­wick­lung der Per­son (die »Bil­dung«) bleibt an der Ober­flä­che. Auch das ist noch kein Pro­blem, so­fern die­se Ober­flä­che nicht ober­fläch­lich er­zählt wird. Und das ist ge­nau der Fall: Die Au­torin mag ih­re Haupt­fi­gur nicht, und watscht sie ein ums an­de­re Mal ab.

    Wel­che The­men in ei­nem Ro­man an­ge­spro­chen wer­den, ist für die Be­ur­tei­lung der li­te­ra­ri­schen Qua­li­tät un­in­ter­es­sant. Es kann so­gar aus­ge­spro­chen schäd­lich sein, wenn es nur ein Themen-»Dropping« gibt und ein ima­gi­nä­rer Ka­ta­log ab­ge­ar­bei­tet wird. Na­tür­lich gibt es sol­che Fi­gu­ren wie In­ge Loh­mark, aber ich ha­be nichts über sie in dem Buch er­fah­ren – au­ßer das, was man sich ge­mein­hin so vor­stellt: ei­ne ver­schrum­pel­te, ase­xu­el­le, mit je­dem im Clinch be­find­li­che, ver­bohr­te, zy­ni­sche Per­son. Da­von ha­be ich aber im deut­schen Pri­vat­fern­se­hen je­den Tag mehr als ge­nug.

    Der Dar­wi­nis­mus, der hier aus­ge­brei­tet wird, ist der­art vul­gär und platt, dass nie­mand an­ge­regt wer­den dürf­te, sich mit der Ma­te­rie ge­nau­er zu be­schäf­ti­gen. Die schön ge­mal­ten Bild­chen sind zum Teil ab­ge­malt und sol­len ei­ne hei­le Welt kon­tra­stie­ren, die es nicht gibt.

    Loh­mark ist das Ge­gen­teil der Kli­schee-Fi­gu­ren in Fern­seh­fil­men und Ro­ma­nen, die in den 70er Jah­ren be­gan­nen, die »en­ga­gier­te« Lehrer/innen zei­gen, die sich für ih­re Schü­ler »ein­set­zen« – und im­mer recht be­hal­ten. Auf ih­re Wei­se tri­via­li­sert Schal­an­sky auch – nur mit der ent­ge­gen­ge­setz­ten Aus­gangs­la­ge.

  15. @ Gre­gor Keu­sch­nig
    Was soll ich Ih­rer Ge­ne­ral­ab­rech­nung ent­ge­gen­hal­ten, es wä­re blo­ße Recht­ha­be­rei.
    Ich se­he die »schön ge­mal­ten Bild­chen« durch­aus nicht als nur Staf­fa­ge, son­dern se­he, dass hier ein her­vor­ran­gend ge­stal­te­tes Buch vor­ge­legt wird, das man nur in der hap­ti­schen Va­ri­an­te ge­nie­ßen kann, nicht als eRea­der etc. Da wun­de­re ich mich wirk­lich, dass Sie dies nicht se­hen.

    Auch se­he ich kei­nen ach so plat­ten Dar­wi­nis­mus in ei­ner vul­gä­ren Va­ri­an­te. Nen­nen Sie ein Buch, wo ein sol­cher Ver­such über­haupt ge­star­tet wur­de und bes­ser ge­lun­gen ist.
    Den Vor­wurf der De­nun­zia­ti­on be­haup­ten Sie nur, oh­ne ihn zu be­le­gen, so kann man man vie­le Bü­cher kri­ti­sie­ren.
    Wir sind un­ter­schied­li­cher Mei­nung über das Buch und wer­den es auch blei­ben. Las­sen wir die Mei­nun­gen doch so stehn, sol­len sich die an­de­ren Le­ser selbst ein Bild ma­chen.

  16. @Norbert
    Na­ja, die Kü­he der Men­del­schen Re­geln ha­be ich schon in mei­nem Bio­lo­gie-Buch ge­fun­den; das sah auch un­ge­fähr so aus. Und das soll ich als Be­wer­tungs­kri­te­ri­um für ei­nen Ro­man her­an­zie­hen?

