Hu­ber­tus Buch­stein: De­mo­kra­tie und Lot­te­rie

Hubertus Buchstein: <br/ >Demokratie und Lotterie

Hu­ber­tus Buch­stein: De­mo­kra­tie und Lot­te­rie

Der Un­ter­ti­tel macht neu­gie­rig: »Das Los als po­li­ti­sches Ent­schei­dungs­in­stru­ment von der An­ti­ke bis zur EU« heißt es da. Das Los als Ent­schei­dungs­in­stru­ment kennt man eher im Sport. So wer­den in Fuß­ball­wett­be­wer­ben Spiel­paa­run­gen zu­ge­lost, wenn nicht je­der ge­gen je­den spie­len soll. Meist wird es mit ei­ner Mi­schung zwi­schen not­wen­di­gem Übel und will­kom­me­ner Un­ge­wiss­heit be­trach­tet. Der Zu­falls­cha­rak­ter wird ins­be­son­de­re von den ver­meint­lich bes­se­ren Mann­schaf­ten als wett­be­werbs­ver­zer­rend emp­fun­den, da schwä­che­re Mann­schaf­ten durch ent­spre­chen­des »Los­glück« be­gün­stigt wer­den kön­nen; die Flos­kel vom »schwe­ren« oder »leich­ten« Los macht dann oft die Run­de. Das Wei­ter­kom­men in ei­nem Wett­be­werb wird un­ter Um­stän­den nicht mehr al­lei­ne der Lei­stung (im Sieg über die zu­ge­lo­ste Mann­schaft) gut­ge­schrie­ben.

Aber wä­re es mit un­se­rem Ver­ständ­nis in Über­ein­stim­mung zu brin­gen, po­li­ti­sche Ent­schei­dun­gen min­de­stens teil­wei­se über Los­ent­schei­dun­gen vor­neh­men zu las­sen? Ist nicht der Sta­tus des Ge­wähl­ten für ei­nen Amts­trä­ger erst DIE Le­gi­ti­ma­ti­ons­ba­sis über­haupt? Wie wür­de ein »aus­ge­lo­ster« Ab­ge­ord­ne­ter, Rich­ter oder Bür­ger­mei­ster ak­zep­tiert wer­den? Geht es über­haupt dar­um, die Wahl durch das Los zu er­set­zen? Oder könn­ten Los­ent­schei­dun­gen nur flan­kie­ren­de Maß­nah­men zur ra­sche­ren Aus­wahl von Ent­schei­dungs­trä­gern dar­stel­len? Wor­in könn­ten die Vor­tei­le ge­gen­über den bis­he­ri­gen Ver­fah­ren lie­gen?

Be­reits jetzt dient das Los in der Bun­des­re­pu­blik in ex­tre­men Si­tua­tio­nen, in de­nen ei­ne Ent­schei­dung nach aus­gie­bi­gem Wahl-Pro­ze­de­re nicht zu­stan­de kommt, ei­ne Wie­der­ho­lung der Ver­fah­ren nicht er­folg­ver­spre­chend scheint und als zu auf­wen­dig emp­fun­den wird, als »Tie-Brea­k­er«. Sind doch in meh­re­ren Gemeinden…derzeit Bür­ger­mei­ster und Land­rä­te im Amt, die nach ei­nem Stim­men­patt im Los­ver­fah­ren er­mit­telt wur­den. Auch in der Bun­des­ver­samm­lung spielt das Los dann ei­ne Rol­le, wenn Par­tei­en we­gen glei­cher Stär­ke in ei­nem Lan­des­par­la­ment An­spruch auf den­sel­ben Sitz in der Ver­samm­lung er­he­ben könn­ten, was bei knap­pen Mehr­heits­ver­hält­nis­sen durch­aus Re­le­vanz be­sit­zen könn­te. Tat­säch­lich wür­de bei der Wahl zum Bun­des­tags­prä­si­den­ten das Los ein­ge­setzt, wenn nach drei Wahl­gän­gen kein Kan­di­dat die Mehr­heit der Stim­men auf sich ver­ei­ni­gen soll­te und so­gar der Baye­ri­sche Land­tag sieht für den Fall ei­nes Patts bei ei­ner Stich­wahl zum baye­ri­schen Mi­ni­ster­prä­si­den­ten den Los­ent­scheid vor.

Hu­ber­tus Buch­stein führt vie­le Bei­spie­le (auch aus an­de­ren Län­dern) an, die das Los als In­dif­fe­renz­re­gu­la­ti­ons­in­stru­ment vor­se­hen, al­so als Ent­schei­dungs­hil­fe zwi­schen zwei Mög­lich­kei­ten, die je­de für sich gleich gu­te Grün­de oder gleich vie­le Stim­men auf sich ver­ei­ni­gen kann. Sieht man ein­mal von den Ent­schei­dun­gen auf kom­mu­na­ler Ebe­ne ab, bleibt der Los­ent­scheid je­doch fast im­mer nur als Ul­ti­ma Ra­tio (vie­le der auf­ge­führ­ten Kon­stel­la­tio­nen sind noch nie ein­ge­tre­ten). Es kann nicht da­von ge­spro­chen wer­den, dass das Los bis­her ein we­sent­li­ches Ele­ment des de­mo­kra­ti­schen Aus­wahl­pro­zes­ses ist.

Das Los in Athen

Kleroterion (c: University of Texas)

Kl­ero­ter­ion (c: Uni­ver­si­ty of Te­xas)

Das war, wie Buch­stein um­fas­send aus­führt, durch­aus schon ein­mal an­ders. Er geht da­bei zu­rück bis zur grie­chi­schen An­ti­ke. Aus­führ­lich wer­den die de­mo­kra­ti­schen Struk­tu­ren und In­sti­tu­tio­nen nebst Be­deu­tung des Lo­ses im »de­mo­kra­ti­schen« Athen ins­be­son­de­re von 462 v. u. Z. – 322 v. u. Z. un­ter­sucht (das Los fand al­ler­dings auch in olig­ar­chi­schen Sy­ste­men vor­her und nach­her durch­aus An­wen­dung). So wur­de es bei der Be­stel­lung der Ju­ry für die Ago­ne, den Wett­be­werb um die be­sten Thea­ter­stücke oder bei der Prie­ste­rin­nen-Wahl (un­ter Ab­schaf­fung der bis da­hin prak­ti­zier­ten Erb­fol­ge) ein­ge­setzt. Mit der Aus­wei­tung der Bür­ger­rech­te wur­den Los­ver­fah­ren in meh­re­ren Etap­pen auf die Be­stel­lung von Amts­trä­gern aus­ge­dehnt: So­wohl die Mit­glie­der der »Boule« (dem Rat der Fünf­hun­dert), der »maßgebliche[n] Be­hör­de« (Ari­sto­te­les) des po­li­ti­schen Athen als auch die Mit­glie­der des im 4. Jahr­hun­dert ge­schaf­fe­nen Ge­setz­ge­bungs­or­gan, die »No­mo­the­ten« wur­den mit Hil­fe ei­nes aus­ge­klü­gel­ten Los­ap­pa­ra­tes, dem »Kl­ero­ter­ion« be­stimmt. Buch­stein er­läu­tert nicht nur ge­naue­stens, wie die­ser Ap­pa­rat, der prak­tisch als fäl­schungs­si­cher be­zeich­net wer­den muss, funk­tio­nier­te son­dern er­läu­tert auch die pro­ze­du­ra­len Ver­fah­ren.

Al­ler­dings: Kei­ne Re­gel oh­ne Aus­nah­me. Selbst in der Pha­se der »ra­di­ka­len De­mo­kra­tie« wur­de am Wahl­ver­fah­ren für sol­che Äm­ter fest­ge­hal­ten, von de­nen man über­zeugt war, dass sie ganz spe­zi­el­le Kennt­nis­se, Fer­tig­kei­ten, Er­fah­run­gen oder be­son­de­res Ver­trau­en er­for­der­ten. Zu­dem wur­den die Aus­ge­lo­sten ei­ner »Do­ki­ma­sie« un­ter­zo­gen (bspw. bei der Be­set­zung der »Boule«). Dies war ein öf­fent­li­ches Ver­fah­ren, in dem durch Be­fra­gun­gen die Eig­nung des Kan­di­da­ten fest­ge­stellt wer­den soll­te. Die An­hö­rung mach­te auch vor per­sön­li­chen Fra­gen nicht halt und er­strecke sich au­ßer­dem auf re­li­giö­se, so­zia­le und po­li­ti­sche Über­zeu­gun­gen. In Zwei­fels­fäl­len wur­den auch Zeu­gen hin­zu­ge­zo­gen. Das Ver­fah­ren wur­de durch ei­ne of­fe­ne Ab­stim­mung (Mehr­heits­be­schluss der al­ten Rats­mit­glie­der) ab­ge­schlos­sen.

Kennt­nis­reich geht Buch­stein auf das athe­ni­sche Ge­richts­we­sen ein, wel­ches nur Lai­en­rich­ter kann­te, die mit­tels Los er­mit­telt wur­den. »Rich­ter« wa­ren sei­ner­zeit eher das, was man heu­te Ge­schwo­re­ne nen­nen wür­de (ob­wohl der Au­tor die­sen Ver­gleich eher ab­lehnt): bei we­ni­ger wich­ti­gen Pro­zes­sen sa­ßen 501 Rich­ter im Kol­le­gi­um, bei be­deu­ten­de­ren Fäl­len konn­ten auch 1.001, 1.501, 2.001, 2.501 oder so­gar noch mehr Rich­ter über ei­nen Fall ent­schei­den.

