Hans Ma­gnus En­zens­ber­ger: Sanf­tes Mon­ster Brüs­sel oder Die Ent­mün­di­gung Eu­ro­pas

Hans Magnus Enzensberger: Sanftes Monster Brüssel

Hans Ma­gnus En­zens­ber­ger: Sanf­tes Mon­ster Brüs­sel

Sel­ten pass­te ein Ti­tel so prä­zi­se zum Duk­tus des Bu­ches: »Sanf­tes Mon­ster Brüs­sel« steht dort in gro­ßen, ro­ten Buch­sta­ben. Der Zu­satz »oder Die Ent­mün­di­gung Eu­ro­pas« ist dann schon der Be­ginn ei­nes Miss­ver­ständ­nis­ses. Muss es nicht hei­ßen »Die Ent­mün­di­gung der Eu­ro­pä­er«? Wie wird »Eu­ro­pa« ent­mün­digt? Was ist das über­haupt – »Eu­ro­pa«?

Sanft und mit fei­ner Iro­nie kommt Hans Ma­gnus En­zens­ber­ger da­her. Wie soll­te er auch an­ders? Ein deut­scher In­tel­lek­tu­el­ler, der ei­ne schar­fe Schrift ge­gen »Eu­ro­pa« bzw. die Eu­ro­päi­sche Uni­on hin­legt – un­denk­bar. So­fort wür­den die gän­gi­gen Eti­ket­ten her­vor­ge­holt. »Eu­ro­pa­skep­tisch« be­deu­tet in Deutsch­land noch mehr als in an­de­ren Län­dern rechts, dumpf und an­ti­mo­der­ni­stisch. Wer möch­te das schon sein? Das Pro­blem sieht En­zens­ber­ger sehr wohl, denn hin­ter die­ser Rhe­to­rik macht er ei­ne Stra­te­gie aus, die…gegen je­de Kri­tik im­mu­ni­sie­ren soll. Wer ih­ren Plä­nen wi­der­spricht, wird als An­ti­eu­ro­pä­er de­nun­ziert. Dies er­in­ne­re von fer­ne an die Rhe­to­rik des Se­na­tors Jo­seph Mc­Car­thy und des Po­lit­bü­ros der KPdSU. Wenn­gleich er an an­de­rer Stel­le den Ver­gleich der EU mit to­ta­li­tä­ren Re­gi­men als ab­we­gig fest­stellt und so­mit ni­vel­liert.


Bü­ro­kra­tie und Akro­ny­me

Zu­nächst preist En­zens­ber­ger die lan­ge Frie­dens­zeit und Rei­se­frei­heit, die ei­nem die eu­ro­päi­sche Ver­ei­ni­gung ge­bracht ha­be. Dann wid­met er sich der Re­gu­lie­rungs­me­cha­nis­men, de­rer sich die EU be­dient. Die Bei­spie­le, er an­führt, sind die leid­lich be­kann­ten. Von der Gur­ken­richt­li­nie über die Ver­ein­heit­li­chung von Trak­tor­sit­zen bis zum Eu­ro-Sta­bi­li­täts- und Wirt­schafts­pakt, der aus­ge­höhlt wur­de und in­zwi­schen die Eu­ro-EU zur Trans­fer­uni­on de­for­mier­te. Und bei der Schil­de­rung der »Har­mo­ni­sie­rung« des EU-Zah­lungs­ver­kehrs sitzt En­zens­ber­ger spür­bar der Schalk im Nacken, et­wa wenn er von den zu­künf­ti­gen 31stelligen Kon­to­num­mern der Mal­te­ser schwärmt: 414.000 Ein­woh­nern stün­den dann 3.100.000.000.000.000.000.000.000.000.000 Kon­to­num­mern zur Ver­fü­gung. Das al­les kann man in 1.400.000 Do­ku­men­ten der Rechts­vor­schrif­ten­samm­lung »EUR-Lex« nach­schla­gen.

Zwi­schen­zeit­lich un­ter­lau­fen dem Au­tor ei­ni­ge er­staun­li­che Schnit­zer. Bei­spiels­wei­se in Be­zug auf die Po­li­tik- und Le­bens­be­rei­che, die schon al­le von der EU do­mi­niert wer­den sol­len. Hier wird die En­er­gie­po­li­tik mit auf­ge­führt, was un­prä­zi­se ist, denn es gibt ja bei­spiels­wei­se – wie neu­lich schmerz­haft fest­ge­stellt wur­de – kei­ne ein­heit­li­chen Kri­te­ri­en zum Be­trieb von Atom­kraft­wer­ken. Auch wenn En­zens­ber­ger her­aus­stellt, dass sich Groß­bri­tan­ni­en, Nor­we­gen und die Schweiz ei­ner Wäh­rungs­uni­on aus öko­no­misch-po­li­ti­schen Grün­den nicht an­ge­schlos­sen hät­ten, ist dies ei­ne Merk­wür­dig­keit, da Nor­we­gen und die Schweiz als Nicht-Mit­glie­der der EU gar kei­ne Mög­lich­kei­ten ei­ner Teil­nah­me hät­ten (die letz­ten Ab­leh­nun­gen, der EU bei­zu­tre­ten re­sul­tie­ren aus den Jah­ren 1994 bzw. 1992). Und auch den Weg hin zur EU, wie üb­lich mit Ab­kür­zun­gen ge­pfla­stert, ist un­ge­nau skiz­ziert. Nach En­zens­ber­ger führ­te er von der EWG, der EAEC und der EFTA über den EWR und die EWU zur heu­ti­gen EU. Er über­sieht da­bei, dass die Eu­ro­päi­sche Wirt­schafts­uni­on (EWU; bzw.: Eu­ro­päi­sche Wirt­schafts- und Wäh­rungs­uni­on EWWU) kei­ne Zwi­schen­stu­fe zur EU ist, son­dern par­al­lel in ihr exi­stiert (ähn­li­ches gilt von der EAEC, der Eu­ro­päi­schen Atom­ener­gie­be­hör­de, die 1957 gleich­zei­tig mit der EWG mit den glei­chen Mit­glie­dern ge­grün­det wur­de).

