Hans-Pe­ter Schwarz: Hel­mut Kohl – Ei­ne po­li­ti­sche Bio­gra­phie

Hans-Peter Schwarz: Helmut Kohl - Eine politische Biographie

Hans-Pe­ter Schwarz: Hel­mut Kohl – Ei­ne po­li­ti­sche Bio­gra­phie

Mit »Em­pa­thie und zu­gleich kri­ti­scher Di­stanz« ha­be sich der Bio­graph sei­nem Sub­jekt zu nä­hern, so Hans-Pe­ter Schwarz im Epi­log sei­ner po­li­ti­schen Bio­gra­phie über Hel­mut Kohl. Der Le­ser hat dann be­reits 940 eng ge­druck­te Sei­ten (zzgl. rd. 90 Sei­ten An­no­ta­tio­nen) hin­ter sich ge­bracht. Schwarz’ Buch, das die Bereit­schaft, sich auf das po­li­ti­sche Le­ben Hel­mut Kohls en dé­tail ein­zu­las­sen, von sei­nem Le­ser mit ei­ner kon­se­quen­ten Ra­di­ka­li­tät ab­for­dert, liegt ei­nem zu die­sem Zeit­punkt wie ein Kloß im Ma­gen, ob­wohl es doch zu­nächst ein be­kömm­li­ches Ge­richt mit al­len­falls ge­le­gent­lich über­flüs­si­ger De­ko­ra­ti­on zu wer­den schien.

Da­bei sind die Vor­aus­set­zun­gen ide­al. Hans-Pe­ter Schwarz, der als »der« Ade­nau­er-Bio­graph gilt, ba­siert auf ei­ner um­fang­rei­chen, kom­ple­xen Quel­len­la­ge. So konn­ten Sit­zungs­pro­to­kol­le ein­ge­se­hen wer­den. Das Ar­chiv für Christ­lich-De­mo­kra­ti­sche Po­li­tik der Kon­rad Ade­nau­er-Stif­tung und das Pen­dant der Hanns-Sei­del-Stif­tung der CSU in Mün­chen stan­den zur Ver­fü­gung. Aus dem Un­ter­neh­mens­ar­chiv der Axel Sprin­ger AG wird zi­tiert. Am wich­tig­sten: 250 Schlüssel­dokumente zur Au­ßen- und Eu­ro­pa­po­li­tik aus dem Ar­chiv des Bun­des­kanz­ler­am­tes wur­den für Schwarz frei­ge­ge­ben, was die Kanz­ler­schaft Kohls zwi­schen 1982 und 1998 be­leuch­tet und zum Teil über­ra­schen­de Ein­blicke ge­währt. Schwarz führ­te Ge­sprä­che mit rund vier­zig po­li­ti­schen Weg­be­glei­tern (um nur ei­ni­ge zu nen­nen: Kurt Bie­den­kopf, Hei­ner Geiß­ler, Hans-Diet­rich Gen­scher, Klaus Kin­kel, Vol­ker Rü­he, Bern­hard Vo­gel, Walt­her Leis­ler Kiep), zi­tiert zum Teil aus de­ren Ta­ge­bü­chern (oft un­ver­öf­fent­lich­tes Ma­te­ri­al) und auch ge­le­gent­li­che Mit­tei­lun­gen Kohls an den Au­tor wer­den im An­mer­kungs­ap­pa­rat ver­merkt. Oft kom­bi­niert Schwarz die­se In­for­ma­tio­nen mit den zahl­reich ver­füg­ba­ren Me­moi­ren und Er­in­ne­rungs­bü­chern der da­ma­li­gen Prot­ago­ni­sten. All dies er­zeugt bis­wei­len ei­ne er­staun­li­che Echt­zeit­stim­mung, die den Le­ser in den be­sten Mo­men­ten di­rekt an die Kon­fe­renz­ti­sche führt. Man er­fährt wie Kohl vor­prescht, nach­gibt, ba­lan­ciert, an­ti­cham­briert, tak­tiert aber auch tobt und los­pol­tert. So ent­steht zu­wei­len ein multi­perspektivisches Bild aus rund 50 Jah­ren bun­des­deut­scher und eu­ro­päi­scher Po­li­tik.

So­li­der Ehr­geiz

Schwarz be­schäf­tigt sich zu­nächst aus­gie­big mit der po­li­ti­schen So­zia­li­sie­rung Kohls, die schon un­mit­tel­bar nach dem Krieg ein­setz­te. Blu­mig spricht er von dem »Bann­kreis« der neu ge­grün­de­ten, über­kon­fes­sio­nel­len CDU, in die der 16jährige Kohl 1946 ge­rät. Ein Jahr spä­ter wur­de er zum Mit­be­grün­der der »Jun­gen Uni­on« in sei­ner Hei­mat­stadt Ludwigs­hafen. Prak­tisch von An­fang an zeich­ne­te sich bei Kohl ein so­li­der Ehr­geiz ab, der sich in den weit­schwei­fi­gen (aber kei­nes­wegs lang­wei­li­gen) Aus­füh­run­gen Schwarz’ et­was ab­ge­mil­dert dar­stellt. Suk­zes­si­ve ar­bei­tet sich Kohl in den In­sti­tu­tio­nen der CDU nach oben; auch wäh­rend sei­nes Stu­di­ums. Sei­ne Dis­ser­ta­ti­on von 1958 über »Die po­li­ti­sche Ent­wick­lung in der Pfalz und das Wie­der­erste­hen der Par­tei­en nach 1945« nennt Schwarz »ei­nen Schnell­schuß«, »em­pi­risch fun­diert, al­ler­dings rein de­skrip­tiv«. War­um er den Ti­tel nicht we­nig­stens nennt, bleibt sein Ge­heim­nis.

Be­reits 1955 ist Kohl Mit­glied des Lan­des­vor­stands, 1959 Kreis­vor­sit­zen­der, 1961 stell­ver­tre­ten­der Frak­ti­ons­vor­sit­zen­der in Rhein­land-Pfalz – den Vor­sitz über­nimmt er zwei Jah­re spä­ter, (erst) 1964 Be­zirks­vor­sit­zen­der, 1966 end­lich Lan­des­vor­sit­zen­der und schon Mit­glied des Bun­des­vor­stands, 1969 Mi­ni­ster­prä­si­dent von Rhein­land-Pfalz, 1973 schließ­lich Par­tei­vor­sit­zen­der, was er bis 1998 blieb. Die ent­schei­den­de Ver­än­de­rung gab es 1976, als sich Kohl ent­schied, sich zum Kanz­ler­kan­di­da­ten wäh­len zu las­sen wer­den und trotz Nie­der­la­ge nach Bonn ging.