Lo­se wur­den nur bei Per­so­nal­ent­schei­dun­gen her­an­ge­zo­gen. Sach­ent­schei­dun­gen wur­den in den In­sti­tu­tio­nen ver­han­delt, de­ren Mit­glie­der vor­her über Los- und/oder Wahl­ver­fah­ren er­mit­telt wur­den. Wich­tig war die Frei­wil­lig­keit, d. h. man muss­te sich vor der Aus­lo­sung für das aus­ge­schrie­be­ne Amt zur Ver­fü­gung stel­len (dies funk­tio­nier­te mit Kärt­chen, die in den Los­ap­pa­rat ein­ge­bracht wur­den). Die Äm­ter­ver­ga­be wur­de mit strik­ten Vor­ga­ben wie Ro­ta­ti­on oder Mo­no­ma­gi­stra­tur (Ver­bot der Äm­ter­ak­ku­mu­la­ti­on) ge­kop­pelt. Ei­ne zeit­li­che Be­gren­zung und Sperr­zei­ten wa­ren ein­ge­rich­tet.

Re­kru­tie­rungs­in­stru­ment und Kor­rup­ti­ons­prä­ven­ti­on

Wur­de an­fangs die Los­ent­schei­dung noch als »gött­li­ches Ur­teil« be­trach­tet (und auf­ge­wer­tet) – Sa­kral­ther­orie nennt Buch­stein das -, so ent­wickel­te sich im Lau­fe der Zeit ein prag­ma­ti­sche­res Ver­hält­nis. Da­ne­ben dien­te das Los ei­ner­seits noch als Re­kru­tie­rungs­in­stru­ment (Ent­deckungs­ver­fah­ren krea­ti­ven de­mo­kra­ti­schen Per­so­nals spitzt Buch­stein die­sen Ge­dan­ken zu, wo­bei die­ses Ver­fah­ren durch Do­ki­ma­sie und Ro­ta­ti­on flan­kiert blieb) und an­de­rer­seits als Prä­ven­ti­on für Be­stechun­gen.

Mit­te des 4. Jahr­hun­derts gab es ein Re­ser­voir von ca. 20.000 Bür­gern in Athen. Hier­aus muss­ten rd. 7.000 Äm­ter in Ge­rich­ten, dem Rat und den Be­am­ten­kol­le­gi­en er­mit­telt wer­den. Zieht man von die­ser Zahl die 6.000 ab die für die Ge­rich­te als Ge­schwo­re­ne (sic!) zur Ver­fü­gung stan­den, dann blei­ben im­mer noch knapp 1.100 Po­si­tio­nen (sic!) üb­rig. Woll­te man ei­ne Art Be­rufs­be­am­ten- bzw. Be­rufs­po­li­ti­ker­tum ver­mei­den, so muss­te die Ge­fahr von Mau­sche­lei­en, Ab­spra­chen oder Fäl­schun­gen, wie sie bei Wah­len durch­aus hät­ten auf­tre­ten (oder be­haup­tet wer­den) kön­nen, be­geg­nen. Hier er­füll­te das Los durch­aus sei­nen Zweck. In­ter­es­sant ist auch am Ran­de (Buch­stein ent­geht dies na­tür­lich nicht), dass es ei­nes ge­wis­sen Selbst­be­wusst­seins des Bür­gers be­durf­te, sich für die Aus­lo­sung zu ei­nem Amt zur Ver­fü­gung zu stel­len, wäh­rend ein Wahl­ver­fah­ren das Ur­teil der An­de­ren über den Kan­di­da­ten wie­der­spie­gelt.

In al­ler Aus­führ­lich­keit gibt Buch­stein ei­nen Über­blick in die Ar­gu­men­ta­ti­on der De­mo­kra­tie­geg­ner (wie He­ro­dot und Pla­ton), die (un­ter an­de­rem) die Be­stel­lung von Äm­tern per Los­ver­fah­ren zum An­lass nah­men, die De­mo­kra­tie an sich an­zu­grei­fen und ab­zu­leh­nen. In­ter­es­sant da­bei die Ein­blicke in ih­re Ar­gu­men­ta­ti­on (Klas­sen­herr­schaft der un­te­ren Schich­ten nennt sie der un­be­kann­te Au­tor, der als »der al­te Olig­arch« ge­führt wird). Es zeigt sich, dass die The­sen des an­ti­de­mo­kra­ti­schen Dis­kur­ses prak­tisch über die letz­ten 2.500 Jah­re kaum Ver­än­de­run­gen er­fah­ren ha­ben. Die Ein­blicke ins­be­son­de­re von Pla­ton sind in die­ser kom­pri­mier­ten Form aus­ge­spro­chen in­ter­es­sant auf­be­rei­tet. So wird kur­so­risch so­wohl Pla­tons »Al­ter­na­ti­ve« zur De­mo­kra­tie, die in der Ko­op­t­ati­on (ei­ner mon­ar­chi­stisch-olig­ar­chi­schen Äm­ter­be­stim­mung) gip­felt als auch die et­was sanf­te­re Staats­phi­lo­so­phie aus sei­nem kurz vor dem Tod ver­fass­ten Werk »No­moi« an­ge­deu­tet, in dem an­hand der fik­ti­ven Ko­lo­nie »Ma­gne­sia« ei­ne Art neu­er po­li­ti­scher Ide­al­staat ent­wickelt wird (und auch das Los wie­der zur An­wen­dung kom­men soll).

Ari­sto­te­les gilt zwar min­de­stens als De­mo­kra­tie­skep­ti­ker, aber an­ders als Pla­ton und He­ro­dot un­ter­schei­det er die Staats­for­men nicht nach der Be­stel­lungs­tech­nik, son­dern nach dem Um­fang der Wäh­ler­schaft. Ei­ne De­mo­kra­tie, so Buch­steins Les­art des grie­chi­schen Phi­lo­so­phen lässt sich nicht dar­an er­ken­nen, ob in ei­ner Po­lis ge­lost oder ge­wählt wird, son­dern dass die Äm­ter für al­le of­fen sind und dass sich al­le glei­cher­ma­ßen an der Äm­ter­be­stel­lung be­tei­li­gen. Ari­sto­te­les zu­fol­ge sind die­je­ni­gen Staats­for­men ei­ne ‘De­mo­kra­tie’, in de­nen »al­le aus al­len ent­we­der durch Wahl oder durch Los be­stimmt wer­den, oder kom­bi­niert, die ei­nen durch Wahl und die an­de­ren durchs Los« (Ari­sto­te­les 1300b 30–33). Da­mit ist al­ler­dings kei­ner­lei Be­wer­tung de­mo­kra­ti­scher und olig­ar­chi­scher Re­gie­rungs­for­men vor­ge­nom­men (was für die wei­te­ren Über­le­gun­gen im Rah­men des The­mas auch kei­ne Rol­le spielt).

Wich­tig bei die­sen Be­trach­tun­gen ist, dass die po­li­ti­sche Gleichheit…die Be­din­gung [war], un­ter der sich das Los, wel­ches sa­kra­le und olig­ar­chi­sche Wur­zeln hat­te, zu ei­nem In­stru­ment der Äm­ter­be­set­zung der De­mo­kra­tie ent­pup­pen konn­te und nicht et­wa um­ge­kehrt das Los erst zum »Gleich­ma­cher« wur­de. Die­se The­se ist es­sen­ti­ell, weil Buch­stein spä­ter das Los in ak­tu­ell be­stehen­de de­mo­kra­ti­sche In­sti­tu­tio­nen neu ver­an­kern und da­bei nicht den (fal­schen) Ein­sprü­chen von vor zwei­ein­halb­tau­send Jah­ren be­geg­nen möch­te.

Ve­ne­dig und Flo­renz

Nach der Hoch­zeit der athe­ni­schen De­mo­kra­tie ver­flüch­tigt sich die Be­deu­tung des Lo­ses. Für den Le­ser wird es recht müh­se­lig, wie Buch­stein ei­ni­ge An­wen­dun­gen bei den Grie­chen, Rö­mern, Ju­den und auch bis zum 12. Jahr­hun­dert in Eu­ro­pa her­vor­holt. So ist das Fund­stück, dass die Sol­da­ten nach der Kreu­zi­gung von Je­sus von Na­za­reth des­sen Klei­der ver­lo­sten im Rah­men ei­ner sol­chen Stu­die eher zweit­ran­gig. Da geht mit dem Au­tor ge­le­gent­lich die Da­ten­sam­mel­wut durch.

Das Los er­fährt ei­ne Re­nais­sance in den ita­lie­ni­schen Stadt­re­pu­bli­ken ab un­ge­fähr dem 12. Jahr­hun­dert. Ins­be­son­de­re in Flo­renz und Ve­ne­dig ent­ste­hen aus­ge­feil­te Aus­wahl­ver­fah­ren. Aus­gie­big be­schreibt Buch­stein das ve­ne­zia­ni­sche Ver­fah­ren zur Er­mitt­lung des Do­gen. Auch bei der Be­stel­lung von Rats­mit­glie­dern und Ma­gi­stra­ten fand das Los sei­ne An­wen­dung. Wich­tig ist hier­bei je­doch, dass das Los in Ve­ne­dig nie­mals di­rekt für die Be­stel­lung von Amts­trä­gern an­ge­wandt wur­de, son­dern nur bei der Aus­wahl der Be­tei­lig­ten in No­mi­nie­rungs- oder Aus­wahl­gre­mi­en. Die va­kan­te Po­si­ti­on wur­de durch die in kom­ple­xen Los­ver­fah­ren er­mit­tel­ten Teil­neh­mer in frei­er und ge­hei­mer Wahl be­setzt.