Mit Won­ne stürzt sich En­zens­ber­ger auf die Ver­flech­tun­gen und den ein­zel­nen In­sti­tu­tio­nen, Or­ga­ni­sa­tio­nen und Or­ga­ne der EU, die schon in den Be­zeich­nun­gen Ver­wir­rung stif­ten. Et­wa wenn von »Eu­ro­päi­schen Rat« und dem »Rat der Eu­ro­päi­schen Uni­on« die Re­de ist – wohl ge­merkt: es sind zwei ver­schie­de­ne Or­ga­ni­sa­tio­nen. Oder vom Eu­ro­päi­schen Ge­richts­hof (Eu­GH) und dem Ge­richt der Eu­ro­päi­schen Uni­on (EuG). Schließ­lich gibt es noch den EGMR oder Eu­GHMR, der al­ler­dings nichts mit der EU zu tun hat. Die Akro­ny­me ha­ben es ihm be­son­ders an­ge­tan: FAC, ECOFIN, JHA, COMP, ENVI, EXC, TTE und CAP. Gro­sses Ver­gnü­gen be­rei­tet die Auf­deckung der je­wei­li­gen An­zahl der Ge­ne­ral­di­rek­tio­nen, Ge­ne­ral­di­rek­to­ren und Di­rek­to­ren nebst Stimm­rech­ten oder eben nicht. Und so ar­bei­ten 3645 Mit­ar­bei­ter des Eu­ro­päi­schen Aus­wär­ti­gen Dien­stes an der Er­rich­tung ih­res ei­ge­nen Ge­häu­ses.

Die Me­tho­de Mon­net

Reich­lich ver­blüfft scheint er, wenn Ro­bert Men­as­se in sei­nem Es­say vom Mai 2010 der EU-Bü­ro­kra­tie durch­aus Ef­fi­zi­enz und Kom­pe­tenz at­te­stiert, wenn­gleich auch er die Be­am­ten in der zwei­ten Rei­he als fach­kom­pe­ten­ten Köp­fe her­aus­stellt und über den zu­meist nur aus Pro­porz­grün­den er­nann­ten Kom­mis­sa­re (ein we­nig arg künst­lich die Auf­re­gung um den »Kommissar«-Begriff, der dann im wei­te­ren Text aus dem fran­zö­si­schen kom­men­den er­klärt wird) und Di­rek­to­ren stellt.

Die feuil­le­to­ni­sti­sche Sanft­mut En­zens­ber­gers schrei­tet in den hi­sto­ri­schen Ex­kur­sen fort. Ins­be­son­de­re die über den Haa­ger Kon­gress 1948 und den fran­zö­si­schen Po­li­ti­ker Jean Mon­net sind leicht ein­gän­gig. Die »Me­tho­de Mon­net« prak­ti­ziert die EU bis heu­te: im Kon­sens ge­trof­fe­ne Eli­te­ent­schei­dun­gen. Dem Wahl­volk wer­den die­se Ent­schei­dun­gen mit­ge­teilt, wo­bei die ste­tig sin­ken­de Be­tei­li­gung bei den Wah­len zum Eu­ro­päi­schen Par­la­ment die Ver­ant­wort­li­chen in Brüs­sel, Straß­burg oder Lu­xem­burg nicht be­son­ders zu tan­gie­ren scheint. Un­ge­rührt se­hen sie dem Schwin­den ih­rer Le­gi­ti­ma­ti­ons­grund­la­ge zu. Die Ver­mu­tung ist nicht weit her­ge­holt, daß Ih­nen das so­gar ins Kon­zept passt; denn für je­de macht­be­wuß­te Exe­ku­ti­ve ist die Pas­si­vi­tät der Bür­ger ein pa­ra­die­si­scher Zu­stand. Auch die be­tei­lig­ten na­tio­na­len Re­gie­run­gen ha­ben dar­an we­nig aus­zu­set­zen. Zu Hau­se be­haup­ten sie ach­sel­zuckend, ge­gen die Brüs­se­ler Be­schlüs­se hät­ten sie sich lei­der nicht durch­set­zen kön­nen. Um­ge­kehrt kann sich die Kom­mis­si­on dar­auf be­ru­fen, daß sie nur den Ab­sich­ten der Mit­glieds­staa­ten folgt. Letz­te­res kon­ze­diert En­zens­ber­ger sel­ber: Nicht un­we­sent­lich trü­gen die ein­zel­nen Mit­glieds­staa­ten und de­ren na­tio­na­len In­ter­es­sen zur Bü­ro­kra­ti­sie­rung bei. Und schließ­lich gä­be es noch die Lob­by­isten, die wie ei­ne Art un­ab­wend­ba­re Na­tur­ka­ta­stro­phe be­trach­tet wer­den.

Stö­run­gen in Form von Rück­fra­gen, Ein­wän­den, Ver­bes­se­run­gen sind vom Ap­pa­rat per se un­er­wünscht, was zum das leid­lich be­kann­ten »De­mo­kra­tie­de­fi­zit« der EU führt, das er süf­fi­sant als chro­ni­sche und of­fen­bar schwer zu be­han­deln­de Man­gel­krank­heit kom­men­tiert, die al­ler­dings durch­aus be­ab­sich­tigt und so­zu­sa­gen »europa«-immanent sei. Für die Herr­schafts­form der Eu­ro­päi­schen Uni­on gä­be es kein Vor­bild. Ih­re Ori­gi­na­li­tät be­steht dar­in, daß sie ge­walt­los vor­geht. Sie be­wegt sich auf lei­sen Soh­len. Sie gibt sich er­bar­mungs­los men­schen­freund­lich. Sie will nur un­ser Be­stes. Wie in gü­ti­ger Vor­mund ist sie be­sorgt um un­se­re Ge­sund­heit, un­se­re Um­gangs­for­men und un­se­re Mo­ral. Auf kei­nen Fall rech­net sie da­mit, daß wir sel­ber wis­sen, was gut für uns ist; da­zu sind wir ih­nen in ih­ren Au­gen viel zu hilf­los und zu un­mün­dig. Des­halb müs­sen wir gründ­lich be­treut und um­er­zo­gen wer­den. Man­geln­de Ge­wal­ten­tei­lung und De­mo­kra­tie­de­fi­zit sind al­so ge­wollt; ein vor­neh­mer Aus­druck für die po­li­ti­sche Ent­mün­di­gung der Bür­ger.

