Ge­or­ge Packer: Die Ab­wick­lung

George Packer: Die Abwicklung

Ge­or­ge Packer: Die Ab­wick­lung

Im ver­gan­ge­nen Som­mer er­schien Ge­or­ge Packers »Die Ab­wick­lung – Ei­ne in­ne­re Ge­schich­te des neu­en Ame­ri­ka« in deut­scher Über­set­zung. Das Buch hat­te 2013 in den USA den »Na­tio­nal Book Award« für Sach­bücher ge­won­nen. Das me­dia­le Echo im deutsch­sprachigen Raum war ein­hel­lig hym­nisch. Ein­ge­denk des Fern­seh­for­mats der Do­ku-Fik­ti­on lag ein als »Sach­buch« de­kla­rier­tes Werk vor, wel­ches je­doch li­te­ra­risch er­zäh­lend ge­schrie­ben ist. Und tat­säch­lich: Al­le hi­sto­ri­schen Be­zü­ge stim­men; selbst Klei­nig­kei­ten hal­ten der Re­cher­che mü­he­los stand. Die Be­gei­ste­rung über die­ses Buch speist sich dar­aus, dass es dem Au­tor of­fen­sicht­lich ge­lun­gen ist, den Spa­gat zwi­schen Li­te­ra­tur und po­li­ti­scher Auf­klä­rung zu mei­stern. Der zwei­te Grund für den En­thu­si­as­mus dürf­te in der »scho­nungs­lo­sen« (FAZ) Schil­de­rung der US-ame­ri­ka­ni­schen Mit­tel­stands­ver­elen­dung lie­gen, die dem gän­gi­gen Nar­ra­tiv des ge­schei­ter­ten so­ge­nann­ten »Neo­li­be­ra­lis­mus« zu ent­spre­chen vor­gibt. In die­sem Buch wer­den die Fak­ten, wenn über­haupt, sub­ku­tan in ei­ne span­nen­de, ge­le­gent­lich ten­den­ziö­se Er­zäh­lung ein­ge­bet­tet. Meist be­schränkt man sich auf Be­haup­tun­gen, die pars pro to­to All­ge­mein­gül­tig­keit sug­ge­rie­ren. Da­mit ist die Rich­tung vor­ge­ge­ben; Nach­den­ken braucht der Le­ser kaum noch. Er darf sich un­ge­stört dem sog­haf­ten Er­zähl­strom hin­ge­ben.

Was ist »Ab­wick­lung«? Es ist, so Packer, die »Ab­wick­lung der Nor­men«, das, was man De­re­gu­lie­rung nennt, was zu ei­nem Zu­rück­ent­wickeln des Mit­tel­schicht­ver­spre­chens der USA führt. Und mit ihm ver­schwin­det die in­sti­tu­tio­nel­le Kul­tur der De­mo­kra­tie der Mit­tel­schicht, die ein­mal so kon­ge­ni­al be­schrie­ben wird: »Ge­ne­ral Mo­tors, der Gewerkschafts­bund AFL-CIO, der stän­di­ge Aus­schuss für Ar­beits­be­zie­hun­gen, der Chef in der Stadt, Bau­ern­ver­bän­de, die Be­zirks­ver­bän­de der Par­tei­en, die Ford-Stif­tung, der Ro­ta­ry Club, die Frau­en­li­ga, CBS News, der stän­di­ge Aus­schuss zur wirt­schaft­li­chen Ent­wick­lung, die So­zi­al­ver­si­che­rung, das Amt für Bo­den­schät­ze, das Bau- und Woh­nungs­amt, das Ge­setz zur Schaf­fung des Au­to­bahn­net­zes, der Mar­shall-Plan, die NATO, der Rat für in­ter­na­tio­na­le Be­zie­hun­gen, das Stu­di­en­för­de­rungs­ge­setz für Ve­te­ra­nen, die Ar­mee.« All­ge­mein nennt man so et­was »Ge­sell­schafts­ver­trag«. Das Ver­spre­chen: Har­te und ehr­li­che Ar­beit be­deu­te­te öko­no­mi­schen Wohl­stand und ad­äqua­te Par­ti­zi­pa­ti­on an und in der Ge­sell­schaft, so das Ide­al. Statt­des­sen ging die be­rüch­tig­te Sche­re im­mer wei­ter aus­ein­an­der. An Per­sön­lich­kei­ten wie Op­rah Win­frey, Pe­ter Thiel oder Sam Walt­on skiz­ziert Packer die Aus­nah­men: Sie wur­den zu Mil­li­ar­dä­ren, ob­wohl die Vor­aus­set­zun­gen auch hier nicht im­mer gut wa­ren.

Newt Ging­rich und Joe Bi­den

Das po­li­ti­sche Wa­shing­ton kommt im Buch aus­neh­mend schlecht weg. Por­trai­tiert wird Newt Ging­rich als oral­sex­be­ses­se­ner, geld­gie­ri­ger, mo­ra­lin­saurer Neu­ro­ti­ker, der sich durch sei­ne frü­he Hei­rat vor Viet­nam drücken konn­te und statt­des­sen ei­nen Feld­zug ge­gen die »Links­ra­di­ka­len« führ­te und bis heu­te führt. Auch der De­mo­krat Joe Bi­den kommt nicht bes­ser weg. Packer cha­rak­te­ri­siert ihn über die Fi­gur Jeff Con­n­augh­ton, der Bi­den mit ei­ner klei­nen Un­ter­bre­chung als Lob­by­ist fast drei­ßig Jah­re dien­te – als Plakat­kleber, Wahl­kampf­hel­fer, Geld­ein­trei­ber, Ab­trocken­tuch. Aber mehr als viel­leicht ein oder zwei Drei­mi­nu­ten­ge­sprä­che mit Bi­den ka­men nicht her­aus. Die »per­fek­te rech­te Hand« wur­de nie wahr­ge­nom­men. Sanft ver­fährt Packer dann in ei­nem Kurz­por­trait mit Co­lin Powell, den er zu­tref­fend als »Mann der In­sti­tu­tio­nen« be­schreibt, des­sen Rol­le un­ter Bush aber mil­de kom­men­tiert wird.