Die Kar­rie­re ist al­so ste­tig, wenn auch nicht oh­ne klei­ne Dämp­fer. Zu Be­ginn gibt Kohl sich als ju­gend­li­cher Re­for­mer, der die Par­tei er­neu­ern möch­te und oft ge­nug mit entspre­chender Un­ge­duld als Wort­füh­rer sei­ner Ge­ne­ra­ti­on auf­tritt. In der Re­gio­nal- und Kommunal­politik pflegt er ei­ne »Kon­fron­ta­ti­ons­stra­te­gie«. Der jun­ge Kohl ist re­bel­lisch, gibt sich aber ka­me­rad­schaft­lich, liebt lau­te Zwi­schen­ru­fe und be­nimmt sich bis­wei­len grob. Im­mer wie­der fällt er durch ge­schick­tes Ti­ming auf; streut Salz in die Wun­den der Ho­no­ra­tio­ren. Be­son­ders bra­chi­al de­mon­tiert er den Mi­ni­ster­prä­si­den­ten Pe­ter Alt­mei­er, dem er erst den Lan­des­par­tei­vor­sitz und dann, drei Jah­re spä­ter, den Ministerpräsidenten­posten ab­spen­stig macht. Kohl hat­te da be­reits ein fei­nes Netz von Mit­strei­tern und Gleich­ge­sinn­ten ge­spon­nen, wel­ches er im­mer wie­der aufs Neue ver­fei­ner­te; er galt als »Men­schen­samm­ler«. Die Strecke de­rer, die er spä­ter in der Hier­ar­chie der Par­tei »über­holt« hat, ist lang (sie wird durch­aus lust­voll aus­ge­brei­tet). Wer Kohl loy­al blieb, konn­te al­ler­dings Kar­rie­re ma­chen, aber bit­te nur un­ter ihm.

Gleich­zei­tig zeigt er sich, erst ein­mal in ei­nem Amt, als of­fen, neu­en Ideen zu­gän­gig und be­reit, zu­zu­hö­ren. Kohl gilt als folk­lo­ri­stisch, aber durch­aus auch pro­gres­siv. Er um­gibt sich nicht nur mit Ja­sa­gern aus dem Um­feld der Par­tei, son­dern ani­miert Quer­ein­stei­ger wie Kurt Bie­den­kopf, Hei­ner Geiß­ler, Ri­chard von Weiz­säcker, Ri­ta Süß­muth, Ro­man Her­zog oder auch we­ni­ger pro­mi­nen­ten Na­men wie Ru­pert Scholz. Wenn sich die Wahl als Fehl­griff her­aus­stellt und ein Fest­hal­ten nicht mehr op­por­tun er­scheint, ent­le­digt sich Kohl mit »jo­via­ler Bru­ta­li­tät« der Per­so­na­lie. Mit den­je­ni­gen die ihm zu macht­hung­rig oder auch ein­fach nur zu selb­stän­dig wer­den kommt es zu Span­nun­gen bis hin zum Zer­würf­nis. Nicht im­mer be­deu­tet dies das di­rek­te po­li­ti­sche Aus. Wer ein ähn­li­ches Steh­ver­mö­gen wie Kohl be­saß, konn­te po­li­tisch durch­aus über­le­ben – mit et­was Glück ge­lang so­gar ein Come­back (Bie­den­kopf).

Wo­für stand der streb­sa­me Pfäl­zer? Ging es ihm nur um Macht? Lei­der ver­steckt der Au­tor in ei­ner End­no­te zu Kohls er­ster Nach­wen­de­kanz­ler­schaft ei­ne lu­zi­de Be­mer­kung zum all­mäch­ti­gen Vor­wurf des »Macht­men­schen«. Schwarz hat recht, wenn er schreibt, dass die­ses Pa­ra­dig­ma »le­dig­lich das Selbst­ver­ständ­li­che auf den Punkt« bringt und jen­seits des plat­ten Aus­drucks nach Spe­zi­fi­zie­rung ver­langt: »Ist die­ser Macht­mensch ein ganz prin­zi­pi­en­lo­ser Ma­chia­vel­list, oder ver­folgt er doch Zie­le, die er mit lan­gem Atem durch­set­zen will?« So ent­deckt Schwarz beim jun­gen Hel­mut Kohl zwar auch ei­ne »sach­liche Agen­da«, die je­doch nicht auf Kohl-Spe­zi­fi­ka ab­ge­klopft wird. Tat­säch­lich woll­te Kohl das öko­no­misch eher hin­ter­her­hin­ken­de Rhein­land Pfalz mo­der­ni­sie­ren und ad­ap­tier­te den Fort­schritts-Zeit­geist (»au­to­ge­rech­te Städ­te«, Ge­biets­re­form, Schul­po­li­tik) – An­sin­nen, das er mit dem zur Ver­fü­gung ste­hen­den po­li­ti­schen Ent­schei­dungs­per­so­nal nicht schnell ge­nug an­ge­gan­gen sah. Die »Re­for­men« schie­nen sich so­mit zu­nächst dar­in zu er­schöp­fen, Per­so­nen aus­zu­wech­seln. Zwar gab es Theo­rien über Sinn und Zweck be­stimm­ter Pöst­chen (Tren­nung von Frak­ti­ons- und Par­tei­vor­sitz), aber am En­de war dies nur macht­stra­te­gisch re­le­vant. Erst ein­mal muss­te er in die ent­spre­chen­den Po­si­tio­nen kom­men.