Die Ty­ran­nei des »gü­ti­gen Vor­munds«

Die bei­den Tot­schlag­ar­gu­men­te ge­gen Kri­tik lau­ten »Na­tio­na­lis­mus« und »Po­pu­lis­mus«. Des­sen macht sich schul­dig, der die Sor­gen und Nö­te die­ses Wahl­vol­kes wie auch im­mer ar­ti­ku­liert. Dass in vie­len EU-Län­dern die Zu­stim­mung zu Pro­test­par­tei­en ge­gen den Po­li­tik­stil der »TINA«-Argumentation (»The­re Is No Al­ter­na­ti­ve«) in fast ex­po­nen­tia­ler Ra­sanz zu­nimmt und der Bür­ger nur noch auf die­sem Weg sei­nen Wi­der­spruch zu ar­ti­ku­lie­ren ver­mag, the­ma­ti­siert En­zens­ber­ger nicht wei­ter. Macht er sich gar die Kon­klu­sio Men­as­ses zu Ei­gen? Die­ser schrieb: »Ja, die De­mo­kra­tie: klingt gut, sie or­ga­ni­siert Le­gi­ti­ma­ti­on – aber wo­für? In­ter­na­tio­na­le Kon­zer­ne üben Druck auf na­tio­na­le Re­gie­run­gen aus, um ih­re glo­ba­len In­ter­es­sen durch­zu­set­zen, und die Re­gie­run­gen ma­chen die­se In­ter­es­sen zu na­tio­na­len An­lie­gen, mit de­nen sie die su­pra­na­tio­na­le po­li­ti­sche Ent­wick­lung tor­pe­die­ren. Das ist der Punkt, an dem man viel­leicht be­reit sein müss­te zu­zu­ge­ben, dass es heu­te ein Fort­schritt, ein Be­frei­ungs­schritt ist, wenn über die Rah­men­be­din­gun­gen un­se­res Le­bens eben nicht mehr we­sent­lich durch Volks­wah­len ab­ge­stimmt wird.« Wer hier glaubt, es han­de­le sich um ein pro­vo­kan­tes Ge­dan­ken­spiel wird bei der wei­te­ren Lek­tü­re wi­der­legt. Men­as­se scheint das tat­säch­lich Ernst zu mei­nen, wenn er schreibt, »dass die klas­si­sche De­mo­kra­tie, ein Mo­dell, das im 19. Jahr­hun­derts zur ver­nünf­ti­gen Or­ga­ni­sa­ti­on von Na­tio­nal­staa­ten ent­wickelt wur­de, nicht ein­fach auf ei­ne su­pra­na­tio­na­le Uni­on um­ge­legt wer­den kann, ja sie be­hin­dert. De­mo­kra­tie setzt den ge­bil­de­ten Ci­toy­en vor­aus. Wenn die­ser ge­gen die von Mas­sen­me­di­en or­ga­ni­sier­ten Hetz­ma­ssen nicht mehr mehr­heits­fä­hig ist, wird De­mo­kra­tie ge­mein­ge­fähr­lich.«

So ein­fach ist das al­so. Statt der »Fi­xie­rung des Men­schen in der Er­nied­ri­gung durch Tri­vi­al­kom­mu­ni­ka­ti­on« (Pe­ter Slo­ter­di­jk) durch ent­spre­chen­de Maß­nah­men ent­ge­gen zu tre­ten, statt für ei­ne Eu­ro­päi­sche Uni­on und de­ren In­sti­tu­tio­nen und Er­run­gen­schaf­ten zu ar­gu­men­tie­ren, wird der un­ter Dul­dung sei­ner po­li­ti­schen Klasse(n) »auf­ge­hetz­te« Bür­ger für un­mün­dig er­klärt. Es sind die­se Mo­men­te, in de­nen ei­nem die EU-Be­für­wor­ter noch mehr Angst ma­chen als die grau­si­gen EU-Geg­ner.

Was ist ei­gent­lich ei­ne Eu­ro­päi­sche Uni­on wert, die ih­re Au­to­ri­tät fast aus­schließ­lich durch Dro­hun­gen, De­nun­zia­tio­nen und Dis­kus­si­ons­ver­bo­te auf­recht er­hal­ten kann? Be­son­ders her­aus­ra­gend zeigt sich hier der lu­xem­bur­gi­sche Pre­mier­mi­ni­ster Jean Clau­de Jun­ker, der Dis­kus­sio­nen als »un­ge­sund« und »un­eu­ro­pä­isch« be­trach­tet (zu Recht weist En­zens­ber­ger dar­auf hin, dass ein Po­li­ti­ker, der po­li­ti­sche Äu­ße­run­gen bei­spiels­wei­se als »un­deutsch« be­zeich­nen wür­de, so­fort dis­kre­di­tiert wä­re) und al­len Ern­stes die Ge­fahr ei­nes Krie­ges her­auf­be­schwört, soll­te der Eu­ro aus­ein­an­der­fal­len (»Ein Tag Krieg in Eu­ro­pa ist teu­rer als uns die gan­ze Eu­ro-Ret­tungs­ak­ti­on je­mals ko­sten wird«). Hier­zu gibt es ei­ne klei­ne Be­mer­kung bei En­zens­ber­ger zu Über­deh­nun­gen von Welt­rei­chen und ein Zi­tat von Han­nah Are­ndt, die ei­ne »ent­per­sön­lich­te Über­macht« von in »an­ony­men Bü­ros« agie­ren­den Bü­ro­kra­tien als »bedrohlicher…als die em­pö­rend­ste Will­kür von Ty­ran­nei­en in der Ver­gan­gen­heit« aus­mach­te (sie sag­te dies 1975 in ei­ner Re­de zu ei­nem Preis, der En­zens­ber­ger 2010 ver­lie­hen wur­de).