An­de­re Fi­gu­ren des Bu­ches – die Wich­ti­ge­ren – ba­lan­cie­ren na­he­zu stän­dig am fi­nan­zi­el­len und so­zia­len Ab­grund, wie bei­spiels­wei­se die schwar­ze Fa­brik­ar­bei­te­rin Tam­my Tho­mas, die mit 21 drei Kin­der hat, sich aber hoch­ar­bei­ten kann, be­vor sie dann nach Jahr­zehn­ten ent­las­sen wird und sich eh­ren­amt­lich en­ga­giert oder Na­po­le­on-Hill-Fan De­an Pri­ce (»Den­ke nach und wer­de reich«), der jah­re­lang ver­geb­lich ver­such­te mit Raps­öl und Bio­die­sel ei­nen Markt auf­zu­bau­en. Bei­de wür­den kei­ne Se­kun­de zö­gern, sich als Pa­trio­ten zu be­zeich­nen – und dies trotz der Ma­lai­sen, die ih­nen die Po­li­tik die­ses Land zu­fügt. Ob Tho­mas und Pri­ce wirk­lich rea­le Per­so­nen sind, bleibt of­fen; Packer be­ruft sich im Nach­wort dar­auf, mit hun­der­ten von Per­so­nen ge­spro­chen zu ha­ben. Die Por­traits der Pro­mi­nen­ten sind elek­ti­zi­stisch aus Bü­chern und Zeit­schrif­ten col­la­giert.

Sehn­sucht nach Re­gu­lie­rung

Packers 500-Sei­ten-Buch ist ein Mo­nu­men­tal­film mit be­son­ders ge­gen En­de im­mer mehr aus­ufern­dem Per­so­nal. De­an Pri­ce, Tam­my Tho­mas, Jeff Con­n­augh­ton kom­men im­mer wie­der vor, wer­den über Jahr­zehn­te be­glei­tet. Or­te wie Si­li­con Val­ley und Tam­pa ste­hen für den Auf­stieg Ame­ri­kas zur füh­ren­den Macht auf dem Ge­biet der In­for­ma­ti­ons­tech­nik bzw. für die Im­mo­bi­li­en­kri­se, die ab 2007 das Land noch ein­mal um­krem­peln soll­te. Die Aus­füh­run­gen über das Si­li­con Val­ley (be­son­ders den li­ber­tä­ren Un­ter­neh­mer Pe­ter Thiel) kom­men ein we­nig kli­schee­haft da­her. Die Tam­pa-Ka­pi­tel da­ge­gen sind sehr er­hel­lend – hier zeigt sich die Stär­ke von Packers in­duk­ti­vem Ver­fah­ren: Ex­em­pla­risch wird deut­lich, was 2007ff pas­sier­te – und schließ­lich auf Eu­ro­pa über­schwapp­te. Ei­ni­ge Ka­pi­tel hin­gegen, wie bei­spiels­wei­se über Op­rah Win­frey, Ro­bert Car­ver oder Jay Z schei­nen ent­behr­lich.

Packers The­se ist ziem­lich ein­fach: Die prak­tisch seit der Grün­dung der Ver­ei­nig­ten Staa­ten al­le 10–15 Jah­re zy­klisch statt­fin­den­den Fi­nanz­kri­sen mit »Panikverkäufe[n], Bank-Runs, Kre­dit­kri­sen, Kursstürze[n], Wirt­schafts­kri­sen« wur­den ab den 1930er Jah­ren durch fe­ste Re­gu­la­ri­en ge­bannt. Hier­durch war für ei­ni­ge Jahr­zehn­te ein nach­haltiges Auf­kom­men ei­ner Mit­tel­schicht mög­lich. Drei die­ser Re­gu­la­ri­en tau­chen im Buch im­mer wie­der auf. Zum ei­nen die Schaf­fung ei­ner Fe­de­ral De­po­sit Insu­rance Cor­po­ra­ti­on, die dem Spa­rer die Ein­la­gen si­chern soll­te. Dann der von Packer min­de­stens ein hal­bes Dut­zend Mal ins Feld ge­führ­te Glass-Stea­gall-Pakt, der zwin­gend ei­ne in­sti­tu­tio­nel­le Ban­ken­tren­nung zwi­schen dem Ein­la­gen- und Kre­dit­ge­schäft (»nor­ma­les Bank­ge­schäft«) und dem Wert­pa­pier­ge­schäft (In­vest­ment­ban­king) vor­sah. Glass-Stea­gall wur­de 1999 von der Clin­ton-Re­gie­rung ge­kippt, weil an­geb­lich ei­ne stren­ge Tren­nung nicht mehr mög­lich war. Un­mit­tel­bar nach der Auf­he­bung ent­stand die Ci­tigroup als zwi­schen­zeit­lich größ­te Bank welt­weit. Auf dem Hö­he­punkt der Fi­nanz­kri­se tau­mel­te dann aus­ge­rech­net die Ci­tigroup und die Re­gie­rung Bush er­wog ernst­haft die Ver­staat­li­chung der Bank, da sie »too big to fail« war. Die drit­te Kon­trol­le, die im Lau­fe der Jahr­zehn­te ent­we­der ab­ge­schafft oder im­mer mehr auf­ge­weicht wur­de, war die Bör­sen­auf­sicht (SEC – »Se­cu­ri­ties and Ex­ch­an­ge Com­mis­si­on«). 1995 gab es ei­ne gro­ße »Re­form« des Ak­ti­en­rechts. »Als Ver­hal­tens­no­men weg­bra­chen, die zu­min­dest die schlimm­sten Ex­zes­se der Geld­ma­che­rei ver­hin­dert hat­ten, kipp­te plötz­lich die ge­sam­te Kul­tur«. Über die­ses Kip­pen und die Fol­gen für ein­zel­ne Per­so­nen han­delt die­ses Buch.

Ver­klä­run­gen

1977 war das letz­te Jahr des Mit­tel­standstraums, so heißt es ein­mal. Tat­säch­lich wer­den heu­te im Rück­blick die letz­ten Jah­re der Prä­si­dent­schaft Jim­my Car­ters als kri­sen­haft wahr­ge­nom­men. Car­ter sel­ber trug da­zu mit sei­ner Fern­seh­re­de bei, in der er 1979 ei­ne »gei­sti­ge und mo­ra­li­sche Kri­se« der USA kon­sta­tier­te, die so­wohl so­zi­al, öko­no­misch als auch au­ßen­po­li­tisch be­grün­det war. Bei Packer wird die­se At­mo­sphä­re des dro­hen­den Nie­der­gangs der ame­ri­ka­ni­schen Na­ti­on, die am En­de schließ­lich den Dau­er­op­ti­mi­sten Rea­gan ins Prä­si­den­ten­amt spül­te, nur am Ran­de the­ma­ti­siert. Die Auf­lö­sung des Ver­brau­cher­schutz­mi­ni­ste­ri­ums 1978 ver­an­schlagt er hö­her.

