LOOK! (II)

[hier Teil I]

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LOOK! Das sagt, ganz tra­di­tio­nell, seit Jahr­hun­der­ten, das Dirndl­kleid, das sich seit ei­ni­gen Jah­ren wie­der gro­ßer Be­liebt­heit er­freut, nach­dem es lan­ge Zeit (und zu un­recht) als Sym­bol erz­kon­ser­va­ti­ver Sit­ten ver­pönt war.

»Schau mich nicht an!« sagt die deut­sche Jour­na­li­stin Lau­ra Him­mel­reich in ih­rem Ar­ti­kel über ei­nen, nun ja, kon­ser­va­ti­ven oder li­be­ra­len oder egal­was Po­li­ti­ker; wahr­schein­lich ist er nur Mit­tel­maß, Pro­dukt ei­ner öden po­li­tisch-mo­ra­li­schen Kul­tur. Der Po­li­ti­ker hat sie an­ge­schaut; mit den Wor­ten der Jour­na­li­stin: »Brü­der­les Blick wan­dert auf mei­nen Bu­sen.« Der Kom­men­tar des ge­sprä­chi­gen Man­nes, der wohl schon ein paar Glä­ser ge­trunken hat: »Sie könn­ten ein Dirndl aus­fül­len.« Die Be­mer­kung, durch­aus ein we­nig geist­reich, ist ihm ver­mut­lich des­halb ein­ge­fal­len, weil die Jour­na­li­stin kurz zu­vor ge­meint hat­te, auf dem Ok­to­ber­fest wür­de sie schon mal Al­ko­hol trin­ken; in der Ho­tel­bar, wo die Sze­ne spielt, trinkt sie – fi­gur­be­wußt? – Co­la Light. Der Flirt, den der Mann in der Fol­ge ver­sucht, ist ziem­lich müh­sam, für die Frau wohl un­an­ge­nehm, das kann ich gut nachvoll­ziehen, zu­mal der Al­ters­un­ter­schied zwi­schen den bei­den fast vier Jahr­zehn­te be­trägt. Him­mel­reich könn­te gut und gern Brü­der­les En­ke­lin sein.

Die Sze­ne in der Ho­tel­bar und der Be­richt dar­über, der Pri­va­tes öf­fent­lich macht und die po­li­ti­schen Qua­li­tä­ten oder Män­gel des Po­li­ti­kers auf sich be­ru­hen läßt, wur­de in den Me­di­en und in der deut­schen Be­völ­ke­rung end­los kom­men­tiert, und auch Über­druß an­ge­sichts des me­dia­len Bla­blas wur­de un­er­müd­lich ge­äu­ßert. Im In­ter­net be­rich­ten Frau­en seit­dem ton­nen­wei­se – ach ja, das In­ter­net hat gar kein Ge­wicht – von Erfah­rungen, die sie dem gras­sie­ren­den Se­xis­mus zu­ord­nen. Mei­stens zu recht, aber in man­chen Wort­mel­dun­gen kommt ein mehr oder min­der star­kes Maß an Pa­ra­noia zum Aus­druck. Wo Men­schen ver­bal, mit­un­ter auch tät­lich ver­folgt wer­den, lau­ert un­wei­ger­lich die Ver­fol­gungs­angst. Die männ­li­chen Sät­ze und Ge­sten, von de­nen die­se Frau­en er­zäh­len, sind un­glaub­lich dumm, be­schä­mend, mei­stens wohl auch kon­tra­pro­duk­tiv. In ei­nem Buch der ame­ri­ka­ni­schen Jour­na­li­stin Han­na Ro­sin, über das ich spä­ter noch ei­ni­ges sa­gen wer­de, tre­ten Kar­rie­re­frau­en auf, die, nach Se­xis­mus am Ar­beits­platz be­fragt, mei­nen, die­se Din­ge sol­le man ein­fach igno­rie­ren, das Ver­hal­ten sol­cher Män­ner sei ein­fach nur lä­cher­lich. Nicht je­de ist frei­lich so ei­ne star­ke, selbst­be­wuß­te Frau, und auf der Stra­ße, in Um­ge­bun­gen, die man nicht so ge­nau ein­schät­zen kann, ist es viel schwie­ri­ger, die Sät­ze und Ge­sten ein­fach an sich ab­pral­len zu las­sen.