    Hal­ten Sie das durch­gän­gig aus­ge­stell­te Un­ver­mö­gen der Prot­ago­ni­stin für et­was An­de­res als De­nun­zia­ti­on? ich wur­de er­in­nert an ein Phä­no­men, dass man ge­le­gent­lich be­ob­ach­ten kann, wenn sich je­mand um »Kopf und Kra­gen« re­det. Ge­nau das pas­siert doch hier. Und zwar mit Lust. Die Au­torin ver­nach­läs­sigt die Für­sor­ge­pflicht für ih­re Prot­ago­ni­stin.

    Und wenn Loh­mark meint, das es über­flüs­sig sein die Schwa­chen mit­zu­schlei­fen. Sie wa­ren nur Bal­last, der das Fort­kom­men der an­de­ren be­hin­der­te. Ge­bo­re­ne Wie­der­ho­lungs­tä­ter dann ist das kein vul­gä­rer Dar­wi­nis­mus wie man ihn bei­spiels­wei­se Sar­ra­zin un­ter­stell­te? Die Apo­stro­phie­run­gen ih­rer Schü­ler (s. o. in der Be­spre­chung) sind in ir­gend­ei­ner Form sa­tis­fak­ti­ons- und vor al­lem trag­fä­hig? Das se­he ich ganz an­ders.

    Der Hype im Feuil­le­ton um das Buch speist sich aus der Lust an der Zur­schau­stel­lung die­ser Fi­gur. Da­zu spielt es in Vor­pom­mern; ei­ner Land­schaft, die Raum für al­ler­lei Res­sen­ti­ments läßt (die präch­tig ge­dient wer­den). Als 50-Sei­ten-Er­zäh­lung hät­te man dies er­tra­gen kön­nen. Als 200 Sei­ten Ro­man ist es mir un­er­träg­lich.

  17. Aus­ge­stat­tet mit ei­ner ge­wis­sen Skep­sis durch Ih­re Re­zen­si­on hät­te ich das Buch nach der am An­fang fast gro­tes­ken Zeich­nung der Prot­ago­ni­stin bei­na­he weg ge­legt. Glück­li­cher­wei­se ha­be ich ei­ne Ab­nei­gung da­ge­gen, Bü­cher nicht zu En­de zu le­sen. Schnell zeig­te sich näm­lich, dass der von ih­nen mo­nier­te vul­gä­re Dar­wi­nis­mus si­cher­lich nicht The­ma des Bu­ches ist. Spä­te­stens mit der al­les an­de­re als wind­schie­fen Me­ta­pher des un­hör­ba­ren Schreis der Fle­der­maus be­ginnt Schal­an­sky Schicht für Schicht In­ge Loh­mark zu ent­blät­tern (um im Duk­tus zu blei­ben).

    Spä­te­stens bei der be­sag­ten Schul­stun­de über den Hals der Gi­raf­fe hät­te auf­fal­len kön­nen, dass die bis da­to lehr­buch­mä­ßi­ge Bio­lo­gie Loh­marks in­ner­halb des Vor­trags ih­rem Na­men ge­recht wird und in rei­nen La­mar­ckis­mus wech­selt:

    Je­den Tag wer­den sie es er­neut ver­su­chen. Lau­ter Tie­re, die sich ab­mü­hen, ihr Ziel zu er­rei­chen, das ja di­rekt vor ih­rer Na­se ist. Je­den Tag wer­den sie trai­nie­ren und es sich zur Ge­wohn­heit ma­chen, sich nach den Blät­tern zu strecken. Und die­se Ge­wohn­heit wird ih­nen lang­sam aber si­cher zur Le­bens­wei­se. Und ir­gend­wann wird sich das aus­zah­len. Bei ih­ren Kin­dern und Kin­des­kin­dern. Der Hals, er ver­län­gert sich. Lang­sam, aber ste­tig. Stück für Stück.

    Das gan­ze kul­mi­niert in dem Aus­ruf Al­les ist mög­lich, wenn wir uns nur wirk­lich an­stren­gen, um di­rekt im näch­sten Satz kon­ter­ka­riert zu wer­den:

    Was er­zähl­te sie da ei­gent­lich? Sie muss­te sich hin­set­zen. Völ­lig er­schöpft.