Packer idea­li­siert in un­zu­läs­si­ger Form die Zeit vor 1977. Kaum et­was über Viet­nam, die Auf­stän­de der Ju­gend und, vor al­lem, über den ge­ra­de­zu vor-bür­ger­kriegs­ähn­li­chen Zu­stand der USA En­de der 1960er Jah­re mit den ex­zes­si­ven Ras­sen­un­ru­hen und der Er­mor­dung Mar­tin Lu­ther Kings und Ro­bert F. Ken­ne­dys. Al­les Fak­to­ren, die kei­ne Aus­wir­kun­gen auf die öko­no­mi­sche La­ge der USA hat­ten? Das ist un­denk­bar und so schwingt ei­ne gro­ße Por­ti­on Ver­klä­rung in den Pas­sa­gen mit, die die an­geb­lich so or­dent­lich re­gu­lier­ten USA als ein El­do­ra­do für Mit­tel­ständ­ler be­schrei­ben. Packer lehnt zwar im In­ter­view jeg­li­che »Nost­al­gie« ab, aber sein Buch ist an­ders grun­diert. Es er­in­nert an je­ne Sor­te We­stern­fil­me, in de­nen mit dem Horn der Ka­val­le­rie das Si­gnal für das Ge­met­zel an den krie­ge­ri­schen Rot­häu­ten ein­setz­te.

Zwei­fel­los wa­ren die Rea­gan-Jah­re ab 1981 für die USA ein­schnei­dend: De­re­gu­lie­rung der Fi­nanz­märk­te, Steu­er­sen­kun­gen (der Spit­zen­steu­er­satz von 70% wur­de mehr als hal­biert), Kür­zung der So­zi­al­pro­gram­me. »Voo­doo eco­no­mics« nann­te Ge­or­ge Bush sr. im Vor­wahlkampf die­ses Pro­gramm sei­nes Par­tei­freun­des. Als der spä­te­re Prä­si­dent un­ter Rea­gan Vi­ze­prä­si­dent wur­de leug­ne­te er stand­haft, die­ses Wort je­mals ge­braucht zu ha­ben. (Die­se Epi­so­de ha­be ich von Eu­ge­ne Jareckis lehr­rei­chem Film »Ro­nald Rea­gan – Ge­liebt und ge­hasst« ent­nom­men.) Die »trickle-down«-Ideologie wur­de rund zwan­zig Jah­re be­vor sie nach Deutsch­land über­schwapp­te sa­lon­fä­hig: Wenn es den Un­ter­neh­men gut geht, wird es den Ar­beit­ge­bern eben­falls bes­ser ge­hen als vor­her. Par­al­lel fand ei­ne bei­spiel­lo­se De­indu­stria­li­sie­rung statt, die Packer sehr ein­dring­lich am Bei­spiel der Stahl­stadt Young­stown auf­zeigt. Nach der Lek­tü­re die­ser Ka­pi­tel wird man den häu­fig so lar­moy­ant in­sze­nier­ten »Nie­der­gang des Ruhr­ge­biets« in et­was an­de­rem Licht se­hen.

Da die Steu­ern von Rea­gan ri­go­ros ge­senkt wur­den, fehl­ten dem Staat Ein­nah­men. Aber Rea­gan stell­te gleich­zei­tig enor­me Sum­men für den Ver­tei­di­gungs­haus­halt zur Ver­fü­gung, was die Staats­ver­schul­dung ex­plo­die­ren ließ. Die Ge­werk­schaf­ten wur­den ge­schwächt bzw. lie­ßen sich schwä­chen, die Ar­beits­lo­sen­zah­len stie­gen an. Und 1987 wur­de von der Auf­sichts­be­hör­de FCC mit »vier zu null Stim­men die Fair­ness Doc­tri­ne« auf­ge­ho­ben, die seit 1949 je­den Sen­der ver­pflich­tet hat­te, wich­ti­ge öf­fent­li­che An­ge­le­gen­hei­ten auf ehr­li­che und aus­ge­wo­ge­ne Wei­se dar­zu­stel­len.« Die Wei­chen, auf den Fox-News heu­te ih­re Pro­pa­gan­da auf­fährt, wur­den da­mals ge­legt. Der Staat war nur noch da­zu da, sich ab­zu­schaf­fen.

Aber in »Die Ab­wick­lung« spie­len die Rea­gan-Jah­re über­ra­schen­der­wei­se kei­ne do­mi­nan­te Rol­le. Packer be­schreibt eher ei­nen Pro­zess, der in al­len Re­gie­run­gen – ob re­pu­bli­ka­nisch oder de­mo­kra­tisch ge­führt – kon­ti­nu­ier­lich fort­ge­führt wur­de. Da­bei er­schei­nen dann am En­de die im­mer wil­der wer­den­den De­re­gu­lie­rungs­ak­tio­nen der Clin­ton-Re­gie­rung, die sehr ge­nau re­fe­riert und auch aus der Sicht der Be­trof­fe­nen kom­men­tiert wer­den noch wich­ti­ger und ent­schei­den­der. Clin­ton, der »bür­ger­lich-wirt­schafts­li­be­ra­le Prä­si­dent«, öff­ne­te die Schleu­sen zur Par­ti­zi­pa­ti­on Ame­ri­kas am glo­ba­len Ka­pi­ta­lis­mus noch wei­ter als al­le Prä­si­den­ten vor ihm. Um­so in­ter­es­san­ter, dass sei­ne so­ge­nann­te So­zi­al­hil­fe-Re­form, mit der das seit 1935 gel­ten­de Recht auf le­bens­lan­ge So­zi­al­hil­fe ab­ge­schafft und statt­des­sen auf fünf Jah­re be­grenzt wur­de, an kei­ner Stel­le von Packer auf­ge­grif­fen wird. Und auch wie es Clin­ton ge­schafft hat, ei­nen kon­so­li­dier­ten Haus­halt zu hin­ter­las­sen und Wachs­tum ge­ne­rier­te, er­fährt der Le­ser eben­falls nicht. Für ein Sach­buch sind dies be­mer­kens­wer­te De­fi­zi­te.