2011 tauch­te im In­ter­net ein kur­zes ar­gen­ti­ni­sches Vi­deo mit dem Ti­tel »Aco­so se­xu­al cal­le­je­ro« auf, es geht dar­in um »se­xu­el­le Be­lä­sti­gung auf der Stra­ße«. Der Film ist wit­zig, mit sehr ein­fa­chen Mit­teln ge­macht, aus­sa­ge­kräf­tig, er trifft ins Ziel. Das Op­fer, das man auf der Stra­ße ge­hen sieht, ist kei­ne Frau, son­dern ein net­ter jun­ger Mann, der sich an­fangs über die Kom­pli­men­te freut, die er von hüb­schen Frau­en er­hält, dann aber zu­neh­mend un­an­ge­nehm be­rührt und zu­letzt re­gel­recht ver­stört ist durch die im­mer ag­gres­si­ve­ren Sprü­che, in de­nen die (aus­ge­blen­de­ten) »pa­la­bro­tas« über­hand neh­men, die vul­gä­ren Wör­ter und Wen­dun­gen. Der Witz des Films lebt von die­ser Um­keh­rung, und na­tür­lich auch vom Ta­lent der Schau­spie­le­rin­nen, die die­se Sze­nen sehr na­tür­lich er­schei­nen las­sen. Die Bot­schaft, die am Schluß in dicken Let­tern ver­bal for­mu­liert wird, lau­tet: Möch­test du, jun­ger (oder nicht mehr jun­ger) Mann, daß man das mit dir macht? Nicht nur ein­mal, an ei­nem un­ge­wöhn­li­chen Tag, son­dern stän­dig, tag­täg­lich, seit du elf Jah­re alt bist, und bis in dein fort­ge­schrit­te­nes Al­ter? Der letz­te Satz des Clips lau­tet: »De­já ca­mi­nar en paz por la cal­le«, wört­lich über­setzt: Laß uns in Frie­den durch die Stra­ßen spa­zie­ren. Ein schö­ner, aber im­mer noch from­mer Wunsch.

In den Dis­kus­sio­nen zum Vi­deo wur­de oft­mals die Fra­ge auf­ge­wor­fen, wo denn der Un­ter­schied zwi­schen ei­nem »pi­ro­po«, ei­nem Kom­pli­ment, und se­xu­el­ler Be­lä­sti­gung lie­ge. Ein All­tags­le­ben ganz oh­ne »pi­ro­pos« ist in Ar­gen­ti­ni­en für vie­le Men­schen, auch für wohl­ge­sinn­te Män­ner, un­vor­stell­bar. Ei­ne end­gül­ti­ge Ant­wort auf die­se Fra­ge kann es je­doch nicht ge­ben, sie hängt von der je­wei­li­gen Si­tua­ti­on und den be­tei­lig­ten Per­so­nen ab. Der völ­li­ge Ver­zicht auf Kom­pli­men­te, von Män­nern an Frau­en und um­ge­kehrt, ist ein An­zei­chen für ei­ne asep­ti­sche Ge­sell­schaft, wo al­les fein säu­ber­lich ge­trennt ist, auch die Ge­schlech­ter.

Ich le­be seit elf Jah­ren in Ja­pan. »Pi­ro­pos« auf der Stra­ße sind hier un­üb­lich, und Fäl­le, in de­nen Frau­en in der Öf­fent­lich­keit be­lä­stigt wer­den, al­les in al­lem doch ziem­lich sel­ten. Auch gibt es im Ver­gleich zu an­de­ren Län­dern we­nig Ge­walt­ver­bre­chen. Ei­ni­ger­ma­ßen selbst­be­wuß­te Frau­en kön­nen sich in den mei­sten Ge­gen­den frei be­we­gen, auch abends, auch nachts, sie müs­sen nicht stän­dig auf der Hut sein.