Kom­pli­ziert wa­ren auch die (stän­di­gen Wand­lun­gen un­ter­wor­fe­nen) Los­ver­fah­ren ins­be­son­de­re des 14.–16. Jahr­hun­derts in Flo­renz. Buch­stein schließt sich nach gründ­li­cher Schil­de­rung der ein­zel­nen Pro­ze­du­ren Ma­chia­vel­lis Ur­teil von 1525 an, dass durch die Lot­te­rie »der Stadt viel Ver­druss er­spart und die Ur­sa­che des be­stän­di­gen Tu­mults be­ho­ben« wor­den sei.

Ein biss­chen zäh ta­stet sich Buch­stein an die Mög­lich­kei­ten zur heu­ti­gen Ver­wen­dung des Lo­ses her­an. Zu­nächst ist in ei­nem sehr lang­at­mi­gen Ka­pi­tel vom leise[n] En­de des Lo­sens die Re­de. So­dann wer­den Al­lo­ka­ti­ons­ri­va­len zum Los her­aus­ge­ar­bei­tet – was we­ni­ger schlimm ist, als es sich an­hört. Buch­stein macht ein Sep­tett von Al­lo­ka­ti­ons­al­ter­na­ti­ven aus. Ne­ben Wahl und Los blei­ben als »Ri­va­len«: Ko­op­t­ati­on, Ro­ta­ti­on, War­ten (War­te­li­sten!), au­to­ri­ta­ti­ve Zu­tei­lung und Auk­ti­on. Die Aus­füh­run­gen zu den Al­ter­na­ti­ven über­zeu­gen nicht un­be­dingt im­mer. So ist zum Bei­spiel ei­ne Ro­ta­ti­on als »ei­gen­stän­di­ges« Ver­fah­ren zur Be­set­zung von Äm­tern schwer vor­stell­bar. Da­her re­fe­riert Buch­stein auch er­gän­zend über Kom­bi­na­tio­nen des Lo­ses mit an­de­ren Al­ter­na­ti­ven.

Es fol­gen vie­le theo­re­ti­sche und ge­le­gent­lich lang­at­mi­ge Er­ör­te­run­gen, wie bei­spiels­wei­se über John Rawls und des­sen Theo­rie der Ge­rech­tig­keit, die er in ein fik­ti­ves Rawl­sa­ni­stan mün­den lässt und dem ein eben­falls er­fun­den­des Los­land ge­gen­über­ge­stellt wird. Hier wird Buch­steins An­spruch, ein um­fas­sen­des Stan­dard­werk un­ter Be­rück­sich­ti­gung mög­lichst al­ler bis­her ge­dach­ten Aspek­te zu ver­fas­sen, deut­lich. Das führt aber­mals zu teils ab­we­gi­gen Auf­zäh­lun­gen, wann und wo das Los in der jüng­sten Ver­gan­gen­heit und Ge­gen­wart ei­ne Rol­le spielt, so zum Bei­spiel im Sport. Er­staun­li­cher­wei­se über­sieht Buch­stein of­fen­bar da­bei, dass die Los­ent­schei­dung bei­spiels­wei­se bei Fuß­ball­spie­len ab den 70er Jah­ren zu Gun­sten des als sport­li­cher emp­fun­de­nen Elf­me­ter­schie­ssens ab­ge­schafft wur­de (wo­bei ein Auf­su­chen der ent­spre­chen­den Wi­ki­pe­dia-Sei­te ge­nügt hät­te [man be­ach­te ins­be­son­de­re die Münz­wurf­ent­schei­dung beim Vier­tel­fi­na­le des Eu­ro­pa­po­kal­spiels 1965 zwi­schen dem 1.FC Köln und FC Li­ver­pool]).

Vor- und Nach­tei­le des Lo­ses

Le­ben­dig wird das Buch erst wie­der, als Vor- und Nach­tei­le des Lo­ses dia­lek­tisch auf­be­rei­tet wer­den. Ist es doch – rich­tig im­ple­men­tiert – ein neu­tra­ler und ver­fah­rens­auto­no­mer Me­cha­nis­mus, un­be­dingt treff­si­cher (das Re­sul­tat ist zwei­fels­frei er­kenn­bar; Patt­si­tua­tio­nen gibt es nicht) und ko­sten­gün­stig (Stich­wah­len sind nicht zu er­war­ten). Das Los ent­la­stet Ent­schei­dungs­trä­ger und Ent­schei­dungs­un­ter­wor­fe­ne und »re­du­ziert« emo­tio­na­le Ko­sten der­je­ni­gen, die schwer­wie­gen­de Ent­schei­dun­gen zu tref­fen ha­ben. Des­wei­te­ren wird dem Ge­win­ner ein ge­wis­ser Er­war­tungs­druck ge­nom­men.

Als wei­te­rer Vor­teil gilt, dass das Los Krea­ti­vi­tät und pro­duk­ti­ve Un­ru­he er­zeu­ge, in dem zum Bei­spiel ge­sell­schaft­li­che Ver­kru­stun­gen auf­ge­bro­chen wer­den kön­nen. Da­mit ist wie­der­um der wich­ti­ge Punkt der Kor­rup­ti­ons­vor­beu­gung an­ge­spro­chen, die durch Los­ent­schei­dun­gen be­gün­stigt wird. Denn Tä­tig­kei­ten, die an­fäl­lig für Kor­rum­pie­rungs­ver­su­che sind, wer­den da­durch in ih­rer In­te­gri­tät ge­schützt, dass mit­tels des Los­ver­fah­rens ein ho­hes Maß an Un­si­cher­heit und Un­plan­bar­keit pro­du­ziert wird.. Da­bei ent­steht fast von selbst ein wei­te­rer Vor­teil, näm­lich die Er­hö­hung der gesellschaftliche[n] Sta­bi­li­tät. Hin­zu kommt, dass die Ent­täu­schung über das Losergebnis…keine Zu­rück­set­zung oder Be­lei­di­gung birgt. Das Los bietet…wenig An­knüp­fungs­punk­te für ne­ga­ti­ve Ge­füh­le, die in Geg­ner­schaf­ten und Ag­gres­sio­nen um­schla­gen könn­ten.

Das letz­te Ar­gu­ment für ei­ne stär­ke­re Be­rück­sich­ti­gung von Zu­falls­ent­schei­dun­gen in de­mo­kra­ti­schen Pro­zes­sen wird mit der »Ra­tio­na­li­tät zwei­ter Ord­nung« er­klärt, die mit­tels Los­ent­scheid ge­schaf­fen wer­de, um in be­stimm­ten Si­tua­tio­nen ei­ne Ent­schei­dung über­haupt erst mög­lich zu ma­chen. Ent­schei­dun­gen, die auf­grund von ab­so­lu­ter Un­si­cher­heit, völ­li­ger In­dif­fe­renz, ir­rele­van­ten Un­ter­schie­den oder In­kom­men­su­ra­bi­li­tät kei­ne für die Be­tei­lig­ten ra­tio­nal nach­voll­zieh­ba­ren Ent­schei­dungs­grün­de bie­ten, soll man der Ent­schei­dung ei­ner Lot­te­rie über­ant­wor­ten. Ein wei­te­res Be­har­ren auf ra­tio­nal be­gründ­ba­re Ent­schei­dun­gen, so zi­tiert Buch­stein den nor­we­gisch-ame­ri­ka­ni­schen So­zi­al­wis­sen­schaft­ler Jon El­ster, kä­me ei­ner irrationale[n] Ent­schei­dung von »Hy­perr­ar­tio­na­li­tät« gleich, weil man sich wei­ge­re, die Gren­zen von Ra­tio­na­li­tät ra­tio­nal an­zu­er­ken­nen.

Mit dem letz­ten Punkt be­gibt sich Buch­stein in das wei­te Ge­biet der Über­be­wer­tung von Ra­tio­na­li­tät, oh­ne es voll­stän­dig zu be­han­deln. Fa­tal ist, dass er nicht an ei­nem Bei­spiel kon­kre­ti­siert, wel­che Art von po­li­ti­schen Ent­schei­dun­gen mit den oben ge­nann­ten Punk­ten der »Be­lie­big­keit« des Re­sul­ta­tes be­trof­fen sein könn­ten. Be­zie­hungs­wei­se: Wer die im Zwei­fel be­stehen­de In­dif­fe­renz und/oder Un­ter­schieds­lo­sig­keit der ent­spre­chen­den Ent­schei­dung fest­stellt. Wenn das Los auf­grund ei­ner »Hy­per­ratio­na­li­tät« von Ge­sell­schaf­ten seit lan­ger Zeit ei­ne Rand­exi­stenz nur als »Tie-Brea­k­er« fri­stet und nun ar­gu­men­ta­tiv her­aus­ge­führt wer­den soll, be­dürf­te es hier­zu nä­he­rer Er­läu­te­run­gen.