Cli­quen­wirt­schaft

Groß­ar­tig leuch­tet Packer hin­ge­gen die Ver­flech­tung zwi­schen Po­li­tik und dem Fi­nanz­platz Wall Street aus, wo­bei er zum ei­nen am po­li­ti­schen Sy­stem der USA kaum ein gu­tes Haar lässt und zum an­de­ren eben auch Ba­rack Oba­ma kri­ti­siert, der in der Ab­wick­lung der »ge­erb­ten« Kri­se von Bush nicht den Mut be­ses­sen hat, die wich­ti­gen Po­si­tio­nen in sei­ner Re­gie­rung mit un­ab­hän­gi­gen (Fach-)Leuten zu be­set­zen. Statt­des­sen wur­de Ti­mo­thy F. Geit­h­ner Fi­nanz­mi­ni­ster, der seit Jah­ren eng mit der Fi­nanz­wirt­schaft ver­floch­ten war, Ja­cob Lew stell­ver­tre­ten­der Au­ßen­mi­ni­ster, »nach­dem er 900.000 Dol­lar Bo­nus ein­ge­steckt hat­te« (Lew ist in­zwi­schen der Nach­fol­ger von Geit­h­ner) und Lar­ry Sum­mers der füh­ren­de Wirt­schafts­be­ra­ter im Wei­ßen Haus, ob­wohl »des­sen flei­ssi­ger Fin­ger­ab­druck auf all den Ge­schen­ken war, die die Po­li­tik in den Neun­zi­ger­jah­ren der Fi­nanz­bran­che ge­macht hat­te« – um nur ei­ni­ge zu nen­nen. Von Ro­bert Ru­bin, dem Packer ein ei­ge­nes Ka­pi­tel wid­met, ganz ab­ge­se­hen. Es ist nicht ganz klar, ob Packer sel­ber oder Jeff Con­n­augh­ton hier von »Cli­quen­wirt­schaft und Interessenkonflikte[n]« spricht, die »zur See­le der Me­ri­to­kra­tie« ge­hö­ren. Klein­laut die Aus­re­de, Oba­ma ha­be nichts von Wirt­schafts­po­li­tik ver­stan­den und glaub­te, mit die­sen Leu­ten den Kar­ren aus dem Dreck zie­hen zu kön­nen. Er hat­te aber wohl über­se­hen, dass es die­se Leu­te wa­ren, die ihn erst dort­hin ge­fah­ren hat­ten.

So weit, so gut. Aber die Be­stal­lung der ame­ri­ka­ni­schen Re­gie­rung durch das Wall-Street- und/oder po­li­ti­sche Estab­lish­ment war nicht auf Oba­mas Per­so­nal­li­ste be­grenzt. Die Schar der Fi­nanz­mi­ni­ster, die di­rekt oder in­di­rekt aus der Fi­nanz­wirt­schaft stamm­ten, ist fast schon Tra­di­ti­on. War­um liest man in sei­nem Buch da­zu nichts? Weil es die The­se des Nar­ra­tivs der »gu­ten al­ten Zeit« kon­ter­ka­rie­ren wür­de?

Die Per­so­na­li­sie­rung in Packers Text führt zwangs­läu­fig zu Ver­all­ge­mei­ne­run­gen. Der am deut­schen Wohl­fahrts­staat sich ori­en­tie­ren­de Le­ser und 70er Jah­re-Nost­al­gi­ker fin­det na­he­zu al­le gän­gi­gen Vor­ur­tei­le be­stä­tigt. Am En­de, als von ei­ner fi­nan­zi­ell dar­ben­den Fa­mi­lie er­zählt wird, die in ka­ker­la­ken­ver­seuch­ten Räu­men lebt aber im­mer noch be­harr­lich an sich und Ame­ri­ka zu glau­ben scheint, tau­melt das an­son­sten eher wohl­tu­end nüch­tern ge­schrie­be­ne Buch zu­wei­len in ei­nen an so­zia­li­sti­schen Rea­lis­mus er­in­nern­den Kitsch. Es gibt Feuil­le­to­ni­sten, die so et­was als »süf­fi­ge« Lek­tü­re be­zeich­nen. Aber süf­fi­ge Wei­ne sind sel­ten gut, zu­dem be­ne­beln sie den Geist ge­le­gent­lich.

Da­bei ist es nicht so, dass Packer das raue, li­ber­tä­re Den­ken aus­spart. Im Ge­gen­teil. Er er­zählt so­gar von be­dürf­ti­gen Men­schen, die ih­nen zu­ste­hen­de Ar­beits­lo­sen­un­ter­stüt­zung ab­leh­nen, nur weil sie jeg­li­chen staat­li­chen In­ter­ven­tio­na­lis­mus als Teu­fels­werk emp­fin­den. Er skiz­ziert die Lü­gen der li­ber­tä­ren Re­pu­bli­ka­ner, die ver­un­si­cher­te Wäh­ler ma­ni­pu­lie­ren. So wird der Wahl­kampf zu den Kon­gress­wah­len 2010 in Vir­gi­nia be­leuch­tet. Er­zählt wird von Tom Per­ri­el­lo und die At­tacken ge­gen ihn durch die Tea Par­ty. Haut­nah er­lebt der Le­ser die De­mü­ti­gun­gen, Un­ter­stel­lun­gen und Un­wahr­hei­ten, de­nen er aus­ge­setzt ist. Am En­de ge­schieht das, was man ahnt: Er Per­ri­el­lo ver­liert die Wahl. Die Be­schrei­bun­gen Packers le­gen al­ler­dings die Ver­mu­tung nah, dass haus­hoch ver­lo­ren wur­de. Man glaubt, die Tea Par­ty und ih­re An­hän­ger sei­en un­be­sieg­bar. In Wirk­lich­keit ver­lor Per­ri­el­lo 51:47, was eher bei­läu­fig er­wähnt wird.

