Was ist »Abwicklung«? Es ist, so Packer, die »Abwicklung der Normen«, das, was man Deregulierung nennt, was zu einem Zurückentwickeln des Mittelschichtversprechens der USA führt. Und mit ihm verschwindet die institutionelle Kultur der Demokratie der Mittelschicht, die einmal so kongenial beschrieben wird: »General Motors, der Gewerkschaftsbund AFL-CIO, der ständige Ausschuss für Arbeitsbeziehungen, der Chef in der Stadt, Bauernverbände, die Bezirksverbände der Parteien, die Ford-Stiftung, der Rotary Club, die Frauenliga, CBS News, der ständige Ausschuss zur wirtschaftlichen Entwicklung, die Sozialversicherung, das Amt für Bodenschätze, das Bau- und Wohnungsamt, das Gesetz zur Schaffung des Autobahnnetzes, der Marshall-Plan, die NATO, der Rat für internationale Beziehungen, das Studienförderungsgesetz für Veteranen, die Armee.« Allgemein nennt man so etwas »Gesellschaftsvertrag«. Das Versprechen: Harte und ehrliche Arbeit bedeutete ökonomischen Wohlstand und adäquate Partizipation an und in der Gesellschaft, so das Ideal. Stattdessen ging die berüchtigte Schere immer weiter auseinander. An Persönlichkeiten wie Oprah Winfrey, Peter Thiel oder Sam Walton skizziert Packer die Ausnahmen: Sie wurden zu Milliardären, obwohl die Voraussetzungen auch hier nicht immer gut waren.
Newt Gingrich und Joe Biden
Das politische Washington kommt im Buch ausnehmend schlecht weg. Portraitiert wird Newt Gingrich als oralsexbesessener, geldgieriger, moralinsaurer Neurotiker, der sich durch seine frühe Heirat vor Vietnam drücken konnte und stattdessen einen Feldzug gegen die »Linksradikalen« führte und bis heute führt. Auch der Demokrat Joe Biden kommt nicht besser weg. Packer charakterisiert ihn über die Figur Jeff Connaughton, der Biden mit einer kleinen Unterbrechung als Lobbyist fast dreißig Jahre diente – als Plakatkleber, Wahlkampfhelfer, Geldeintreiber, Abtrockentuch. Aber mehr als vielleicht ein oder zwei Dreiminutengespräche mit Biden kamen nicht heraus. Die »perfekte rechte Hand« wurde nie wahrgenommen. Sanft verfährt Packer dann in einem Kurzportrait mit Colin Powell, den er zutreffend als »Mann der Institutionen« beschreibt, dessen Rolle unter Bush aber milde kommentiert wird.
Andere Figuren des Buches – die Wichtigeren – balancieren nahezu ständig am finanziellen und sozialen Abgrund, wie beispielsweise die schwarze Fabrikarbeiterin Tammy Thomas, die mit 21 drei Kinder hat, sich aber hocharbeiten kann, bevor sie dann nach Jahrzehnten entlassen wird und sich ehrenamtlich engagiert oder Napoleon-Hill-Fan Dean Price (»Denke nach und werde reich«), der jahrelang vergeblich versuchte mit Rapsöl und Biodiesel einen Markt aufzubauen. Beide würden keine Sekunde zögern, sich als Patrioten zu bezeichnen – und dies trotz der Malaisen, die ihnen die Politik dieses Land zufügt. Ob Thomas und Price wirklich reale Personen sind, bleibt offen; Packer beruft sich im Nachwort darauf, mit hunderten von Personen gesprochen zu haben. Die Portraits der Prominenten sind elektizistisch aus Büchern und Zeitschriften collagiert.