In den nach­fol­gen­den Ent­geg­nun­gen re­la­ti­viert der Au­tor die Vor­tei­le des Lo­ses, wo­bei ei­ni­ge Ein­wän­de zu­wei­len et­was kon­stru­iert er­schei­nen. Na­tür­lich sind fäl­schungs­si­che­re Tech­ni­ken für die Er­mitt­lung von Los­re­sul­ta­ten schwie­rig. Aber was schon vor zwei­ein­halb­tau­send Jah­ren in Athen ge­lang, müss­te doch auch heu­te mach­bar sein. Schwe­rer wiegt schon der Ge­dan­ke, dass das Wett­be­werbs­prin­zip durch Lot­te­rie­ent­schei­dun­gen aus­ge­ho­ben wür­de, was dann spä­ter Aus­wir­kun­gen auf den durch den Zu­fall er­mit­tel­ten Amts­trä­ger ha­ben könn­te. Und auch zum an­fangs lo­gisch klin­gen­den Ar­gu­ment der Kor­rup­ti­ons­be­kämp­fung lässt sich bei Äm­tern ei­ne Ge­gen­rech­nung auf­ma­chen, wo­nach durch Los­ver­fah­ren er­mit­tel­te Amts­in­ha­ber im Un­ter­schied zu sol­chen, die auf ei­ne Wie­der­wahl spe­ku­lie­ren, kei­nen An­reiz ha­ben, in be­son­de­rem Ma­ße Ver­ant­wor­tung ge­gen­über ih­rer po­li­ti­schen Ge­mein­schaft zu über­neh­men und auch kei­nen An­sporn, ei­ne sol­che Ver­ant­wor­tung zu ent­wickeln. Wenn es ih­nen le­dig­lich um die Ma­xi­mie­rung ih­rer per­sön­li­chen ma­te­ri­el­len In­ter­es­sen geht, kön­nen sie ihr Amt wie ei­nen »Glücks­tref­fer« be­han­deln, das ih­nen die sel­te­ne Chan­ce bie­tet, so­viel wie mög­lich für sich her­aus­zu­schla­gen.

Was Buch­stein als ad­vo­ca­tus dia­bo­li in die­sem Fall nicht an­spricht, ist die Im­ple­men­tie­rung von ent­spre­chen­den Kon­troll­in­sti­tu­tio­nen, die Amts­trä­ger (ge­wähl­te oder »aus­ge­lo­ste«) ent­spre­chend zu be­ob­ach­ten und – wenn not­wen­dig – zu sank­tio­nie­ren hät­ten. Si­cher­lich wä­re die Hür­de, ei­nen »Aus­ge­lo­sten« auf­grund von Un­fä­hig­keit oder Vor­teils­nah­me zu ent­las­sen we­sent­lich ge­rin­ger als ei­nen ge­wähl­ten Amts­trä­ger ent­fer­nen zu wol­len. Frei­lich muss dann wie­der die ent­spre­chen­de Kon­troll­in­sti­tu­ti­on le­gi­ti­miert sein (und aber­mals fragt man sich: durch wen?), was ei­ne zu­sätz­li­che Bü­ro­kra­ti­sie­rung zur Fol­ge hät­te (die ur­sprüng­lich ja durch das Los ge­zähmt wer­den soll­te).

Syn­the­se zwi­schen Zu­falls­ent­schei­dung und de­li­be­ra­ti­ver De­mo­kra­tie

Bei der kri­ti­schen Be­leuch­tung des Ar­gu­ments der »Ra­tio­na­li­tät zwei­ter Ord­nung« stößt er auf den ent­schei­den­den Punkt, der über Ein­satz oder Nicht­ein­satz des Lo­ses ent­schei­det: Die Lot­te­rie ist als ra­tio­nal hö­her­stu­fi­ge Flucht­op­ti­on auf ei­nen Kon­sens un­ter al­len Be­tei­lig­ten im Hin­blick auf ih­re Si­tua­ti­ons­deu­tung an­ge­wie­sen. Die­se Er­kennt­nis wird Buch­stein in sei­nen Be­trach­tun­gen über die Ein­bet­tung des »Zu­falls« im Rah­men ei­nes de­li­be­ra­ti­ven De­mo­kra­tie­ver­ständ­nis­ses auf­neh­men. Er zeigt da­bei in mil­der Kri­tik an Ha­ber­mas’ Dis­kurs­theo­rie, wie das Los durch­aus be­le­ben­des Ele­ment par­ti­zi­pa­ti­ver De­mo­kra­tie wer­den kann und ver­sucht den Ge­dan­ken, dass der Zu­fall so­zu­sa­gen der »na­tür­li­che Feind« des herr­schafts­frei­en Dis­kur­ses ist, zu be­sei­ti­gen.

Die Aus­füh­run­gen hier­zu sind arg wis­sen­schaft­lich und set­zen Grund­kennt­nis­se des de­li­be­ra­ti­ven De­mo­kra­tie­mo­dells vor­aus. Buch­stein ver­sucht den Spa­gat, die Los­ent­schei­dung in ak­tu­el­le de­mo­kra­ti­sche Pro­zes­se ein­zu­bin­den und dau­er­haft zu im­ple­men­tie­ren und an­de­rer­seits den »Dis­kurs« der Öf­fent­lich­keit nicht durch Zu­falls­ent­schei­dun­gen aus­zu­he­beln. Auch hier kommt er erst nach ei­ni­ger Zeit auf den Punkt, un­ter an­de­rem weil zu­nächst aus­führ­lich die Mo­del­le un­ter­sucht wer­den, die für die ei­ge­nen Prä­mis­sen letzt­lich gar nicht in­fra­ge kom­men.

Die Syn­the­se zwi­schen Los und Par­ti­zi­pa­ti­on ent­deckt er an ver­schie­de­nen, teil­wei­se auch in der Pra­xis be­reits ein­ge­führ­ten Mo­del­len, die dem im Buch de­tail­liert be­schrie­be­nen Prin­zip der klas­si­schen Ge­schwo­re­nen­ge­rich­te an­ge­lehnt sind. So wur­den bei­spiels­wei­se 1987 in Dä­ne­mark so­ge­nann­te Kon­sen­sus-Kon­fe­ren­zen ein­ge­führt (Ci­ti­zen Jury[s], wie sie in an­de­ren Län­dern ge­nannt wer­den, funk­tio­nie­ren nach ähn­li­chen Prin­zi­pi­en), in de­nen ver­schie­de­ne The­men, ins­be­son­de­re der mo­der­nen Wis­sen­schaft und Tech­nik dis­ku­tiert und be­han­delt wur­den (bei­spiels­wei­se über die An­wen­dung von Gen­tech­no­lo­gie in der Land­wirt­schaft, Luftverschmutzung,…elektronische Über­wa­chung des öf­fent­li­chen Raums oder auch ein­fach nur Stra­ßen­fi­nan­zie­rung). Die Ab­sicht die­ser Kon­sen­sus-Kon­fe­ren­zen liegt dar­in, ei­ne für Wis­sen­schaft­ler und Be­völ­ke­rung zu­stim­mungs­pflich­ti­ge Grund­la­ge für Po­li­cy-Ent­schei­dun­gen im Be­reich der Tech­no­lo­gie­po­li­tik zu ge­win­nen (Buch­steins ge­le­gent­li­che An­gli­zis­men sind et­was ner­vig).

An den Kon­sen­sus-Kon­fe­ren­zen neh­men zehn bis höch­sten 25 Per­so­nen teil, die per Los un­ter den voll­jäh­ri­gen re­gi­strier­ten Ein­woh­nern er­mit­telt wer­den. Auch in Groß­bri­tan­ni­en, den Nie­der­lan­den, Spa­ni­en und Deutsch­land hat es auf kom­mu­na­ler und lo­ka­ler Ebe­ne ähn­li­che Pro­jekt ge­ge­ben. Buch­stein zieht ei­ne po­si­ti­ve Bi­lanz. Es sei da­mit ge­lun­gen, die we­nig Er­trag brin­gen­de Kon­fron­ta­ti­on von sach­kun­di­gen Ex­per­ten auf der ei­nen und un­in­for­mier­ten Lai­en auf der an­de­ren Sei­te, bei dem von vorn­her­ein ei­ne asym­me­tri­sche De­fi­zit­an­nah­me zu Un­gun­sten der aus­ge­lo­sten Bür­ger an­ge­nom­men wird, zu über­win­den. Die zur De­bat­te ste­hen­den Fra­gen wer­den nicht tech­no­kra­tisch ver­engt be­han­delt, son­dern in den Emp­feh­lun­gen wird auch auf ethi­sche und mo­ra­li­sche Be­wer­tungs­maß­stä­be ab­ge­ho­ben. Am Ende…steht kei­ne von wis­sen­schaft­li­chen Lai­en ge­fäll­te wis­sen­schaft­li­che Aus­sa­ge, son­dern ein von Bür­gern ge­trof­fe­nes Ur­teil über die Wünsch­bar­keit oder Nicht-Wünsch­bar­keit der An­wen­dung be­stimm­ter Tech­no­lo­gien oder an­de­rer Streit­punk­te.