Ade­nau­er und Er­hard

Kohls »Marsch durch die In­sti­tu­tio­nen« bleibt zu­nächst auf kom­mu­nal- und landes­politischer Ba­sis be­schränkt. Dass er par­al­lel hier­zu früh in der Bun­des­par­tei Fuß fass­te, be­deu­te­te nicht, dass er ei­nen Dis­sens in den es­sen­ti­el­len po­li­ti­schen Fel­dern der Bun­des-CDU hat­te. Eher im Ge­gen­teil. Kohl war »ei­ne Art lu­pen­rei­ner ‘En­kel’ Ade­nau­ers« (Schwarz) was die In­nen- und Si­cher­heits­po­li­tik und die West­bin­dung an­ging. Er war kein Bil­der­stür­mer: sei­ne ein­zi­ge wirk­li­che Her­zens­an­ge­le­gen­heit war die Ver­tie­fung der Eu­ro­päi­schen Ei­ni­gung, wie sie von Ade­nau­er und de Gaul­le auf den Weg ge­bracht wur­de. Und gleich­zei­tig un­ter­stütz­te er vor­be­halt­los Er­hards so­zia­le Markt­wirt­schaft. Schwarz zeigt schön, wie das At­tri­but »so­zi­al« in Be­zug auf die Markt­wirt­schaft für Kohl emi­nent wich­tig war – und blieb, auch wenn in den 1990er Jah­ren längst wirt­schafts­li­be­ra­le Theo­re­ti­ker vor al­lem in den an­gel­säch­si­schen Län­dern ideo­lo­gi­sches Ober­was­ser be­ka­men und ih­re Ge­sell­schaf­ten um­bau­ten. Ein Ar­beits- und So­zi­al­mi­ni­ster wie Nor­bert Blüm hät­te sich je­doch die ge­sam­te Kanz­ler­schaft Kohls über kaum hal­ten kön­nen, wenn er nicht die Po­li­tik sei­nes Chefs be­trie­ben hät­te. Die so­zia­len Ein­schnit­te und öko­no­mi­schen De­re­gu­lie­run­gen, die Kohl als Kanz­ler mach­te, wir­ken im Ver­gleich mit dem, was da­nach un­ter Rot-Grün ge­schah, wie lä­cher­li­ches Schräub­chen­dre­hen. In­ter­es­sant in die­sen Zu­sam­men­hang ist, wie Kohl die seit An­fang der 1980er Jah­re in den Start­lö­chern sit­zen­de wirt­schafts­li­be­ra­le FDP kaum zum Zu­ge kom­men liess. So bleibt es ein bis heu­te we­nig wahr­ge­nom­me­nes Pa­ra­do­xon, dass der Wirt­schafts­li­be­ra­lis­mus in der Bun­des­re­pu­blik erst zum Durch­bruch kam, als ih­re po­li­ti­schen Ver­tre­ter nicht mehr an der Macht wa­ren. En pas­sant gibt die­ses Buch auch ei­nen sehr in­struk­ti­ven Über­blick über die im­mer wie­der in Flü­gel­kämp­fen tau­meln­de und sich ver­zeh­ren­de FDP. Ne­ben den küh­len Machtprag­matikern, die sich da­mit be­gnü­gen im ein der an­de­ren Po­li­tik­feld Nu­an­cen kor­ri­gie­ren zu kön­nen, gab es so­wohl ei­nen wirt­schafts­li­be­ra­len Flü­gel als auch die so­ge­nann­ten »Links­li­be­ra­len«, die noch Re­si­du­en der so­zi­al-li­be­ra­len Ära hin­über­ret­ten woll­ten. Bei­de wur­den von Kohl fast ganz neu­tra­li­siert.

Da­bei setz­te Kohl im Ge­gen­satz nicht zu­letzt zu sei­nem Wi­der­part Franz-Jo­sef Strauß von An­fang an auf ei­ne Ko­ali­ti­on mit der FDP. Sei­ne fast phy­si­sche Ab­nei­gung den »Sozen« der SPD ge­gen­über ent­wickel­te sich bei ihm sehr früh. Schwarz in­si­nu­iert dies mit Kohls Kampf in Lud­wigs­ha­fen, ei­ner SPD-Hoch­burg, zu re­üs­sie­ren (was nur zwei­mal und sehr spät mit ei­nem Di­rekt­man­dat für den Deut­schen Bun­des­tag ge­lang). Mit sei­nen da­mals noch be­schei­de­nen Mit­teln be­kämpf­te Kohl das An­sin­nen der Gro­ßen Ko­ali­ti­on von 1966 das Mehr­heits­wahl­recht ein­zu­füh­ren. Die Ver­lockung ei­ner CDU/C­SU-Al­lein­herr­schaft war für ihn ge­rin­ger als der Alp­traum ei­ner even­tu­el­len SPD Re­gie­rung in der Zu­kunft. Am­bi­tio­nen für ei­ne Gro­ße Ko­ali­ti­on er­teil­te Kohl stets ei­ne Ab­sa­ge – auch, wenn sie ihm viel­leicht die Macht ein­fa­cher er­hal­ten hät­te. Mit Gen­scher war er seit En­de der 1960er Jah­re be­freun­det, aber es soll­te bis 1982 dau­ern, bis sich die­se Freund­schaft aus­zahl­te. (Be­reits En­de der 1980er Jah­re kühl­te sich dann das Ver­hält­nis ab; nach der Ein­heit war es dann wohl ei­sig ge­wor­den.)

Das Ka­pi­tel auf das War­ten auf den Pfer­de­wech­sel der FDP ist sehr ge­lun­gen. Zum er­sten und letz­ten Mal in sei­ner Kar­rie­re war Kohl pas­siv und be­gab sein po­li­ti­sches Schick­sal in frem­de Hän­de. Noch vor der Bun­des­tags­wahl 1980 hat­te sich Kohl in ei­nem stra­te­gi­schen Coup den Frak­ti­ons­vor­sitz für vier Jah­re ge­si­chert und die wei­te­ren Po­sten mit sei­nen Leu­ten be­setzt. Sein Re­gi­ment war straff: Er »führ­te nicht, er herrsch­te« zi­tiert Schwarz den ehe­ma­li­gen Frak­ti­ons­vor­sit­zen­den Rai­ner Bar­zel. Mehr­mals wird aus­ge­führt, dass für Kohl ei­ne Frak­ti­on prak­tisch nur als Ak­kla­ma­ti­ons­or­gan dient. Schwarz nennt es eu­phe­mi­stisch »Top-Down«-Prinzip und macht es als Kon­ti­nu­um deut­scher Re­gie­rungs­po­li­tik nach 1949 aus.

Kohl ver­mied es nach 1980 un­ter al­len Um­stän­den, sei­nen Freund Gen­scher zu drän­gen, um die Ab­wan­de­rungs­ef­fek­te in­ner­halb der FDP nicht all­zu groß wer­den zu las­sen. Die Sou­ve­rä­ni­tät der Par­tei soll­te er­hal­ten blei­ben. Den Grün­den für den Wech­sel ver­mag Schwarz kei­ne neue hin­zu­zu­fü­gen, aber hef­tig wen­det er sich ge­gen die The­se, die FDP ha­be da­mals Ver­rat an ih­ren Wäh­lern ver­übt (das Wort Ver­rat setzt er im­mer in An­füh­rungs­zei­chen).