Sehnsucht nach Regulierung
Packers 500-Seiten-Buch ist ein Monumentalfilm mit besonders gegen Ende immer mehr ausuferndem Personal. Dean Price, Tammy Thomas, Jeff Connaughton kommen immer wieder vor, werden über Jahrzehnte begleitet. Orte wie Silicon Valley und Tampa stehen für den Aufstieg Amerikas zur führenden Macht auf dem Gebiet der Informationstechnik bzw. für die Immobilienkrise, die ab 2007 das Land noch einmal umkrempeln sollte. Die Ausführungen über das Silicon Valley (besonders den libertären Unternehmer Peter Thiel) kommen ein wenig klischeehaft daher. Die Tampa-Kapitel dagegen sind sehr erhellend – hier zeigt sich die Stärke von Packers induktivem Verfahren: Exemplarisch wird deutlich, was 2007ff passierte – und schließlich auf Europa überschwappte. Einige Kapitel hingegen, wie beispielsweise über Oprah Winfrey, Robert Carver oder Jay Z scheinen entbehrlich.
Packers These ist ziemlich einfach: Die praktisch seit der Gründung der Vereinigten Staaten alle 10–15 Jahre zyklisch stattfindenden Finanzkrisen mit »Panikverkäufe[n], Bank-Runs, Kreditkrisen, Kursstürze[n], Wirtschaftskrisen« wurden ab den 1930er Jahren durch feste Regularien gebannt. Hierdurch war für einige Jahrzehnte ein nachhaltiges Aufkommen einer Mittelschicht möglich. Drei dieser Regularien tauchen im Buch immer wieder auf. Zum einen die Schaffung einer Federal Deposit Insurance Corporation, die dem Sparer die Einlagen sichern sollte. Dann der von Packer mindestens ein halbes Dutzend Mal ins Feld geführte Glass-Steagall-Pakt, der zwingend eine institutionelle Bankentrennung zwischen dem Einlagen- und Kreditgeschäft (»normales Bankgeschäft«) und dem Wertpapiergeschäft (Investmentbanking) vorsah. Glass-Steagall wurde 1999 von der Clinton-Regierung gekippt, weil angeblich eine strenge Trennung nicht mehr möglich war. Unmittelbar nach der Aufhebung entstand die Citigroup als zwischenzeitlich größte Bank weltweit. Auf dem Höhepunkt der Finanzkrise taumelte dann ausgerechnet die Citigroup und die Regierung Bush erwog ernsthaft die Verstaatlichung der Bank, da sie »too big to fail« war. Die dritte Kontrolle, die im Laufe der Jahrzehnte entweder abgeschafft oder immer mehr aufgeweicht wurde, war die Börsenaufsicht (SEC – »Securities and Exchange Commission«). 1995 gab es eine große »Reform« des Aktienrechts. »Als Verhaltensnomen wegbrachen, die zumindest die schlimmsten Exzesse der Geldmacherei verhindert hatten, kippte plötzlich die gesamte Kultur«. Über dieses Kippen und die Folgen für einzelne Personen handelt dieses Buch.
Verklärungen
1977 war das letzte Jahr des Mittelstandstraums, so heißt es einmal. Tatsächlich werden heute im Rückblick die letzten Jahre der Präsidentschaft Jimmy Carters als krisenhaft wahrgenommen. Carter selber trug dazu mit seiner Fernsehrede bei, in der er 1979 eine »geistige und moralische Krise« der USA konstatierte, die sowohl sozial, ökonomisch als auch außenpolitisch begründet war. Bei Packer wird diese Atmosphäre des drohenden Niedergangs der amerikanischen Nation, die am Ende schließlich den Daueroptimisten Reagan ins Präsidentenamt spülte, nur am Rande thematisiert. Die Auflösung des Verbraucherschutzministeriums 1978 veranschlagt er höher.
Packer idealisiert in unzulässiger Form die Zeit vor 1977. Kaum etwas über Vietnam, die Aufstände der Jugend und, vor allem, über den geradezu vor-bürgerkriegsähnlichen Zustand der USA Ende der 1960er Jahre mit den exzessiven Rassenunruhen und der Ermordung Martin Luther Kings und Robert F. Kennedys. Alles Faktoren, die keine Auswirkungen auf die ökonomische Lage der USA hatten? Das ist undenkbar und so schwingt eine große Portion Verklärung in den Passagen mit, die die angeblich so ordentlich regulierten USA als ein Eldorado für Mittelständler beschreiben. Packer lehnt zwar im Interview jegliche »Nostalgie« ab, aber sein Buch ist anders grundiert. Es erinnert an jene Sorte Westernfilme, in denen mit dem Horn der Kavallerie das Signal für das Gemetzel an den kriegerischen Rothäuten einsetzte.
