LOOK! (I)

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Un­längst fuhr ich in Wien in ei­nem U‑Bahnwaggon der Li­nie 1. Ich setz­te mich zu zwei Per­so­nen, die ein­an­der ge­gen­über sa­ßen, ein jun­ger Mann und ei­ne jun­ge Frau, von de­nen ich im er­sten Mo­ment an­nahm, daß sie zu­sam­men­ge­hör­ten. Der jun­ge Mann, um die Drei­ßig, sprach ru­hig, aber die Frau wirk­te starr, sie sag­te kein Wort und ver­zog kei­ne Mie­ne. Nein, die bei­den wa­ren kei­ne Be­kann­ten, son­dern Frem­de. Es dau­er­te nicht lan­ge, bis der Mann sich mir zu­wand­te. Ich ent­schul­dig­te mich, ich sei ge­ra­de erst dazuge­kommen und wis­se nicht, wo­von die Re­de sei. Er blieb bei sei­nem The­ma, als ge­be es oh­ne­hin nur das ei­ne, je­der kön­ne sich je­der­zeit ein­klin­ken. Es sei doch selt­sam, mein­te er, daß sich al­le Leu­te dun­kel klei­den wür­den, die mei­sten schwarz, da kom­me nicht die ge­ring­ste Le­bens­freu­de zum Aus­druck.

Ich wag­te ei­nen Sei­ten­blick auf die ne­ben mir sit­zen­de Frau: Rich­tig, die Klei­dung schwarz. Es war An­fang März, vor kur­zem hat­te es noch ge­schneit. Mir war selbst schon oft auf­ge­fal­len, daß sich die Leu­te im Win­ter vor­wie­gend dun­kel klei­de­ten. Be­son­ders in Ita­li­en, als ich ei­nen Win­ter­mo­nat in ei­nem Dorf in La­ti­um ver­brach­te, hat­te ich die Uni­for­mi­tät, die aus­nahms­lo­se Uni­ko­lo­ri­tät un­ter den Jun­gen, ge­ra­de­zu ab­surd ge­fun­den. Ich sag­te zu dem jun­gen Mann, so sei das nun mal im Win­ter, ei­ne Mo­de­er­schei­nung, ei­ne ich weiß nicht was... Viel­leicht füh­le man in dunk­ler Klei­dung die Käl­te nicht so stark. Ich dach­te an die wei­ßen Ho­sen und Män­tel, die man­che Frau­en in Ja­pan im Win­ter tra­gen, ei­ner al­ten sym­bo­li­sti­schen Äs­the­tik fol­gend, in wel­cher Stof­fe und Or­na­men­te häu­fig den Wan­del der Jah­res­zei­ten nach­zu­ah­men trach­ten. Aber das sag­te ich nicht.

Nein, er­wi­der­te der jun­ge Mann, so­gar im Som­mer wür­den sich die Leu­te mög­lichst un­auf­fäl­lig klei­den, oft dun­kel. In Wirk­lich­keit wür­den sie je­den Aus­druck ab­leh­nen und sich zu­rück­zie­hen, ver­schan­zen. »Die Frau­en schmin­ken sich nicht«, sag­te er und warf der ihm ge­gen­über Sit­zen­den ei­nen schar­fen Blick zu (tat­säch­lich war ihr Ge­sicht nicht ge­schminkt). »Sie zei­gen sich nicht, son­dern ver­stecken sich. Die wol­len nicht, daß man mit ih­nen re­det.«

Ich dach­te wie­der an Ja­pan, an die Mäd­chen und Frau­en, die in voll­be­setz­ten Zü­gen, auch im Flug­zeug, den Ta­schen­spie­gel zücken und in al­ler Aus­führ­lich­keit ihr Ge­sicht an­ma­len, die Fri­sur zu­recht­rücken, ei­ne über­schüs­si­ges Haar an der Au­gen­braue aus­zup­fen. Schmink­te man sich in Eu­ro­pa wirk­lich nicht mehr?

»Die schmin­ken sich nicht«, wie­der­hol­te der jun­ge Mann. »Schau­en Sie doch, je­de ist so un­auf­fäl­lig wie ein De­tek­tiv. Und wenn du sie trotz­dem an­schaust, fra­ge nicht, wie sie dich be­han­deln!«
»Aber...«, sag­te ich. »Sie tra­gen doch sel­ber schwar­ze Klei­dung.«
»Das ist kein Schwarz, es ist blau.«