So er­scheint der auf­blü­hen­de li­ber­tä­re Neo-Kon­ser­va­tis­mus über­mäch­ti­ger als er wo­mög­lich in Wirk­lich­keit ist. Aber hier­zu kein Wort. Und könn­te man von ei­nem Sach­buch nicht er­war­ten, et­was über die Stra­te­gien der Tea Par­ty-Be­we­gung zu er­fah­ren? Wor­in liegt ih­re At­trak­ti­vi­tät? Zwar er­wähnt Packer, dass sie sich bei al­ler ideo­lo­gi­schen Ver­blen­dung eben auch ge­gen das be­stehen­de po­li­ti­sche Wa­shing­to­ner Estab­lish­ment wen­den, wel­ches sich schon zu Uni-Zei­ten über die »rich­ti­gen« Netz­wer­ke vom Rest des Lan­des ab­schot­tet. In den Er­zäh­lun­gen der Fir­men­mo­gu­le wie Sam Walt­on oder Pe­ter Thiel schim­mert die­se Ver­ach­tung durch. Der Staat wird zu­se­hends als »Ko­sten­fak­tor« wahr­ge­nom­men, der das Mil­li­ar­den-Mo­no­po­ly nur stört. Aber was wird die­ser Pro­pa­gan­da von den De­mo­kra­ten ent­ge­gen­ge­setzt?

Was ist Mit­tel­stand?

Für ein Sach­buch un­ge­wöhn­lich ist das Feh­len ein­fach­ster De­fi­ni­tio­nen. Was ist zum Bei­spiel mit »Mit­tel­stand« ge­meint? Sind es die 16.108 Dol­lar im Jahr, die man als Wal-Mart-An­ge­stell­ter ver­dient? Oder die 55.000 Dol­lar, die Jeff Con­n­augh­ton im Wei­ßen Haus er­hielt, be­vor er dann ein Viel­fa­ches nach sei­nem Aus­schei­den dort als Lob­by­ist ein­strich? Ab wann ist man ein mit­tel­stän­di­scher Un­ter­neh­mer? Wann ist es De­an Pri­ce und wann nicht? Packers Er­zäh­len im­mu­ni­siert ge­gen sol­che Ein­wän­de, die man je­dem an­de­ren, »nor­ma­len« Sach­buch ge­gen­über so­fort for­mu­lie­ren wür­de. Viel­leicht weil man von den Le­bens­um­stän­den der Prot­ago­ni­sten mit­ge­nom­men und, bö­se for­mu­liert, ab­ge­lenkt wird. Packer be­dient hier die Sehn­sucht nach der Au­then­ti­zi­tät von Li­te­ra­tur und re­vi­ta­li­siert den Na­tu­ra­lis­mus des spä­ten 19. und frü­hen 20. Jahr­hun­derts, der in den USA in den 1930er Jah­ren mit Ja­mes T. Far­rell, John Stein­beck und John Dos Pas­sos in Blü­te stand. Nicht von un­ge­fähr ver­weist er auf Dos Pas­sos’ 30er Jah­re Tri­lo­gie und über­nimmt so­gar teil­wei­se de­ren Struk­tur.

Die Hym­nen auf das Buch ha­ben al­so auch for­ma­le Grün­de: Jour­na­lis­mus und Li­te­ra­tur schei­nen (end­lich) mit­ein­an­der ver­söhnt. Der Er­zähl­stil von »Die Ab­wick­lung« folgt der hoch ge­lob­ten Äs­the­tik der Fern­seh­se­ri­en, die viel­leicht ein biss­chen vor­ei­lig als die Ro­ma­ne des 21. Jahr­hun­derts be­zeich­net wer­den. Und schließ­lich wird noch die Brücke »Sach­buch« ge­schla­gen, da­mit ei­ne größt­mög­li­che Be­glau­bi­gung er­zeugt wer­den kann.

Packer zeigt ein Land, das aus meh­re­ren, schein­bar von­ein­an­der un­ab­hän­gig exi­stie­ren­den Par­al­lel­wel­ten zu be­stehen scheint. Die USA wer­den zum Wim­mel­bild von »Ab­ge­stie­ge­nen«, zu de­nen auch noch die Mil­li­ar­dä­re zu ge­hö­ren schei­nen, die trotz ih­res Reich­tums nicht glück­lich schei­nen. Die Ge­mein­schaft ist zer­split­tert, der Gesellschafts­vertrag des neu­en Ame­ri­ka, der »New Deal«, Ma­ku­la­tur. Packer il­lu­striert, wie die pro­gres­si­ven po­li­ti­schen Kräf­te Ame­ri­kas ver­sagt ha­ben – ge­ra­de dann, wenn sie an der Macht wa­ren und hät­ten Ver­än­de­run­gen durch­füh­ren kön­nen. Er spart aber auch die Be­mü­hun­gen aus, ei­ni­ge der ab­ge­schaff­ten Re­gu­la­ri­en ir­gend­wie wie­der zu be­le­ben, wie zum Bei­spiel den Glass-Stea­gall-Act. Und so ent­steht ein ge­sin­nungs­äs­the­tisch pas­sen­des, welt­erklä­ren­des (bzw. ame­rikaer­klä­ren­des) Werk. Na­tür­lich ist es der Auf­ga­be ent­ho­ben, Al­ter­na­ti­ven auf­zu­zei­gen. Hoff­nung gibt es kei­ne; auch die Oc­cu­py Be­we­gung wird zum Plüsch­ti­ger. Al­les er­scheint wie ei­ne Na­tur­ka­ta­stro­phe und nicht wie von Men­schen er­zeugt. Was bleibt ist ei­ne Mi­schung aus Er­schrecken und Ver­zweif­lung. Do­ku­men­tiert wird das Ver­sa­gen der Eli­ten, die, wie es ein­mal heißt, »kei­ne Lö­sun­gen für die Pro­ble­me der Ar­bei­ter und der Mit­tel­schicht« ha­ben. Sie glaub­ten und glau­ben, »dass je­der zum Pro­gram­mie­rer oder Fi­nanz­fach­mann um­ge­schult wer­den soll­te, dass zwi­schen ei­nem Stun­den­lohn von acht Dol­lar und ei­nem sechs­stel­li­gen Jah­res­ein­kom­men kei­ne Mög­lich­kei­ten wa­ren«. Merk­wür­di­ger­wei­se be­schreibt ge­nau dies auch das Di­lem­ma die­ses Bu­ches. Im­mer­hin wird be­stes In­fo­tain­ment ge­bo­ten. Aber nur we­nig mehr.