    Wenn man sich jetzt noch an die vor­he­ri­gen Aus­füh­run­gen über die Wei­ter­ga­be von Ei­gen­schaf­ten erst in der zwei­ten Ge­ne­ra­ti­on denkt

    Al­les zeig­te sich in der zwei­ten Toch­ter­ge­nera­ti­on. Das Zu­rück­fal­len zu den el­ter­li­chen Ty­pen. Zu den Groß­el­tern. Clau­di­as Kind wür­de sei­ner Groß­mutter, al­so ihr, mehr äh­neln als Clau­dia selbst.

    könn­te ein Schuh dar­aus wer­den.

    Was, wenn In­ge Loh­mark ein Pro­dukt der DDR wä­re, in der ver­sucht wur­de den bes­se­ren Men­schen zu bil­den (es ist häu­fig von Zucht die Re­de), das nach der Wen­de nicht mehr schafft sich an­zu­pas­sen. Erst ih­re Toch­ter (oder wo­mög­lich erst der so sehr ge­wünsch­te En­kel) fin­det wie­der den Weg in die Frei­heit zu­rück (na­tür­lich in den USA). Die Schlüs­sel­sze­ne zeigt den wi­der bes­se­ren Wis­sens ver­zwei­fel­ten Auf­schrei ei­nen Platz in der neu­en Zeit zu fin­den. Das nur als Grund­idee, um die sich ei­ni­ge wei­te­re Ran­ken win­den.

    In der schie­ren Men­ge der bio­lo­gi­schen Me­ta­phern ge­lingt Schal­an­sky nicht al­les, manch­mal wird sie fast platt. Ins­ge­samt ha­be ich aber ein mit­rei­ssen­des Buch ge­le­sen, dass in fast ba­rocken Al­le­go­rien da­her kommt.

  18. @Peter
    Ja, man kann das so le­sen. Wo­bei ich bei Loh­mark in Be­zug auf die DDR sehr wohl ei­ne Haß­lie­be zu er­ken­nen glaub­te: Ei­ner­seits die Ord­nung, die die­ser Staat bie­tet – an­de­rer­seits kam sie dort mit ih­ren de­ter­mi­ni­sti­schen The­sen auch nicht an; sie stan­den im Wi­der­spruch zum So­zia­lis­mus.

    Dass der Dar­wi­nis­mus der Prot­ago­ni­stin nicht das The­ma des Bu­ches ist, mag ja durch­aus sein. War­um do­mi­niert er dann so stark, dass je­de tie­fer­ge­hen­de Be­schäf­ti­gung mit ihr nicht mehr statt­fin­det? War­um wird das Buch gar­niert mit die­sen Schul­buch­zeich­nun­gen?

    (Zum La­mar­ckis­mus hier ein in­ter­es­san­ter Bei­trag.)

  19. Das Feuil­le­ton ist sich ei­nig, dass In­ge Loh­mark ei­ne ab­sto­ßen­de, kal­te Dar­wi­ni­stin ist. Sie er­klärt den ge­sam­ten Men­schen mit bio­lo­gi­schen Grund­re­geln, die kon­ge­ni­al durch die Ge­stal­tung des Bu­ches un­ter­mau­ert wer­den. Das ist aber nur der An­fang des Bu­ches.

    Sie mo­nie­ren, dass die Au­torin sich ih­rer Prot­ago­ni­stin nicht nä­hert, sie de­nun­ziert. Was ist aber mit Frau Schwen­ne­ke, den Lo­sern, den Stre­bern? Al­le Men­schen wer­den de­nun­ziert oder sind Loh­mark egal. Bis auf Eri­ka, die als Pro­jek­ti­ons­flä­che dient. Plötz­lich hat sie Wär­me und Em­pha­tie für ei­ne Schü­le­rin, die dann nicht zu­fäl­lig auf dem Weg zur Schlüs­sel­sze­ne ent­zau­bert wird.

    Man­che schrei­ben, das Buch wür­de auf der Stel­le tre­ten, sich nicht ent­wickeln. Aber kei­ner be­schreibt den Kul­mi­na­ti­ons­punkt. Nie­man­dem fällt auf, das In­ge Loh­mark am Schei­de­punkt des Ro­mans vom Dar­wi­nis­mus in den La­mar­ckis­mus ver­fällt, ge­nau nach­dem ihr Wün­schen nicht mehr halt­bar und ihr ei­gens Ver­sa­gen nicht mehr zu ver­hül­len war, nicht mehr in ei­nem vul­gä­ren Dar­wi­nis­mus zu ver­klä­ren war. Der Pan­zer ist ge­sprengt.