Die Be­rich­te deut­scher Frau­en auf Twit­ter spre­chen ei­ne an­de­re Spra­che. Sie zei­gen, daß es Frau­en dort sehr oft nicht mög­lich ist, un­be­schwert um­her­zu­ge­hen, sich die Um­ge­bung an­zu­se­hen oder ein­fach nur da­zu­ste­hen. Die Frei­heit der Be­we­gung und des Schau­ens ist aber, so emp­fin­de ich es, ein Men­schen­recht. Se­xi­sti­sche Über­grif­fe be­rau­ben die Be­troffenen die­ses Rechts. An­de­rer­seits gibt es auch das Recht, sei­ne Mit­men­schen anzu­sprechen, sich mit ih­nen in Be­zie­hung zu set­zen. Zwi­schen den bei­den Rech­ten liegt das wei­te Feld des von Takt und An­stand, Höf­lich­keit und Sen­si­bi­li­tät, auch Sprachgewandt­heit, Auf­merk­sam­keit, Ur­teils­ver­mö­gen. Al­le die­se Din­ge schei­nen den Men­schen in den neo­li­be­ra­li­sier­ten Ge­sell­schaf­ten mehr und mehr ab­han­den ge­kom­men zu sein. Se­xis­mus ist kein Ver­hal­ten von Ewig­gest­ri­gen, er fin­det in ei­ner Zeit, da die all­ge­gen­wär­ti­ge Wer­bung ero­ti­sie­rend wirkt und die Flirt- und Ca­sting­shows der Un­ter­hal­tungs­me­di­en ein Mas­sen­pu­bli­kum fin­den, ei­nen neu­en Nähr­bo­den.

Auf der ei­nen Sei­te kla­gen zahl­lo­se Frau­en (und man­che Män­ner) über die se­xi­sti­sche Wirk­lich­keit; ver­schie­de­ne In­sti­tu­tio­nen er­grei­fen prä­ven­ti­ve Maß­nah­men ge­gen se­xu­el­le Be­lä­sti­gung und ver­su­chen, die Be­zie­hun­gen zwi­schen den Ge­schlech­tern zu re­gu­lie­ren. Auf der an­de­ren Sei­te be­wer­ten Post­fe­mi­ni­stin­nen wie Han­na Ro­sin den an­geb­lich stei­gen­den Anal­ver­kehr in se­xu­el­len Be­zie­hun­gen als Zei­chen für das neue Selbstbewußt­sein der Frau­en und schrei­ben un­ter Be­ru­fung auf wis­sen­schaft­li­che Unter­suchungen Sät­ze wie die­sen: »Mehr Sex be­deu­tet ein fe­mi­ni­stisch ge­sinn­tes Land.« Auf der ei­nen Sei­te will man ge­schlechts­neu­tra­le Hör­sä­le und Ar­beits­plät­ze, auf der an­de­ren Sei­te ist ei­ne Aufriß­kultur ver­brei­tet, in der auch Frau­en ein Kon­kur­renz- und Lei­stungs­ver­hal­ten an den Tag le­gen, wie man es tra­di­tio­nell von Män­nern er­war­tet. Ro­sin be­han­delt so­gar ei­nen an­geb­lich neu­en Ty­pus von Mör­de­rin­nen als Ar­gu­ment für ih­re The­se vom Auf­stieg der Frau­en. Der »Hook-up«, schreibt Ro­sin (ih­re Über­set­zer fin­den es un­nö­tig, das Wort zu über­set­zen), der Hook-up sei »stark mit all dem ver­bun­den, was für die Frau­en im Jahr 2012 phan­ta­stisch ist: die Frei­heit, die Un­ab­hän­gig­keit, das Wis­sen, daß man sich im­mer auf sich selbst ver­las­sen kann.« Was sie über die Auf­rei­ße­rIn­nen und de­ren Prak­ti­ken er­zählt, ver­rät vor al­lem Lieb­lo­sig­keit, Uti­li­ta­ris­mus und marktwirtschaft­liches Den­ken in mensch­li­chen Be­zie­hun­gen. Ro­sin er­wähnt in die­sem Zu­sam­men­hang Ka­ren Owen, die als jun­ge Stu­den­tin der Du­ke-Uni­ver­si­ty nach dem Mu­ster ei­ner Se­mi­nar­ar­beit ei­ne Li­ste von 13 männ­li­chen Stu­den­ten ih­rer Uni­ver­si­tät, mit de­nen sie ge­schla­fen hat­te, samt Bewer­tungen ih­rer »per­for­man­ces« er­stell­te. Die Power­point-Prä­sen­ta­ti­on ist auf You­tube abruf­bar und spricht Bän­de so­wohl über die un­ter jun­gen Leu­ten gän­gi­ge Miß­ach­tung der Privat­sphäre (der ei­ge­nen wie der der an­de­ren), als auch über die Ver­ro­hung des Um­gangs zwi­schen den Ge­schlech­tern, die an man­chen ame­ri­ka­ni­schen Uni­ver­si­tä­ten of­fen­sicht­lich in der »Hook-up-Kul­tur« gip­felt. Ka­ren Owen hat sich für ih­re Af­fä­ren aus­schließ­lich Sport­ler ge­sucht, Fit­neß­cen­ter­ty­pen, und sie zö­gert nicht, bei der Aus­wer­tung ih­rer »Da­ten« der Pe­nis­grö­ße ih­rer sport­li­chen Part­ner und der zeit­lich ver­mes­se­nen Sexual­potenz ei­nen wich­ti­gen Stel­len­wert ein­zu­räu­men. Das Gan­ze ist ver­mut­lich als Scherz ge­dacht, oder auch nicht, die Be­weg­grün­de wer­den mir nicht klar. Ist es ein Scherz, dann ein schlech­ter, men­schen­ver­ach­ten­der Scherz, der den übel­sten se­xi­sti­schen Wit­zen nicht nach­steht.