Men­as­se glaubt, die EU sei als » ‘Frie­dens­pro­jekt’ « für ih­ren Pa­ter­na­lis­mus aus­rei­chend le­gi­ti­miert. Aber die­ser Frie­den kommt als ge­maß­re­gel­te Fried­hofs­ru­he da­her. Wie ver­rä­te­risch der Ge­dan­ke es ent­fal­te sich viel­leicht ir­gend­wann durch die lang­sa­me, aber ste­ti­ge Aus­höh­lung des Na­tio­nal­staa­tes ei­ne Art von neu­er De­mo­kra­tie, die »als Checks and Balances–System zwi­schen ei­nem ech­ten eu­ro­päi­schen Par­la­ment der Re­gio­nen und dem auf­ge­klär­ten, jo­se­phi­ni­sti­schen Be­am­ten­ap­pa­rat der Kom­mis­si­on« agiert. Es ist ei­ne Schwä­che, dass En­zens­ber­ger die­se The­se gänz­lich un­kom­men­tiert lässt, zu­mal er sich ja mit Men­as­ses Text be­schäf­tigt. So plät­schert die­ses Büch­lein, das man nur irr­tüm­lich ei­nen Es­say nen­nen kann (denn ver­sucht wird hier nichts), da­hin und sein Au­tor schwankt zwi­schen ve­ri­ta­blem Re­spekt und lei­ser Ent­rü­stung. Zum Be­leg sei­ner Auf­müp­fig­keit ge­gen Re­gu­lie­run­gen al­ler Art wird die al­te Recht­schrei­bung ver­wen­det (auch Zi­ta­te wer­den ent­spre­chend trans­for­miert). Und am En­de gibt es ein fik­ti­ves (Selbst-)Gespräch mit Mon­sieur *** aus der Kom­mis­si­on und dem Ver­fas­ser in der Fat­to­ria del Chi­an­ti in der Rue Ar­chi­me­de in Brüs­sel. Der Le­ser er­fährt, dass der Os­so­bu­co dort vor­treff­lich sei. Es gibt Leu­te, de­nen das et­was zu we­nig ist.


Die kur­siv ge­setz­ten Pas­sa­gen sind Zi­ta­te aus dem be­spro­che­nen Buch.

17 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Hab’ das Büch­lein eben ge­le­sen, und ich stim­me zu: es ist zu we­nig, viel zu we­nig. Hat­te mehr er­war­tet, we­ni­ger Sanft­mut, mehr Biss.
    Letzt­lich, so scheint’s, hofft En­zens­ber­ger auf die »Über­deh­nung« des Ge­bil­des, Rom grüßt.
    Im Üb­ri­gen fehlt ein ge­naue­rer Blick auf die Lob­by­isten.

  2. Kri­tik an Eu­ro­pa ist ok, zu kri­ti­sie­ren gibt es si­cher ge­nug. Ich ha­be als ehe­ma­li­ger DDR-Bür­ger aber noch gut den Zu­stand von vor 22 Jah­ren im Ge­dächt­nis, da ist der heu­ti­ge Zu­stand al­le­mal bes­ser. »Frie­dens­pro­jekt« trifft es ganz gut – wo­bei ich mir da­für we­ni­ger mi­li­tä­ri­sches En­ga­ge­ment der Mit­glieds­län­der durch­aus noch vor­stel­len könn­te.

    Es gibt kein rich­ti­ges Vor­bild für die­sen Su­per­staat, in­so­fern ist auch nicht klar, in wel­che Rich­tung man die Or­ga­ni­sa­ti­ons­struk­tu­ren ent­wickeln soll­te. Man kann auch dar­über nach­den­ken, wie die Or­ga­ni­sa­ti­ons­struk­tu­ren un­ter­halb der eu­ro­päi­schen Ebe­ne aus­se­hen soll­ten. Aus dem Bauch her­aus wür­de ich ver­mu­ten, dass man zwei nied­ri­ge­re Ebe­nen braucht: Ei­ne, die sich an­nä­hernd an den Sprach­gren­zen ori­en­tiert, die wä­re dann un­ge­fähr mit den heu­ti­gen Na­tio­nal­staa­ten iden­tisch. Dar­un­ter ei­ne, in der Lo­kal­po­li­tik ge­macht wird, al­so so et­was wie die deut­schen Land­krei­se. Ei­ne Er­hal­tung der der deut­schen Bun­des­län­der er­scheint mir in die­sem Mo­dell weit­ge­hend über­flüs­sig.

  3. @Köppnick
    Das Pro­blem ist, dass sich die Na­tio­nal­staa­ten nicht trau­en, ei­nen Bun­des­staat EU zu im­ple­men­tie­ren. Sie be­las­sen es bei ei­nem Staa­ten­bund, der aber schon deut­lich mehr ist als nur ei­ne lo­se Ver­ei­ni­gung. In den letz­ten rd. 12 Jah­ren sind zwei gro­ße Feh­ler be­gan­gen wor­den: 1. Man hat die EU zu schnell er­wei­tert, oh­ne die In­nen­struk­tu­ren vor­her neu zu de­fi­nie­ren. Und 2. hat man die Bür­ger nicht »mit­ge­nom­men«. Bei­de Punk­te po­ten­zie­ren ge­ra­de­zu die Ab­nei­gung in wei­ten Tei­len der Be­völ­ke­rung, die noch zu­neh­men wird.