Lau­ter über­flüs­si­ge Be­mer­kun­gen

Es ist ei­ne der Stel­len in Schwarz’ Buch, in dem sei­ne Par­tei­lich­keit mehr als deut­lich zu Ta­ge tritt. Wie Kohl pflegt Schwarz ein ve­ri­ta­bles Res­sen­ti­ment den so­ge­nann­ten »Links­liberalen« in der FDP ge­gen­über (hier­zu zählt er Leu­te wie Burk­hard Hirsch [er be­kommt das Ru­brum »Kohl-Has­ser« ver­passt], Ger­hart Baum und Sa­bi­ne Leu­theu­sser-Schnar­ren­­ber­ger). Aber auch Hel­mut Schmidt wird fast aus­schließ­lich ver­ächt­lich er­wähnt. Und Brandt, mit dem Kohl ein gu­tes Ver­hält­nis pfleg­te (wor­über man bei Schwarz nichts fin­det), kommt auch im Wie­der­ver­ei­ni­gungs­ka­pi­tel nur et­was aus­führ­li­cher vor, wenn es gilt, ein Zi­tat aus sei­nem Buch, in dem er den Sta­tus quo der Tei­lung ak­zep­tiert, als Be­leg da­für zu neh­men, wie er sich ge­irrt hat­te. Und dies ob­wohl Schwarz sel­ber dar­auf hin­weist, dass auch Kohl längst nicht mehr an die deut­sche Ein­heit als po­li­ti­sches Re­al­ziel glaub­te und Ade­nau­ers »Frei­heit vor Ein­heit« im­mer als un­ver­rück­ba­re Ma­xi­me be­trach­te­te. Aber wie Schwarz in sei­nen ei­nem sei­ner »Be­trach­tung« ge­nann­ten Zwi­schen­ka­pi­tel, in der die hi­sto­ri­schen Ab­läu­fe kur­so­risch noch ein­mal ana­ly­siert wer­den, die Ost­po­li­tik als ei­ne der Maß­nah­men, die dann spä­ter we­sent­lich zur Ein­heit bei­getra­gen ha­ben, ein­fach igno­riert, ist schon se­lek­tiv bis zur Ge­schichts­klit­te­rung. Die­sen Vor­wurf kann ich bei al­lem Re­spekt vor der Per­son des Bio­gra­phen nicht un­ter­drücken.

Schwarz macht sich Kohls zu­wei­len ins Pa­ra­no­ide stei­gern­de An­ti­pa­thie al­lem auch nur halb­wegs so­zi­al­de­mo­kra­ti­schen ge­gen­über zu ei­gen. Das er­klärt auch, war­um au­ßer Ru­dolf Schar­ping kein SPD-Po­li­ti­ker in sei­ner In­ter­view-Li­ste zu fin­den ist. So de­nun­ziert er Egon Bahr im Ge­spräch mit Mar­ga­ret That­cher als »rot an­ge­stri­che­nen Deutschnationale[n]«. Ist dies et­wa auch die Mei­nung des Bio­gra­phen? Ab­fäl­lig wer­den Hel­mut Schmidts Äu­ße­run­gen in der Zeit zu den Feh­lern der deut­schen Ein­heit kom­men­tiert – ei­ner, der sel­ber der­art de­sa­strös ge­wirt­schaf­tet ha­be re­ge sich nun über Kohls Fi­nan­zen auf. Un­ein­ge­schränkt da­ge­gen Schwarz’ Par­tei­nah­me für Theo Wai­gel, wie über­haupt die Kohl-Freun­de bei ihm nur ganz sel­ten mit de­spek­tier­li­chen At­tri­bu­ten ver­se­hen wer­den. Und mit Ver­ach­tung schreibt Schwarz im­mer wie­der von den »Ham­bur­ger Blät­tern« oder der »kri­ti­schen Pres­se« – als sei dies nicht ein Pleo­nas­mus! -, die den er­folg­rei­chen Bun­des­kanz­ler bei je­der Ge­le­gen­heit »her­un­ter­schrei­ben« (und sei­ne Geg­ner, wie bei­spiels­wei­se Lo­thar Späth, hoch­ge­schrie­ben hät­ten).

Lau­ter über­flüs­si­ge Be­mer­kun­gen, zu­mal Schwarz sehr in­struk­tiv er­klärt, war­um Kohl als Bun­des­kanz­ler­kan­di­dat be­reits En­de der 1970er Jah­re fast schon als Aus­lauf­mo­dell galt. Er hat­te die Bun­des­tags­wah­len 1976 trotz gu­tem Er­geb­nis ver­lo­ren und ging als Op­po­si­ti­ons­füh­rer vom hei­me­li­gen Rhein­land-Pfalz, in dem er – durch­aus er­folg­reich – re­giert hat­te, frei­wil­lig in das Hai­fisch­becken. Es gab gro­ße Pro­ble­me für ihn, im in­tri­gan­ten Bonn Fuß zu fas­sen; Strauß und die CSU ta­ten ein Üb­ri­ges. Im Fern­se­hen wirk­te er un­ge­lenk, sei­ne Rhe­to­rik ver­blass­te ge­gen die von Hel­mut Schmidt aber auch ge­gen­über Prot­ago­ni­sten aus dem ei­ge­nen La­ger wie Bie­den­kopf oder Strauß. Aber Kohl gab nicht auf, rei­ste viel, ließ sich coa­chen, wur­de si­che­rer im Auf­tre­ten. Den­noch war nach au­ßen sei­ne Op­po­si­ti­ons­zeit von Plei­ten, Pech und Pan­nen über­schat­tet, die den stei­len und wuch­ti­gen Auf­stieg des ba­rocken Pfäl­zers in Ver­ges­sen­heit ge­rie­ten ließ. (Spä­ter soll­ten zwei an­de­re Pfäl­zer Mi­ni­ster­prä­si­den­ten, dies­mal SPD-Po­li­ti­ker, ähn­li­che Er­fahrungen mit den Un­tie­fen der Bun­des­po­li­tik ma­chen.) Da­zu pass­te, dass er sich 1980 Franz-Jo­sef Strauß beug­te, der Kanz­ler­kan­di­dat wur­de. Er­hel­lend, wie Schwarz Strauß’ Kan­di­da­tur nicht et­wa aus­schließ­lich als tak­ti­sche Mei­ster­lei­stung Kohls für die end­gül­ti­ge »Be­sei­ti­gung« des Stö­ren­frieds durch die zu er­war­ten­de Nie­der­la­ge dar­stellt, son­dern die Um­stän­de de­tail­ge­nau er­läu­tert, die zu der No­mi­nie­rung führ­ten. Da­nach war Strauß bun­des­po­li­tisch ab­ge­mel­det (wenn auch nie ganz zum Schwei­gen ge­bracht) und konzen­trierte sich auf das Amt des baye­ri­schen Mi­ni­ster­prä­si­den­ten, aber ob dies wirk­lich von Kohl bis in die letz­ten Ver­äste­lun­gen stra­te­gisch an­ge­dacht war, muss man nach der Lek­tü­re be­zwei­feln.

