Grin­del­wald

Es war ein der­art ein­schnei­den­der Mo­ment, dass ich et­li­ches, was sich um die­ses Er­eig­nis her­um er­eig­net hat, ver­ges­sen ha­be. Ich ste­he auf ei­ner Ver­kehrs­in­sel in Grin­del­wald und te­le­fo­nie­re mit mei­ner Mut­ter. Kurz vor dem Abend­essen; ein kur­zes Mel­den nach ei­ni­gen Ta­gen. Sie er­zählt von mei­nem Va­ter, der beim Zahn­arzt ge­we­sen war we­gen sei­nes Ge­bis­ses, wel­ches nicht pass­te. Es pass­te schon seit Jah­ren nicht, aber im­mer wie­der hat­te er den Gang zum Arzt hin­aus­ge­zö­gert und statt­des­sen mit Un­men­gen von Ge­biss­kle­bern ver­sucht, ei­ne Fe­stig­keit zu er­zeu­gen. Seit Jah­ren nimmt mein Va­ter die­ses Pul­ver; das klei­ne, ro­te Fläsch­chen ist in zwei, drei Ta­gen leer. Es ist Na­tri­um­al­gi­nat. An­geb­lich harm­los. Aber im­mer wie­der, nach zwei oder drei Mahl­zei­ten fällt ihm das Ge­biss her­aus. Der Arzt hat­te, wie mei­ne Mut­ter sich aus­drück­te, ei­nen »Knub­bel« im Mund fest­ge­stellt. Er kann kein neu­es Ge­biss an­pas­sen, bis die­ses Ding ent­fernt ist. Man nahm ei­ne Pro­be. Ich weiß nicht mehr, ob mei­ne Mut­ter mir schon da­mals sag­te, dass es Krebs war. Oder ob das erst spä­ter war. Aber ich ver­las­se die Te­le­fon­zel­le mit dem Ge­fühl, dass mein Va­ter Krebs hat. Er war jen­seits der 70, star­ker Rau­cher; Spie­ler. Sein plötz­lich fass­li­cher, mög­li­cher Tod ließ mich über ihn nach­den­ken. Ich ging wie in Trance aus der Te­le­fon­zel­le.

Da­bei hat­te ich oft mei­nem Va­ter den Tod ge­wünscht. Nicht als klei­nes Kind, jäh­zor­nig mit dem Fuß auf­stamp­fend. Nein, spä­ter. Als er Weih­nach­ten nicht kam, sich nicht mel­de­te, mei­ne Mut­ter das Ho­tel in Han­no­ver an­rief, in dem er wohn­te und tat­säch­lich am 23.12. aus­ge­zo­gen war, aber noch ei­nen Teil sei­nes Ge­päcks hat­te ste­hen las­sen. Nie­mand wuss­te, wo mein Va­ter war. Sei­ne Ein­nah­men wa­ren mit ihm ver­schwun­den. Über die Fei­er­ta­ge er­reich­te man sei­nen Chef (das Bü­ro war in Bie­le­feld) nicht. Mein Va­ter war ei­ne Art frei­er Han­dels­ver­tre­ter (»Pro­pa­gan­dist« soll­te ich in der Schu­le sa­gen – und nie­mand, selbst die Leh­rer, konn­ten mit die­sem Be­griff et­was an­fan­gen; ich be­harr­te je­doch dar­auf), der auf Mes­sen oder Aus­stel­lun­gen ein Heim­wer­ker­ge­rät, ei­ne Art Schraub­stock, ver­kauf­te. Das Weih­nachts­ge­schäft wur­de dann im­mer in ei­nem Kauf­haus ge­macht; mei­stens in Han­no­ver oder Ham­burg.