    Der deut­sche Fö­de­ra­lis­mus war einst von den Al­li­ier­ten ge­wollt, die kein zen­tra­li­sti­sches Deutsch­land woll­ten. Au­ßer­dem ent­sprach es den hi­sto­ri­schen Fak­ten (Stich­wort: »Flicken­tep­pich«). Ich bin in­zwi­schen auch der Mei­nung, dass die Bun­des­län­der ih­re Funk­ti­on in ei­ner EU, die weit­ge­hend schon die Ge­set­ze be­stimmt, ver­lo­ren ha­ben. Mi­ni­ster­prä­si­den­ten sind nur noch über­flüs­si­ge Duo­dez­für­sten. Da­mit sie über­haupt noch ei­ne Funk­ti­on ha­ben, hat man ih­nen bei­spiels­wei­se die Schul­po­li­tik über­las­sen, was ein Rie­sen­feh­ler ist. An­son­sten sind sie nur noch Durch­lauf­er­hit­zer von Geld­strö­men zwi­schen Bund und Kom­mu­nen, wo­bei sie ei­nen grö­ße­ren Teil für ih­re ei­ge­ne Ad­mi­ni­stra­ti­on ver­brau­chen.

  4. Die Über­deh­nung wird si­cher­lich ein­tre­ten. Mei­nes Er­ach­tens hält die EU in die­ser (po­li­ti­schen) Form nur noch ma­xi­mal zehn Jah­re. Auch die EWWU, der ich ei­gent­lich ei­ne län­ge­re »Lauf­zeit« kon­ze­diert hät­te, dürf­te bald an ih­re Gren­zen sto­ßen. Man kann nicht ei­ne Ge­mein­schafts­wäh­rung ein­füh­ren und nie­mand hält sich an die ent­spre­chen­den Kri­te­ri­en. Die Fra­ge ist nur noch, wie­viel Geld bis da­hin ver­nich­tet ist, denn oh­ne ei­ne Wäh­runs­g­re­form grö­ße­ren Aus­ma­sses dürf­te das nicht zu lö­sen sein.

    Dass mit den Lob­by­isten ha­be ich nicht ver­misst, da ich das für ein Pro­blem der Po­li­tik ge­ne­rell hal­te. Mir hat noch nie­mand ein­leuch­tend er­klä­ren kön­nen, war­um Lob­by­isten ei­ne sol­che Macht ha­ben sol­len. Sie be­kom­men die Macht erst durch den Macht­er­hal­tungs­trieb der Politik(er). Bei­spiels­wei­se ha­be ich bis jetzt nicht ver­stan­den, war­um ein Bun­des­ge­sund­heits­mi­ni­ster der Kraft der Phar­ma­lob­by nicht wi­der­ste­hen kann. Was kön­nen die­se Leu­te Schreck­li­ches an­rich­ten, au­ßer Par­tei­spen­den nicht mehr flie­ßen zu las­sen?

    Der Be­griff des Lob­by­is­mus im­pli­ziert viel zu schick­sals­gläu­big ein Aus­ge­lie­fert­sein der Po­li­tik. Ich se­he das nicht. Lob­by­is­mus ist le­gi­tim. Wenn die Po­li­tik ei­nem be­stimm­ten Lob­by­is­mus nach­gibt, ist nicht der Lob­by­is­mus schuld, son­dern die Po­li­tik und ih­re Kon­troll­me­cha­nis­men ha­ben ver­sagt (al­so letzt­lich die Per­so­nen, die die­se Po­li­tik be­trei­ben).

  5. Wenn ei­ne wis­sen­schaft­li­che Ar­beit be­gut­ach­tet wird, dann sucht man im Re­gel­fall Leu­te, die sich in dem ent­spre­chen­den Fach­ge­biet aus­ken­nen, ein­fach sie ge­eig­ne­ter sind, die Ar­beit zu ver­ste­hen. Auf den Lob­by­is­mus ge­münzt: Ein Po­li­ti­ker ist ein Gut­ach­ter, der aber von vie­len Fach­ge­bie­ten kei­ne (we­nig) Ah­nung hat, muss aber ent­schei­den ob er Stu­di­en, In­for­ma­tio­nen, Po­si­tio­nen, Ar­gu­men­ten, etc. ver­trau­en kann. Das ist ein Pro­blem das tat­säch­lich exi­stiert: Wie kann ich mir si­cher sein, dass Ein­wän­de oder Vor­schlä­ge ge­recht­fer­tigt sind? Dort liegt m.E. ein tat­säch­li­ches Pro­blem (in al­lem an­de­ren wür­de ich Dir zu­stim­men).

  6. @Metepsilonema
    Mi­ni­ster (oder auch Kom­mis­sa­re) ha­ben in der Re­gel das Fach­per­so­nal in ih­ren Be­hör­den sit­zen. Da braucht es ei­gent­lich nicht mehr der »Be­gut­ach­tung« von au­ßen, zu­mal wenn deut­lich wird, in wel­che Rich­tung die­ses Ur­teil zielt.

    Mei­nes Er­ach­tens ist der Lob­by­is­mus in den Me­di­en min­de­stens ge­nau so schlimm. Kein »Ex­per­te«, der zu ei­nem The­ma be­fragt wird, wird hin­sicht­lich sei­ner Be­weg­grün­de durch­leuch­tet. Statt­des­sen wird sug­ge­riert, dass da je­mand »neu­tral« Aus­kunft ge­be. In den mei­sten Fäl­len ist das aber nicht der Fall; im Ge­gen­teil. Die­se Form des ver­steck­ten Lob­by­is­mus ist viel schlim­mer als wenn ein Un­ter­neh­mens­spre­cher sein State­ment ab­son­dert – wel­ches so­fort als das ein­ge­schätzt wer­den kann, was es ist.