Ne­ben der So­zio­lo­gin Eliza­beth Arm­strong, die ur­sprüng­lich den se­xu­el­len Miß­brauch un­ter Stu­den­tin­nen er­for­schen woll­te, dann auf Hook-up um­schwenk­te, als sie die Wirk­lich­keit des von ihr ins Au­ge ge­faß­ten Stu­den­ten­heim sah, zi­tiert Ro­sin auch den Psy­cho­lo­gen Phil­ip Zim­bar­do. In ei­ner wis­sen­schaft­lich an­ge­hauch­ten Talk­show sieht man den bald acht­zig­jäh­ri­gen Pro­fes­sor mit nach­ge­färb­tem schwar­zem Haar breit­bei­nig, aber sehr vi­tal auf der Büh­ne, wie er sich über die Be­zie­hungs­un­fä­hig­keit »un­se­rer Jun­gen« aus­läßt. Be­re­det spricht er von der In­ter­net­sucht, die be­reits ei­ne Mehr­heit er­faßt ha­be und vor al­lem Por­no­gra­phie zum In­halt ha­be. Die jun­gen Män­ner ha­ben Zim­bar­dos sei­nen Un­ter­su­chun­gen zu­fol­ge kei­ne Re­al­kon­tak­te mehr, be­son­ders mit Frau­en tä­ten sie sich schwer. Ein durch­schnitt­li­cher Jun­ge, »an avera­ge boy«, kon­su­mie­re zir­ka fünf­zig por­no­gra­phi­sche Vi­de­os pro Wo­che. Die Por­no­in­du­strie sei in den USA ein­deu­tig der Wirt­schafts­zweig mit den größ­ten Zu­wachs­ra­ten. In die­sen Fak­ten sei die Ur­sa­che zu su­chen, wes­halb die jun­gen Män­ner kei­nen Sinn mehr hät­ten für Lie­be und – die­ses Wort wird an sol­chen Stel­len von den Fach­leu­ten im­mer wie­der ge­braucht – für Ro­man­tik. Por­no statt Ro­man­tik: Ka­ren Owen, die star­ke Auf­rei­ße­rin, ist ein per­fek­tes Bei­spiel da­für.

Ame­ri­ka ist welt­weit der größ­te Por­no­gra­phie­pro­du­zent, und zu­gleich sind an den Uni­ver­si­tä­ten wie an zahl­rei­chen an­de­ren In­sti­tu­tio­nen die­ses Lan­des die Re­geln zur Ver­hin­de­rung von se­xu­el­ler Be­lä­sti­gung und ne­ga­ti­ver Dis­kri­mi­nie­rung der Frau­en ri­go­ro­ser als an­ders­wo. In sei­ner vor­herr­schen­den Ideo­lo­gie ist das Land mo­ra­lisch kon­ser­va­tiv, in der Pra­xis aber oft mo­ra­lisch ver­kom­men. Ganz egal, ob je­ne Ver­si­on der Wirk­lich­keit zu­trifft, der­zu­fol­ge die jun­gen, por­no­süch­ti­gen Män­ner ver­klemmt sind, oder die an­de­re Ver­si­on, die be­sagt, jun­ge Stu­den­ten, die künf­ti­ge Eli­te des Lan­des, wür­den im All­tag ei­ne kaum be­schränk­te se­xu­el­le Frei­zü­gig­keit le­ben. 2005, nach der Veröffent­lichung ei­nes Buchs über »Adal­bert Stif­ter und die Freu­den der Bi­got­te­rie«, wur­de ich öf­ters ge­fragt, was ich denn un­ter »Bi­got­te­rie« ver­stün­de. Es fällt mir im­mer noch schwer, das Wort ge­nau zu de­fi­nie­ren. Manch­mal ver­wies ich auf die da­mals von ei­nem christ­lich-fun­da­men­ta­li­sti­schen Prä­si­den­ten ge­führ­ten USA und ih­re Por­no­in­du­strie.