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  1. Kann es sein, dass mein mitt­ler­wei­le kaum noch zu be­he­ben­der An­ti­ame­ri­ka­nis­mus durch die­ses Buch noch or­dent­lich be­feu­ert wird? Muss ich ein­fach ha­ben und des­halb »Dan­ke!« für den Tip.

  2. Das wä­re mei­ne Fra­ge an die­ses hoch in­ter­es­san­te Buch, et­wa wie Gre­gor schreibt: De­re­gu­lie­rung der Fi­nanz­märk­te in den Neun­zi­ger Jah­ren und (... sehr viel wei­ter un­ten...) par­al­lel da­zu ei­ne bei­spiel­lo­se Ent-In­du­stria­li­sie­rung.
    Ich ver­fol­ge die­se »Par­al­le­le« seit gut 15 Jah­ren wie ei­ne welt­an­schau­li­che Grau­zo­ne. Es be­steht fast im­mer Ei­nig­keit hin­sicht­lich der Kri­sen­haf­tig­keit des jüng­sten Ka­pi­ta­lis­mus. Aber kaum je­mand ver­steht es, ei­ne si­che­re Ge­wich­tung der Ur­sa­chen vor­zu­neh­men. Die treu-doo­fe Lin­ke ver­sucht die Mal­lai­se den Ban­ken an­zu­hän­gen. Aber stimmt das?! So­gar »sei­ne Selbst­be­züg­lich­keit« Jür­gen Ha­ber­mas kommt auf kei­ne bril­li­an­te­re Idee, als die Fi­nanz­märk­te an­zu­kla­gen.
    Ge­nau das fehlt uns näm­lich ZUALLERST: man müss­te ex­akt sa­gen kön­nen, mit wel­chem Pro­blem-Kom­plex es der durch­schnitt­li­che wei­ße Mit­tel­schicht­ler im Hier und Jetzt zu tun, ein­be­zie­hend ei­ne ge­wis­se For­ma­ti­on na­mens »De­mo­kra­tie«. An­füh­rungs­zei­chen, weil man ja kaum noch weiß, wor­auf man sich be­zie­hen kann, oh­ne Miss­ver­ständ­nis­se zu evo­zie­ren...

  3. Ge­zeigt wird sehr an­schau­lich, wie be­reits Mit­te der 70er Jah­re die De-In­du­stria­li­sie­rung in den USA be­gann. Neu­lich ha­be ich ein paar Städ­te­do­ku­men­ta­tio­nen im WDR ge­se­hen, in de­nen man ge­zeigt be­kam, dass das Ze­chen­ster­ben in be­stimm­ten Re­gio­nen des Ruhr­ge­biets be­reits in den 60er Jah­ren an­fing. Schon da­mals wä­re der Ab­bau zu müh­se­lig und vor al­lem zu teu­er ge­we­sen – man zog in an­de­re Re­gio­nen. An­hand von Youngstown/OH wird im Buch der Nie­der­gang der Stahl­in­du­strie deut­lich: Schon da­mals griff das, was man heu­te »Glo­ba­li­sie­rung« nennt. Kom­pen­siert wer­den soll­ten die­se Ar­beits­plät­ze mit Dienst­lei­stungs­jobs, die aber im Rah­men der im­mer stär­ker auf­kom­men­den Au­to­ma­ti­on nicht die Lücken stop­fen konn­te. Rea­gans Ge­dan­ke war nun, dass, wenn man den Un­ter­neh­men nur mehr Geld und Frei­räu­me für In­ve­sti­tio­nen ließ, dann schon die Wirt­schaft wie­der an­sprin­gen wür­de. Das er­wies sich als Schi­mä­re. Der Fak­tor Ar­beit wur­de bil­li­ger und das nach­hal­tig.

    Die »Fi­nanz­märk­te« ver­hal­ten sich am En­de nur so, wie es die Po­li­ti­ker zu­las­sen. Das ist wie ein Was­ser­scha­den im Haus: Das Was­ser geht dort­hin, wo es kei­nen Wi­der­stand hat. Wenn die Mau­ern un­dicht wer­den, sickert es ein. Ich kann aber da­für nicht das Was­ser ver­ant­wort­lich ma­chen, son­dern die Ar­chi­tek­ten und Mau­rer, die die­se lecken­de Mau­er zu ver­ant­wor­ten ha­ben. Es ist ein Trick der po­li­ti­schen Eli­ten, die »Märk­te« an­zu­kla­gen. Da­bei ver­hal­ten sie sich nur ra­tio­nal. Sie ma­chen das, was man ih­nen ge­stat­tet. Ähn­lich ist es mit der »Glo­ba­li­sie­rung«. Sie ist per se nicht schlecht, son­dern wird es nur, wenn sie mit Schran­ken­lo­sig­keit ver­wech­selt wird.

  4. Sehr ein­ver­stan­den, be­son­ders mit dem Wort vom »Trick der po­li­ti­schen Eli­ten«. Mir scheint, dass die De­mo­kra­tie von Pseu­do-Dis­kur­sen durch­zo­gen wird, die den zeit­ge­nös­si­schen Kom­plex Wirt­schaft-Po­li­tik-Exi­stenz nicht mehr auf­lö­sen kön­nen.
    In An­leh­nung an die Me­ta­pher »Was­ser«: Wenn das Geld das Was­ser ist, das sich den Weg des ge­ring­sten Wi­der­stands bahnt, dann ist der Dis­kurs der Ne­bel, der über der Wirt­schaft und ih­ren Was­sern dampft.
    Ge­nau mit dem Be­griff »Glo­ba­li­sie­rung« ha­ben die­se (mei­ne) Ir­ri­ta­tio­nen an­ge­fan­gen. Es ist win­del­wei­cher Be­griff, der et­wa für den Kaf­fee­han­del nichts be­sagt. Roh­stof­fe ha­ben schon im­mer Welt­markt­prei­se. Da­mit wur­de ei­ne Ab­sa­ge an keyne­sia­ni­sche Kon­zep­te, sprich na­tio­na­le Steue­rungs­vor­schlä­ge be­grün­det, weil man sich leicht auf Kon­kur­renz­ver­hält­nis­se zwi­schen den Re­gio­nen mit un­ter­schied­li­chen Ent­wick­lungs­ni­veau be­zie­hen konn­te. Tot­schlag-Ar­gu­men­te und »Chan­cen«... Ver­mut­lich auch so ein haus­ge­mach­ter ka­li­for­ni­scher Be­griff, der we­nig er­klärt, aber im­mer funk­tio­niert, d.h. die mes­sa­ge rü­ber­bringt.
    Üb­ri­gens: die­ser Do­ku­men­ta­ti­ons­stil ist wirk­lich span­nend. Ich kann das be­stä­ti­gen. Ha­van­na, Nea­pel, De­troit, etc. ich hab’ schon ei­ni­ges ver­folgt, und je­des­mal den Ein­druck, mehr ver­stan­den zu ha­ben als nach 10 Bän­den »Auf­klä­rung«.