Kohl hielt durch und wur­de 1982 Bun­des­kanz­ler. Und was ge­schah dann? Wer hofft, mehr über sei­nen po­li­ti­schen Vi­si­ons­rah­men jen­seits der »Ver­ei­nig­ten Staa­ten von Eu­ro­pa« zu er­fah­ren, wird auch bei Schwarz ent­täuscht. Nur in ei­nem Ne­ben­satz wird die auf­ge­bläht prä­sen­tier­te »gei­stig mo­ra­li­sche Wen­de« er­wähnt. Was Kohl dar­un­ter ver­stand, bleibt ver­bor­gen. Der Le­ser er­fährt, dass es im Ok­to­ber 1982 erst ein­mal dar­um ging, wann und wie Neu­wah­len statt­fin­den kön­nen (wo­bei die Be­to­nung auf das »wann« lag – man gän­gel­te den Bun­des­prä­si­den­ten Car­stens hin­sicht­lich des »wie«). Ei­ne al­ter­na­ti­ve Re­gie­rungs­pro­gram­ma­tik gab es »nicht ein­mal in va­gen An­sät­zen«. Da­her blieb – auch nach 1983 – vie­les beim Al­ten: Entspannungs‑, Sozial‑, Außen‑, Nach­rü­stungs­po­li­tik – Kohl führ­te auf vie­len Fel­dern die Po­li­tik der so­zi­al-li­be­ra­len Ko­ali­ti­on bis weit in die 1990er Jah­re fort, was es für die SPD um­so schwe­rer mach­te, sich als al­ter­na­ti­ve po­li­ti­sche Kraft zu in­sze­nie­ren. »In der In­nen­po­li­tik ist Hel­mut Kohl ein Prag­ma­ti­ker, in der Eu­ro­pa­po­li­tik ein Ge­stal­ter, in der Ab­rü­stungs­po­li­tik« der 1980er Jah­re »ein Ge­trie­be­ner« – der­art tref­fend fasst Schwarz die Bi­lanz der Kanz­ler­schaft von 1982 bis 1989 zu­sam­men.

Im­mer wie­der Eu­ro­pa

Das kon­ser­va­ti­ve Ele­ment, in Sonn­tags­re­den mit wol­ki­gen Wer­te­vo­ka­beln her­bei­zi­tiert, dien­te für Kohl nur als tro­ja­ni­sches Pferd für sein re­vo­lu­tio­nä­res Eu­ro­pa-En­ga­ge­ment. Die­ses be­glei­tet Schwarz in dem Buch in ei­ner Mi­schung aus Fas­zi­na­ti­on und Schau­der aber auch mit kri­ti­scher Sym­pa­thie. So kommt schon Set­zen von An­füh­rungs­zei­chen (bei­spiels­wei­se bei der Flut der »gro­ßen Eu­ro­pä­er«) ei­ne ge­wis­se Be­deu­tung zu. Süf­fi­sant ver­merkt der Bio­graph Kohls Nei­gung, in der Land­wirt­schafts­po­li­tik der EG »für die Bun­des­re­pu­blik stets kost­spie­li­ge Lö­sun­gen« ein­zu­ge­hen. Je­de Mark, die man hier hin­ein­stecke, sei gut an­ge­legt, wird der Bun­des­kanz­ler mehr­fach pa­ra­phra­siert. Mit ber­ser­ker­haf­ter In­ten­si­tät hat Kohl wäh­rend sei­ner Kanz­ler­jah­re die Eu­ro­päi­sche Ei­ni­gung, Er­wei­te­rung und, vor al­lem, die Wirt­schafts- und Wäh­rungs­uni­on nicht nur be­trie­ben, son­dern for­ciert. Noch im Herbst 1989, als die Welt atem­los gen Osten schau­te, be­schwor Kohl in Sit­zun­gen über den Mau­er­fall Eu­ro­pa nicht zu ver­ges­sen.

Die Stel­len, die das Zu­sam­men­spiel zwi­schen Kohl und dem »gaul­li­sti­schen So­zia­li­sten« Mit­ter­rand zei­gen, ge­hö­ren zu den Mei­ster­lei­stun­gen die­ses Bu­ches. Ge­schickt ver­stand es der Fran­zo­se, Kohl für sei­ne Plä­ne, der Zäh­mung der deut­schen Wirt­schafts­kraft – sym­bo­li­siert durch die DM – zu ge­win­nen. Ob es tat­säch­lich ein Feh­ler von Kohls In­ti­mus Telt­schik war, den Fran­zo­sen ei­ne Eu­ro­päi­sche Ver­tei­di­gungs­ge­mein­schaft vor­zu­schla­gen, so dass die­se so­zu­sa­gen im Ge­gen­zug ei­ne Eu­ro­päi­sche Wäh­rungs­uni­on auf die Agen­da brin­gen konn­ten, mag da­hin­ge­stellt sein. Fest steht aber: Die fran­zö­si­schen Plä­ne, die Do­mi­nanz der DM im EWS, die im­mer wie­der zu Ab­stür­zen des Fran­zö­si­schen Franc führ­te (die Kohl groß­zü­gig mit fi­nan­zi­el­len In­ter­ven­tio­nen ab­puf­fer­te; bspw. im März 1983), sind kein Re­sul­tat der Ein­heit, son­dern wur­den von Mit­ter­rand schon weit vor­her ver­folgt. »Mit sei­ner ziel­be­wuß­ten Po­li­tik, die do­mi­nie­ren­de Bun­des­re­pu­blik via EG zu kon­trol­lie­ren, rennt er bei Kohl of­fe­ne Tü­ren ein«, re­sü­miert Schwarz la­ko­nisch.