Dies­mal al­so Weih­nach­ten. Es war das zwei­te oder drit­te Mal, dass mein Va­ter für vie­le Ta­ge ver­schwun­den war. Weih­nach­ten? Da muss doch was pas­siert sein! Ostern (wie Jah­re vor­her)? Ja. Aber Weih­nach­ten? Mei­ne Mut­ter te­le­fo­nier­te sich die Fin­ger wund. Ih­re Ver­zweif­lung über­spiel­te sie mit Dra­stik. Hin­zu kam: Ich dräng­te sie lau­fend, da und dort an­zu­ru­fen; sei­nen gu­ten Freund, den »rei­chen« Au­to­händ­ler (für uns war er halt reich, weil er ein Haus hat­te und wir auf dem mehr schlecht als recht aus­ge­bau­ten Dach­stuhl ei­nes Alt­baus wohn­ten, durch den im Win­ter manch­mal Schnee ein­drang und sich zu klei­nen Hü­gel­chen form­te). Als ich aus der Te­le­fon­zel­le in Grin­del­wald her­aus­trat, er­in­ner­te ich mich an mei­ne Ge­füh­le an je­nem Weih­nachts­fest, als ich mei­nem Va­ter den Tod wünsch­te, nur da­mit das al­les ein­mal vor­bei ist. Ir­gend­wie wuss­te ich – trotz der Sor­ge, die mit­schwang – wie es wie­der ein­mal aus­geht: Durch ei­nen An­ruf, nach Ta­gen der Sor­ge mit dem Stan­dard­satz »Ich ha­be ei­nen Feh­ler ge­macht«, je­ne ge­spiel­te Reue, die mei­ne Mut­ter nicht mehr hö­ren konn­te, weil sie nicht ernst ge­meint war oder sie glaub­te, dass sie nicht ernst ge­meint war. Die­ses un­ter­schwel­li­ge Bet­teln und Fle­hen um ein Wie­der-Auf­ge­nom­men-Wer­den in die Fa­mi­lie. Ei­ne Fa­mi­lie be­stehend aus mei­ner Mut­ter, mei­nem Stief­bru­der U. (der Sohn aus der er­sten Ehe mei­ner Mut­ter) und mir. Al­les Men­schen, die ihm nicht den Halt ge­ben konn­ten, den­ke ich heu­te, aber da­mals, als ich mit ei­ner Grip­pe im Bett lag und auf ihn war­te­te und statt­des­sen »Drei Män­ner im Schnee« schau­te, ver­fluch­te ich die­sen Mann. War­um er nicht we­nig­stens ei­nen An­ruf ma­chen konn­te. Oder ein­fach aus dem Le­ben ver­schwin­den. Aber was dann? U., zehn Jah­re äl­ter als ich, war Hilfs­ar­bei­ter, fra­gil, oh­ne Aus­bil­dung, mei­ne Mut­ter weit über 50 Jah­re, eben­falls oh­ne Aus­bil­dung. Und ich lun­ger­te in ei­ner Schu­le her­um, die mich ab­stieß und spä­ter dann, noch schlim­mer, gleich­gül­tig mach­te.

Mein Va­ter blieb ver­schwun­den, auch zwi­schen den Jah­ren, aber es gab ei­nen Hin­weis. Ein Freund von ihm (eher ein Be­kann­ter), die­ser be­klopp­te Ma­ler, den ich ei­ni­ge Mo­na­te vor­her ken­nen­ge­lernt hat­te, woll­te ihn ge­se­hen ha­ben. Mei­ne Mut­ter rief ihn an, er war um elf Uhr mor­gens noch be­trun­ken, wuss­te es nicht ge­nau, ja, er hat­te ihn ge­se­hen, in ei­ner Spiel­höl­le am Mön­chen­glad­ba­cher Bus­bahn­hof. War er’s wirk­lich – ja, nein, ich weiß nicht. Mein Va­ter ist al­so in der Stadt? Aber was sol­len wir tun, die gan­zen Spiel­kaschemmen ab­klap­pern, die wir gar nicht ken­nen und die man uns auch nicht zei­gen wür­de? Ei­ne Frau, die ih­ren Mann sucht, wird bei sol­chen Leu­ten so­fort zum Ge­spött. Mei­ne Mut­ter ging dann im neu­en Jahr zu ei­nem An­walt. Sie kam zu­rück, des­il­lu­sio­niert. Ja, ei­ne Schei­dung wä­re kein Pro­blem und ja, er müs­se Un­ter­halt zah­len, aber wie schnell ist er dann ver­schwun­den und nicht auf­find­bar. Und dann mit mir und mei­nem Stief­bruder? Ich brem­ste plötz­lich mei­ne Mut­ter, woll­te nicht mit 16 oder 17 als Unge­lernter ir­gend­wo ar­bei­ten müs­sen und auch sonst nicht von So­zi­al­hil­fe le­ben. Mei­ne Mut­ter setz­te nun al­le He­bel in Be­we­gung et­was mehr über die­sen Mann zu er­fah­ren, der seit fast 20 Jah­ren ihr Le­bens­ge­fähr­te und zehn Jah­re ihr Mann war. Sie fand so­gar die Ex-Frau, die in Ber­lin leb­te und te­le­fo­nier­te mit ihr. Und sei­nen Sohn G. in Ber­lin, für den er nie et­was ge­zahlt ha­be, wie es hieß. Bei­de woll­ten nichts mehr mit mei­nem Va­ter zu tun ha­ben, bit­te strei­chen Sie mich aus der Te­le­fon­li­ste, ich möch­te nichts von ihm hö­ren. (Und als ich vie­le Jah­re spä­ter G. die To­des­nach­richt schick­te, ant­wor­te­te er auch nicht und ich frug mich, wie ver­bit­tert man sein muss, um nicht ein­mal im Tod ei­ne Ge­ste zu zei­gen und sei es ei­ne Ge­ste der Stär­ke, der Gna­de.)