  5. Da­mit wur­de ei­ne Ab­sa­ge an keyne­sia­ni­sche Kon­zep­te, sprich na­tio­na­le Steue­rungs­vor­schlä­ge be­grün­det...
    Ja, so ist es. »Glo­ba­li­sie­rung« ist die Fo­lie der De­re­gu­lie­rer, die al­les im »Wett­be­werb« se­hen; am En­de so­gar so et­was wie Bil­dung (sie­he Bo­lo­gna-Pro­zess). Al­les hat öko­no­mi­schen Kri­te­ri­en zu ge­hor­chen. Die Säue, die durch die glo­ba­len Dör­fer ge­trie­ben wer­den, er­schei­nen da­bei im­mer ab­sur­der: Um den Fak­tor Ar­beit noch nach­hal­ti­ger zu ver­bil­li­gen, wur­den bspw. in Deutsch­land in den letz­ten Jahr­zehn­ten so­ge­nann­te Fach­kräf­te mit Vor­ru­he­stands­re­ge­lun­gen weg­ra­tio­na­li­siert und zu Gun­sten preis­gün­sti­ge­rer Ein­stei­ger be­setzt. Jetzt sind die­se schon zu teu­er und es sol­len Fach­kräf­te im­por­tiert wer­den. Be­grün­det wird dies mit der de­mo­gra­phi­schen Ent­wick­lung. Da­bei wird Ar­beit in der Zu­kunft im­mer we­ni­ger wer­den. Durch die Er­mög­li­chung von Im­por­ten von Fach­kräf­ten aus an­de­ren Län­dern (mei­stens EU-Län­dern) kan­ni­ba­li­siert man den Mit­tel­stand dau­er­haft.

  6. Rich­tig übel, das neue Zu­wan­de­rungs­ge­setz. Kei­ne Re­gie­rung kriegt die Flücht­lings-Pro­ble­ma­tik (ge­setz­lich) in der Griff. Al­le tau­chen weg. Aber wenn’s um öko­no­mi­sche De­ter­mi­nan­ten geht, Stich­wort: Fach­kräf­te-Man­gel, dann ist na­tür­lich be­son­ders die SPD gern pro­gres­siv.
    Al­le wol­len nur noch »po­si­tiv« re­gie­ren. Könnt’ ich mich auf­re­gen... The­ma be­set­zen, schwar­zen Pe­ter ab­spie­len, am be­sten »nach rechts«. Schi­zo-Kra­ten!

  7. Das Zu­wan­de­rungs­ge­setz wä­re sinn­voll, wenn da­mit kein Lohn­dum­ping ver­bun­den wä­re. Aber das wür­de wie­der ei­ne Re­gu­lie­rung be­deu­ten. Un­ter­neh­men se­hen sich ja schon mit der Er­fas­sung der Ar­beits­zeit der Ar­beit­neh­mer über­for­dert.

  8. In Pi­ket­tys Ka­pi­tal im 21. Jahr­hun­dert gibt’s ei­ni­ges zur Trans­for­ma­ti­on des Ka­pi­ta­lis­mus (und war­um das nicht ganz zu Un­recht Fi­nanz­ka­pi­ta­lis­mus heißt). Aber so aus dem Stand krieg ich Lai­in das nicht for­mu­liert.

  9. Ei­gent­lich hübsch dop­pel­deu­tig der Ti­tel des Buchs: »Ei­ne in­ne­re Ge­schich­te des neu­en Ame­ri­ka«.

    Volkswirtschaftlich/Ökonomisch scheint Ge­wiss­heit nicht ein­mal in der Theo­rie vor­han­den zu sein, will sa­gen, dass es, selbst wenn man ideo­lo­gi­sche Über­schüs­se weg lässt, sel­ten Ei­nig­keit gibt (sie­he Grie­chen­land). Muss man zu­nächst nicht ein­mal fest­stel­len, dass Volks­wirt­schaf­ten funk­tio­nie­ren, dar­über hin­aus kom­plex sind, aber über die Zu­sam­men­hän­ge und et­wa­ige Maß­nah­men kei­ne Ge­wiss­heit be­steht?

    Viel­leicht als Ver­gleich: Der öster­rei­chi­sche Öko­nom Schul­mei­ster sieht in den Re­for­men nach der gro­ßen De­pres­si­on ein hi­sto­ri­sches Bei­spiel wie man Wirt­schafts­kri­sen er­folg­reich mei­stern kann und die Not­wen­dig­keit ei­ner Fi­nanz­mark­re­gu­lie­rung um Wohl­stand für al­le zu er­zeu­gen (et­wa dort; bzw, auch in die­sem Vor­trag).

  10. Da ich das nach­kriegs­deut­sche USA-Nar­ra­tiv nur für ei­nen auf­ge­bla­se­nen Po­panz hal­te, soll­te die Packer-Lek­tü­re an­ge­neh­mes Was­ser auf die Müh­len mei­nes bil­li­gen An­ti­ame­ri­ka­nis­mus wer­den.