    Zum Schluss viel­leicht noch ein Zi­tat, das ich ein­fach so ste­hen las­se:

    Selbst in kar­gen Ge­gen­den konn­ten sich die Strau­ße er­näh­ren. Das Kli­ma be­kam ih­nen. Nur im Win­ter wur­de es schwie­rig. Da war es zu kalt, um die Tie­re im Frei­en zu hal­ten. Und ein­sper­ren lie­ßen sie sich nicht. Für ein, zwei Ta­ge viel­leicht. Aber nach drei Ta­gen wa­ren sie drauf und dran, aus­zu­bre­chen. Das hiel­ten sie nicht aus. Es wa­ren eben Lauf­vö­gel.

  20. Die Tat­sa­che, dass die Haupt­prot­ago­ni­stin an­de­re Fi­gu­ren de­nun­ziert er­laubt es der Au­torin nicht, ih­re Prot­ago­ni­stin eben­falls ent­spre­chend zu be­han­deln. Es sei denn, es wird auf ein Ra­che­sche­ma re­kur­riert, was je­doch m. E. eher ins das tri­via­le Gen­re ge­hö­ren wür­de.

    Die »Spren­gung des Pan­zers« wur­de – wenn ich es recht in Er­in­ne­rung ha­be – sehr wohl in der FAZ the­ma­ti­siert. Aber ist es wirk­lich das? Oder ist die­se We­sens­ver­wand­lung nur Be­haup­tung? Wenn es sie gibt: Ist sie nach­hal­tig? Oder nur ein vor­über­ge­hen­der Af­fekt – aus ei­nem Schock her­aus? Aus den Schluß­bil­dern wird all­zu leicht ei­ne Ver­än­de­rung Loh­marks ge­schlos­sen, wo­zu es je­doch kein In­diz gibt – au­ßer das, was die Er­zäh­le­rin be­rich­tet. Wel­ches Ver­sa­gen soll denn Loh­mark in ih­ren Au­gen be­gan­gen ha­ben? Dass sie auf die Mit­schü­le­rin nicht auf­ge­passt hat? Be­reits zu Be­ginn wird un­ter an­de­rem die­se Schü­le­rin auf das Hef­tig­ste at­tackiert und ein un­ab­än­der­li­ches Fa­tum für die­se Spe­zi­es for­mu­liert. Wo ist hier die Ein­sicht Loh­marks spür­bar? Und, ei­ne an­de­re Fra­ge: War­um soll­te es sie ge­ben?

  21. In der Zeit der Ver­än­de­rung klam­mer­te Loh­mark sich an das schein­bar Si­che­re, die Wis­sen­schaft. Die Iro­nie der Ge­schich­te ist, dass sie die von ih­rer ver­göt­ter­ten Theo­rie ge­for­der­te An­pas­sung dann selbst nicht lei­sten kann. Der Wunsch nach et­was Fass­ba­rem führt da­zu, dass sie voll­stän­dig fehl geht. Die Em­pa­thie­un­fä­hig­keit gilt grund­sätz­lich, selbst der wei­nen­den, nach ih­rer Mut­ter ru­fen­den Clau­dia im Un­ter­richt ge­gen­über (fast schon zu platt). Noch da­zu gibt sie die­se Ung­a­be an die Toch­ter wei­ter, die kei­ne Freun­de hat­te, zwar gu­te No­ten, aber nicht be­liebt.

    Nach der Vor­la­dung bei Klatt­ner wird ihr end­lich klar, dass ih­re Welt voll­stän­dig in Scher­ben liegt und wan­delt sich vom dar­wi­ni­sti­schen Ob­jekt zum la­marck­schen Sub­jekt. Wahr­schein­lich zu spät. So ge­se­hen kei­ne Ver­än­de­rung, son­dern schlich­tes Schei­tern. Aber zu­min­dest die Ein­sicht dar­über. Und dann gab es aber noch die­se Lauf­vö­gel.