Das al­les ging mir beim Hin­aus­ge­hen aus der Te­le­fon­zel­le in Grin­del­wald durch den Kopf. Jetzt hat die­ser Mann wo­mög­lich Krebs, wird ster­ben und so­fort frag­te ich mich, wie er ster­ben wird, denn ich kann­te mei­nen Va­ter in Krank­heit gar nicht und nur we­ni­ge Ma­le war er krank­ge­we­sen mit ei­ner Er­käl­tung im Bett, al­les »aus­schwit­zen« nann­te er das und sei­ne schlimm­sten Krank­hei­ten hat­te er im­mer un­ter­wegs (er war rd. 240 Ta­ge im Jahr weg von zu Hau­se) mit ei­nen di­ver­sen Re­gen­bo­gen­haut­ent­zün­dun­gen im Au­ge, die erst auf­hör­ten, als er sich die Zäh­ne zie­hen ließ, Zäh­ne die zum Teil ver­fault wa­ren und dann be­gann die Pha­se, als er ein Ge­biss trug. Ein Ge­biss, dass ei­gent­lich nie­mals hielt; im­mer wie­der muss­te er es mit die­sem Pul­ver be­han­deln, da­mit es am Gau­men min­de­stens ein paar Mahl­zei­ten an­haf­te­te.

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1976 hat­te die Fir­ma mei­nen Va­ter an­ge­zeigt, we­gen Un­ter­schla­gung. Und gleich­zei­tig wei­ter­be­schäf­tigt. War­um man ihn an­zeig­te blieb uns un­klar; ver­mut­lich woll­te man ei­nen Ti­tel. Und das man ihn wei­ter­be­schäf­tig­te – das war klar: sie woll­ten das Geld. Es ging um fast 10.000 DM, die er nicht ab­ge­führt hat­te. Das Ur­teil vom Amts­ge­richt Han­no­ver ist ein hal­ber Frei­spruch: Klar wur­de er ver­ur­teilt, zu­mal er die Un­ter­schla­gung an sich ge­standen hat­te. Aber al­le an­de­ren Punk­te – frü­he­re an­geb­li­che Ver­un­treu­un­gen – wur­den fal­len­ge­las­sen. Mein Va­ter muss die Rich­te­rin über­zeugt ha­ben: Er ha­be et­was »glaub­haft« ver­si­chert, steht dort. Be­zie­hungs­wei­se: Die Klä­ger konn­ten et­was nicht nach­wei­sen. Er ha­be »durch­ge­dreht« als er er­fah­ren ha­be, dass das Hand­werks­ge­rät an­ders­wo preis­günstiger an­ge­bo­ten wor­den war als er es auf der Mes­se ver­kau­fen muss­te. Er ha­be »be­reut«, heißt es. Und er zah­le ja ab. Wo­mög­lich hat­te er auch vor Ge­richt den Satz »Ich ha­be ei­nen Feh­ler ge­macht« ge­sagt. Es han­de­le sich um den »be­sten Mit­ar­bei­ter« kon­ze­dier­te man. Im schrift­li­chen Ur­teil stand als Be­ruf »Werk­zeug­mei­ster«. So hat­te er sich nie ge­nannt. Das hät­te man auf der Schu­le eher ver­stan­den als »Pro­pa­gan­dist«.

Spä­ter al­so wie­der. Die gan­zen Ein­nah­men wa­ren weg, ver­spielt bei den Weih­nachts­ren­nen in Pa­ris-Vin­cen­nes und ja, auch in Glad­bach war er ge­we­sen, in der Spiel­höl­le oder doch, nein, da nicht; er war in Pa­ris und jetzt muss­te man das Ho­tel in Han­no­ver noch be­zah­len, da­mit die das Ge­päck nach­schicken. Die Bahn­hofs­mis­si­on hat­te ihm das Fahr­geld vorge­streckt und so stand er dann auf ein­mal wie­der im Wohn­zim­mer und ich se­he die­sen Blick, den er im­mer hat­te, die­se leich­te Me­lan­cho­lie aus sei­nen eher klei­nen Au­gen, die merk­wür­dig flei­schi­gen Fin­ger wa­ren vom Rau­chen stär­ker gelb als sonst (rechts im­mer ein biss­chen mehr als links) und sei­ne dich­ten, nach hin­ten ge­kämm­ten, locki­gen Haa­re. Er hat­te auf den er­sten Blick durch­aus Ähn­lich­keit mit Pe­ter Fran­ken­feld und manch­mal wur­de er auch mit ihm ver­wech­selt und wenn ich heu­te al­te Sket­che von Pe­ter Franken­feld se­he den­ke ich, da ist mein Va­ter, mit leich­tem, kaum zu mer­ken­den Ber­li­ner Ak­zent.

Spä­ter sag­te mei­ne Mut­ter, sie ha­be mei­nem Va­ter da­mals ver­bo­ten, sie je­mals wie­der an­zu­fas­sen. Sie ent­schied sich ge­gen die Schei­dung, aber sie woll­te mit ihm nichts mehr zu tun ha­ben. Den­noch wusch sie wei­ter­hin sei­ne Wä­sche, bü­gel­te die Hem­den und koch­te das Es­sen – al­ler­dings al­les lust­los, im­mer ze­ternd und ir­gend­wie ver­mit­tel­te sie das Ge­fühl, aus­ge­lie­fert zu sein. Zum Es­sen war er sel­ten da. Selbst wenn er nicht be­ruf­lich un­ter­wegs war, wenn er ei­gent­lich zu Hau­se sein soll­te – dann zog es ihn zu Pfer­de­renn­bah­nen, in Wett­bü­ros, vor, wäh­rend und nach den Ren­nen. Von den deut­schen Spiel­ca­si­nos ließ er sich sper­ren, aber wir fan­den spä­ter ei­nen Je­ton ei­ner bel­gi­schen Spiel­bank in sei­ner Jacke. Mein Va­ter kann­te die Bus­se. Über­haupt: Er war ein Mei­ster im Be­nut­zen der öf­fent­li­chen Ver­kehrs­mit­tel. All sei­ne Rei­sen hat er mit Bah­nen und Bus­sen ge­macht; manch­mal nahm ihn ein Kol­le­ge mit dem Au­to mit. Ei­nen Füh­rer­schein hat er nie be­ses­sen.

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Als ich mich als Kind und Ju­gend­li­cher für Glücks­spie­le zu in­ter­es­sie­ren be­gann, wur­de ich für mei­nen Va­ter kurz wie­der in­ter­es­sant. Er zeig­te mir die Ca­si­no-Spie­le, die Tricks, wir spiel­ten ge­gen­ein­an­der, er nahm auch mein Geld, wenn wir dar­um spiel­ten, ich sei­nes, mei­ne Mut­ter schimpf­te, Du kannst doch von den Jun­gen kein Geld neh­men, wir spiel­ten Ecar­té, Black Jack, Rou­lette, ich kann­te die Re­geln ge­nau und sah, wie er spiel­te, ob­wohl es ja nur Spiel­geld war sah ich, wie er im Rou­lette das Ta­bleau zu­pfla­ster­te mit Je­tons. Er spiel­te sei­ne Fa­vo­ri­ten aber auch, um sich ab­zu­si­chern, die an­de­ren Zah­len, dann, mit den rest­li­chen Je­tons, wie­der sei­ne Fa­vo­ri­ten. Spä­ter ha­be ich in den Spiel­ban­ken tat­säch­lich Leu­te ge­se­hen, die so ge­spielt ha­ben: Pleins, Chevaux, Trans­ver­sa­len oder die Kes­sel­spie­le (be­vor­zugt die Or­phe­lins); kei­ne ein­fa­chen Chan­cen, sel­ten Dut­zen­de und Ko­lon­nen. Im­mer wie­der woll­te mein Va­ter im Lauf der Ku­gel ei­ne Ge­setz­mä­ssig­keit er­ken­nen, ei­ne ver­bor­ge­ne, schwer aber mach­bar zu ent­hül­len­de, ge­hei­me Re­gel. Der Spie­ler, der dies er­kennt ist der Aus­er­wähl­te, der mit sei­nem Ge­winn be­lohnt wird. Wer ver­liert, hat das Ge­setz nur nicht ge­fun­den. Es ist die nie en­den wol­len­de Su­che nach die­sem Ge­setz.