Mög­lich, ja, es war dun­kel­blau. Aber dar­auf kam es doch nicht an, der Mann war min­destens eben­so un­auf­fäl­lig ge­klei­det wie die mei­sten hier im Wag­gon, über die er sich ver­ächt­lich aus­ließ. Er hat­te nichts Be­son­de­res, nichts An­zie­hen­des, al­ler­dings auch nichts Ab­sto­ßen­des an sich. Nur daß er in ei­nem fort re­de­te und sich von sei­nem The­ma nicht ab­brin­gen ließ. Als der Zug vor der näch­sten Sta­ti­on brem­ste, stand er auf, und kur­ze Zeit spä­ter war er durch die Tür ver­schwun­den. Sei­ne Re­de war nicht ein­dring­lich ge­we­sen, er woll­te mich zu nichts be­keh­ren, nur ei­ne ver­hal­te­ne Em­pö­rung schwang in sei­ner Stim­me mit, ei­ne ge­wis­se Ver­bit­te­rung, als hät­te man ihn per­sön­lich ver­letzt.

Mit dem, was er sag­te, hat­te der Mann recht, und ich hat­te ver­sucht, ihn mei­ne Zu­stimmung spü­ren zu las­sen, oh­ne mich gleich mit ihm zu ver­brü­dern. Die Frau, die er zu­nächst an­ge­spro­chen hat­te, saß wei­ter­hin ne­ben mir, stumm, oh­ne die lei­se­ste Re­gung. Der Mann hat­te recht, in die­ser Stadt herrscht, wie in vie­len an­de­ren Groß­städ­ten, ei­ne Ab­wehr von al­lem und je­dem, ei­ne Kom­mu­ni­ka­ti­ons­lo­sig­keit, die weit über die Notwendig­keit, sich zu schüt­zen, hin­aus­geht. Ich selbst hat­te dar­un­ter ge­lit­ten, als ich hier wohn­te, bis ich mich end­lich auf­raf­fen konn­te, Wien zu ver­las­sen. Der Mann hat­te die Wahr­heit ge­sagt, je­doch auf ei­ne un­nach­gie­bi­ge Wei­se, die mich um ihn fürch­ten ließ. Wenn er so wei­ter macht, dach­te ich, wird er ver­rückt. Oder war er es schon? Nein, viel­leicht hiel­ten ihn vie­le da­für, aber er war nicht ver­rückt, sei­ne Re­de war ganz und gar ko­hä­rent, in­ter­es­san­ter als al­les, was man von den Te­le­pho­nie­rern mit ih­ren Han­dys zu hö­ren be­kam, und sei­ne Auf­dring­lich­keit wur­de von ei­nem hin­rei­chen­den Maß an Re­spekt und Zu­rück­hal­tung ge­mil­dert. Viel­leicht fehl­te nicht viel, und er war ver­lo­ren für die Gemein­schaft, die er such­te und kri­ti­sier­te und die tat­säch­lich oft nur der Form nach, in Flos­keln und Lip­pen­be­kennt­nis­sen, ei­ne Ge­mein­schaft ist.

Ei­ne Sze­ne fiel mir ein, die ich mehr als fünf­zehn Jah­re zu­vor er­lebt hat­te, eben­falls in der Wie­ner U‑Bahn. Ich ha­be sie, im we­sent­li­chen un­ver­än­dert, so­zu­sa­gen wirk­lich­keits­treu, in ei­nen Ro­man über­nom­men, an dem ich da­mals schrieb, den ich aber nie ver­öf­fent­licht ha­be und wohl auch nicht ver­öf­fent­li­chen wer­de, weil es mir nicht ge­lun­gen ist, sei­ne Propor­tionen ins rech­te Maß zu set­zen. Der Ti­tel, »Se­ce­s­si­on«, hat wie die mei­sten mei­ner Buch­ti­tel mehr­fa­che Be­deu­tung. Die Kon­struk­ti­on des Ro­mans ist fik­tio­nal, vie­les ist er­fun­den, aber na­tür­lich ha­be ich mich auch an der Wirk­lich­keit be­dient. Im be­tref­fen­den Ab­schnitt er­zäh­le ich von ei­ner Love-Pa­ra­de, wie sie in vie­len Groß­städ­ten Eu­ro­pas statt­zu­fin­den pfleg­ten, bis es 2010 bei der Pa­ra­de in Duis­burg, wo Hun­dert­tau­sen­de Be­su­cher auf ei­ner zu klei­nen Flä­che am Event teil­nah­men, zu ei­nem Un­glück mit 21 To­ten und Hun­der­ten Ver­letz­ten kam. Im Ro­man bleibt der Blick des Er­zäh­lers, durch die Über­fül­le der Ein­drücke er­mü­det, am Wa­gen der Mü­den hän­gen. Dort sieht er ein Män­ner­paar, der ei­ne schmal, zart und blaß wie ein jun­ges Mäd­chen, kahl­ge­scho­re­nes Haar, gro­ße, trau­ri­ge Au­gen, Wim­pern, die fast die Wan­gen be­rühr­ten; der an­de­re breit und mus­ku­lös, dun­kel und lang­haa­rig, flei­schi­ges Ge­sicht, Stie­fel und Sil­ber­ket­te wie ein Mo­tor­rad­rocker. Bei­de tra­gen ein är­mel­lo­ses wei­ßes T‑Shirt und aus­ge­wa­sche­ne, eng an­lie­gen­de Blue Jeans. Der Rocker läßt die Bei­ne bau­meln. Er hat sei­nen lin­ken Arm um den Hals und die rech­te Hand zwi­schen die Bei­ne des Mäd­chen­jun­gen ge­legt, der trau­rig ge­ra­de­aus starrt, wäh­rend er und sein Freund vom Sat­tel­schlep­per den Ring entlang­chauffiert wer­den. Der Rocker strei­chelt das Glied des Mäd­chen­haf­ten. Er strei­chelt es von oben nach un­ten, von der Spit­ze zur Wur­zel. Das Glied zeich­net sich im­mer deut­licher, kräf­ti­ger un­ter dem Jeans­stoff ab. Der Rocker faßt es mit der gan­zen Hand, wie um sei­nen Um­fang zu mes­sen oder es ab­zu­wä­gen. Er strei­chelt den Schwanz jetzt mit der gan­zen Hand von der Wur­zel zur Spit­ze. Un­ter der Ho­sen­ta­sche des Mädchen­jungen kann man die Run­dung der Ei­chel er­ken­nen, den Ring, der dort um den Zy­lin­der her­um­läuft. Wenn der Schwanz vor Er­re­gung zuckt, un­ter­bricht der Rocker die Be­we­gung. Das Paar ist in sei­ne Lie­be ver­sun­ken, der Tä­ti­ge, der das Glied mit Hin­ga­be lieb­kost, und der Pas­si­ve, den die Lust über­mannt. Die Men­ge der Pa­ra­die­ren­den ist ih­nen gleich­gül­tig. Sie ge­nie­ßen die An­we­sen­heit der Men­ge an ih­ren Kör­pern. Sie ge­nie­ßen die Gleich­gül­tig­keit der Welt. Und so wei­ter. Nach dem En­de der Pa­ra­de der Heim­weg, der Er­zäh­ler hat in der Men­ge sei­ne Be­glei­te­rin ver­lo­ren, der er den Arm auf die Schul­ter ge­legt hat­te. Er folgt noch ei­ne Wei­le dem Ba­tail­lon der Müll­fahr­zeu­ge, das hin­ter der Nach­hut der Pa­ra­die­ren­den be­reits sei­ne Ar­beit tut: im Nu ist die Ring­stra­ße pi­ko­bel­lo, als hät­te der Lie­bes­krieg der Mas­se gar nicht statt­ge­fun­den.

Am Volks­gar­ten geht der Er­zäh­ler in den Un­ter­grund, wo die Wag­gons voll­ge­stopft wa­ren mit Leu­ten, die ih­ren Nach­barn nicht aus der Schei­ße hel­fen woll­ten und konn­ten. Vor mei­ner Na­se, greif­bar im Ge­drän­ge, ver­schwam­men vier Buch­sta­ben: LOOK! Un­ter den bei­den Os wölb­ten sich mäch­ti­ge Brü­ste, die ich zwangs­läu­fig an­starr­te, we­gen der En­ge und auch, um der Auf­for­de­rung nach­zu­kom­men: LOOK! Ich tat, was ich las, die Buch­staben schenk­ten mir und al­len an­de­ren die­se Frei­heit, aber gleich­zei­tig spür­te ich, wie die Au­gen des Mäd­chens mein Au­ge hoch­zo­gen (wie die Hand des Er­zie­hers das Ohr des Zög­lings, wie der Kauf­mann das Rol­lo, wie der Putz­mann den Kau­gum­mi­fleck), die Au­gen des Mäd­chens blitz­ten mich an: ‚Schau mich nicht an!’. Sie de­men­tier­ten, was auf dem Leib­chen ge­schrie­ben stand, das sie frei­wil­lig über­ge­streift hat­te, nie­mand wird sie ge­zwun­gen ha­ben, wahr­schein­lich galt die Auf­for­de­rung nur für das Love-Spek­ta­kel, jetzt schon nicht mehr, das Schau­spiel war vor­bei, jetzt galt die Blick­ord­nung der rest­li­chen drei­hun­dert­vier­und­sech­zig Ta­ge im Jahr: ‚Schau mich nicht an!’ Al­so tat ich, was ich wäh­rend der drei­hun­dert­vier­und­sech­zig Ta­ge tue, ich schau­te wo­an­ders hin, zwei Ebe­nen tie­fer, wo ich auf den Bauch­na­bel des Mäd­chens stieß, und mein Blick sprang von dort wo­an­ders hin und von dort wie­der wo­an­ders, wie ein ge­hetz­ter Flücht­ling, je­des Wo­an­ders wur­de zum Dort, je­des Dort zum Wo­an­ders, bis ich nir­gend­wo hin­schau­te und je­ne Be­täu­bung ein­trat, die an den drei­hun­dert­vier­und­sech­zig Ta­gen des Jah­res herrscht. War­um klei­den sich die Frau­en so, als woll­ten sie von al­len ge­se­hen wer­den, und sind bö­se, wenn man sie an­schaut?

Das ist die Fra­ge der Ich-Fi­gur in der U‑Bahn, ge­äu­ßert nach ei­nem Wahrnehmungs­befund, der sich von dem des jun­gen Man­nes, den ich – kei­ne Fi­gur, son­dern ich, ich? – in der U 1 zwi­schen Vor­gar­ten­stra­ße und Ne­stroy­platz traf. Nicht al­le klei­den sich schwarz, je­den­falls nicht bei ei­ner Love-Pa­ra­de, da ge­hen nur die Go­thics in Schwarz. Die im Ro­man ge­schil­der­ten Sze­nen sind, wie ge­sagt, aus der Wirk­lich­keit ge­grif­fen. Ich weiß nicht mehr, was ich an je­nem Tag wei­ter tat. Es war ein schö­ner Som­mer­tag, dar­an er­in­ne­re ich mich. Mei­ne Woh­nung war still, nicht zu hell, sie ging auf ei­nen wei­ten Hin­ter­hof, vor den Fen­stern das säu­seln­de Blatt­werk von Bäu­men. Wenn ich um­her­ging, hör­te ich den Par­kett­bo­den knar­ren. Auch in der Kü­che war es still, ich be­saß nicht ein­mal ei­nen Kühl­schrank, woll­te auch kei­nen. Ich hat­te mich von mei­ner Frau ge­trennt, die die Ne­ben­woh­nung be­wohn­te. Vie­le Haus­halts­ge­gen­stän­de wa­ren bei ihr ge­blie­ben, und ich war froh dar­über. Es war ei­ne Zeit, in der mir end­lich klar wur­de, daß ich mein Le­ben än­dern muß­te. Wo­an­ders hin­ge­hen, an­ders­wo le­ben, mit an­de­ren Men­schen. Mei­ne Ex-Frau hat­te seit lan­gem ei­nen Lieb­ha­ber. Sie wuß­te sich bes­ser zu hel­fen als ich, weil sie ge­schmei­di­ger war, wenn es dar­um ging, sich un­ver­meid­li­chen Ver­än­de­run­gen anzu­passen. Die Lei­den­schaft der An­fangs­zeit un­se­rer Be­zie­hung war er­lo­schen, und nichts, je­den­falls nichts, das mir hät­te ge­nü­gen kön­nen, war an ih­re Stel­le ge­tre­ten. Ich litt, litt auch un­ter der Blocka­de mei­ner Se­xua­li­tät, ähn­lich wie der Held von »Aus­wei­tung der Kampf­zo­ne«, des klei­nen Ro­mans, den ich kur­ze Zeit vor­her über­setzt hat­te. Wir ar­men Schwei­ne, Män­ner­schwei­ne, durf­ten nicht ein­mal auf die Brü­ste der Frau­en schau­en, ob­wohl sie uns da­zu auf­for­der­ten. Ach, das war wohl wie­der mal iro­nisch ge­meint! Iro­nie und »fake« wa­ren ge­ra­de im Kom­men, sie hat­ten längst ge­siegt, be­herrsch­ten die Sze­ne. Der Er­folg von Hou­el­le­becqs Ro­man, der so gar nichts Wohl­fei­les hat­te, er­klärt sich vor al­lem da­durch, daß er den an ih­rer Ge­schlecht­lich­keit lei­den­den Män­nern – auch Frau­en? – aus dem Her­zen sprach. Der Ter­ror der Öko­no­mie hat­te al­le Ebe­nen und Win­kel des Le­bens er­faßt, auch und be­son­ders die Se­xua­li­tät. Wer sei­ne El­len­bo­gen nicht ein­zu­set­zen wuß­te, stand auf ver­lo­re­nem Po­sten.


© Leo­pold Fe­der­mair


Die­ses Ka­pi­tel ist ein Vor­ab­druck aus Leo­pold Fe­der­mairs neu­em Buch »Das ro­te So­fa«, wel­ches in den näch­sten Ta­gen im Ot­to Mül­ler Ver­lag, Salz­burg, er­scheint.

Der zwei­te Teil steht hier.


  • Veröffentlicht in: Essay