Zweifellos waren die Reagan-Jahre ab 1981 für die USA einschneidend: Deregulierung der Finanzmärkte, Steuersenkungen (der Spitzensteuersatz von 70% wurde mehr als halbiert), Kürzung der Sozialprogramme. »Voodoo economics« nannte George Bush sr. im Vorwahlkampf dieses Programm seines Parteifreundes. Als der spätere Präsident unter Reagan Vizepräsident wurde leugnete er standhaft, dieses Wort jemals gebraucht zu haben. (Diese Episode habe ich von Eugene Jareckis lehrreichem Film »Ronald Reagan – Geliebt und gehasst« entnommen.) Die »trickle-down«-Ideologie wurde rund zwanzig Jahre bevor sie nach Deutschland überschwappte salonfähig: Wenn es den Unternehmen gut geht, wird es den Arbeitgebern ebenfalls besser gehen als vorher. Parallel fand eine beispiellose Deindustrialisierung statt, die Packer sehr eindringlich am Beispiel der Stahlstadt Youngstown aufzeigt. Nach der Lektüre dieser Kapitel wird man den häufig so larmoyant inszenierten »Niedergang des Ruhrgebiets« in etwas anderem Licht sehen.
Da die Steuern von Reagan rigoros gesenkt wurden, fehlten dem Staat Einnahmen. Aber Reagan stellte gleichzeitig enorme Summen für den Verteidigungshaushalt zur Verfügung, was die Staatsverschuldung explodieren ließ. Die Gewerkschaften wurden geschwächt bzw. ließen sich schwächen, die Arbeitslosenzahlen stiegen an. Und 1987 wurde von der Aufsichtsbehörde FCC mit »vier zu null Stimmen die Fairness Doctrine« aufgehoben, die seit 1949 jeden Sender verpflichtet hatte, wichtige öffentliche Angelegenheiten auf ehrliche und ausgewogene Weise darzustellen.« Die Weichen, auf den Fox-News heute ihre Propaganda auffährt, wurden damals gelegt. Der Staat war nur noch dazu da, sich abzuschaffen.
Aber in »Die Abwicklung« spielen die Reagan-Jahre überraschenderweise keine dominante Rolle. Packer beschreibt eher einen Prozess, der in allen Regierungen – ob republikanisch oder demokratisch geführt – kontinuierlich fortgeführt wurde. Dabei erscheinen dann am Ende die immer wilder werdenden Deregulierungsaktionen der Clinton-Regierung, die sehr genau referiert und auch aus der Sicht der Betroffenen kommentiert werden noch wichtiger und entscheidender. Clinton, der »bürgerlich-wirtschaftsliberale Präsident«, öffnete die Schleusen zur Partizipation Amerikas am globalen Kapitalismus noch weiter als alle Präsidenten vor ihm. Umso interessanter, dass seine sogenannte Sozialhilfe-Reform, mit der das seit 1935 geltende Recht auf lebenslange Sozialhilfe abgeschafft und stattdessen auf fünf Jahre begrenzt wurde, an keiner Stelle von Packer aufgegriffen wird. Und auch wie es Clinton geschafft hat, einen konsolidierten Haushalt zu hinterlassen und Wachstum generierte, erfährt der Leser ebenfalls nicht. Für ein Sachbuch sind dies bemerkenswerte Defizite.