Aber Kon­sen­sus-Kon­fe­ren­zen, Ci­ti­zen Ju­rys oder Pla­nungs­zel­len ge­lan­gen kraft ih­res Auf­tra­ges zu kei­nem Vo­tum, das ei­ner Ent­schei­dung mit ver­bind­li­chen Fol­gen gleich­kä­me (was sie deut­lich von den Ge­schwo­re­nen­ge­rich­ten un­ter­schei­det). Sie ge­ben le­dig­lich Emp­feh­lun­gen für ge­wähl­te Amts- und Man­dats­trä­ger ab und fun­gie­ren gleich­sam als Me­tho­de, mit der po­li­ti­sche Eli­ten den auf­ge­klär­ten Bür­ger­wil­len zu er­fah­ren su­chen. Die Aus­nah­me scheint nur in Dä­ne­mark zu be­stehen; Stu­di­en ha­ben er­ge­ben, dass die Emp­feh­lun­gen der dä­ni­schen Kon­sen­sus-Kon­fe­ren­zen die dor­ti­gen Po­li­cy-Ent­schei­dun­gen ganz we­sent­lich be­ein­flus­sen konn­ten. Die stär­ke­re Be­deu­tung er­klärt sich mit dem qua­si-of­fi­zi­el­len Sta­tus der Kon­sen­sus-Kon­fe­ren­zen durch ih­re An­bin­dung an das Wis­sen­schafts- und Tech­no­lo­gie­mi­ni­ste­ri­um.

Wer­den die Re­sul­ta­te die­ser Dis­kurs­platt­for­men aber nur als un­ver­bind­li­che Emp­feh­lung be­trach­tet, de­rer man sich je nach po­li­ti­scher Gross­wet­ter­la­ge be­dient oder ein­fach non­cha­lant igno­riert, wird die Ak­zep­tanz sol­cher Gre­mi­en dau­er­haft sa­bo­tiert. Not­wen­dig sei vor al­lem ei­ne kla­re Fest­le­gung ver­bind­li­cher Kom­pe­tenz­zu­schrei­bun­gen im Rah­men des po­li­ti­schen Sy­stems mo­der­ner De­mo­kra­tien.

Hat Buch­stein jetzt für »sei­nen« Los­ent­scheid ei­ne Grund­la­ge für ei­ne In­sti­tu­ti­on »ge­fun­den«, die nur noch mit der ent­spre­chen­den Kom­pe­tenz aus­ge­stat­tet wer­den muss, so stellt sich un­be­dingt die Fra­ge nach der so­zi­al­sta­ti­sti­schen Re­prä­sen­ta­ti­vi­tät des ent­spre­chen­den Gre­mi­ums. Die­ses Pro­blem zieht sich wie ein ro­ter Fa­den durch das Buch. Aus­führ­lich wird es bei der Be­stel­lung der Ge­schwo­re­nen in den USA er­läu­tert, wo al­lei­ne schon aus ge­sell­schaft­li­chen Grün­den ein star­kes Au­gen­merk auf ei­ne pa­ri­tä­ti­sche Be­set­zung der Ju­ry ge­legt wird. Buch­stein spricht gar von ei­nem Recht von An­ge­klag­ten vor ei­ner sei­ne com­mu­ni­ty in ih­rer gan­zen so­zia­len Viel­falt re­prä­sen­tie­ren­den Ju­ry zu ste­hen. Da­bei wirft schon die Fra­ge, was un­ter com­mu­ni­ty zu ver­ste­hen ist, neue Pro­blem auf, d. h. zum Bei­spiel ob die­ser Be­griff kom­mu­nal, re­gio­nal oder na­tio­nal de­fi­niert wird. Die Schwie­rig­kei­ten er­ge­ben sich des­wei­te­ren aus der »Zu­ord­nung« der po­ten­ti­el­len Ju­ry-Teil­neh­mer zur »je­wei­li­gen« ge­sell­schaft­li­chen »Schicht« bzw. Min­der­heit. So wird der Zu­falls­cha­rak­ter des Lo­ses »ge­steu­ert« bis hin zu ei­nem ge­wich­te­ten Los, wel­ches Dis­pa­ri­tä­ten durch Quo­ren ver­hin­dern soll. So gibt es bei den dä­ni­schen Kon­sen­sus-Kon­fe­ren­zen 50%-Quoren für bei­de Ge­schlech­ter oder – wie­so »oder«? – ei­ne sta­ti­stisch durch­schnitt­li­che Al­ters­quo­tie­rung, die ent­spre­chend fest­ge­legt wird.

Re­prä­sen­ta­ti­vi­tät und das »Hou­se of Lots« als Zwei­te Kam­mer

Die Ak­zep­tanz des Lo­ses zur Be­stel­lung von mehr als nur be­ra­tend tä­ti­gen po­li­ti­schen In­sti­tu­tio­nen wird al­so sehr stark mit ih­rer re­prä­sen­ta­ti­ven Aus­ge­stal­tung ver­knüpft sein. Denn das Zu­falls­prin­zip ist eher ne­ga­tiv kon­no­tiert (Buch­stein pa­ra­phra­siert Marx). Die ein biss­chen spie­le­risch ein­ge­brach­te elea­to­ri­sche De­mo­kra­tie­theo­rie ist zwin­gend auf ega­li­tä­re Struk­tu­ren an­ge­wie­sen, da an­son­sten die ent­spre­chen­de Le­gi­ti­ma­ti­on nicht ge­währ­lei­stet ist. An­de­rer­seits lei­det der ja durch­aus von ei­ni­gen als Be­le­bung emp­fun­de­ne Über­ra­schungs- und Zu­falls­cha­rak­ter des Lo­ses, wenn im Vor­feld zu vie­le, re­gu­lie­ren­de Ein­grif­fe vor­ge­nom­men wer­den. Denn wenn Zu­fall als ei­ne von uns wahr­ge­nom­men Grund­lo­sig­keit de­fi­niert und gleich­zei­tig als Ziel die­ser Stu­die pro­kla­miert wird, dem Zu­falls­me­cha­nis­mus ei­nen sicht­ba­ren Platz in der mo­der­nen De­mo­kra­tie ein­zu­räu­men, dann zeigt sich im »ge­zü­gel­ten Zu­fall« doch ei­ne ge­wis­se Halb­her­zig­keit, die al­ler­dings als not­wen­dig er­ach­tet wird, um die ge­sell­schaft­li­che Ak­zep­tanz zu er­hö­hen.

Im Lau­fe des Bu­ches ver­säumt es Buch­stein stich­hal­ti­ge Pro-Ar­gu­men­te für die Be­stel­lung re­le­van­ter, be­stehen­der po­li­ti­scher Äm­ter mit­tels Lot­te­rie­ver­fah­ren aus­zu­ar­bei­ten. Zwar ist ihm das Los als blo­ßes Op­ti­mie­rungs­ver­fah­ren für Wah­len zu we­nig. Aber vor wei­ter­ge­hen­den Schrit­ten schreckt er dann zu­rück. Statt­des­sen ent­wickelt er (lan­ge an­ge­kün­dig­ten) im vor­letz­ten Ka­pi­tel den Ge­dan­ken ei­ner neue[n] Zweite[n] Kam­mer des Eu­ro­päi­schen Par­la­ments, die er »Hou­se of Lots« nennt (in An­leh­nung an Bar­ba­ra Good­win) und sich eng an die Kon­sen­sus-Kon­fe­ren­zen ori­en­tiert.

Die­se Zwei­te Kam­mer soll­te aus 200 Mit­glie­dern be­stehen, wel­che ana­log zur (dann) Er­sten Kam­mer nach dem Prin­zip der de­gres­si­ven Pro­por­tio­na­li­tät die Bür­ger der Eu­ro­päi­schen Uni­on re­prä­sen­tie­ren sollen…Die Ab­ge­ord­ne­ten wür­den je­weils al­le zwei­ein­halb Jah­re im Rhyth­mus der al­le fünf Jah­re statt­fin­den­den Wah­len zur Er­sten Kam­mer aus­ge­lost; je­der Bür­ger dürf­te in sei­nem Le­ben höch­stens ein­mal ein Man­dat in der Los­kam­mer er­lan­gen. Die Teil­nah­me an der Lot­te­rie soll­te zu den ob­li­ga­to­ri­schen Pflich­ten al­ler EU-Bür­ger ge­hö­ren. Ih­re Tä­tig­keit soll­te aus­schließ­lich auf Le­gis­la­tiv­ak­te be­zo­gen sein, nicht aber auf die Kon­trol­le des Exe­ku­tiv­ak­te des Ra­tes bzw. der Kom­mis­si­on. Ent­schie­den wür­de im­mer mit Drei­vier­tel­mehr­heit der Mit­glie­der. Und über­ra­schend: Es geht bei der Idee der Los­kam­mer um bes­se­re Ge­set­ze, nicht um bes­se­res Per­so­nal. Da­mit lässt Buch­stein ziem­lich schnell die Re­kru­tie­rungs­funk­ti­on des Lo­ses fal­len.

Zu­nächst soll die Zwei­te Kam­mer in al­len Ge­setz­ge­bungs­ver­fah­ren je­der­zeit Emp­feh­lun­gen für die Er­ste Kam­mer, die Kom­mis­si­on und den Rat der EU be­schlie­ßen kön­nen. Hier bleibt Buch­stein lei­der schmal­lip­pig: Wel­che Kon­se­quen­zen soll die »Emp­feh­lung« der Los­kam­mer für die an­de­ren In­sti­tu­tio­nen ha­ben? Oder ver­traut er auf ei­ne Art au­ra­ti­sche Kraft der De­li­be­ra­ti­vi­tät, die von der Los­kam­mer aus­geht?