Nein, so­was hat mein Va­ter nie ge­sagt. Aber ich sah es ihm an. Da­her spiel­te er ja auch Pfer­de­ren­nen: Hier galt es auch Ent­wick­lun­gen zu an­ti­zi­pie­ren, die Lei­stun­gen der Pfer­de, die »Form«, ein­zu­schät­zen, sie zu be­wer­ten. Pfer­de­ren­nen wa­ren für ihn noch we­ni­ger Pro­duk­te des Zu­falls. Aus der bei ihm all­ge­gen­wär­ti­gen Renn­zei­tung (die bis heu­te merk­wür­di­ger­wei­se »Sport-Welt« heißt, ob­wohl sie sich aus­schließ­lich mit Ga­lopp­ren­nen be­schäf­tigt) mit ih­ren un­end­lich klei­nen Zei­chen und schwer ent­zif­fer­ba­ren Codes kam er mir mit sei­nen klei­nen, zu­sam­men­ge­knif­fe­nen Au­gen beim Le­sen (er brauch­te nie­mals ei­ne Bril­le) wie ein Fähr­ten­su­cher, ein Trap­per vor, der aus den Ab­drücken im Wald­bo­den sei­ne Schlüs­se zieht. Schon als Kind sah ich fas­zi­niert die­se kryp­ti­schen Sig­len wie »Ka.«, »kK«, »db«, »H«, »Agl.«, »5 W« oder »3 H«, »Lg.«, »GAG«, be­glei­tet von schier end­lo­sen Zah­len und Zah­len­ko­lon­nen. Na­tür­lich wuss­te mein Va­ter, dass bei Pfer­de­ren­nen auch ma­ni­pu­liert wur­de, aber dies war nur ein wei­te­rer Punkt der eben ein­kal­ku­liert wer­den muss­te. Hier­für muss­ten Be­sit­zer, Trai­ner und Jockeys eben be­wer­tet wer­den; Be­wertungen, die Zu­ord­nun­gen wa­ren, da man die Leu­te ja meist nicht kann­te bzw. nur das von ih­nen kann­te, was ge­mein­hin in Um­lauf war. Als ich spä­ter auch wet­te­te und mit ei­nem spe­zi­el­len Emp­fän­ger das Au­to­te­le­fon ei­ni­ger Pro­fi­spie­ler sy­ste­ma­tisch ab­hör­te, sag­te ich ihm da­von nichts. Ich stell­te fest, dass et­li­ches, was man zu hö­ren be­kam nicht nur be­lang­los war, son­dern schlicht­weg nicht ein­trat. Das, was ein­trat, brach­te zu­meist schlech­te Quo­ten, weil es »rund« ging; be­kannt war. Aber Ma­ni­pu­la­tio­nen schei­ter­ten häu­fi­ger, als man dach­te. Jockeys, die im Führ­ring er­fuh­ren, ob ihr Pferd ei­ne Chan­ce hat und be­kom­men soll und ih­re am Te­le­fon ver­ab­re­de­ten Zei­chen ga­ben, schei­ter­ten trotz­dem. Im Un­ter­schied zu mei­nem Va­ter, der auch ab und an Tips auf­sog, schei­ter­te ich nicht weil ich zu we­ni­ge In­for­ma­tio­nen hat­te, son­dern zu vie­le dis­pa­ra­te.

Als ich die Nach­richt von mei­nem ver­meint­lich kran­ken Va­ter in Grin­del­wald hör­te, war ich schon ein paar Wo­chen »trocken«. Mein Kum­pel hat­te kei­ne Lust mehr an Pferde­rennen und auch bei mir stell­te sich das Ge­fühl ein, den ma­fiö­sen Struk­tu­ren nicht im­mer neu­es Geld nach­wer­fen zu wol­len. Ich war auf Ent­zug, hat­te kei­ne Renn­zei­tung mit. Mein Kum­pel woll­te mich an­ru­fen, wenn er et­was ent­deck­te. Aber er rief nicht an. Und es war mir recht. Ich be­mit­lei­de­te längst mei­nen Va­ter, der mit sei­nem Freund im­mer noch un­ter­wegs war. Sei­ne Klein­st­ren­te und So­zi­al­hil­fe be­an­spruch­te er ir­gend­wann für sich; er woll­te nicht U. und mich »fi­nan­zie­ren« wie er sag­te, da­bei fi­nan­zier­te ich längst mit mei­nem Ge­halt die Fa­mi­lie. Mein Va­ter wünsch­te ge­trenn­te Kas­sen, re­kla­mier­te für sich den Selbst­ver­sor­ger­sta­tus. Er kauf­te bil­lig­stes Zeug beim Metz­ger ein, aß bei­spiels­wei­se ein Schwei­neohr und noch heu­te hö­re ich das Kau­en auf dem Knor­pel, die­ses ekel­haf­te Ge­räusch, wel­ches bei mir fast ei­nen Brech­reiz aus­löst. An­son­sten war er dau­ernd un­ter­wegs. Er ging nach den Ren­nen mit an­de­ren Leu­ten mit, emp­fand die­se mehr als sei­ne Fa­mi­lie als uns. Dies al­les be­den­kend hat­te ich plötz­lich kei­nen Ap­pe­tit mehr; be­trat ein Re­stau­rant in Grin­del­wald, das ich gar nicht kann­te und be­stell­te, so glau­be ich heu­te, ein Ome­lett zum Abend­essen.

* * * * *

Ja, es war Krebs und es war auch dring­lich, ob­wohl er jen­seits der 70 war. Er wur­de ins Aa­che­ner Kli­ni­kum ein­ge­wie­sen und be­kam dort Be­strah­lun­gen. Ope­ra­tiv woll­te man nicht vor­ge­hen. Am Kopf. Früh war klar, dass er ei­ne Art Ver­suchs­ka­nin­chen war. Die Frau des Au­to­händ­lers fuhr mit uns ein­mal nach Aa­chen. Auf der Fahrt reg­ne­te es der­art stark, dass sie für ei­ni­ge Mi­nu­ten auf den Stand­strei­fen fuhr und an­hielt. Ich nahm dies als schlech­tes Zei­chen. Das Kli­ni­kum ent­wickel­te schon nach we­ni­gen Mi­nu­ten ei­ne krank­ma­chen­de At­mo­sphä­re. Sei­ne Mo­der­ni­tät war ab­sto­ßend, der Ge­ruch ins­be­son­de­re in den Auf­zü­gen ekel­haft. Mein Va­ter war ge­las­sen und ru­hig, hat­te et­was ab­ge­nom­men. Ich be­nahm mich nor­mal, ob­wohl ich längst ins Au­ge ge­fasst hat­te, dass er bald ster­ben könn­te. Wir gin­gen in die Ca­fé­te­ria. Al­le ta­ten so schreck­lich ge­fasst. Er hat­te mit dem ka­tho­li­schen Prie­ster ge­spro­chen, was mich über­rasch­te (er war ja evan­ge­lisch). Aber viel­leicht war es nur, weil er der Sohn un­se­rer ehe­ma­li­gen Ver­mie­te­rin war, der in­zwi­schen in Aa­chen wohn­te.

Er war ei­ni­ge Mo­na­te in Aa­chen. Ge­gen En­de kam er, weil es kei­ne Be­strah­lun­gen am Wo­chen­en­de gab, mit dem Zug nach Hau­se. Er pass­te sei­nen Le­bens­wan­del kaum sei­ner Krank­heit an. Er war, wenn er dann zu Hau­se war, wei­ter­hin un­ter­wegs mit sei­nen Freun­den, dem Au­to­händ­ler und dem Schrott­händ­ler und sei­ner Frau. Wenn er dann fuhr, war die Wo­che ei­gent­lich im­mer merk­wür­dig schön, da wir uns ge­gen­sei­tig Hoff­nung mach­ten. »Nur nicht lei­den« sag­te mei­ne Mut­ter manch­mal und sie be­gann, ihn für das Er­tra­gen der Krank­heit zu be­wun­dern. Und gleich­zei­tig zu be­nei­den: Wenn er jetzt schon wie­der Renn­bah­nen be­sucht – dann muss es doch gut mit ihm ste­hen.