Cliquenwirtschaft
Großartig leuchtet Packer hingegen die Verflechtung zwischen Politik und dem Finanzplatz Wall Street aus, wobei er zum einen am politischen System der USA kaum ein gutes Haar lässt und zum anderen eben auch Barack Obama kritisiert, der in der Abwicklung der »geerbten« Krise von Bush nicht den Mut besessen hat, die wichtigen Positionen in seiner Regierung mit unabhängigen (Fach-)Leuten zu besetzen. Stattdessen wurde Timothy F. Geithner Finanzminister, der seit Jahren eng mit der Finanzwirtschaft verflochten war, Jacob Lew stellvertretender Außenminister, »nachdem er 900.000 Dollar Bonus eingesteckt hatte« (Lew ist inzwischen der Nachfolger von Geithner) und Larry Summers der führende Wirtschaftsberater im Weißen Haus, obwohl »dessen fleissiger Fingerabdruck auf all den Geschenken war, die die Politik in den Neunzigerjahren der Finanzbranche gemacht hatte« – um nur einige zu nennen. Von Robert Rubin, dem Packer ein eigenes Kapitel widmet, ganz abgesehen. Es ist nicht ganz klar, ob Packer selber oder Jeff Connaughton hier von »Cliquenwirtschaft und Interessenkonflikte[n]« spricht, die »zur Seele der Meritokratie« gehören. Kleinlaut die Ausrede, Obama habe nichts von Wirtschaftspolitik verstanden und glaubte, mit diesen Leuten den Karren aus dem Dreck ziehen zu können. Er hatte aber wohl übersehen, dass es diese Leute waren, die ihn erst dorthin gefahren hatten.
So weit, so gut. Aber die Bestallung der amerikanischen Regierung durch das Wall-Street- und/oder politische Establishment war nicht auf Obamas Personalliste begrenzt. Die Schar der Finanzminister, die direkt oder indirekt aus der Finanzwirtschaft stammten, ist fast schon Tradition. Warum liest man in seinem Buch dazu nichts? Weil es die These des Narrativs der »guten alten Zeit« konterkarieren würde?
Die Personalisierung in Packers Text führt zwangsläufig zu Verallgemeinerungen. Der am deutschen Wohlfahrtsstaat sich orientierende Leser und 70er Jahre-Nostalgiker findet nahezu alle gängigen Vorurteile bestätigt. Am Ende, als von einer finanziell darbenden Familie erzählt wird, die in kakerlakenverseuchten Räumen lebt aber immer noch beharrlich an sich und Amerika zu glauben scheint, taumelt das ansonsten eher wohltuend nüchtern geschriebene Buch zuweilen in einen an sozialistischen Realismus erinnernden Kitsch. Es gibt Feuilletonisten, die so etwas als »süffige« Lektüre bezeichnen. Aber süffige Weine sind selten gut, zudem benebeln sie den Geist gelegentlich.
Dabei ist es nicht so, dass Packer das raue, libertäre Denken ausspart. Im Gegenteil. Er erzählt sogar von bedürftigen Menschen, die ihnen zustehende Arbeitslosenunterstützung ablehnen, nur weil sie jeglichen staatlichen Interventionalismus als Teufelswerk empfinden. Er skizziert die Lügen der libertären Republikaner, die verunsicherte Wähler manipulieren. So wird der Wahlkampf zu den Kongresswahlen 2010 in Virginia beleuchtet. Erzählt wird von Tom Perriello und die Attacken gegen ihn durch die Tea Party. Hautnah erlebt der Leser die Demütigungen, Unterstellungen und Unwahrheiten, denen er ausgesetzt ist. Am Ende geschieht das, was man ahnt: Er Perriello verliert die Wahl. Die Beschreibungen Packers legen allerdings die Vermutung nah, dass haushoch verloren wurde. Man glaubt, die Tea Party und ihre Anhänger seien unbesiegbar. In Wirklichkeit verlor Perriello 51:47, was eher beiläufig erwähnt wird.
So erscheint der aufblühende libertäre Neo-Konservatismus übermächtiger als er womöglich in Wirklichkeit ist. Aber hierzu kein Wort. Und könnte man von einem Sachbuch nicht erwarten, etwas über die Strategien der Tea Party-Bewegung zu erfahren? Worin liegt ihre Attraktivität? Zwar erwähnt Packer, dass sie sich bei aller ideologischen Verblendung eben auch gegen das bestehende politische Washingtoner Establishment wenden, welches sich schon zu Uni-Zeiten über die »richtigen« Netzwerke vom Rest des Landes abschottet. In den Erzählungen der Firmenmogule wie Sam Walton oder Peter Thiel schimmert diese Verachtung durch. Der Staat wird zusehends als »Kostenfaktor« wahrgenommen, der das Milliarden-Monopoly nur stört. Aber was wird dieser Propaganda von den Demokraten entgegengesetzt?