In­ter­es­sant ist, dass der Los­kam­mer ein ab­so­lu­tes Ve­to­recht für al­le Le­gis­la­tiv­ak­te (bin­nen 14 Ta­gen) zu­ge­stan­den wird (wo­bei für den Be­reich der Sy­stem­ge­stal­tung aus­drück­lich kein Ve­to­recht gel­ten soll). Und so­gar ein In­itia­tiv­recht soll dem »Hou­se of Lots« zu­ge­stan­den wer­den, wel­ches in ei­nem verkürzte[n] Ge­setz­ge­bungs­ver­fah­ren mit nied­ri­gen Mehr­heits­er­for­der­nis­sen be­han­delt wer­den müss­te. Merk­wür­dig, dass die Zwei­te Kam­mer das In­itia­tiv­recht ex­pli­zit nicht für die Au­ßen- und Si­cher­heits­po­li­tik der EU und po­li­zei­li­che und ju­sti­zi­el­le Zu­sam­men­ar­beit in Straf­sa­chen er­hal­ten soll.

Die Ra­tio al­ler drei Ver­fah­rens­ele­men­te liegt dar­in, vor al­lem den Rat gleich­sam un­ter ei­nen ‘de­li­be­ra­ti­ven Ent­schei­dungs­druck’ zu set­zen. Buch­stein kon­sta­tiert bei der ge­gen­wär­ti­gen EU und de­ren In­sti­tu­tio­nen kein De­mo­kra­tie­de­fi­zit, son­dern so­gar De­mo­kra­tie­ab­sti­nenz. Um­so wich­ti­ger wä­re es ge­we­sen, den neu ein­ge­hauch­ten Bür­gera­tem spür­bar zu ma­chen. Aber nur auf drei Sei­ten be­schäf­tigt sich Buch­stein mit Ein­wän­den zu die­ser Zwei­ten Kam­mer und de­ren Ent­kräf­tung. Aus­ge­rech­net in die­sem Ka­pi­tel weicht er von sei­ner an­de­ren­orts manch­mal so er­mü­den­den Aus­führ­lich­keit ab und ent­wickelt kei­nen nu­an­ciert aus­ge­ar­bei­te­ten Plan. Da hät­te man lie­ber auf ei­ni­ge hi­sto­ri­sche Ex­kur­sio­nen in den Ka­pi­teln vor­her ver­zich­tet.

Ge­lingt die »drit­te räum­li­che Trans­for­ma­ti­on der De­mo­kra­tie in den su­pra­na­tio­na­len Raum?

Im letz­ten Ka­pi­tel, eben­falls auf nur we­ni­gen Sei­ten, wirft Buch­stein dann noch die Fra­ge auf, ob und wie ei­ne zwei­te räum­li­che Trans­for­ma­ti­on der De­mo­kra­tie hin zu ei­ner drit­ten Ge­ne­ra­ti­on der De­mo­kra­tie in der post­na­tio­na­len Kon­stel­la­ti­on ge­lin­gen kann (wo­bei als er­ste räum­li­che Trans­for­ma­ti­on die von Stadt­staat zum Flä­chen­staat und die zwei­te vom Flä­chen­staat zur Na­ti­on be­trach­tet wird). Ge­lingt der »De­mo­kra­tie« (al­so al­len!) die­se drit­te Trans­for­ma­ti­on vom Na­tio­nal­staat zum su­pra­na­tio­na­len Staa­ten­bund nicht, so dro­hen even­tu­ell hy­bri­de oder au­to­ri­tä­re Re­gime­for­men oder min­de­stens »post­de­mo­kra­ti­sche« Struk­tu­ren. Nicht zu­letzt die­se un­schö­ne Per­spek­ti­ve spielt wohl bei Buch­steins Ge­dan­ken­ex­pe­ri­ment zum Los­ver­fah­ren in der De­mo­kra­tie ei­ne Rol­le.

Zwar wer­den noch ei­ni­ge teil­wei­se sehr skur­ri­le (und ei­gent­lich nicht ernst­zu­neh­men­de) Ideen ent­wickelt, so bei­spiels­wei­se ei­ne Art Wäh­ler­lot­te­rie mit Prei­sen, um die Wahl­be­tei­li­gung zu er­hö­hen oder ein Wahl­Los, in dem die Wahl­be­rech­ti­gung un­ter der Be­völ­ke­rung aus­ge­lost wird (die Mo­del­le rei­chen hier von 0,5% bis 50%). Ein biss­chen un­ter­höhlt Buch­stein die Ernst­haf­tig­keit sei­nes An­lie­gens mit die­sen Vor­schlä­gen.

Bes­ser wä­re es ge­we­sen, mu­ti­ger die Her­bei­füh­rung von Per­so­nal­ent­schei­dun­gen über das Los zu ver­tre­ten. War­um nicht bei­spiels­wei­se bei der Bun­des­tags­wahl die Lan­des­li­sten als Los­grund­la­ge ver­wen­den und die star­re Set­zung durch die Par­tei­en (»si­che­re Li­sten­plät­ze«) da­durch auf­zu­bre­chen, dass die Man­da­te aus der Li­ste aus­ge­lost wer­den? Wenn ei­ne Par­tei durch die An­zahl der ab­ge­ge­be­nen Zweit­stim­men zum Bei­spiel acht Li­sten­plät­ze er­reicht hat, so könn­ten die­se acht Plät­ze aus der be­stehen­den Lan­des­li­ste, die ei­ne Min­dest­an­zahl von Kan­di­da­ten be­inhal­ten muß (min­de­stens so vie­le, wie es theo­re­tisch Plät­ze gibt), aus­ge­lost wer­den. Ei­ne vor­her in Par­tei­sit­zun­gen aus­ge­kun­gel­te Rei­hen­fol­ge wä­re ob­so­let. Auch nicht so pro­mi­nen­te Kan­di­da­ten hät­ten ei­ne Mög­lich­keit, in das Par­la­ment ein­zu­zie­hen. Be­tref­fen wür­de dies al­ler­dings vor al­lem die klei­ne­ren Par­tei­en, die der­zeit kei­ne oder nur sehr we­ni­ge Di­rekt­man­da­te er­rin­gen.

Als Kom­pen­di­um über den Ge­brauch des Lo­ses in Po­li­tik und Ge­sell­schaft ist das Buch per­fekt und bie­tet ei­ne Fül­le von De­tails (manch­mal zu vie­le). Als vi­sio­nä­res The­sen­pa­pier hat Buch­steins Stu­die sei­nen Zweck nur teil­wei­se er­füllt. Hät­te es doch we­nig­stens ein bes­ser aus­ge­stat­te­tes »Hou­se of Lots« ge­ge­ben, aber der Le­ser durf­te be­dau­er­li­cher­wei­se nur Richt­fest fei­ern. Be­gei­ste­rung wird so nicht aus­ge­löst.


Die kur­siv ge­setz­ten Pas­sa­gen sind Zi­ta­te aus dem be­spro­che­nen Buch

18 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Auch wenn...
    Dein ab­schlie­ßen­der Satz der Vor­schau – Es kann nicht da­von ge­spro­chen wer­den, dass das Los bis­her ein we­sent­li­ches Ele­ment des de­mo­kra­ti­schen Aus­wahl­pro­zes­ses ist be­reits nach der Quint­essenz des Buchs klingt, bin ich ge­spannt, was Buch­stein über »in­sti­tu­tio­na­li­ser­te Zu­fäl­le« zu sa­gen hat. Vor al­lem, weil man­che Re­ge­lun­gen, wie bei­spiels­wei­se die Man­dats­li­sten, die ord­nen, wel­che Ab­ge­ord­ne­te in wel­cher Rei­hen­fol­ge in ein Par­la­ment ein­zie­hen, nach Au­ßen, sprich: für Wäh­ler, arg nach Zu­fall an­mu­ten. Wir hat­ten das The­ma ja schon mal an­ge­schnit­ten: Ich kann Par­tei x aus grund­sätz­li­cher Über­ein­stim­mung wäh­len, und trotz­dem kei­nen Ein­fluss dar­auf neh­men, dass das auf­ge­stell­te Mit­glied y trotz In­kom­pe­tenz zum Ab­ge­ord­ne­ten ge­wählt wird.

  2. Nein, es ist
    kei­ne vor­weg­ge­nom­me­ne Quint­essenz des Bu­ches.

    Und ja, Du legt den Fin­ger in ei­ne Wun­de... Mehr dann, wenns zur Ver­öf­fent­li­chung kom­men soll­te.

  3. Ich kann nicht ab­stim­men, bin aber trotz­dem in­ter­es­siert.
    Falls auch ei­ne Stim­me von Nicht-Two­day­lern von re­le­vanz ist.

    Da ich Zu­fall im de­mo­kra­ti­schen WIl­lens­bil­dungs­pro­zess in an­de­rem Zu­sam­men­hang für ein kenn­zeich­nen­des Merk­mal un­se­res ak­tu­el­len po­li­ti­schen Sy­stems hal­te (win­dows of op­por­tu­ni­ty) fin­de ich die Er­hö­hung des Zu­falls­prin­zips auf die Ebe­ne der Ent­schei­dungs­fin­dung sehr span­nend. Vor al­lem, wenn es über theo­re­ti­sche Ana­ly­sen hin­aus­ge­hen soll­te und kon­kre­te Im­ple­men­tie­run­gen und de­ren Vor- und Nach­tei­le ge­gen­über an­de­ren Mo­del­len der Ent­schei­dungs­fin­dung be­spro­chen wer­den.