Was heißt ei­gent­lich »ro­man­tisch«? Das Wort ist ei­ne der zahl­lo­sen Flos­keln, mit de­nen die glo­ba­le Me­di­en­spra­che und folg­lich die (eben­so glo­ba­le) Um­gangs­spra­che ver­seucht ist. Wenn sie »ro­man­tisch« sa­gen, mei­nen sie ge­fühl­voll, zärt­lich, ver­ständ­nis­voll. Eigen­schaften, die sich für die Beu­te­zü­ge in der Wall Street und beim Auf­riß am Cam­pus si­cher nicht eig­nen. Und wo­für eig­nen sie sich? Für nichts, sie sind Selbst­zweck, höch­stens noch für ei­nen an­de­ren Men­schen be­stimmt, für den oder die ei­ne, die ich lie­be. Das un­ge­fähr meint »ro­man­tisch« in der glo­bal-me­dia­len Flos­kel­spra­che. Liz Arm­strong und ih­re Mit­ar­bei­ter hat­ten er­war­tet, un­ter den Frau­en des von ih­nen un­ter die Lu­pe ge­nom­me­nen Stu­den­ten­wohn­heims auf Op­fer se­xu­el­len Miß­brauchs zu sto­ßen, aber sie hat­ten das Ge­gen­teil ge­fun­den, »näm­lich Frau­en, die ihr Lie­bes­le­ben wie aus­ge­buff­te Kopf­jä­ger ma­nag­ten« – so liest sich der Kom­men­tar Han­na Ro­sins, die das al­les of­fen­bar gut fin­det, ein wei­te­res Mo­sa­ik­stein­chen für ihr Bild (oder Wunsch­bild?) ei­nes über­wäl­ti­gen­den welt­wei­ten Auf­stiegs der Frau­en. »Ehr­gei­zi­ge Frau­en ge­hen da­von aus, daß ei­ne Be­zie­hung ähn­lich auf­wen­dig ist wie ein Haupt­se­mi­nar, und da­für ha­ben sie nicht im­mer Zeit, al­so ent­schei­den sie sich für ei­nen Hook-up, der we­ni­ger zeit­rau­bend ist«, hat­te Arm­strong ih­rer Kol­le­gin er­klärt. Das nen­ne ich Nütz­lich­keits­den­ken, Uti­li­ta­ris­mus – ei­ne (nord­amerikanische?) Tu­gend, de­ren Sinn un­be­darf­te süd­ko­rea­ni­sche Stu­den­tin­nen, von der Wo­ge der Frau­en­power noch nicht er­faßt, über­haupt nicht ver­ste­hen, wie Ro­sin in Seo­ul mit ei­ge­nen Oh­ren nach­prü­fen konn­te: »... und Mi­ki ant­wor­tet mit ei­nem Piepsstimm­chen.« Kei­ne Power, kein Ehr­geiz, kein Self­ma­nage­ment. Zum Glück gibt es auch in Seo­ul ein paar star­ke jun­ge Frau­en, die die piep­si­gen Mäd­chen auf Vor­der­mann brin­gen wer­den.