    Aber schon nach kur­zer Zeit wirk­ten die Bio­gra­phien tö­nern, be­ar­bei­tet, ge­schönt, ver­schlim­mert, schlicht (Ent­schul­di­gung) nicht au­then­tisch. Ge­ra­de die stärk­ste Ge­schich­te, die von Tam­my Tho­mas, weist so vie­le Un­ge­reimt­hei­ten auf, dass da­mit vie­les an­de­re mit in den Dreck ge­zo­gen wird. Bei kei­ner der han­deln­den Per­so­nen hat­te ich auch nur ei­nen Hauch von Em­pa­thie, meist, wie z.B. bei De­an Pri­ce, ha­be ich nur vir­tu­ell die Hän­de über dem Kopf zu­sam­men­ge­schla­gen.

    Zum Schluss war ich mir un­si­cher, ob ich ein­fach nicht ver­ste­he, was die Men­schen in den USA an­treibt oder ob Packer nur ein ma­nie­ri­sti­sches Buch ge­schrie­ben hat, denn trotz al­le­dem ha­be ich es nicht un­gern ge­le­sen. Be­ein­druckend z.B. ist die Be­schrei­bung des, aus dem Ru­he­stand ge­hol­ten, Rich­ters, der für ei­ne Auf­wands­ent­schä­di­gung in ei­nem trost­lo­sen Raum te­le­fo­nisch be­an­trag­te il­le­ga­le Räu­mungs­kla­gen im Mi­nu­ten­takt be­ur­kun­det.

    P.S. Um das Was­ser­bild auf­zu­grei­fen: Glo­ba­li­sie­rung ist für ei­ne Re­gie­rung der Ver­such, in ei­nem Karst­ge­bir­ge ei­nen Stau­damm zu bau­en.

  11. zu #9 und #10 und über­haupt: stimmt, ei­ne der we­sent­li­chen Un­si­cher­hei­ten geht von der Volks­wirt­schaft aus, ei­ner min­der be­last­ba­ren Wis­sen­schaft. Die Trans­for­ma­ti­on des Ka­pi­ta­lis­mus in der Fi­nanz­welt lässt sich be­stens be­le­gen, aber was be­deu­tet das für die Exi­stenz des ein­zel­nen?! Nicht viel an­de­res als zu­vor. Al­len­falls ver­steht der Durch­schnitt noch et­was we­ni­ger als frü­her, was vor sich geht.
    Pro­ble­ma­tisch sind so Be­grif­fe wie »Trans­for­ma­ti­on« und »Kul­tur­wan­del« (in Be­zug auf In­vest­ment) den­noch, weil die In­ter­pre­ta­ti­on die un­hin­ter­geh­ba­ren Struk­tu­ren des Ka­pi­ta­lis­mus ver­wischt. Al­lent­hal­ben wird doch der »ideo­lo­gi­sche Traum« ge­träumt, wo­nach man die Kol­la­te­ral­schä­den mit na­tio­na­len Re­geln und »schö­ner-Den­ken« weg­krie­gen könn­te. Ich se­he, wenn man so will, die Il­lu­si­on des gu­ten En­des eher als das Grund­pro­blem, als die per­ma­nen­te Er­war­tung ei­nes jä­hen Kol­lap­ses. Wir sind zu op­ti­mi­stisch, im­grun­de.

  12. Un­gern ha­be ich es auch nicht ge­le­sen, auch wenn es am En­de doch sehr zäh wur­de. Ei­ni­ge Sze­nen sind sehr be­ein­druckend – dar­un­ter auch die mit den Rich­tern, die im Mi­nu­ten­takt Räu­mungs­kla­gen fäl­len (müs­sen) und erst durch An­we­sen­de ein »rich­ti­ges« Ver­fah­ren be­gin­nen kann.

    Au­then­ti­zi­tät ist ein schwie­ri­ges Maß­stab. Für ein Sach­buch darf es ei­gent­lich nicht zäh­len, aber Packer zwingt durch die Er­zähl­wei­se da­zu, Stel­lung zu be­zie­hen. Ich ha­be kei­ne deut­sche Be­spre­chung ge­fun­den, die die Bio­gra­phien von Tam­my Tho­mas oder De­an Pri­ce an­zwei­felt. Ich sel­ber glau­be, dass es fik­ti­ve Bio­gra­phien sind. Das wür­de das Buch eher in die li­te­ra­ri­sche Ecke trei­ben. Am in­ter­es­san­te­sten fand ich von den Per­so­nen Jeff Con­n­augh­ton. den es ja wirk­lich gibt und sei­ne Ni­be­lun­gen­treue dem Po­li­ti­ker Bi­den ge­gen­über, die ab­so­lut un­ver­ständ­lich für mich ist. In­zwi­schen sieht er das aber wohl gründ­lich an­ders, wie man auf sei­ner Web­sei­te se­hen kann.

  13. In die­sem Zu­sam­men­hang ist viel­leicht die­ser Film noch in­ter­es­sant, auch wenn er nicht di­rekt zur The­ma­tik USA/Mittelschicht passt. (Be­son­ders die Stim­mung im ein­schnei­en­den Frank­furt ist hübsch.)

  14. Ob in der Ge­schich­te von Tam­my Tho­mas et­was nicht stimmt, weiss ich nicht. Aber ver­bo­gen ist sie, schlimm ver­bo­gen. Um es mal et­was dra­stisch dar­zu­stel­len: Erst wird ei­ne lar­moy­an­te Pe­ti­tes­se über meh­re­re Sei­ten dar­ge­stellt. Dann ein Zeit­sprung mit nicht ins Kon­zept pas­sen­den Mar­gi­na­li­en in ei­nem Ne­ben­satz ab­ge­han­delt. Ich ha­be mich da ver­schau­kelt ge­fühlt und es nagt an dem Grund­ver­trau­en, dass man dem Au­tor ent­ge­gen bringt. Packer ist via New Yor­ker ei­ne Grö­ße in den USA, der sei­ner pa­ter­na­li­sti­schen Rol­le ge­recht wer­den muss. Die Rea­li­tät muss da­zu halt lei­den.

    Da­zu fällt mir die An­ek­do­te über Hans May­er ein, die Rad­datz in sei­nen Ta­ge­bü­chern zum Be­sten gibt. Nach dem May­er sich in ei­nem Ge­spräch aus­gie­big selbst­dar­stell­te, sag­te er: »Jetzt ha­be ich so viel über mich ge­re­det, jetzt aber zu Ih­nen. Wie hat Ih­nen mein neu­es Buch ge­fal­len.«. Viel­leicht muss man Packer auch so se­hen.