Was ist Mittelstand?
Für ein Sachbuch ungewöhnlich ist das Fehlen einfachster Definitionen. Was ist zum Beispiel mit »Mittelstand« gemeint? Sind es die 16.108 Dollar im Jahr, die man als Wal-Mart-Angestellter verdient? Oder die 55.000 Dollar, die Jeff Connaughton im Weißen Haus erhielt, bevor er dann ein Vielfaches nach seinem Ausscheiden dort als Lobbyist einstrich? Ab wann ist man ein mittelständischer Unternehmer? Wann ist es Dean Price und wann nicht? Packers Erzählen immunisiert gegen solche Einwände, die man jedem anderen, »normalen« Sachbuch gegenüber sofort formulieren würde. Vielleicht weil man von den Lebensumständen der Protagonisten mitgenommen und, böse formuliert, abgelenkt wird. Packer bedient hier die Sehnsucht nach der Authentizität von Literatur und revitalisiert den Naturalismus des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, der in den USA in den 1930er Jahren mit James T. Farrell, John Steinbeck und John Dos Passos in Blüte stand. Nicht von ungefähr verweist er auf Dos Passos’ 30er Jahre Trilogie und übernimmt sogar teilweise deren Struktur.
Die Hymnen auf das Buch haben also auch formale Gründe: Journalismus und Literatur scheinen (endlich) miteinander versöhnt. Der Erzählstil von »Die Abwicklung« folgt der hoch gelobten Ästhetik der Fernsehserien, die vielleicht ein bisschen voreilig als die Romane des 21. Jahrhunderts bezeichnet werden. Und schließlich wird noch die Brücke »Sachbuch« geschlagen, damit eine größtmögliche Beglaubigung erzeugt werden kann.
Packer zeigt ein Land, das aus mehreren, scheinbar voneinander unabhängig existierenden Parallelwelten zu bestehen scheint. Die USA werden zum Wimmelbild von »Abgestiegenen«, zu denen auch noch die Milliardäre zu gehören scheinen, die trotz ihres Reichtums nicht glücklich scheinen. Die Gemeinschaft ist zersplittert, der Gesellschaftsvertrag des neuen Amerika, der »New Deal«, Makulatur. Packer illustriert, wie die progressiven politischen Kräfte Amerikas versagt haben – gerade dann, wenn sie an der Macht waren und hätten Veränderungen durchführen können. Er spart aber auch die Bemühungen aus, einige der abgeschafften Regularien irgendwie wieder zu beleben, wie zum Beispiel den Glass-Steagall-Act. Und so entsteht ein gesinnungsästhetisch passendes, welterklärendes (bzw. amerikaerklärendes) Werk. Natürlich ist es der Aufgabe enthoben, Alternativen aufzuzeigen. Hoffnung gibt es keine; auch die Occupy Bewegung wird zum Plüschtiger. Alles erscheint wie eine Naturkatastrophe und nicht wie von Menschen erzeugt. Was bleibt ist eine Mischung aus Erschrecken und Verzweiflung. Dokumentiert wird das Versagen der Eliten, die, wie es einmal heißt, »keine Lösungen für die Probleme der Arbeiter und der Mittelschicht« haben. Sie glaubten und glauben, »dass jeder zum Programmierer oder Finanzfachmann umgeschult werden sollte, dass zwischen einem Stundenlohn von acht Dollar und einem sechsstelligen Jahreseinkommen keine Möglichkeiten waren«. Merkwürdigerweise beschreibt genau dies auch das Dilemma dieses Buches. Immerhin wird bestes Infotainment geboten. Aber nur wenig mehr.
Kann es sein, dass mein mittlerweile kaum noch zu behebender Antiamerikanismus durch dieses Buch noch ordentlich befeuert wird? Muss ich einfach haben und deshalb »Danke!« für den Tip.
Also bei mir stellte sich kein Antiamerikanismus ein. Vielleicht bin ich auch schon zu sehr globalisiert.
Das wäre meine Frage an dieses hoch interessante Buch, etwa wie Gregor schreibt: Deregulierung der Finanzmärkte in den Neunziger Jahren und (... sehr viel weiter unten...) parallel dazu eine beispiellose Ent-Industrialisierung.