In In­dia­na­po­lis ist das nicht mehr nö­tig, die Stu­den­tin­nen ken­nen und wol­len nichts an­de­res, als mög­lichst rasch ei­ne Er­folgs­lei­ter em­por­stei­gen und ih­rem Weg al­les an­de­re un­ter­zu­ord­nen, zum Bei­spiel ihr Se­xu­al­le­ben. Mit »Be­zie­hung« ist of­fen­bar das ge­meint, was man frü­her »Lie­be« nann­te. Da­für las­sen die dich­ten Stun­den­plä­ne kei­nen Raum, kei­ne Zeit. Die von Ro­sin schwung­voll ge­schil­der­ten Power­frau­en ha­ben so viel um die Oh­ren, daß man sich fragt, wann sie denn schla­fen. Da gibt es zum Bei­spiel ei­ne jun­ge al­lein­er­zie­hen­de Mut­ter, die ih­re drei Kin­der mor­gens um sie­ben zur Schu­le bringt, dann bis drei Uhr nach­mit­tags auf ein Col­lege geht, um sich fort­zu­bil­den, um schließ­lich von sechs Uhr abends bis drei Uhr mor­gens für ei­ne Steu­er­be­hör­de zu ar­bei­ten. Wie soll das ge­hen? Zwi­schen 17 und 18 Uhr holt sie ver­mut­lich die Kin­der ab? Oder ist sie, wie ei­ni­ge an­de­re Power­frau­en in Ro­sins Buch, reich, kann sich Kin­der­mäd­chen lei­sten? Wenn die Au­torin vom Um­gang der El­tern mit ih­ren Kin­dern spricht, ist mei­stens nur von de­ren »day« die Re­de, das heißt vom Stun­den­plan. Den zu ken­nen, ist für vie­le das Höchst­maß an »Be­zie­hung« zum Kind. Schon die Klein­kin­der die­ser Er­folg­rei­chen sind ent­setz­lich ein­ge­spannt. Da­bei le­ben wir in ei­ner Welt, in der Ar­beit im­mer knap­per wird und, in ei­nem an­de­ren Denk­mo­dell, nach ge­rech­te­rer Ver­tei­lung ver­langt. Trotz­dem ar­bei­ten die, die wel­che ha­ben, im­mer mehr. Hin­zu kommt, daß der Sinn von neu ent­ste­hen­den Ar­bei­ten, Dienst­lei­stun­gen ver­schie­den­ster Art, Or­ga­ni­sa­ti­ons­kram, Tä­tig­kei­ten im Be­reich von Si­cher­heit und Kon­trol­le – daß der Sinn die­ser »Ar­bei­ten« oft mehr als frag­wür­dig ist. Aber Fra­gen, die in die­se Rich­tung ge­hen, stellt man sich nicht. Haupt­sa­che, man/frau ist er­folg­reich. Bei Face­book, Twit­ter, bei Phar­ma- und Bio­kon­zer­nen, die wo­mög­lich mehr Scha­den an­rich­ten als Nut­zen brin­gen. In Rechts­be­ra­tungs­fir­men, die den Kon­zer­nen ih­re Co­py­rights si­chern. Schö­ne neue Welt, noch da­zu weib­lich! Klar, für Ro­man­tik ist da kein Platz.

Han­na Ro­sin be­sucht ei­ne High School in Alex­an­der Ci­ty, Ala­ba­ma. Elf­te Klas­se, Englisch­unterricht, auf dem Lehr­pro­gramm steht »Ro­meo und Ju­lia« von Wil­liam Shakes­peare. Frü­her, er­klärt die Leh­re­rin, sei­en die Schü­ler be­gei­stert ge­we­sen, sie hät­ten das Stück »sooo herr­lich kit­schig« ge­fun­den. Kit­schig? Ja, kit­schig, das Wort ist of­fen­bar po­si­tiv be­setzt und, in die­sem Ge­brauch, mit »ro­man­tisch« ver­wandt. Die heu­ti­gen Schü­ler fin­den Ro­me­os Han­deln, sein rück­halt­lo­ses Ver­liebt­sein und be­son­ders sei­nen Selbst­mord, to­tal sinn­los und lä­cher­lich. Ei­ne der Schü­le­rin­nen gibt ei­nen uti­li­ta­ri­stisch in­spi­rier­ten Kom­men­tar: »Mei­ner Mei­nung nach ist er ein­fach nur ein klei­ner Jam­mer­lap­pen, er ist nicht nor­mal. Ein an­de­rer Jun­ge wür­de sich ein­fach ein an­de­res Mäd­chen su­chen. Er wür­de sich doch nicht we­gen ei­nes Mäd­chens um­brin­gen. Was soll denn dar­an so schlimm sein? Such dir ein­fach ei­ne an­de­re.« Da­mit ist nicht nur die Ro­man­tik, son­dern der gan­ze Shake­speare er­le­digt. Man kann in Zu­kunft oh­ne die­sen – was war er? – Dich­ter aus­kom­men.