War­um die Ob­ses­si­on Eu­ro­pa ge­gen­über? Hier kom­men meh­re­re Fak­to­ren zu­sam­men: Zum ei­nen Kohls bio­gra­phisch be­ding­ter Hass auf al­les, was »na­tio­nal« ge­nannt wer­den könn­te (da­her, so klärt Schwarz auf, die Nei­gung zu an­de­ren, neu­tra­ler emp­fun­de­nen, aber ge­le­gent­lich miss­ver­ständ­lich ver­wen­de­ten For­mu­lie­run­gen wie »Pa­trio­tis­mus«, »Vater­land« oder »Hei­mat«). Des Wei­te­ren be­schleicht ihn ei­ne Art Mis­si­on, Ade­nau­ers Po­li­tik der West­bin­dung nicht nur zu ver­wal­ten oder fort­zu­set­zen, son­dern neu zu ord­nen und Deutsch­land dau­er­haft und un­wie­der­bring­lich in ei­nem in­sti­tu­tio­na­li­sier­ten Eu­ro­pa ein­zu­bet­ten. Noch bis in die 1990er Jah­re hin­ein sprach Kohl da­her wie selbst­ver­ständ­lich von den »Ver­ei­nig­ten Staa­ten von Eu­ro­pa« (ob­wohl er, wie es in ei­nem Pro­to­koll heißt, schon En­de der 1980er Jah­re da­von Ab­stand ge­nom­men ha­be). Kohl ver­stand dar­un­ter mehr als nur ei­nen Staa­ten­bund – er plä­dier­te sehr lan­ge für den eu­ro­päi­schen Bundes­staat, bis er dann schließ­lich im Rah­men der Ver­hand­lun­gen der Maas­tricht-Ver­trä­ge ein­sah, dass es hier­für kei­ne Mehr­heit gab. In der CDU gab es noch ei­ne ge­wis­se Zeit die Pa­ro­le, ei­ne »bun­des­staat­li­che« Ent­wick­lung sei an­ge­strebt.

Der En­thu­si­as­mus die­ser Idee ge­gen­über mag oft den Blick für das Mach­ba­re ge­trübt ha­ben und früh­zei­tig Ver­hand­lungs­po­si­tio­nen ge­räumt ha­ben, die prag­ma­ti­sche­re Re­gie­run­gen wie Frank­reich oder die fast im­mer eu­ro­pa­skep­ti­schen Bri­ten dann für ih­re Zwecke nut­zen konn­ten. Kohl sonn­te ich aber in der Rol­le, dass der öko­no­mi­sche Rie­se Deutsch­land po­li­tisch ein do­me­sti­zier­ter Zwerg blei­ben soll­te. Die­se macht­po­li­ti­sche Selbst­ka­stei­ung, ver­kauft als Un­der­state­ment, trau­te man ei­nem kon­ser­va­ti­ven Po­li­ti­ker gar nicht zu, galt es doch eher »links«, sich auf­grund der hi­sto­ri­schen Schuld dau­er­haft po­li­ti­schen Be­schrän­kun­gen auf­zu­er­le­gen. Bis heu­te ha­ben die Sa­lon­lin­ken nicht ver­stan­den, dass Kohls Ver­ei­ni­gungs­po­li­tik eben ge­ra­de nicht ein Groß­macht­stre­ben im­pli­zier­te, weil im­mer so­fort die Ein­bin­dung in die In­sti­tu­tio­nen Eu­ro­pas (und, nicht ganz un­wich­tig, der NATO) in­ten­diert war. Den ent­schei­den­den Satz zu Kohls Mo­ti­va­ti­on schreibt Schwarz zwar nicht, aber in dem er auf die oft ge­nug ver­un­glück­ten hi­sto­ri­schen Sym­bo­lak­tio­nen in Kohls Kanz­ler­schaft hin­weist (bei­spiels­wei­se Bit­burg), wird klar: Hier woll­te sich je­mand in die Ge­schichts­bü­cher schrei­ben – und zwar nicht als Feld­herr und Usur­pa­tor, son­dern als durch die Ge­schich­te ge­läu­ter­ter Frie­dens­po­li­ti­ker.

Tat­säch­lich wa­ren gro­ße Tei­le der SPD und spä­ter der Grü­nen im­mer ei­nen Hauch skep­ti­scher, was die Auf­ga­be na­tio­na­ler Sou­ve­rä­ni­tä­ten an­ging, als die Kohl­sche CDU (ei­ne be­son­de­re Aus­nah­me stellt Schwarz mit dem eu­ro­pa­freund­li­chen Josch­ka Fi­scher vor, den Kohl des­we­gen schätz­te). Auch die CSU schoss ge­le­gent­lich quer. Kohls Ab­nei­gung ge­gen­über ei­nem deut­schen Groß­macht­ge­ha­be ging der­art weit, dass er auch noch ver­fas­sungs­recht­li­che Be­den­ken für Aus­lands­ein­sät­ze der Bun­des­wehr vor­schob, als längst ab­seh­bar war, dass die­se vom Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt min­de­stens teil­wei­se re­la­ti­viert wür­den. Lie­ber öff­ne­te er be­reit­wil­lig im­mer wie­der die Geld­scha­tul­le.

329 Ta­ge

Fast hat man das Ge­fühl, Schwarz stuft die Ver­dien­ste Kohls um die eu­ro­päi­sche Ei­ni­gung noch hö­her ein als das Agie­ren in den 329 Ta­gen zwi­schen dem 9. No­vem­ber 1989 und 3. Ok­to­ber 1990. Tat­säch­lich glaub­te Kohl noch im Win­ter 1989 nicht an ei­ne schnel­le Ver­einigung mit der DDR. Schwarz’ Schil­de­rung, wie der ei­ni­ge Mo­na­te vor­her bei ei­ner Ka­bi­netts­ro­cha­de leer aus­ge­gan­ge­ne Ex-Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ster und Staats­recht­ler Ru­pert Scholz (ei­ner der er­folg­lo­sen Quer­ein­stei­ger) Kohl zum so­ge­nann­ten Zehn-Punk­te-Plan in den No­vem­ber­ta­gen 1989 über­re­det hat, ist neu und war bis­her nicht be­kannt. Ein­dring­lich er­zählt Schwarz au­gen­schein­lich Scholz’ Ver­si­on. Die Ver­kün­dung der Zehn Punk­te am 28. No­vem­ber 1989 war we­der mit Gen­scher und der CSU noch mit den Ver­bün­de­ten ab­ge­stimmt (Gen­scher presch­te da­für ei­ni­ge Mo­na­te spä­ter mit sei­nem Mo­dell des ver­ei­nig­ten Deutsch­land in der NATO oh­ne Ab­spra­che mit Kohl vor). Kohl nahm dies in Kauf und ge­wann da­mit das Heft des Han­delns für sich. Im wei­te­ren Ver­lauf der Schil­de­rung des Ei­ni­gungs­pro­zes­ses macht Schwarz kei­nen Hehl dar­aus, dass er den da­ma­li­gen ame­ri­ka­ni­schen Prä­si­den­ten Bush für wich­ti­ger hält als Gor­bat­schow, des­sen Wirt­schaft zu­neh­mend un­ter Druck ge­riet und durch­aus hin­sicht­lich der »Frei­ga­be« der DDR schwank­te. Im Ge­gen­satz zu den That­cher und Mit­ter­rand stand Bush dem Bei­tritt der DDR zur Bun­des­re­pu­blik fast un­ein­ge­schränkt po­si­tiv ge­gen­über. Gor­bat­schow wird – so die Dar­stel­lung von Schwarz – die Ein­heit am En­de prak­tisch ab­ge­kauft, um ihn in­nen­po­li­tisch zu sta­bi­li­sie­ren. In der EG muss Deutsch­land nun end­gül­tig ei­ner Eu­ro­päi­schen Wirt­schafts- und Wäh­rungs­uni­on zu­stim­men; noch setz­ten aber die Bun­des­bank-Kri­te­ri­en weit­ge­hend den Rah­men. Schwer ver­ständ­lich bleibt auch bei Schwarz’ Dar­stel­lung die zu­nächst for­mal­ju­ri­stisch be­grün­de­te Wei­ge­rung Kohls, die Oder-Nei­ße-Gren­ze an­zu­er­ken­nen, was vor­über­ge­hend zum Ver­druss mit Po­len führ­te.