Ich verfolge diese »Parallele« seit gut 15 Jahren wie eine weltanschauliche Grauzone. Es besteht fast immer Einigkeit hinsichtlich der Krisenhaftigkeit des jüngsten Kapitalismus. Aber kaum jemand versteht es, eine sichere Gewichtung der Ursachen vorzunehmen. Die treu-doofe Linke versucht die Mallaise den Banken anzuhängen. Aber stimmt das?! Sogar »seine Selbstbezüglichkeit« Jürgen Habermas kommt auf keine brilliantere Idee, als die Finanzmärkte anzuklagen.
Genau das fehlt uns nämlich ZUALLERST: man müsste exakt sagen können, mit welchem Problem-Komplex es der durchschnittliche weiße Mittelschichtler im Hier und Jetzt zu tun, einbeziehend eine gewisse Formation namens »Demokratie«. Anführungszeichen, weil man ja kaum noch weiß, worauf man sich beziehen kann, ohne Missverständnisse zu evozieren...
Gezeigt wird sehr anschaulich, wie bereits Mitte der 70er Jahre die De-Industrialisierung in den USA begann. Neulich habe ich ein paar Städtedokumentationen im WDR gesehen, in denen man gezeigt bekam, dass das Zechensterben in bestimmten Regionen des Ruhrgebiets bereits in den 60er Jahren anfing. Schon damals wäre der Abbau zu mühselig und vor allem zu teuer gewesen – man zog in andere Regionen. Anhand von Youngstown/OH wird im Buch der Niedergang der Stahlindustrie deutlich: Schon damals griff das, was man heute »Globalisierung« nennt. Kompensiert werden sollten diese Arbeitsplätze mit Dienstleistungsjobs, die aber im Rahmen der immer stärker aufkommenden Automation nicht die Lücken stopfen konnte. Reagans Gedanke war nun, dass, wenn man den Unternehmen nur mehr Geld und Freiräume für Investitionen ließ, dann schon die Wirtschaft wieder anspringen würde. Das erwies sich als Schimäre. Der Faktor Arbeit wurde billiger und das nachhaltig.
Die »Finanzmärkte« verhalten sich am Ende nur so, wie es die Politiker zulassen. Das ist wie ein Wasserschaden im Haus: Das Wasser geht dorthin, wo es keinen Widerstand hat. Wenn die Mauern undicht werden, sickert es ein. Ich kann aber dafür nicht das Wasser verantwortlich machen, sondern die Architekten und Maurer, die diese leckende Mauer zu verantworten haben. Es ist ein Trick der politischen Eliten, die »Märkte« anzuklagen. Dabei verhalten sie sich nur rational. Sie machen das, was man ihnen gestattet. Ähnlich ist es mit der »Globalisierung«. Sie ist per se nicht schlecht, sondern wird es nur, wenn sie mit Schrankenlosigkeit verwechselt wird.
Sehr einverstanden, besonders mit dem Wort vom »Trick der politischen Eliten«. Mir scheint, dass die Demokratie von Pseudo-Diskursen durchzogen wird, die den zeitgenössischen Komplex Wirtschaft-Politik-Existenz nicht mehr auflösen können.
In Anlehnung an die Metapher »Wasser«: Wenn das Geld das Wasser ist, das sich den Weg des geringsten Widerstands bahnt, dann ist der Diskurs der Nebel, der über der Wirtschaft und ihren Wassern dampft.
Genau mit dem Begriff »Globalisierung« haben diese (meine) Irritationen angefangen. Es ist windelweicher Begriff, der etwa für den Kaffeehandel nichts besagt. Rohstoffe haben schon immer Weltmarktpreise. Damit wurde eine Absage an keynesianische Konzepte, sprich nationale Steuerungsvorschläge begründet, weil man sich leicht auf Konkurrenzverhältnisse zwischen den Regionen mit unterschiedlichen Entwicklungsniveau beziehen konnte. Totschlag-Argumente und »Chancen«... Vermutlich auch so ein hausgemachter kalifornischer Begriff, der wenig erklärt, aber immer funktioniert, d.h. die message rüberbringt.