Zwei­hun­dert Sei­ten, nach­dem sie die Schulsze­ne ge­schil­dert hat, er­wähnt Ro­sin ei­ne an­de­re Un­ter­su­chung, de­ren Er­geb­nis­se in die ent­ge­gen­ge­setz­te Rich­tung ge­hen. Die ame­ri­ka­ni­schen Jun­gen, sagt die So­zio­lo­gin Amy Scha­let, wür­den ei­ne »star­ke, fast hy­per­ro­man­ti­sche Spra­che ver­wen­den, wenn sie über Lie­be re­den.« Ist al­so doch noch nicht Hop­fen und Malz ver­lo­ren für Shake­speare und die Ro­man­tik? Ro­sin hat so­gar ei­ne Er­klä­rung für das ding­fest ge­mach­te Phä­no­men pa­rat: Die Ju­gend­li­chen sei­en durch »Twilight«-Romane und den sin­gen­den Tee­nie­star Ju­stin Bie­ber be­ein­flußt. »Twilight« ist ei­ne Se­rie von wahr­haft kit­schi­gen Tri­vi­al­ro­ma­nen, und Ju­stin Bie­ber so et­was wie der kind­li­che Schmal­spur-Bob-Dy­lan un­se­rer Zeit, ein ast­rei­nes Pro­dukt der Unterhaltungs­industrie. Nicht er­staun­lich, daß in der Mas­se der Ju­gend­li­chen Tri­vi­al­pop be­liebt ist. Liest man die Aus­füh­run­gen der pro­mi­nen­ten, auf Bil­dung höch­sten Wert le­gen­den Jour­na­li­stin mit ei­ni­ger Auf­merk­sam­keit, wird man be­mer­ken, daß sie selbst durch die­se Art von Kul­tur ge­prägt ist. Be­schrei­bun­gen, Ver­glei­che und Er­klä­run­gen stützt sie re­gel­mä­ßig auf ame­ri­ka­ni­sche Fern­seh­se­ri­en, Hol­ly­wood­fil­me und Schau­spiel­stars. Ihr ei­ge­nes Den­ken und Wahr­neh­men ist zu­tiefst von dem ge­prägt, was Ador­no einst »Kul­tur­in­du­strie« nann­te. Daß in ih­rem Buch wi­der­sprüch­li­che Ele­men­te vor­kom­men, so­gar gan­ze Ka­pi­tel, die ein­an­der wi­der­spre­chen, ist kein Man­gel, es macht eher sei­ne Stär­ke aus, weil es auf die­se Wei­se von der Fül­le wi­der­sprüch­li­cher Phä­no­me­ne in der Wirk­lich­keit Zeug­nis ab­legt. Al­ler­dings wä­re es doch ge­bo­ten, sich die­se Wi­der­sprü­che be­wußt zu ma­chen und das ei­ge­ne Den­ken da­von in­spi­rie­ren zu las­sen. Dann kä­me viel­leicht mehr her­aus als ein an­ge­streng­ter Op­ti­mis­mus, was die wach­sen­de Macht der Frau­en und ih­ren heil­sa­men Ein­fluß auf die ge­sam­te Ge­sell­schaft, dem sich hof­fent­lich auch die starr­köp­fi­gen Män­ner nicht für im­mer ver­schlie­ßen wer­den, be­trifft.

Das hier zum Aus­druck kom­men­de Frau­en­bild ist durch und durch kon­for­mi­stisch, der Kon­for­mis­mus selbst wird un­re­flek­tiert als Tu­gend ge­prie­sen. Zu­kunfts­den­ken ist für Ro­sin sub­jek­ti­ve An­pas­sung an ob­jek­ti­ve Ver­än­de­run­gen, die un­ver­meid­lich vor sich ge­hen. Der gro­ße Vor­teil der Frau­en ist ih­re Fä­hig­keit und Be­reit­schaft zur An­pas­sung. Wor­an pas­sen sie sich an? An die Fle­xi­bi­li­tät, die der mo­der­ne post­in­du­stri­el­le Arbeits­markt for­dert. An die Ell­bo­gen­men­ta­li­tät und den ge­for­der­ten Ehr­geiz. An den Hedonis­mus, den Selbst­dar­stel­lungs­kult. Dar­über hin­aus sind sie durch äl­te­re weib­li­che Prä­gun­gen eher als Män­ner zu Rück­sicht­nah­me und Zu­sam­men­ar­beit fä­hig, sie kön­nen Ri­si­ken bes­ser ein­schät­zen, zö­gern im rech­ten Mo­ment, kön­nen zu­hö­ren, Stand­punk­te der an­de­ren ein­be­zie­hen. Das al­les, so Ro­sin, wür­den mo­der­ne Kom­mu­ni­ka­ti­ons- und Dienstleistungs­firmen heu­te von ih­ren Mit­ar­bei­tern er­war­ten. Au­ßer­dem sind sie für Pfle­ge­be­ru­fe – ein ge­wal­ti­ger Zu­kunfts­markt! – bes­ser ge­eig­net als Män­ner. Frau­en ha­ben in der mo­der­nen Ar­beits­welt grö­ße­re Chan­cen als Män­ner. Vor­aus­ge­setzt ist bei die­ser »postfeminis­tischen« Eu­pho­rie, daß sich Men­schen nur auf dem Ar­beits­platz ver­wirk­li­chen kön­nen. Wie be­schis­sen die Ar­beit in Wahr­heit oft ist, und daß sie die Persönlichkeitsent­wicklung eher hem­men als för­dern, sol­che Ge­dan­ken ha­ben im op­ti­mi­sti­schen Uti­li­ta­ris­mus kei­nen Platz.