  4. Of­fen­sicht­lich ist es lei­der nicht.
    Buch­stein scheint, dass schlie­ße ich aus der er­freu­lich aus­führ­li­chen Re­zen­si­on, zu je­nen nicht sel­te­nen Sach­buch­schrei­bern, die »dank« ih­rer fi­xen Ideen auch aus span­nen­dem Stoff Bü­cher mit Län­gen ma­chen. Fi­xen Ideen, denn auch das Stre­ben nach ei­ner mög­lichst lücken­lo­sen ge­schicht­li­chen Dar­stel­lung ei­nes po­li­ti­schen Brau­ches, der im klas­si­schen Athen wich­tig, aber ab die­ser Zeit in der po­li­ti­schen Sphä­re völ­lig un­be­deu­tend war, ist m. E. ei­ne fi­xe Idee. Ein Stre­ben nach Voll­zäh­lig­keit, das ich sonst eher von Bü­chern wie »Ge­schich­te der Mo­de in Nord­deutsch­land« oder »Hei­mat­ge­schich­te des Flecken Wen­torf« ken­ne: auch für das The­ma eher un­wich­ti­ge An­ek­do­ten und Mar­gi­na­li­en wer­den auf­ge­nom­men, da­mit ja kei­ne (manch­mal jahr­hun­der­te­lan­gen) »Lücken« blei­ben, und da­mit kein bes­ser­wis­se­ri­scher Hei­mat­for­scher be­haup­ten kann: »Da fehlt was!«

  5. Ich Zie­gen und Schae­fer Hirt...
    Al­so 20,000 Ein­woh­ner hat­te Athen , und ein Drit­tel von den war auf ir­gend­ei­ne Wei­se in the Po­lis-tik mit ver­wickelt,
    was wohl nur Kin­der so­wie die nicht zu Kul­ten be­nutz­ten Wei­ber auschliesst, ja so geht’s wenn mal ei­ne wirk­li­che De­mos-Po­li­tik
    be­trei­ben will, die Idee macht mich aber so­fort wahn­sin­nig, und ich flie­he die Stadt and be­gnue­ge mich als Hirt au­sser­halbs.

  6. Hier et­was ueber die Olym­pia­den...
    In today’s ex­cerpt-the Greek Olym­pics. For fi­ve hec­tic days and nights every four ye­ars from 776 BC un­til the Chri­sti­an em­per­ors ban­ned pa­gan fe­sti­vals in AD 394‑a mind-bogg­ling twel­ve hundred ye­ars-the sen­sa­tio­nal­ly po­pu­lar Olym­pic games we­re held in Greece. Each Olym­pi­ad was an ex­pres­si­on of Hel­le­nic unity, an all-con­sum­ing pa­geant, as spi­ri­tual­ly pro­found for the­se an­ci­ents as a pil­grimage to Var­a­na­si for Hin­dus or the Mus­lim ha­jj:

    »[The ath­le­tes] ap­peared one by one-pa­ra­ding li­ke pea­cocks, en­ti­re­ly un­clo­thed and un­ador­ned, yet drip­ping from head to toe in per­fu­med oils that flowed in ri­vu­lets from their cur­led black hair. Com­pe­ting nu­de was a time-ho­no­red tra­di­ti­on of an­ci­ent Greek ath­le­tics, ... on­ly bar­ba­ri­ans we­re as­ha­med to dis­play their bo­dies....

    »Of the eigh­te­en co­re events in the Olym­pics pro­gram, so­me are fa­mi­li­ar to us to­day-run­ning, wrest­ling, boxing, ja­ve­lin, dis­cus. Others seem mo­re out­lan­dish. The Games be­gan wi­th the cha­ri­ot race‑a de­li­rious­ly vio­lent af­fair whe­re up to for­ty ve­hic­les crow­ded the track and cra­s­hes we­re gua­ran­teed. ... And one of the fa­vo­ri­te au­di­ence events was the pankration‑a sa­va­ge all-out brawl, whe­re on­ly eye-gou­ging was ban­ned. The mo­re brutish par­ti­ci­pan­ts would snap op­pon­ents’ fin­gers, or tear out their in­testi­nes; the jud­ges (one coach no­ted) ‘ap­pro­ve of strang­ling.’ The gaps in the pro­gram seem just as odd to mo­dern ey­es-the­re we­re no team sports, no ball sports, no swim­ming events, no ma­ra­thon, and not­hing re­sembling an Olym­pic torch. ... Mo­ney per­me­a­ted every aspect of an­ci­ent ath­le­tics. All con­te­stants we­re pro­fes­sio­nals. ... Cor­rup­ti­on char­ges would re­gu­lar­ly dis­grace con­ten­ders. ... Cham­pi­ons would be trea­ted li­ke de­mi­gods around Greece and gua­ran­teed an exi­stence of lu­xu­ry and ea­se for the rest of their li­ves. ...

    »Sple­ndid re­li­gious ri­tu­als we­re ob­ser­ved; in fact, the ce­re­mo­nies, in­clu­ding the but­che­ring of one hundred oxen for a grand pu­blic feast, took up as much time as the sports. The­re was sight-see­ing to be do­ne: the sanc­tua­ry of Olym­pia was an open-air mu­se­um, and vi­si­tors rus­hed bet­ween events from temp­le to temp­le to view fa­mous ma­ster­pie­ces li­ke the for­ty-foot-high sta­tue of Zeus, one of the se­ven won­ders of the an­ci­ent world. ...

    »And then the­re we­re earth­ly pur­suits: The squ­al­id tent-ci­ty [at the Olym­pic site] was the sce­ne of a round-the-clock bac­chanal whe­re stu­dents would squan­der their in­he­ri­tances in la­vish drin­king par­ties (sym­po­sia) and pro­sti­tu­tes could make a year’s wa­ges in fi­ve days. The­re we­re be­au­ty con­tests, Ho­mer-re­a­ding com­pe­ti­ti­ons, ea­ting races. ... Young boys in make­up per­for­med ero­tic dances. Com­pe­ting for at­ten­ti­on we­re palm-rea­ders and astro­lo­gers.«

    To­ny Per­rot­tet, The Na­ked Olym­pics, Ran­dom Hou­se, Co­py­right 2004 by To­ny Per­rot­tet, pp. 6–14.

  7. Das The­ma Lan­des­li­ste lässt dich ein­fach nicht los und fin­det in die­ser Be­spre­chung ei­nen in­ter­es­san­ten Aspekt. Ich könn­te mir tat­säch­lich vor­stel­len, dass ein Los­ver­fah­ren die Kun­ge­lei ein­däm­men könn­te. Ein auf den er­sten Blick et­was ab­we­gi­ges The­ma hat durch­aus Spaß ge­macht, da es neue Ein­blicke bie­tet.

  8. Auf Dau­er las­sen sich die­se Pa­ket-Lan­des­li­sten nicht mehr durch­hal­ten, es sei denn, man ist mit Wahl­be­tei­li­gun­gen von im Durch­schnitt 40% zu­frie­den. Die Fra­ge ist nur, wann dies die po­li­ti­sche Klas­se auf­nimmt.

  9. MERCI
    für die wirk­lich sa­gen­haft aus­führ­li­che Re­zen­si­on (und mit ihr ver­bun­den mei­ne Ent­schul­di­gung, dass ich mich nicht schon eher um Rück­mel­dung be­müht ha­be)!

    Die Schwer­punkt­set­zung ist in der Tat ein we­nig merk­wür­dig: War­um sich ei­ner »In­sti­tu­ti­on« wid­men, die für un­ser heu­ti­ges Zu­sam­men­le­ben nicht mehr re­le­vant ist? Das ein­zi­ge Ar­gu­ment – um sie wie­der­zu­be­le­ben, weil man von ih­ren Vor­tei­len über­zeugt ist und an ihr be­rei­chern­des Po­ten­zi­al glaubt – lässt Buch­stein mehr oder we­ni­ger fal­len, weil er sei­nen Aus­blicken kei­nen Raum zur Ent­fal­tung vor­be­hält.

    Sei­nen Vor­schlag ei­nes Hou­se of Lots hal­te ich für ... ja: für was ei­gent­lich? Ge­wagt? Ab­surd? Wie­vie­le EU-Bür­ger kön­nen sich rea­li­stisch vor­stel­len, sich für zwei­ein­halb Jah­re nach Brüs­sel ab­ord­nen zu las­sen? Viel­leicht liegt’s an der Vag­heit des Vor­schlags; an ei­nem grund­le­gen­den Un­be­ha­gen ge­gen­über sol­chen »vi­so­nä­ren In­itia­ti­ven«. Ich hab’ ja erst neu­lich noch bei mir ein paar Wor­te dar­über ver­lo­ren: wie re­si­gniert, wie ge­ra­de­zu rea­li­stisch und bo­den­stän­dig sich vie­le äu­ßern, wenn sie nach ih­ren Träu­men, ih­ren Sehn­süch­ten be­fragt wer­den. Da kommt nicht viel. De­pri­mie­rend. In­des: Wo­hin ein Hou­se of Lots als Plan­spiel (ähn­lich dem Fern­seh-Ex­pe­ri­ment, auf das Du schon an frü­he­rer Stel­le im Be­zug auf po­li­ti­sche Le­gi­ti­ma­ti­on ver­wie­sen hast) führ­te, wür­de mich wirk­lich in­ter­es­sie­ren.