    Mein Ver­dacht ist, dass der Lob­by­is­mus als Aus­re­de spe­zi­ell in der po­li­ti­schen Klas­se gilt, dass man schlam­pig ge­ar­bei­tet hat. Noch ein­mal: In ei­nem funk­tio­nie­ren­den po­li­ti­schen Ge­mein­we­sen ist nicht der Lob­by­is­mus an sich das Pro­blem, son­dern die Po­li­tik, die sich – ver­meint­lich ge­trie­ben – des­sen be­dient. Hier­für gibt es m. E. kei­ne Ent­schul­di­gung.

  7. Was kann man er­war­ten, wenn man die EU an ih­rem Mot­to (in Viel­falt ge­eint) misst? Nimmt man es ernst, dann bleibt ein Wi­der­spruch zwi­schen der Ein­heit und Viel­falt be­stehen, der als ein Wert für sich auf­zu­fas­sen und nicht auf­zu­lö­sen wä­re; ver­mut­lich ein Staa­ten­ge­bil­de in dem Frei­heit ei­ne gro­ße Rol­le spielt, we­ni­ger Ef­fi­zi­enz, Zen­tra­li­tät oder Re­ak­ti­ons­ge­schwin­dig­keit.

  8. die efta war ja auch eher als kon­kur­renz­mo­dell der eg ge­dacht, ein äu­ße­rer, lo­ser ver­bund mit gb an der spit­ze; an der wäh­rungs­uni­on kön­nen sehr wohl staa­ten teil­neh­men, die nicht di­rekt mit­glied der eu sind, sieh va­ti­kan­staat etc. ins­ges. scheint es, als ob hme alt­be­kann­te kri­tik neu prä­sen­tiert, das wä­re wirk­lich we­nig über­zeu­gend – auch wenn ichs noch nicht ge­le­sen ha­be...

  9. Ich dach­te auch eher an ge­wöhn­li­che Par­la­men­ta­ri­er (ähn­lich viel­leicht Gut­ach­ten und Ge­gen­gut­ach­ten vor Ge­richt – ich kann mir schon vor­stel­len, dass es manch­mal sehr schwie­rig ist sich rich­tig zu ent­schei­den). Ich mei­ne nur, dass es auch sol­che Fäl­le gibt/geben kann – das heißt nicht, dass ich Dei­nen letz­ten Ab­satz für falsch hal­te.

    Ja, ge­ra­de weil Ex­per­ten in un­se­ren kom­ple­xen, de­mo­kra­ti­schen Ge­sell­schaf­ten ei­ne gro­ße Rol­le spie­len müs­sen (der Ein­zel­ne über­blickt nur mehr we­ni­ge De­tails).

    Ich ha­be in ei­ner un­se­ren frü­he­ren Dis­kus­sio­nen dar­über ein Zeit­dos­sier ver­linkt, das ei­nen Fall sehr gründ­lich re­cher­chiert hat­te – das könn­te man sich z.B. ex­em­pla­risch an­se­hen (lei­der bin ich auf die Schnel­le nicht fün­dig ge­wor­den).

  10. Sie ha­ben Recht, dass Va­ti­kan, Mo­na­co, Ma­yot­te, Saint-Pierre und Mi­que­lon und San Ma­ri­no den Eu­ro ver­wen­den dür­fen. Mit die­sen Län­dern bzw. Ge­bie­ten be­stehen Ab­kom­men mit der EU. Sie sind je­doch nicht Mit­glied der EWWU, d. h. sie ha­ben kei­ner­lei Mit­be­stim­mungs­recht und brau­chen auch die Kon­ver­genz­kri­te­ri­en nicht zu er­fül­len. Ei­ne ähn­li­che Kon­stel­la­ti­on ist für grö­sse­re Nicht-EU-Län­der wie Nor­we­gen und Schweiz un­vor­stell­bar, da sie prak­tisch auf ih­re Wäh­rungs­sou­ve­rä­ni­tät ver­zich­ten wür­den. Wenn En­zens­ber­ger nun sug­ge­riert, Nor­we­gen und die Schweiz wüss­ten schon, war­um sie nicht den Eu­ro ein­füh­ren wür­den, ist dies – mit Ver­laub – Un­sinn. Ei­ne ent­spre­chen­de In­itia­ti­ve gab es we­der von sei­ten der Re­gie­run­gen noch der EU. Eher im Ge­gen­teil: die EZB möch­te nicht, dass der Eu­ro of­fi­zi­ell in an­de­ren, öko­no­misch re­le­van­ten Län­dern als Zah­lungs­mit­tel ein­ge­führt wird. Die Grün­de dürf­ten klar sein.

    (An­ders sieht es mit Län­dern wie Mon­ten­agro und dem Ko­so­vo aus, die den Eu­ro oh­ne Ab­kom­men mit der EU als of­fi­zi­el­les Zah­lungs­mit­tel ver­wen­den.)

  11. ... krankt häu­fig dar­an, dass die Kri­ti­ker vom Ob­jekt ih­res Grolls zu we­nig wis­sen. Ob je­mand den Eu­ro­pa­rat (der mit der EU nichts zu tun hat) von den EU-In­sti­tu­tio­nen Eu­ro­päi­scher Rat und Rat der Eu­ro­päi­schen Uni­on un­ter­schei­den kann, ist wohl eher ne­ben­säch­lich und al­len­falls für das kor­rek­te Be­ant­wor­ten der 64000-Eu­ro-Fra­ge bei Jauch oder As­sin­ger von Re­le­vanz.

    An der EU gibt es viel aus­zu­set­zen, aber die zu­meist er­wähn­ten Kri­tik­punk­te er­in­nern ein biss­chen an den Vor­wurf, den man der ka­tho­li­schen Kir­che des Jah­res 2011 we­gen der He­xen­ver­bren­nun­gen macht.

    En­zens­ber­ger hat Recht, wenn er der na­tio­na­len Po­li­tik vor­wirft, dass sie viel zu oft Brüs­sel als Sün­den­bock vor­schiebt. Denn al­le Kom­pe­ten­zen, die die EU heu­te hat, be­ru­hen auf aus­drück­li­chen Er­mäch­ti­gun­gen durch die Mit­glieds­staa­ten. Und auch wenn der Eu­GH im Zwei­fel zu ei­ner eher ex­ten­si­ven In­ter­pre­ta­ti­on der EU-Zu­stän­dig­kei­ten neigt, so könn­ten doch die Mit­glieds­staa­ten durch Ver­trags­än­de­rung bzw sog au­then­ti­sche Aus­le­gung klar­stel­len, wel­che Kom­pe­ten­zen die EU ha­ben soll bzw die­se Kom­pe­ten­zen so­gar re­du­zie­ren.

    Was die se­kun­dä­re Recht­set­zung (al­so die Ver­ord­nun­gen und Richt­li­ni­en) be­trifft, so ist nicht die viel­ge­schol­te­ne Kom­mis­si­on, son­dern der Rat (= Mi­ni­ster der na­tio­na­len Re­gie­run­gen) und das Par­la­ment (= von den Bür­gern zu wäh­len­de Ab­ge­ord­ne­te) der Ge­setz­ge­ber. Das heißt, an den ver­meint­li­chen und wirk­li­chen Miss­stän­den, die uns die EU ein­ge­brockt hat, ist nicht ein an­ony­mer Kra­ke in Brüs­sel schuld, son­dern Po­li­ti­ker, die von den Bür­gern der Mit­glieds­staa­ten di­rekt oder mit­tel­bar ge­wählt wur­den. Wer al­so ge­gen die EU wet­tert und dann bei der EP-Wahl zu Hau­se bleibt und bei den na­tio­na­len Wah­len nicht oder »falsch« wählt, han­delt in ge­wis­ser Wei­se in­kon­se­quent.

    Wor­an die EU wirk­lich krankt, ist mE die Ver­strickung ih­rer In­sti­tu­tio­nen mit der na­tio­na­len Po­li­tik. Ir­land sei Un­dank wird es auch in Hin­kunft noch so vie­le Kom­mis­sa­re ge­ben wie Mit­glieds­staa­ten, und das ob­wohl die Auf­ga­be der Kom­mis­si­on die För­de­rung und Wah­rung der In­ter­es­sen der EU (und nicht der Mit­glieds­staa­ten) ist. Und das Par­la­ment wagt von sei­ner durch den Lis­sa­bon-Ver­trag ge­won­ne­nen Macht noch nicht recht Ge­brauch zu ma­chen, zwei­fel­los aus Rück­sicht auf die Par­tei­freun­de in den Mit­glieds­staa­ten und all­fäl­li­ge ei­ge­ne Kar­rie­ren im Hei­mat­land.

    Und wer die Wahl­er­fol­ge EU-kri­ti­scher Par­tei­en als Be­leg für ei­nen sich aus­wei­ten­den EU-Skep­ti­zis­mus wer­tet, der soll­te be­den­ken, dass die be­tref­fen­den Grup­pie­run­gen ja auch an­de­re Po­si­tio­nen ver­tre­ten, mit de­nen sie als Op­po­nen­ten der clas­se po­li­tique er­schei­nen. Der Bür­ger will letzt­lich der na­tio­na­len Füh­rungs­rie­ge, die er von sich und von der er sich ent­frem­det fühlt, ei­nen Schuss vor den Bug ver­pas­sen. EU-Kri­tik ist da­bei nur ei­ne Kom­po­nen­te un­ter an­de­ren.

  12. Ihr Ein­wand, dass die EU-Pro­test­grup­pen und ‑par­tei­en in an­de­ren Län­dern auch an­de­re Po­si­tio­nen ver­tre­ten, ist zwei­fel­los für ei­ni­ge Grup­pie­run­gen rich­tig. Aber es ist doch in­ter­es­sant, dass sie ins­be­son­de­re wenn sie die EU-kri­ti­sche (oder ‑feind­li­che) Kar­te spie­len, eher re­üs­sie­ren, als wür­den sie sich auf rechts- oder links­extre­mi­sti­sche The­sen kon­zen­trie­ren.

    Das EU-Par­la­ment sug­ge­riert ei­ne Bür­ger­par­ti­zi­pa­ti­on nur. In Wirk­lich­keit hat es kein In­itia­tiv­recht für Ge­set­ze. Das EP hat nur be­ra­ten­de Funk­ti­on; in be­stimm­ten Po­li­tik­fel­dern über­haupt kein Mit­spra­che­recht (das nennt sich wohl: Rechts­set­zungs­be­fug­nis­se). Ich möch­te nicht be­haup­ten, dass das EP ein zahn­lo­ser Ti­ger ist, aber die Schnei­de­zäh­ne sind ge­kappt.

    Die Dis­kus­sio­nen um die Ver­sor­gung des Herz­in­farkt­pa­ti­en­ten Eu­ro spü­len im­mer mehr Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen über die Grün­dung und Aus­stat­tung der Maas­trich­ter Ver­trä­ge in die Öf­fent­lich­keit. Dem­nach wird im­mer deut­li­cher, dass der Eu­ro ein geo­po­li­ti­sches Pro­jekt war, kein fi­nanz­po­li­ti­sches. Und die Ak­tio­nen der heu­ti­gen Po­li­ti­ker zei­gen, dass man von die­sem Stand­punkt im­mer noch nicht ab­ge­rückt ist.

    Die EU krankt dar­an, dass man sich nicht ein­deu­tig als mit­tel- oder lang­fri­sti­ges Ziel ei­nen Bun­des­staat vor­ge­nom­men hat. Dies aus Rück­sicht ex­trem eu­ro­pa­skep­ti­scher Na­tio­nen wie Groß­bri­tan­ni­en oder auch – was die na­tio­na­le Sou­ve­rä­ni­tät an­geht – Frank­reich. Al­so hat man ei­nen Mo­loch ins Le­ben ge­ru­fen, der es al­len recht ma­chen will und dem­zu­fol­ge ein Zwit­ter­we­sen von Bun­des­staat und Staa­ten­bund (mit Ten­denz zum Staa­ten­bund) dar­stellt. Die­se bü­ro­kra­ti­sier­te Form bie­tet we­der Iden­ti­fi­ka­ti­ons­po­ten­ti­al, noch schafft sie dau­er­haft die Lö­sung der sy­stem­im­ma­nent er­zeug­ten Pro­ble­me. Statt­des­sen gibt es Durch­hal­te­pa­ro­len, Halb­wahr­hei­ten und die Ent­wick­lung halt­lo­ser Schreckens­sze­na­ri­en.

  13. Dass das EP nur be­ra­ten­de Funk­ti­on ha­be, ist nicht rich­tig. Seit dem Lis­sa­bon-Ver­trag ist das Mit­ent­schei­dungs­ver­fah­ren, in dem sich der Rat nicht über das EP hin­weg­set­zen kann, das or­dent­li­che Ge­setz­ge­bungs­ver­fah­ren in der se­kun­dä­ren Recht­set­zung. Und das EP könn­te au­ßer­dem per Miss­trau­ens­vo­tum die Kom­mis­si­on zu Fall brin­gen. War­um die Ab­ge­ord­ne­ten von ih­ren Kom­pe­ten­zen so we­nig Ge­brauch ma­chen, ha­be ich ja be­reits an­ge­deu­tet.

    Wei­ters glau­be ich, dass hin­sicht­lich der be­tref­fen­den po­li­ti­schen Grup­pie­run­gen für den (Protest-)Wähler das Ge­samt­pa­ket zählt, sprich (um es mar­kant zu for­mu­lie­ren): Der Ne­xus aus EU- + Frem­den­feind­lich­keit macht da das Kraut fett. Oder um es noch mehr zu­zu­spit­zen: Kon­trol­len an dä­ni­schen Gren­zen rich­ten sich in er­ster Li­nie wohl nicht ge­gen den deut­schen Nach­barn.

    Wo­mit Sie al­ler­dings voll­kom­men Recht ha­ben: Die EU in ih­rer jet­zi­gen Wasch-mir-den-Pelz-aber-mach-mich-nicht-nass-Form hat et­was Halb­ga­res an sich. Sym­pto­ma­tisch da­für ist der Ben­nenungs­not­stand: Für ei­nen Staa­ten­bund ist die EU zu ver­wo­ben, für ei­nen Bun­des­staat zu we­nig ver­strickt. Man könn­te mit dem Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt von ei­nem Staa­ten­ver­bund spre­chen, wo­bei die­ser Neo­lo­gis­mus auch al­les of­fen lässt. Das Pro­blem ist: Es gibt wirk­lich kei­ne Al­ter­na­ti­ve zu ei­ner – sa­gen wir mal – Ver­klam­me­rung der eu­ro­päi­schen Staa­ten; al­ler­dings gibt es sehr wohl ei­ne Al­ter­na­ti­ve zur der­zei­ti­gen Form.

  14. Das Halb­ga­re der EU zeigt sich eben in ei­ner In­sti­tu­ti­on wie dem Eu­ro­päi­schen Par­la­ment. Dort wird dann zwar über Roa­ming-Be­din­gun­gen bei han­dy-Ver­trä­gen ent­schie­den, aber nicht über ei­ne ge­mein­sa­me eu­ro­päi­sche Ver­tei­di­gungs­po­li­tik. Die Sitz­flä­che uaf land­wirt­schaft­li­chen Ge­rä­ten wur­de ge­re­gelt – bei Atom­kraft­wer­ken gibt es kei­ne ein­heit­li­chen Stan­dards. Zum EWWU hat das EP nichts zu sa­gen.

    Na­tür­lich ist das von den je­wei­li­gen na­tio­na­len Re­gie­run­gen so ge­wollt. Und in Deutsch­land gab es im­mer­hin sie­ben Jah­re Rot-Grün. Ei­ne In­itia­ti­ve, Stan­dards für AKWs EU-weit we­nig­stens an­zu­den­ken, ist mir da nicht un­ter­ge­kom­men. – Das al­les im­mu­ni­siert je­doch nicht, das kri­ti­sie­ren zu dür­fen und zu müs­sen.

    Dass das EU-Par­la­ment sei­ne Kom­pe­ten­zen schein­bar nicht aus­schöpft, hat na­tür­lich da­mit zu tun, dass die Ab­ge­ord­ne­ten dort we­nig bis kein In­ter­es­se ha­ben, ih­re rest­li­chen Jah­re in über­gro­ssem Är­ger zu ver­brin­gen. Zu­mal die Struk­tu­ren, mit de­nen sie sich an­zu­le­gen ha­ben, nicht ganz über­sicht­lich sind. Sie ha­ben ver­mut­lich ih­re Macht­lo­sig­keit der Ver­gan­gen­heit zu stark ver­in­ner­licht.

    Mein Fa­zit: Die von Ih­nen eben­falls eg­se­he­nen Al­ter­na­ti­ven zum Jetzt-Zu­stand sind nicht ge­wollt. Das soll­te man klar be­nen­nen und nicht am Sonn­tag an­ders re­den als werk­tags. Hier­aus ent­steht der Über­druss, der sich ent­lädt. Wenn man so wei­ter macht, wird die EU im­plo­die­ren.

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