Übrigens: dieser Dokumentationsstil ist wirklich spannend. Ich kann das bestätigen. Havanna, Neapel, Detroit, etc. ich hab’ schon einiges verfolgt, und jedesmal den Eindruck, mehr verstanden zu haben als nach 10 Bänden »Aufklärung«.
Damit wurde eine Absage an keynesianische Konzepte, sprich nationale Steuerungsvorschläge begründet...
Ja, so ist es. »Globalisierung« ist die Folie der Deregulierer, die alles im »Wettbewerb« sehen; am Ende sogar so etwas wie Bildung (siehe Bologna-Prozess). Alles hat ökonomischen Kriterien zu gehorchen. Die Säue, die durch die globalen Dörfer getrieben werden, erscheinen dabei immer absurder: Um den Faktor Arbeit noch nachhaltiger zu verbilligen, wurden bspw. in Deutschland in den letzten Jahrzehnten sogenannte Fachkräfte mit Vorruhestandsregelungen wegrationalisiert und zu Gunsten preisgünstigerer Einsteiger besetzt. Jetzt sind diese schon zu teuer und es sollen Fachkräfte importiert werden. Begründet wird dies mit der demographischen Entwicklung. Dabei wird Arbeit in der Zukunft immer weniger werden. Durch die Ermöglichung von Importen von Fachkräften aus anderen Ländern (meistens EU-Ländern) kannibalisiert man den Mittelstand dauerhaft.
Richtig übel, das neue Zuwanderungsgesetz. Keine Regierung kriegt die Flüchtlings-Problematik (gesetzlich) in der Griff. Alle tauchen weg. Aber wenn’s um ökonomische Determinanten geht, Stichwort: Fachkräfte-Mangel, dann ist natürlich besonders die SPD gern progressiv.
Alle wollen nur noch »positiv« regieren. Könnt’ ich mich aufregen... Thema besetzen, schwarzen Peter abspielen, am besten »nach rechts«. Schizo-Kraten!
Das Zuwanderungsgesetz wäre sinnvoll, wenn damit kein Lohndumping verbunden wäre. Aber das würde wieder eine Regulierung bedeuten. Unternehmen sehen sich ja schon mit der Erfassung der Arbeitszeit der Arbeitnehmer überfordert.
In Pikettys Kapital im 21. Jahrhundert gibt’s einiges zur Transformation des Kapitalismus (und warum das nicht ganz zu Unrecht Finanzkapitalismus heißt). Aber so aus dem Stand krieg ich Laiin das nicht formuliert.
Eigentlich hübsch doppeldeutig der Titel des Buchs: »Eine innere Geschichte des neuen Amerika«.
Volkswirtschaftlich/Ökonomisch scheint Gewissheit nicht einmal in der Theorie vorhanden zu sein, will sagen, dass es, selbst wenn man ideologische Überschüsse weg lässt, selten Einigkeit gibt (siehe Griechenland). Muss man zunächst nicht einmal feststellen, dass Volkswirtschaften funktionieren, darüber hinaus komplex sind, aber über die Zusammenhänge und etwaige Maßnahmen keine Gewissheit besteht?
Vielleicht als Vergleich: Der österreichische Ökonom Schulmeister sieht in den Reformen nach der großen Depression ein historisches Beispiel wie man Wirtschaftskrisen erfolgreich meistern kann und die Notwendigkeit einer Finanzmarkregulierung um Wohlstand für alle zu erzeugen (etwa dort; bzw, auch in diesem Vortrag).
Da ich das nachkriegsdeutsche USA-Narrativ nur für einen aufgeblasenen Popanz halte, sollte die Packer-Lektüre angenehmes Wasser auf die Mühlen meines billigen Antiamerikanismus werden.
Aber schon nach kurzer Zeit wirkten die Biographien tönern, bearbeitet, geschönt, verschlimmert, schlicht (Entschuldigung) nicht authentisch. Gerade die stärkste Geschichte, die von Tammy Thomas, weist so viele Ungereimtheiten auf, dass damit vieles andere mit in den Dreck gezogen wird. Bei keiner der handelnden Personen hatte ich auch nur einen Hauch von Empathie, meist, wie z.B. bei Dean Price, habe ich nur virtuell die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen.
Zum Schluss war ich mir unsicher, ob ich einfach nicht verstehe, was die Menschen in den USA antreibt oder ob Packer nur ein manieristisches Buch geschrieben hat, denn trotz alledem habe ich es nicht ungern gelesen. Beeindruckend z.B. ist die Beschreibung des, aus dem Ruhestand geholten, Richters, der für eine Aufwandsentschädigung in einem trostlosen Raum telefonisch beantragte illegale Räumungsklagen im Minutentakt beurkundet.
P.S. Um das Wasserbild aufzugreifen: Globalisierung ist für eine Regierung der Versuch, in einem Karstgebirge einen Staudamm zu bauen.
zu #9 und #10 und überhaupt: stimmt, eine der wesentlichen Unsicherheiten geht von der Volkswirtschaft aus, einer minder belastbaren Wissenschaft. Die Transformation des Kapitalismus in der Finanzwelt lässt sich bestens belegen, aber was bedeutet das für die Existenz des einzelnen?! Nicht viel anderes als zuvor. Allenfalls versteht der Durchschnitt noch etwas weniger als früher, was vor sich geht.
Problematisch sind so Begriffe wie »Transformation« und »Kulturwandel« (in Bezug auf Investment) dennoch, weil die Interpretation die unhintergehbaren Strukturen des Kapitalismus verwischt. Allenthalben wird doch der »ideologische Traum« geträumt, wonach man die Kollateralschäden mit nationalen Regeln und »schöner-Denken« wegkriegen könnte. Ich sehe, wenn man so will, die Illusion des guten Endes eher als das Grundproblem, als die permanente Erwartung eines jähen Kollapses. Wir sind zu optimistisch, imgrunde.
Ungern habe ich es auch nicht gelesen, auch wenn es am Ende doch sehr zäh wurde. Einige Szenen sind sehr beeindruckend – darunter auch die mit den Richtern, die im Minutentakt Räumungsklagen fällen (müssen) und erst durch Anwesende ein »richtiges« Verfahren beginnen kann.
Authentizität ist ein schwieriges Maßstab. Für ein Sachbuch darf es eigentlich nicht zählen, aber Packer zwingt durch die Erzählweise dazu, Stellung zu beziehen. Ich habe keine deutsche Besprechung gefunden, die die Biographien von Tammy Thomas oder Dean Price anzweifelt. Ich selber glaube, dass es fiktive Biographien sind. Das würde das Buch eher in die literarische Ecke treiben. Am interessantesten fand ich von den Personen Jeff Connaughton. den es ja wirklich gibt und seine Nibelungentreue dem Politiker Biden gegenüber, die absolut unverständlich für mich ist. Inzwischen sieht er das aber wohl gründlich anders, wie man auf seiner Webseite sehen kann.
In diesem Zusammenhang ist vielleicht dieser Film noch interessant, auch wenn er nicht direkt zur Thematik USA/Mittelschicht passt. (Besonders die Stimmung im einschneienden Frankfurt ist hübsch.)
Ob in der Geschichte von Tammy Thomas etwas nicht stimmt, weiss ich nicht. Aber verbogen ist sie, schlimm verbogen. Um es mal etwas drastisch darzustellen: Erst wird eine larmoyante Petitesse über mehrere Seiten dargestellt. Dann ein Zeitsprung mit nicht ins Konzept passenden Marginalien in einem Nebensatz abgehandelt. Ich habe mich da verschaukelt gefühlt und es nagt an dem Grundvertrauen, dass man dem Autor entgegen bringt. Packer ist via New Yorker eine Größe in den USA, der seiner paternalistischen Rolle gerecht werden muss. Die Realität muss dazu halt leiden.
Dazu fällt mir die Anekdote über Hans Mayer ein, die Raddatz in seinen Tagebüchern zum Besten gibt. Nach dem Mayer sich in einem Gespräch ausgiebig selbstdarstellte, sagte er: »Jetzt habe ich so viel über mich geredet, jetzt aber zu Ihnen. Wie hat Ihnen mein neues Buch gefallen.«. Vielleicht muss man Packer auch so sehen.