    ...

    Mein ei­ge­ner Vor­schlag (Plan­spiel) macht mich stut­zig: Buch­steins Idee ist plötz­lich nicht mehr per se al­bern; es ist der feh­len­de »Strecken­fahr­plan«, der mich skep­tisch macht. Wä­re, wür­de der Weg grob vor­ge­zeich­net – vom Plan­mo­dell bis hin zur tat­säch­li­chen In­sti­tu­tio­na­li­sie­rung ... Kann es sein, dass es an von A bis Z durch­dach­ten Ideen man­gelt?

  10. Ja, ge­nau – dar­an man­gelt es. Er hat am En­de des Bu­ches noch 15 oder 20 Sei­ten Zeit, sein Hou­se of Lots vor­zu­stel­len und auch ein biss­chen in die Tie­fe zu gehen...aber da ist dann das Buch zu En­de. Buch­stein hat – da bin ich ziem­lich si­cher – die­se Ideen.

    So ab­surd fin­de ich den Ge­dan­ken nicht. Auch, dass die Bür­ger ei­ne Pflicht zur Teil­nah­me ha­ben (ähn­lich den Schöf­fen bzw. Ge­schwo­re­nen) hal­te ich nicht für ei­nen Feh­ler. Es hat doch durch­aus ei­nen ge­wis­sen Charme. Aber wenn, dann muss man die­se Kam­mer nicht nur als be­ra­ten­des, vor­schla­gen­des, in­iti­ie­ren­des Me­di­um im­ple­men­tie­ren, son­dern durch­aus auch mit ein­deu­ti­gen Rech­ten den an­de­ren In­sti­tu­tio­nen ge­gen­über. Im­pli­zit (aber auch nicht en dé­tail aus­ge­führt) wä­re ja ei­ne Stär­kung des (be­stehen­den) Eu­ro­päi­schen Par­la­ments not­wen­dig.

  11. Teil­nah­me­pflicht
    Je mehr ich drü­ber nach­den­ke, de­sto eher stim­me ich Dir zu.

    Un­ab­hä­nig da­von, aber der Sa­che doch nicht ganz ent­rückt: Was mir schon recht früh, als Dei­ne Re­zen­si­on noch in der Ab­stim­mungs­pha­se steck­te, ein­fiel, war ein ak­tu­el­les Bei­spiel für die In­pflicht­nah­me des Bür­gers – das ein­zi­ge Bei­spiel, das mir in den Kopf kam: Im Rah­men je­der Wahl kann ich als Wahl­vor­stands­vor­sit­zen­der – soll­te ein Mit­glied des Wahl­vor­stands: Schrift­füh­rer, Bei­sit­zer oder wer auch im­mer aus­fal­len – ei­nen Bür­ger zur Mit­wir­kung be­stim­men, um den rei­bungs­lo­sen Fort­lauf der Wahl si­cher­zu­stel­len. Das ist zwar kein Los im klas­si­schen Sin­ne, bei dem sich je­mand auf frei­wil­li­ger Ba­sis für ein Amt zur Ver­fü­gung stellt, aber den­noch ... Es ist mei­nes Wis­sens nach die ein­zi­ge Si­tua­ti­on, in der ich je­man­den tat­säch­lich in sei­ne Bür­ger­pflicht neh­men kann. Trau­rig, trau­rig.

  12. Hy­brid­par­la­ment
    Ich hät­te ja fol­gen­de Idee: Ein fik­ti­ves Par­la­ment um­fasst 300 Ab­ge­ord­ne­te. Da­von wer­den 200 ge­wählt, wie bis­her, und 100 aus der Grund­ge­samt­heit der wahl­be­rech­tig­ten Bür­ger (Par­tei­lo­sig­keit vor­aus­ge­setzt) durch das Los be­stimmt. Un­ter ei­ni­gen Kon­stel­la­tio­nen (Le­bens­si­tua­ti­on) kann der Los­ent­scheid ab­ge­lehnt wer­den, an­son­sten gilt er als Ver­pflich­tung und ist – setz­ten wir vor­aus -, mit ho­hem An­se­hen ver­bun­den.

    po­si­ti­ve Kon­se­quen­zen:

    • Bür­ger wer­den in Ver­ant­wor­tung ge­ho­ben und müs­sen sich (in de­mo­kra­ti­scher Hin­sicht) be­wäh­ren.
    • Der Be­ruf Po­li­ti­ker wird am ei­ge­nen Leib er­fah­ren, was zu ei­ner aus­ge­wo­ge­ne­ren Be­ur­tei­lung in wei­ten Krei­sen der Be­völ­ke­rung füh­ren soll­te.
    • Die Par­tei­en­do­mi­naz (Klub­zwang) wird teil­wei­se un­ter­lau­fen, da kei­ne Chan­ce be­steht vor dem Los Ein­fluß auf die Ab­ge­ord­ne­ten zu neh­men oder ir­gend­wel­che Rei­hun­gen zu er­stel­len.
    • Po­li­tik wird an­ders er­fah­ren, rückt nä­her zum Wäh­ler, und wird we­ni­ger ab­strakt
  13. Zahl­rei­che Fra­gen
    War­um ein Ver­hält­nis 2:1? War­um wä­re Par­tei­lo­sig­keit bei den »Aus­ge­lo­sten« vor­ge­schrie­ben? Wie be­geg­nen die »Aus­ge­lo­sten« den pro­fes­sio­nel­len Frak­tio­nen in die­sem Par­la­ment? Wie sol­len sie sich or­ga­ni­sie­ren? Wer kon­trol­liert die­ses »Hy­brid­par­la­ment«?

    Den­noch und ge­ra­de des­halb: EIn an sich sehr in­ter­es­san­ter Vor­schlag

  14. Ant­wor­ten (vor­läu­fi­ge)
    Das Ver­hält­nis zu­nächst des­halb, weil man kei­ne Er­fah­rung hat wie sich der Par­la­men­ta­ris­mus ent­wickeln wird, wenn plötz­lich 100 Lai­en »mit­mi­schen«. Die 200 »Pro­fis« sor­gen im Zwei­fels­fall da­für, dass das Sy­stem wei­ter funk­tio­niert. Das Ver­häl­ti­nis kann je nach wei­te­rer Ent­wick­lung ad­ap­tiert wer­den.

    Par­tei­lo­sig­keit ist des­halb vor­ge­schrie­ben, weil Par­tei­en ver­mut­lich ver­su­chen wer­den ih­re Mit­glie­der »an die Lei­ne zu neh­men«, d.h. Ein­fluss aus­zu­üben. Man braucht sich nicht die Mü­he zu ma­chen ein Lai­en­par­la­ment zu eta­blie­ren, wenn die Lai­en dann als »Stimm­vieh« miss­braucht wer­den.

    Man müss­te den Aus­ge­lo­sten Hil­fe in Form ei­nes be­ra­ten­den und un­ter­stüt­zen­den Sta­bes (der Auf­ga­ben über­nimmt, die in­ner­halb der pro­fes­sio­nel­len Frak­tio­nen er­le­digt wer­den) vor al­lem zu Be­ginn zur Sei­te stel­len, was – zu­ge­ge­ben – wie­der Ein­fluss­nah­me er­mög­licht.

    Die Or­ga­ni­sa­ti­on ist frei­ge­stellt (An­schluss an be­stehen­de Frak­tio­nen etc.), die Lai­en­par­la­men­ta­ri­er könn­ten aber ei­nen be­wuss­ten Ge­gen­part zu den eta­blier­ten Par­tei­en und Par­la­men­ta­ri­ern bil­den (das sie nur für ei­ne Pe­ri­ode be­stimmt wer­den brau­chen sie kei­ne Angst um ih­re Kar­rie­re o.ä. ha­ben). Lang­fri­sti­ge­re Zu­sam­men­schlüs­se hät­ten nur Sinn, wenn die Lai­en teil­wei­se an­zy­klisch ge­lost wer­den, d.h. die al­ten Ha­sen die Neu­en ein­wei­sen und Er­fah­run­gen wei­ter­ge­ben kön­nen.

    Die Kon­trol­le durch den Wäh­ler ent­fällt in­so­fern, da das Los nur für ei­ne Le­gis­la­tur­pe­ri­ode Gül­tig­keit be­sitzt, aber recht­fer­ti­gen müs­sen sich die Lai­en vor ih­ren Wahl­krei­sen (man könn­te im­mer aus be­stimm­ten, ab­wech­seln­den Wahl­krei­sen lo­sen).

  15. Vier Jah­re spä­ter, und auch nicht ge­ra­de ein »vi­sio­nä­res The­sen­pa­pier«, aber im­mer­hin ein kon­kre­ter Vor­schlag, der auf ei­ni­ge Pra­xis­er­fah­run­gen zu­rück­greift: das Bür­ger­par­la­ment, das nicht nur aus­ge­lost wird, son­dern auch nur für ganz kur­ze Zeit im Amt ist. Buch­stein – das sei di­rekt ge­sagt – teilt mei­nen »ra­di­kal­de­mo­kra­ti­schen Im­pe­tus« nicht, wie er sagt, aber wer sich mit der Idee aus­ge­lo­ster Par­la­men­ta­ri­er wei­ter be­schäf­ti­gen möch­te, wird hier schon die ein oder an­de­re Idee fin­den: