Dabei sind die Voraussetzungen ideal. Hans-Peter Schwarz, der als »der« Adenauer-Biograph gilt, basiert auf einer umfangreichen, komplexen Quellenlage. So konnten Sitzungsprotokolle eingesehen werden. Das Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad Adenauer-Stiftung und das Pendant der Hanns-Seidel-Stiftung der CSU in München standen zur Verfügung. Aus dem Unternehmensarchiv der Axel Springer AG wird zitiert. Am wichtigsten: 250 Schlüsseldokumente zur Außen- und Europapolitik aus dem Archiv des Bundeskanzleramtes wurden für Schwarz freigegeben, was die Kanzlerschaft Kohls zwischen 1982 und 1998 beleuchtet und zum Teil überraschende Einblicke gewährt. Schwarz führte Gespräche mit rund vierzig politischen Wegbegleitern (um nur einige zu nennen: Kurt Biedenkopf, Heiner Geißler, Hans-Dietrich Genscher, Klaus Kinkel, Volker Rühe, Bernhard Vogel, Walther Leisler Kiep), zitiert zum Teil aus deren Tagebüchern (oft unveröffentlichtes Material) und auch gelegentliche Mitteilungen Kohls an den Autor werden im Anmerkungsapparat vermerkt. Oft kombiniert Schwarz diese Informationen mit den zahlreich verfügbaren Memoiren und Erinnerungsbüchern der damaligen Protagonisten. All dies erzeugt bisweilen eine erstaunliche Echtzeitstimmung, die den Leser in den besten Momenten direkt an die Konferenztische führt. Man erfährt wie Kohl vorprescht, nachgibt, balanciert, antichambriert, taktiert aber auch tobt und lospoltert. So entsteht zuweilen ein multiperspektivisches Bild aus rund 50 Jahren bundesdeutscher und europäischer Politik.
Solider Ehrgeiz
Schwarz beschäftigt sich zunächst ausgiebig mit der politischen Sozialisierung Kohls, die schon unmittelbar nach dem Krieg einsetzte. Blumig spricht er von dem »Bannkreis« der neu gegründeten, überkonfessionellen CDU, in die der 16jährige Kohl 1946 gerät. Ein Jahr später wurde er zum Mitbegründer der »Jungen Union« in seiner Heimatstadt Ludwigshafen. Praktisch von Anfang an zeichnete sich bei Kohl ein solider Ehrgeiz ab, der sich in den weitschweifigen (aber keineswegs langweiligen) Ausführungen Schwarz’ etwas abgemildert darstellt. Sukzessive arbeitet sich Kohl in den Institutionen der CDU nach oben; auch während seines Studiums. Seine Dissertation von 1958 über »Die politische Entwicklung in der Pfalz und das Wiedererstehen der Parteien nach 1945« nennt Schwarz »einen Schnellschuß«, »empirisch fundiert, allerdings rein deskriptiv«. Warum er den Titel nicht wenigstens nennt, bleibt sein Geheimnis.
Bereits 1955 ist Kohl Mitglied des Landesvorstands, 1959 Kreisvorsitzender, 1961 stellvertretender Fraktionsvorsitzender in Rheinland-Pfalz – den Vorsitz übernimmt er zwei Jahre später, (erst) 1964 Bezirksvorsitzender, 1966 endlich Landesvorsitzender und schon Mitglied des Bundesvorstands, 1969 Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, 1973 schließlich Parteivorsitzender, was er bis 1998 blieb. Die entscheidende Veränderung gab es 1976, als sich Kohl entschied, sich zum Kanzlerkandidaten wählen zu lassen werden und trotz Niederlage nach Bonn ging.
Die Karriere ist also stetig, wenn auch nicht ohne kleine Dämpfer. Zu Beginn gibt Kohl sich als jugendlicher Reformer, der die Partei erneuern möchte und oft genug mit entsprechender Ungeduld als Wortführer seiner Generation auftritt. In der Regional- und Kommunalpolitik pflegt er eine »Konfrontationsstrategie«. Der junge Kohl ist rebellisch, gibt sich aber kameradschaftlich, liebt laute Zwischenrufe und benimmt sich bisweilen grob. Immer wieder fällt er durch geschicktes Timing auf; streut Salz in die Wunden der Honoratioren. Besonders brachial demontiert er den Ministerpräsidenten Peter Altmeier, dem er erst den Landesparteivorsitz und dann, drei Jahre später, den Ministerpräsidentenposten abspenstig macht. Kohl hatte da bereits ein feines Netz von Mitstreitern und Gleichgesinnten gesponnen, welches er immer wieder aufs Neue verfeinerte; er galt als »Menschensammler«. Die Strecke derer, die er später in der Hierarchie der Partei »überholt« hat, ist lang (sie wird durchaus lustvoll ausgebreitet). Wer Kohl loyal blieb, konnte allerdings Karriere machen, aber bitte nur unter ihm.
Gleichzeitig zeigt er sich, erst einmal in einem Amt, als offen, neuen Ideen zugängig und bereit, zuzuhören. Kohl gilt als folkloristisch, aber durchaus auch progressiv. Er umgibt sich nicht nur mit Jasagern aus dem Umfeld der Partei, sondern animiert Quereinsteiger wie Kurt Biedenkopf, Heiner Geißler, Richard von Weizsäcker, Rita Süßmuth, Roman Herzog oder auch weniger prominenten Namen wie Rupert Scholz. Wenn sich die Wahl als Fehlgriff herausstellt und ein Festhalten nicht mehr opportun erscheint, entledigt sich Kohl mit »jovialer Brutalität« der Personalie. Mit denjenigen die ihm zu machthungrig oder auch einfach nur zu selbständig werden kommt es zu Spannungen bis hin zum Zerwürfnis. Nicht immer bedeutet dies das direkte politische Aus. Wer ein ähnliches Stehvermögen wie Kohl besaß, konnte politisch durchaus überleben – mit etwas Glück gelang sogar ein Comeback (Biedenkopf).
Wofür stand der strebsame Pfälzer? Ging es ihm nur um Macht? Leider versteckt der Autor in einer Endnote zu Kohls erster Nachwendekanzlerschaft eine luzide Bemerkung zum allmächtigen Vorwurf des »Machtmenschen«. Schwarz hat recht, wenn er schreibt, dass dieses Paradigma »lediglich das Selbstverständliche auf den Punkt« bringt und jenseits des platten Ausdrucks nach Spezifizierung verlangt: »Ist dieser Machtmensch ein ganz prinzipienloser Machiavellist, oder verfolgt er doch Ziele, die er mit langem Atem durchsetzen will?« So entdeckt Schwarz beim jungen Helmut Kohl zwar auch eine »sachliche Agenda«, die jedoch nicht auf Kohl-Spezifika abgeklopft wird. Tatsächlich wollte Kohl das ökonomisch eher hinterherhinkende Rheinland Pfalz modernisieren und adaptierte den Fortschritts-Zeitgeist (»autogerechte Städte«, Gebietsreform, Schulpolitik) – Ansinnen, das er mit dem zur Verfügung stehenden politischen Entscheidungspersonal nicht schnell genug angegangen sah. Die »Reformen« schienen sich somit zunächst darin zu erschöpfen, Personen auszuwechseln. Zwar gab es Theorien über Sinn und Zweck bestimmter Pöstchen (Trennung von Fraktions- und Parteivorsitz), aber am Ende war dies nur machtstrategisch relevant. Erst einmal musste er in die entsprechenden Positionen kommen.
Adenauer und Erhard
Kohls »Marsch durch die Institutionen« bleibt zunächst auf kommunal- und landespolitischer Basis beschränkt. Dass er parallel hierzu früh in der Bundespartei Fuß fasste, bedeutete nicht, dass er einen Dissens in den essentiellen politischen Feldern der Bundes-CDU hatte. Eher im Gegenteil. Kohl war »eine Art lupenreiner ‘Enkel’ Adenauers« (Schwarz) was die Innen- und Sicherheitspolitik und die Westbindung anging. Er war kein Bilderstürmer: seine einzige wirkliche Herzensangelegenheit war die Vertiefung der Europäischen Einigung, wie sie von Adenauer und de Gaulle auf den Weg gebracht wurde. Und gleichzeitig unterstützte er vorbehaltlos Erhards soziale Marktwirtschaft. Schwarz zeigt schön, wie das Attribut »sozial« in Bezug auf die Marktwirtschaft für Kohl eminent wichtig war – und blieb, auch wenn in den 1990er Jahren längst wirtschaftsliberale Theoretiker vor allem in den angelsächsischen Ländern ideologisches Oberwasser bekamen und ihre Gesellschaften umbauten. Ein Arbeits- und Sozialminister wie Norbert Blüm hätte sich jedoch die gesamte Kanzlerschaft Kohls über kaum halten können, wenn er nicht die Politik seines Chefs betrieben hätte. Die sozialen Einschnitte und ökonomischen Deregulierungen, die Kohl als Kanzler machte, wirken im Vergleich mit dem, was danach unter Rot-Grün geschah, wie lächerliches Schräubchendrehen. Interessant in diesen Zusammenhang ist, wie Kohl die seit Anfang der 1980er Jahre in den Startlöchern sitzende wirtschaftsliberale FDP kaum zum Zuge kommen liess. So bleibt es ein bis heute wenig wahrgenommenes Paradoxon, dass der Wirtschaftsliberalismus in der Bundesrepublik erst zum Durchbruch kam, als ihre politischen Vertreter nicht mehr an der Macht waren. En passant gibt dieses Buch auch einen sehr instruktiven Überblick über die immer wieder in Flügelkämpfen taumelnde und sich verzehrende FDP. Neben den kühlen Machtpragmatikern, die sich damit begnügen im ein der anderen Politikfeld Nuancen korrigieren zu können, gab es sowohl einen wirtschaftsliberalen Flügel als auch die sogenannten »Linksliberalen«, die noch Residuen der sozial-liberalen Ära hinüberretten wollten. Beide wurden von Kohl fast ganz neutralisiert.
Dabei setzte Kohl im Gegensatz nicht zuletzt zu seinem Widerpart Franz-Josef Strauß von Anfang an auf eine Koalition mit der FDP. Seine fast physische Abneigung den »Sozen« der SPD gegenüber entwickelte sich bei ihm sehr früh. Schwarz insinuiert dies mit Kohls Kampf in Ludwigshafen, einer SPD-Hochburg, zu reüssieren (was nur zweimal und sehr spät mit einem Direktmandat für den Deutschen Bundestag gelang). Mit seinen damals noch bescheidenen Mitteln bekämpfte Kohl das Ansinnen der Großen Koalition von 1966 das Mehrheitswahlrecht einzuführen. Die Verlockung einer CDU/CSU-Alleinherrschaft war für ihn geringer als der Alptraum einer eventuellen SPD Regierung in der Zukunft. Ambitionen für eine Große Koalition erteilte Kohl stets eine Absage – auch, wenn sie ihm vielleicht die Macht einfacher erhalten hätte. Mit Genscher war er seit Ende der 1960er Jahre befreundet, aber es sollte bis 1982 dauern, bis sich diese Freundschaft auszahlte. (Bereits Ende der 1980er Jahre kühlte sich dann das Verhältnis ab; nach der Einheit war es dann wohl eisig geworden.)
Das Kapitel auf das Warten auf den Pferdewechsel der FDP ist sehr gelungen. Zum ersten und letzten Mal in seiner Karriere war Kohl passiv und begab sein politisches Schicksal in fremde Hände. Noch vor der Bundestagswahl 1980 hatte sich Kohl in einem strategischen Coup den Fraktionsvorsitz für vier Jahre gesichert und die weiteren Posten mit seinen Leuten besetzt. Sein Regiment war straff: Er »führte nicht, er herrschte« zitiert Schwarz den ehemaligen Fraktionsvorsitzenden Rainer Barzel. Mehrmals wird ausgeführt, dass für Kohl eine Fraktion praktisch nur als Akklamationsorgan dient. Schwarz nennt es euphemistisch »Top-Down«-Prinzip und macht es als Kontinuum deutscher Regierungspolitik nach 1949 aus.
Kohl vermied es nach 1980 unter allen Umständen, seinen Freund Genscher zu drängen, um die Abwanderungseffekte innerhalb der FDP nicht allzu groß werden zu lassen. Die Souveränität der Partei sollte erhalten bleiben. Den Gründen für den Wechsel vermag Schwarz keine neue hinzuzufügen, aber heftig wendet er sich gegen die These, die FDP habe damals Verrat an ihren Wählern verübt (das Wort Verrat setzt er immer in Anführungszeichen).
Lauter überflüssige Bemerkungen
Es ist eine der Stellen in Schwarz’ Buch, in dem seine Parteilichkeit mehr als deutlich zu Tage tritt. Wie Kohl pflegt Schwarz ein veritables Ressentiment den sogenannten »Linksliberalen« in der FDP gegenüber (hierzu zählt er Leute wie Burkhard Hirsch [er bekommt das Rubrum »Kohl-Hasser« verpasst], Gerhart Baum und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger). Aber auch Helmut Schmidt wird fast ausschließlich verächtlich erwähnt. Und Brandt, mit dem Kohl ein gutes Verhältnis pflegte (worüber man bei Schwarz nichts findet), kommt auch im Wiedervereinigungskapitel nur etwas ausführlicher vor, wenn es gilt, ein Zitat aus seinem Buch, in dem er den Status quo der Teilung akzeptiert, als Beleg dafür zu nehmen, wie er sich geirrt hatte. Und dies obwohl Schwarz selber darauf hinweist, dass auch Kohl längst nicht mehr an die deutsche Einheit als politisches Realziel glaubte und Adenauers »Freiheit vor Einheit« immer als unverrückbare Maxime betrachtete. Aber wie Schwarz in seinen einem seiner »Betrachtung« genannten Zwischenkapitel, in der die historischen Abläufe kursorisch noch einmal analysiert werden, die Ostpolitik als eine der Maßnahmen, die dann später wesentlich zur Einheit beigetragen haben, einfach ignoriert, ist schon selektiv bis zur Geschichtsklitterung. Diesen Vorwurf kann ich bei allem Respekt vor der Person des Biographen nicht unterdrücken.
Schwarz macht sich Kohls zuweilen ins Paranoide steigernde Antipathie allem auch nur halbwegs sozialdemokratischen gegenüber zu eigen. Das erklärt auch, warum außer Rudolf Scharping kein SPD-Politiker in seiner Interview-Liste zu finden ist. So denunziert er Egon Bahr im Gespräch mit Margaret Thatcher als »rot angestrichenen Deutschnationale[n]«. Ist dies etwa auch die Meinung des Biographen? Abfällig werden Helmut Schmidts Äußerungen in der Zeit zu den Fehlern der deutschen Einheit kommentiert – einer, der selber derart desaströs gewirtschaftet habe rege sich nun über Kohls Finanzen auf. Uneingeschränkt dagegen Schwarz’ Parteinahme für Theo Waigel, wie überhaupt die Kohl-Freunde bei ihm nur ganz selten mit despektierlichen Attributen versehen werden. Und mit Verachtung schreibt Schwarz immer wieder von den »Hamburger Blättern« oder der »kritischen Presse« – als sei dies nicht ein Pleonasmus! -, die den erfolgreichen Bundeskanzler bei jeder Gelegenheit »herunterschreiben« (und seine Gegner, wie beispielsweise Lothar Späth, hochgeschrieben hätten).
Lauter überflüssige Bemerkungen, zumal Schwarz sehr instruktiv erklärt, warum Kohl als Bundeskanzlerkandidat bereits Ende der 1970er Jahre fast schon als Auslaufmodell galt. Er hatte die Bundestagswahlen 1976 trotz gutem Ergebnis verloren und ging als Oppositionsführer vom heimeligen Rheinland-Pfalz, in dem er – durchaus erfolgreich – regiert hatte, freiwillig in das Haifischbecken. Es gab große Probleme für ihn, im intriganten Bonn Fuß zu fassen; Strauß und die CSU taten ein Übriges. Im Fernsehen wirkte er ungelenk, seine Rhetorik verblasste gegen die von Helmut Schmidt aber auch gegenüber Protagonisten aus dem eigenen Lager wie Biedenkopf oder Strauß. Aber Kohl gab nicht auf, reiste viel, ließ sich coachen, wurde sicherer im Auftreten. Dennoch war nach außen seine Oppositionszeit von Pleiten, Pech und Pannen überschattet, die den steilen und wuchtigen Aufstieg des barocken Pfälzers in Vergessenheit gerieten ließ. (Später sollten zwei andere Pfälzer Ministerpräsidenten, diesmal SPD-Politiker, ähnliche Erfahrungen mit den Untiefen der Bundespolitik machen.) Dazu passte, dass er sich 1980 Franz-Josef Strauß beugte, der Kanzlerkandidat wurde. Erhellend, wie Schwarz Strauß’ Kandidatur nicht etwa ausschließlich als taktische Meisterleistung Kohls für die endgültige »Beseitigung« des Störenfrieds durch die zu erwartende Niederlage darstellt, sondern die Umstände detailgenau erläutert, die zu der Nominierung führten. Danach war Strauß bundespolitisch abgemeldet (wenn auch nie ganz zum Schweigen gebracht) und konzentrierte sich auf das Amt des bayerischen Ministerpräsidenten, aber ob dies wirklich von Kohl bis in die letzten Verästelungen strategisch angedacht war, muss man nach der Lektüre bezweifeln.
Kohl hielt durch und wurde 1982 Bundeskanzler. Und was geschah dann? Wer hofft, mehr über seinen politischen Visionsrahmen jenseits der »Vereinigten Staaten von Europa« zu erfahren, wird auch bei Schwarz enttäuscht. Nur in einem Nebensatz wird die aufgebläht präsentierte »geistig moralische Wende« erwähnt. Was Kohl darunter verstand, bleibt verborgen. Der Leser erfährt, dass es im Oktober 1982 erst einmal darum ging, wann und wie Neuwahlen stattfinden können (wobei die Betonung auf das »wann« lag – man gängelte den Bundespräsidenten Carstens hinsichtlich des »wie«). Eine alternative Regierungsprogrammatik gab es »nicht einmal in vagen Ansätzen«. Daher blieb – auch nach 1983 – vieles beim Alten: Entspannungs‑, Sozial‑, Außen‑, Nachrüstungspolitik – Kohl führte auf vielen Feldern die Politik der sozial-liberalen Koalition bis weit in die 1990er Jahre fort, was es für die SPD umso schwerer machte, sich als alternative politische Kraft zu inszenieren. »In der Innenpolitik ist Helmut Kohl ein Pragmatiker, in der Europapolitik ein Gestalter, in der Abrüstungspolitik« der 1980er Jahre »ein Getriebener« – derart treffend fasst Schwarz die Bilanz der Kanzlerschaft von 1982 bis 1989 zusammen.
Immer wieder Europa
Das konservative Element, in Sonntagsreden mit wolkigen Wertevokabeln herbeizitiert, diente für Kohl nur als trojanisches Pferd für sein revolutionäres Europa-Engagement. Dieses begleitet Schwarz in dem Buch in einer Mischung aus Faszination und Schauder aber auch mit kritischer Sympathie. So kommt schon Setzen von Anführungszeichen (beispielsweise bei der Flut der »großen Europäer«) eine gewisse Bedeutung zu. Süffisant vermerkt der Biograph Kohls Neigung, in der Landwirtschaftspolitik der EG »für die Bundesrepublik stets kostspielige Lösungen« einzugehen. Jede Mark, die man hier hineinstecke, sei gut angelegt, wird der Bundeskanzler mehrfach paraphrasiert. Mit berserkerhafter Intensität hat Kohl während seiner Kanzlerjahre die Europäische Einigung, Erweiterung und, vor allem, die Wirtschafts- und Währungsunion nicht nur betrieben, sondern forciert. Noch im Herbst 1989, als die Welt atemlos gen Osten schaute, beschwor Kohl in Sitzungen über den Mauerfall Europa nicht zu vergessen.
Die Stellen, die das Zusammenspiel zwischen Kohl und dem »gaullistischen Sozialisten« Mitterrand zeigen, gehören zu den Meisterleistungen dieses Buches. Geschickt verstand es der Franzose, Kohl für seine Pläne, der Zähmung der deutschen Wirtschaftskraft – symbolisiert durch die DM – zu gewinnen. Ob es tatsächlich ein Fehler von Kohls Intimus Teltschik war, den Franzosen eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft vorzuschlagen, so dass diese sozusagen im Gegenzug eine Europäische Währungsunion auf die Agenda bringen konnten, mag dahingestellt sein. Fest steht aber: Die französischen Pläne, die Dominanz der DM im EWS, die immer wieder zu Abstürzen des Französischen Franc führte (die Kohl großzügig mit finanziellen Interventionen abpufferte; bspw. im März 1983), sind kein Resultat der Einheit, sondern wurden von Mitterrand schon weit vorher verfolgt. »Mit seiner zielbewußten Politik, die dominierende Bundesrepublik via EG zu kontrollieren, rennt er bei Kohl offene Türen ein«, resümiert Schwarz lakonisch.
Warum die Obsession Europa gegenüber? Hier kommen mehrere Faktoren zusammen: Zum einen Kohls biographisch bedingter Hass auf alles, was »national« genannt werden könnte (daher, so klärt Schwarz auf, die Neigung zu anderen, neutraler empfundenen, aber gelegentlich missverständlich verwendeten Formulierungen wie »Patriotismus«, »Vaterland« oder »Heimat«). Des Weiteren beschleicht ihn eine Art Mission, Adenauers Politik der Westbindung nicht nur zu verwalten oder fortzusetzen, sondern neu zu ordnen und Deutschland dauerhaft und unwiederbringlich in einem institutionalisierten Europa einzubetten. Noch bis in die 1990er Jahre hinein sprach Kohl daher wie selbstverständlich von den »Vereinigten Staaten von Europa« (obwohl er, wie es in einem Protokoll heißt, schon Ende der 1980er Jahre davon Abstand genommen habe). Kohl verstand darunter mehr als nur einen Staatenbund – er plädierte sehr lange für den europäischen Bundesstaat, bis er dann schließlich im Rahmen der Verhandlungen der Maastricht-Verträge einsah, dass es hierfür keine Mehrheit gab. In der CDU gab es noch eine gewisse Zeit die Parole, eine »bundesstaatliche« Entwicklung sei angestrebt.
Der Enthusiasmus dieser Idee gegenüber mag oft den Blick für das Machbare getrübt haben und frühzeitig Verhandlungspositionen geräumt haben, die pragmatischere Regierungen wie Frankreich oder die fast immer europaskeptischen Briten dann für ihre Zwecke nutzen konnten. Kohl sonnte ich aber in der Rolle, dass der ökonomische Riese Deutschland politisch ein domestizierter Zwerg bleiben sollte. Diese machtpolitische Selbstkasteiung, verkauft als Understatement, traute man einem konservativen Politiker gar nicht zu, galt es doch eher »links«, sich aufgrund der historischen Schuld dauerhaft politischen Beschränkungen aufzuerlegen. Bis heute haben die Salonlinken nicht verstanden, dass Kohls Vereinigungspolitik eben gerade nicht ein Großmachtstreben implizierte, weil immer sofort die Einbindung in die Institutionen Europas (und, nicht ganz unwichtig, der NATO) intendiert war. Den entscheidenden Satz zu Kohls Motivation schreibt Schwarz zwar nicht, aber in dem er auf die oft genug verunglückten historischen Symbolaktionen in Kohls Kanzlerschaft hinweist (beispielsweise Bitburg), wird klar: Hier wollte sich jemand in die Geschichtsbücher schreiben – und zwar nicht als Feldherr und Usurpator, sondern als durch die Geschichte geläuterter Friedenspolitiker.
Tatsächlich waren große Teile der SPD und später der Grünen immer einen Hauch skeptischer, was die Aufgabe nationaler Souveränitäten anging, als die Kohlsche CDU (eine besondere Ausnahme stellt Schwarz mit dem europafreundlichen Joschka Fischer vor, den Kohl deswegen schätzte). Auch die CSU schoss gelegentlich quer. Kohls Abneigung gegenüber einem deutschen Großmachtgehabe ging derart weit, dass er auch noch verfassungsrechtliche Bedenken für Auslandseinsätze der Bundeswehr vorschob, als längst absehbar war, dass diese vom Bundesverfassungsgericht mindestens teilweise relativiert würden. Lieber öffnete er bereitwillig immer wieder die Geldschatulle.
329 Tage
Fast hat man das Gefühl, Schwarz stuft die Verdienste Kohls um die europäische Einigung noch höher ein als das Agieren in den 329 Tagen zwischen dem 9. November 1989 und 3. Oktober 1990. Tatsächlich glaubte Kohl noch im Winter 1989 nicht an eine schnelle Vereinigung mit der DDR. Schwarz’ Schilderung, wie der einige Monate vorher bei einer Kabinettsrochade leer ausgegangene Ex-Verteidigungsminister und Staatsrechtler Rupert Scholz (einer der erfolglosen Quereinsteiger) Kohl zum sogenannten Zehn-Punkte-Plan in den Novembertagen 1989 überredet hat, ist neu und war bisher nicht bekannt. Eindringlich erzählt Schwarz augenscheinlich Scholz’ Version. Die Verkündung der Zehn Punkte am 28. November 1989 war weder mit Genscher und der CSU noch mit den Verbündeten abgestimmt (Genscher preschte dafür einige Monate später mit seinem Modell des vereinigten Deutschland in der NATO ohne Absprache mit Kohl vor). Kohl nahm dies in Kauf und gewann damit das Heft des Handelns für sich. Im weiteren Verlauf der Schilderung des Einigungsprozesses macht Schwarz keinen Hehl daraus, dass er den damaligen amerikanischen Präsidenten Bush für wichtiger hält als Gorbatschow, dessen Wirtschaft zunehmend unter Druck geriet und durchaus hinsichtlich der »Freigabe« der DDR schwankte. Im Gegensatz zu den Thatcher und Mitterrand stand Bush dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik fast uneingeschränkt positiv gegenüber. Gorbatschow wird – so die Darstellung von Schwarz – die Einheit am Ende praktisch abgekauft, um ihn innenpolitisch zu stabilisieren. In der EG muss Deutschland nun endgültig einer Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion zustimmen; noch setzten aber die Bundesbank-Kriterien weitgehend den Rahmen. Schwer verständlich bleibt auch bei Schwarz’ Darstellung die zunächst formaljuristisch begründete Weigerung Kohls, die Oder-Neiße-Grenze anzuerkennen, was vorübergehend zum Verdruss mit Polen führte.
Nein, Kohl sei die Einheit nicht »zugeflogen«, so Schwarz. Er, der sich so oft nicht schnell festlegen wollte und Entwicklungen gerne ausgesessen hat, bis sich die ein oder andere Richtung als die Praktikablere herausstellte, zeigte ein bemerkenswert geschicktes und beherztes Handeln. Es gibt inzwischen kaum jemand, der dies ernsthaft in Zweifel zieht. Leider versäumt Schwarz aber auf die vielleicht unvermeidlichen, aber doch drastischen Fehler hinzuweisen. Stattdessen werden alle Einwände abgebügelt, als ginge es heute noch um Schuldzuweisungen. Vor allem kommunikativ machte Kohl Fehler, weil er zwar den Elite-Diskurs der Politik dominierte, aber die verunsicherten Bundesdeutschen im Unklaren über die Folgen liess. Hier sind Parallelen zum Vorgehen der europäischen Einigung zu ziehen, die zumeist nicht derart medial abgelaufen war.
Basteln am Lebenswerk
Dass Kohl in der Legislatur 1994–1998 nicht zu Gunsten von Wolfgang Schäuble zurücktrat, dürfte zwei Gründe gehabt haben. Zum einen war die Mehrheit von CDU/CSU/FDP äußerst knapp (341:331) und es konnte nicht sichergestellt werden, dass alle Stimmen Schäuble zukommen würden (die »Meuchler« hätten ihre Stunde gewittert). Zudem kursierte das Gerücht, Schäuble sondiere für eine Große Koalition mit der SPD, um deren Blockade-Politik im Bundesrat aufzuweichen, die zeitweise die Innenpolitik der Regierung zum Erliegen brachte. Zum anderen aber, und das trieb Kohl viel mehr um, fürchtete er, dass Schäuble die gemeinsame Währung bei den anstehenden Konferenzen der EG eventuell wieder neu befragt hätte. Nur er war der Garant für ein Durchkommen der Wirtschafts- und Währungsunion (EWWU); Schäuble galt damals als »unsicherer Kantonist«. Ich vermute, dass Schwarz hier ein treffendes Argument benannt hat, das weit über alle anderen Mutmaßungen steht: Kohl wollte nicht auf der Zielgeraden sein Lebenswerk gefährden. Daher mussten die entscheidenden Weichenstellungen, die zweite Stufe der EWWU-Verhandlungen, von ihm selber durchgeführt werden. Schwarz versäumt es nicht, die Schwächen der Wirtschafts- und Währungsunion, die allesamt ihre Ursachen in den Verhandlungen der 1990er Jahre haben, zu benennen. Kohl und Delors, die mit immensen Anstrengungen den Maastricht-Vertrag forcierten sowie die Vereinbarungen Jahre 1996/97 zeigen, dass es sich um ein radikal politisches Projekt handelte, denen ökonomische (und soziale) Komponenten brutal untergeordnet werden. Die Schwäche dieses Ausblendens zeigt sich seit einigen Jahren im Krisenmanagement der EU. Die Idee, eine gemeinsame Währung stabilisiere den Zusammenhalt Europas praktisch automatisch, hat sich als großer Fehler herausgestellt. Gut gemeint war auch hier das Gegenteil von gut gemacht.
Schäubles öffentliches Kokettieren mit dem Amt des Bundeskanzlers, seine medial inszenierte Ungeduld, die dennoch mit Unterwürfigkeit versetzt war, missfiel Kohl, der unterdessen die Pflöcke seines Lebenswerkes an den europäischen Verhandlungstischen einschlug. Schließlich kam es nur Entfremdung; mit dem Parteispendenskandal einige Jahre später zur Entzweiung. Die Parallelen zur verunglückten Nachfolgepolitik Adenauers liegen auf der Hand – wie das große Vorbild gelang Kohl kein Abschied in Würde. Allerdings kann, wie Schwarz’ einmal schreibt, von einem »Sturz« Kohls 1998 nicht die Rede sein. Eine demokratische Abwahl ist kein Putsch.
Mit der Schilderung der Parteispendenaffäre, die Kohl den Ehrenvorsitz der CDU kostete, beginnt das Buch zu einem schwer verdaulichen Kloß zu werden. Allzu bereitwillig zeichnet Schwarz Kohls Argumentation nach. Dass da jemand sein Versprechen über das Gesetz stellt, ist ihm ein Halbsatz wert. Das Motto lautet salopp ausgedrückt: Die anderen haben’s doch auch gemacht. Schließlich habe Kohl alles bezahlt – sowohl den finanziellen Schaden für die CDU als auch die hinterzogenen Steuern. Hier schreibt Schwarz Kohls bräsige Arroganz, mit der er sich über den Rechtsstaat erhebt, allzu bereitwillig fort. Indirekt wird suggeriert, dass die mediale Entrüstung über Kohls Verhalten zum Freitod seiner Frau beigetragen habe. Während sich der Alt-Bundeskanzler mit seinen Anwälten um die Wiederherstellung seiner Reputation habe kümmern müssen, sei die schwerkranke Hannelore Kohl daran verzweifelt.
Schwarz steigert sich fast in einen Furor hinein: Einer nach dem anderen wird verstoßen, ob es die Söhne Kohls sind, die, so weiß der Biograph, Probleme mit der fast gleichaltrigen neuen Frau des Vaters haben oder der einstige Vertraute Hannelore Kohls, der Journalist Heribert Schwan. Norbert Blüm und Wolfgang Schäuble werden, wie vom Original so vom Biographen, in den Orkus befördert. Und sogar Angela Merkel, die sich in der FAZ von Kohl distanzierte (und damit exakt so reagierte, wie der junge Kohl zwei Jahrzehnte vorher seine Chance genutzt hätte), fasst Schwarz mit spitzen Fingern an. Als Lichtgestalt bleibt Dr. Maike Kohl-Richter übrig und die letzten 40 Seiten (»Der goldene Herbst des Patriarchen«) sind tatsächlich auf dem Hofberichterstattungs-Niveau.
Wenn man sich jedoch erst einmal auf den Sprachduktus des Autors eingelassen und die letzten Seiten irgendwie bewältigt hat, vermag man ganz gut und mit Gewinn zwischen den Zeilen zu lesen. Schwarz’ Buch holt fast nebenbei die alte Bundesrepublik noch einmal hervor. Im Gegensatz zu vielen anderen Büchern, die die politischen Vorgänge dieser Jahre reflektieren und eine gewisse politische Idylle erzeugen, entsteht beim Leser eine veritable Desillusionierung. Das ist vermutlich gut so. Denn früher war eben doch nicht alles besser.
Vielen Dank!
Wie immer bei Deinen Rezensionen bewundere ich Deine Akribie und die gekonnte sprachliche Umsetzung Deiner kritischen Betrachtungen. Allerdings wurde ich beim Lesen Das Gefühl nicht los, alles schon mal gehört, gelesen und diskutiert zu haben, sechszehn elend lange, bleierne Jahre. Die Kohl-Aera durch eine dicke Schwarte noch einmal als kalten Kaffee serviert zu bekommen, noch dazu von einem unkritischen Verehrer, weckt bei mir so gar keine Leselust.
Wenn ich aber an den prinzipienlos torkelnden Politikstil der nachfolgenden und gegenwärtigen Regierungen denke, erscheint die Kohl-Aera geradezu heimelig als Ausbund von Solidität und Beständigkeit.
Das tatsächlich fast aufregende an diesem Buch ist, dass in der so bleiern empfundenen Kohl-Zeit (die Jahre 1994–98 waren es ja wirklich) Veränderungen auf europäischer Ebene verhandelt und beschlossen wurden, die man damals in dieser Konsequenz gar nicht mitbekam. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks gab es kein Ende der Geschichte – es ging munter voran und dies zum großen Teil unter Ausschluss der Öffentlichkeit, die sich dafür nicht interessierte bzw. Medien, die sich lieber über die Kopfform und Leibesfülle des Bundeskanzlers ausliessen als dessen »Visionen« zu thematisieren.
Ich habe lange überlegt, Kohls mehrbändige Erinnerungen zu lesen, die von Leuten, die ich schätze, praktisch als unlesbar deklariert wurden. Da kam mir dieses Buch eigentlich ganz gut. Auch wenn Schwarz aus seiner Sympathie keinen Hehl macht, gibt es Distanz.
»Die erste Lieb ich unter mir.
Das Zweite überhaupt.
Das Ganze tauschet für und für,
daß niemand mehr ihm glaubt.«
/Heinrich HEINE/