Ei­ne von Ro­sin be­frag­te Star­jour­na­li­stin ge­riet in ei­ne Sinn­kri­se und zog sich für ei­ni­ge Zeit aus ih­rem Ar­beits­feld zu­rück. War­um tun das man­che Frau­en? Viel­leicht, lau­tet die Ant­wort der Be­frag­ten, wol­len sie all die Här­ten, die Ver­let­zun­gen, die ih­nen die Hier­ar­chie – es gibt al­so doch noch Hier­ar­chien? – zu­fügt, nicht er­tra­gen, sie fin­den es »ein­fach nicht be­frie­di­gend oder er­bau­lich«, das al­les in Kauf zu neh­men, nur um die Kar­rie­re­lei­ter zu er­klim­men.

Mitt­ler­wei­le ist die Star­jour­na­li­stin in die Me­di­en­ar­beits­welt zu­rück­ge­kehrt, sie ist »wie­der mit von der Par­tie und schreibt ih­ren Mit­ar­bei­tern nachts um zwei Uhr noch E‑mails«, teilt uns Ro­sin er­leich­tert mit.

Was be­son­ders nervt oder er­schüt­tert, je nach Ge­müt, ist die Blau­äu­gig­keit, mit der sol­che Leu­te die Seg­nun­gen der In­ter­net­öko­no­mie be­trach­ten. Face­book als Mo­dell­be­trieb. Freund­schaft, die ge­nau­so in­halts­leer ge­wor­den ist wie die »Ro­man­tik«, oder noch schlim­mer, ein Kon­sum­fak­tor mit sta­ti­stisch eru­ier­ba­rer Wer­be­taug­lich­keit. Sieht man sich an, was die welt­wei­te vir­tu­el­le Kom­mu­ni­ka­ti­on aus den Men­schen her­aus­holt und aus ih­nen macht, so ist statt Op­ti­mis­mus eher Skep­sis, wenn nicht Be­stür­zung an­ge­bracht. Rea­le Men­schen ver­stecken sich in der An­ony­mi­tät, nicht um »ein an­de­rer« zu sein, wie Rim­baud einst­mals em­pha­tisch ver­kün­de­te, son­dern um die übel­sten Sei­ten ei­nes ver­bockten Ichs zu kul­ti­vie­ren. Volks­tüm­lich for­mu­liert: um die Sau raus­zu­las­sen. In den Fo­ren und »so­zia­len« Netz­wer­ken ist der Tweet »#auf­schrei« ei­ne hoff­nungs­los mi­no­ri­tä­re An­ge­le­gen­heit ne­ben dem ge­ball­ten Se­xis­mus, der sich in den­sel­ben Me­di­en aus­lebt. Und nicht nur Se­xis­mus, nein, es ist viel schlim­mer. Neid, Miß­gunst, Tot­schlä­ger­men­ta­li­tät schei­nen den pseud­ony­men Durch­schnittsu­s­er zu be­herr­schen. Was man seit kur­zem Shits­torm nennt, ist nichts an­de­res als die al­te Lynch­ju­stiz, die Freu­de an der Hetz in Zei­ten des In­ter­nets. Gut, daß al­les nur vir­tu­ell ist. Frei­lich wa­ren ver­ba­le Gewalt­ausbrüche im­mer schon die Vor­bo­ten für hand­fe­ste, töd­li­che.


© Leo­pold Fe­der­mair


Die­ser Es­say ist ei­ne Va­ria­ti­on aus ei­nem Ka­pi­tel aus Leo­pold Fe­der­mairs neu­em Buch »Das ro­te So­fa«, wel­ches in den näch­sten Ta­gen im Ot­to Mül­ler Ver­lag, Salz­burg, er­scheint.

Hier steht Teil III.

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