Nein, Kohl sei die Ein­heit nicht »zu­ge­flo­gen«, so Schwarz. Er, der sich so oft nicht schnell fest­le­gen woll­te und Ent­wick­lun­gen ger­ne aus­ge­ses­sen hat, bis sich die ein oder an­de­re Rich­tung als die Prak­ti­ka­ble­re her­aus­stell­te, zeig­te ein be­mer­kens­wert ge­schick­tes und be­herz­tes Han­deln. Es gibt in­zwi­schen kaum je­mand, der dies ernst­haft in Zwei­fel zieht. Lei­der ver­säumt Schwarz aber auf die viel­leicht un­ver­meid­li­chen, aber doch dra­sti­schen Feh­ler hin­zu­wei­sen. Statt­des­sen wer­den al­le Ein­wän­de ab­ge­bü­gelt, als gin­ge es heu­te noch um Schuld­zu­wei­sun­gen. Vor al­lem kom­mu­ni­ka­tiv mach­te Kohl Feh­ler, weil er zwar den Eli­te-Dis­kurs der Po­li­tik do­mi­nier­te, aber die ver­un­si­cher­ten Bun­des­deut­schen im Un­kla­ren über die Fol­gen liess. Hier sind Par­al­le­len zum Vor­ge­hen der eu­ro­päi­schen Ei­ni­gung zu zie­hen, die zu­meist nicht der­art me­di­al ab­ge­lau­fen war.

Ba­steln am Le­bens­werk

Dass Kohl in der Le­gis­la­tur 1994–1998 nicht zu Gun­sten von Wolf­gang Schäub­le zurück­trat, dürf­te zwei Grün­de ge­habt ha­ben. Zum ei­nen war die Mehr­heit von CDU/CSU/­FDP äu­ßerst knapp (341:331) und es konn­te nicht si­cher­ge­stellt wer­den, dass al­le Stim­men Schäub­le zu­kom­men wür­den (die »Meuch­ler« hät­ten ih­re Stun­de ge­wit­tert). Zu­dem kur­sier­te das Ge­rücht, Schäub­le son­die­re für ei­ne Gro­ße Ko­ali­ti­on mit der SPD, um de­ren Blocka­de-Po­li­tik im Bun­des­rat auf­zu­wei­chen, die zeit­wei­se die In­nen­po­li­tik der Re­gie­rung zum Er­lie­gen brach­te. Zum an­de­ren aber, und das trieb Kohl viel mehr um, fürch­te­te er, dass Schäub­le die ge­mein­sa­me Wäh­rung bei den an­ste­hen­den Kon­fe­ren­zen der EG even­tu­ell wie­der neu be­fragt hät­te. Nur er war der Ga­rant für ein Durch­kom­men der Wirt­schafts- und Wäh­rungs­uni­on (EWWU); Schäub­le galt da­mals als »un­si­che­rer Kan­to­nist«. Ich ver­mu­te, dass Schwarz hier ein tref­fen­des Ar­gu­ment be­nannt hat, das weit über al­le an­de­ren Mut­ma­ßun­gen steht: Kohl woll­te nicht auf der Ziel­ge­ra­den sein Lebens­werk ge­fähr­den. Da­her muss­ten die ent­schei­den­den Wei­chen­stel­lun­gen, die zwei­te Stu­fe der EW­WU-Ver­hand­lun­gen, von ihm sel­ber durch­ge­führt wer­den. Schwarz ver­säumt es nicht, die Schwä­chen der Wirt­schafts- und Wäh­rungs­uni­on, die al­le­samt ih­re Ur­sa­chen in den Ver­hand­lun­gen der 1990er Jah­re ha­ben, zu be­nen­nen. Kohl und De­lors, die mit im­mensen An­stren­gun­gen den Maas­tricht-Ver­trag for­cier­ten so­wie die Ver­ein­ba­run­gen Jah­re 1996/97 zei­gen, dass es sich um ein ra­di­kal po­li­ti­sches Pro­jekt han­del­te, de­nen öko­no­mi­sche (und so­zia­le) Kom­po­nen­ten bru­tal un­ter­ge­ord­net wer­den. Die Schwä­che die­ses Aus­blen­dens zeigt sich seit ei­ni­gen Jah­ren im Kri­sen­ma­nage­ment der EU. Die Idee, ei­ne ge­mein­sa­me Wäh­rung sta­bi­li­sie­re den Zu­sam­men­halt Eu­ro­pas prak­tisch au­to­ma­tisch, hat sich als gro­ßer Feh­ler her­aus­ge­stellt. Gut ge­meint war auch hier das Ge­gen­teil von gut ge­macht.

Schäubles öf­fent­li­ches Ko­ket­tie­ren mit dem Amt des Bun­des­kanz­lers, sei­ne me­di­al in­sze­nier­te Un­ge­duld, die den­noch mit Un­ter­wür­fig­keit ver­setzt war, miss­fiel Kohl, der un­ter­des­sen die Pflöcke sei­nes Le­bens­wer­kes an den eu­ro­päi­schen Ver­hand­lungs­ti­schen ein­schlug. Schließ­lich kam es nur Ent­frem­dung; mit dem Par­tei­spen­den­skan­dal ei­ni­ge Jah­re spä­ter zur Ent­zwei­ung. Die Par­al­le­len zur ver­un­glück­ten Nach­fol­ge­po­li­tik Ade­nau­ers lie­gen auf der Hand – wie das gro­ße Vor­bild ge­lang Kohl kein Ab­schied in Wür­de. Al­ler­dings kann, wie Schwarz’ ein­mal schreibt, von ei­nem »Sturz« Kohls 1998 nicht die Re­de sein. Ei­ne de­mo­kra­ti­sche Ab­wahl ist kein Putsch.

Mit der Schil­de­rung der Par­tei­spen­den­af­fä­re, die Kohl den Eh­ren­vor­sitz der CDU ko­ste­te, be­ginnt das Buch zu ei­nem schwer ver­dau­li­chen Kloß zu wer­den. All­zu be­reit­wil­lig zeich­net Schwarz Kohls Ar­gu­men­ta­ti­on nach. Dass da je­mand sein Ver­spre­chen über das Ge­setz stellt, ist ihm ein Halb­satz wert. Das Mot­to lau­tet sa­lopp aus­ge­drückt: Die an­de­ren haben’s doch auch ge­macht. Schließ­lich ha­be Kohl al­les be­zahlt – so­wohl den fi­nan­zi­el­len Scha­den für die CDU als auch die hin­ter­zo­ge­nen Steu­ern. Hier schreibt Schwarz Kohls brä­si­ge Ar­ro­ganz, mit der er sich über den Rechts­staat er­hebt, all­zu be­reit­wil­lig fort. In­di­rekt wird sug­ge­riert, dass die me­dia­le Ent­rü­stung über Kohls Ver­hal­ten zum Frei­tod sei­ner Frau bei­getra­gen ha­be. Wäh­rend sich der Alt-Bun­des­kanz­ler mit sei­nen An­wäl­ten um die Wie­der­her­stel­lung sei­ner Re­pu­ta­ti­on ha­be küm­mern müs­sen, sei die schwer­kran­ke Han­ne­lo­re Kohl dar­an ver­zwei­felt.

Schwarz stei­gert sich fast in ei­nen Fu­ror hin­ein: Ei­ner nach dem an­de­ren wird ver­sto­ßen, ob es die Söh­ne Kohls sind, die, so weiß der Bio­graph, Pro­ble­me mit der fast gleich­alt­ri­gen neu­en Frau des Va­ters ha­ben oder der ein­sti­ge Ver­trau­te Han­ne­lo­re Kohls, der Jour­na­list He­ri­bert Schwan. Nor­bert Blüm und Wolf­gang Schäub­le wer­den, wie vom Ori­gi­nal so vom Bio­gra­phen, in den Or­kus be­för­dert. Und so­gar An­ge­la Mer­kel, die sich in der FAZ von Kohl di­stan­zier­te (und da­mit ex­akt so re­agier­te, wie der jun­ge Kohl zwei Jahr­zehn­te vor­her sei­ne Chan­ce ge­nutzt hät­te), fasst Schwarz mit spit­zen Fin­gern an. Als Licht­ge­stalt bleibt Dr. Mai­ke Kohl-Rich­ter üb­rig und die letz­ten 40 Sei­ten (»Der gol­de­ne Herbst des Pa­tri­ar­chen«) sind tat­säch­lich auf dem Hof­be­richt­erstat­tungs-Ni­veau.

Wenn man sich je­doch erst ein­mal auf den Sprach­duk­tus des Au­tors ein­ge­las­sen und die letz­ten Sei­ten ir­gend­wie be­wäl­tigt hat, ver­mag man ganz gut und mit Ge­winn zwi­schen den Zei­len zu le­sen. Schwarz’ Buch holt fast ne­ben­bei die al­te Bun­des­re­pu­blik noch ein­mal her­vor. Im Ge­gen­satz zu vie­len an­de­ren Bü­chern, die die po­li­ti­schen Vor­gän­ge die­ser Jah­re re­flek­tie­ren und ei­ne ge­wis­se po­li­ti­sche Idyl­le er­zeu­gen, ent­steht beim Le­ser ei­ne ve­ri­ta­ble Des­il­lu­sio­nie­rung. Das ist ver­mut­lich gut so. Denn frü­her war eben doch nicht al­les bes­ser.

4 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Wie im­mer bei Dei­nen Re­zen­sio­nen be­wun­de­re ich Dei­ne Akri­bie und die ge­konn­te sprach­li­che Um­set­zung Dei­ner kri­ti­schen Be­trach­tun­gen. Al­ler­dings wur­de ich beim Le­sen Das Ge­fühl nicht los, al­les schon mal ge­hört, ge­le­sen und dis­ku­tiert zu ha­ben, sechs­zehn elend lan­ge, blei­er­ne Jah­re. Die Kohl-Aera durch ei­ne dicke Schwar­te noch ein­mal als kal­ten Kaf­fee ser­viert zu be­kom­men, noch da­zu von ei­nem un­kri­ti­schen Ver­eh­rer, weckt bei mir so gar kei­ne Le­se­lust.
    Wenn ich aber an den prin­zi­pi­en­los tor­keln­den Po­li­tik­stil der nach­fol­gen­den und ge­gen­wär­ti­gen Re­gie­run­gen den­ke, er­scheint die Kohl-Aera ge­ra­de­zu hei­me­lig als Aus­bund von So­li­di­tät und Be­stän­dig­keit.

  2. Das tat­säch­lich fast auf­re­gen­de an die­sem Buch ist, dass in der so blei­ern emp­fun­de­nen Kohl-Zeit (die Jah­re 1994–98 wa­ren es ja wirk­lich) Ver­än­de­run­gen auf eu­ro­päi­scher Ebe­ne ver­han­delt und be­schlos­sen wur­den, die man da­mals in die­ser Kon­se­quenz gar nicht mit­be­kam. Nach dem Zu­sam­men­bruch des Ost­blocks gab es kein En­de der Ge­schich­te – es ging mun­ter vor­an und dies zum gro­ßen Teil un­ter Aus­schluss der Öf­fent­lich­keit, die sich da­für nicht in­ter­es­sier­te bzw. Me­di­en, die sich lie­ber über die Kopf­form und Lei­bes­fül­le des Bun­des­kanz­lers aus­lie­ssen als des­sen »Vi­sio­nen« zu the­ma­ti­sie­ren.

    Ich ha­be lan­ge über­legt, Kohls mehr­bän­di­ge Er­in­ne­run­gen zu le­sen, die von Leu­ten, die ich schät­ze, prak­tisch als un­les­bar de­kla­riert wur­den. Da kam mir die­ses Buch ei­gent­lich ganz gut. Auch wenn Schwarz aus sei­ner Sym­pa­thie kei­nen Hehl macht, gibt es Di­stanz.

  3. »Die er­ste Lieb ich un­ter mir.
    Das Zwei­te über­haupt.
    Das Gan­ze tau­schet für und für,
    daß nie­mand mehr ihm glaubt.«

    /Heinrich HEINE/