Als er dann im Som­mer an ei­nem Diens­tag zu­rück­kam (ich las ge­ra­de Ot­to Main­zers »Pro­me­theus«), gab es Kaf­fee und Ku­chen. »’n biss­chen Krebs ge­habt…« ko­ket­tier­te er leicht ber­li­nernd und ab­ge­ma­gert. Er konn­te mit sei­nem in die Hän­de ver­bor­ge­nen Ge­sicht so schön lei­dend aus­se­hen, aber das tat er jetzt nicht. Jetzt nicht, als es ihm wo­mög­lich am schlimm­sten ging. Er sei »aus­ge­strahlt«, hat­te man ihm ge­sagt; die Strah­len­do­sis wä­re ab so­fort nur noch schäd­lich. Be­strah­lun­gen am Kopf, hör­te ich, na­ja, das sei doch das aller­letzte Mit­tel. Wir tran­ken Kaf­fee, aßen Ku­chen. Und dann schau­te er zur Uhr, es war ge­gen 17 Uhr, viel­leicht et­was frü­her, und dann mach­te er sich auf, ging hin­aus, die Stra­ße ent­lang, die zur Bus­hal­te­stel­le führ­te, in lang­sa­me­rem Gang als frü­her, fast be­däch­tig, den Kopf leicht nach un­ten, den Arm pen­delnd, die Zi­ga­ret­te in der rech­ten Hand, zwei Fin­ger leicht ab­ge­spreizt wie im­mer: so ging er zur Bus­hal­te­stel­le der Li­nie 10, die ihn zur Trab­rennbahn führ­te, denn diens­tags wa­ren im­mer Ren­nen in Mön­chen­glad­bach. Er konn­te un­mög­lich mehr als zehn Mark bei sich ha­ben. Er ging und fuhr trotz­dem da hin. So ver­ließ er uns im­mer und im­mer wie­der und mei­ne Mut­ter be­merk­te noch, wie ge­bro­chen er ge­hen wür­de und räum­te dann den Tisch ab und ich dach­te, mein Gott, war­um geht er, war­um kann man nicht we­nig­stens mal vor dem Fern­se­her sit­zen oder, noch bes­ser, re­den, aber er flüch­te­te, hat­te noch nicht ein­mal ei­ne Renn­zei­tung (die »Heat« hieß), stahl sich von uns weg. Viel­leicht aus Scham? Oder um uns zu brüs­kie­ren? Oder weil er nicht an­ders konn­te?

»Ich konn­te doch nicht wis­sen, dass ich so alt wer­de«, sag­te mein Va­ter mehr als ein­mal, als man ihn frug, war­um er nicht in die Ren­ten­ver­si­che­rung ein­be­zahlt ha­be. Und war­um er nichts auf die Sei­te ge­legt hat­te von sei­nen gu­ten Ein­nah­men und Ver­dien­sten. War­um sei­ne Frau, mei­ne Mut­ter, En­de der 70er ih­re gan­zen Er­spar­nis­se auf­lö­sen muss­te, um die Fir­ma aus­zu­zah­len, da­mit das un­ter­schla­ge­ne Geld zu­rück­be­zahlt wer­den konn­te. War­um wir bis vor kur­zem in ei­nem Loch leb­ten das zwar bil­lig war, aber schä­big.

* * * * *

Schon früh hat­te man sie ge­warnt, so mei­ne Mut­ter spä­ter. Freun­de von mei­nem Va­ter hät­ten ihr schon kurz nach mei­ner Ge­burt ge­sagt, dass er spielt. Aber mei­ne Mut­ter be­ach­te­te das nicht. Für sie war es auch noch ein­mal ei­ne Chan­ce; nach der Schei­dung Mit­te der 50er Jah­re und mit dem Kind – wer nahm da­mals ei­ne sol­che Frau? Ob ich ein »Un­fall« war? Schwer zu sa­gen. Als ich ge­bo­ren wur­de war sie 37, er fast 46. Sie muss von ihm min­de­stens zu Be­ginn Zu­nei­gung und Ge­bor­gen­heit be­kom­men haben.Nach dem Tod mei­ner Mut­ter ha­be ich Brie­fe von ihm an sie ge­fun­den, die er ihr von den Mes­se­städ­ten schick­te. Gro­ße, sehr schö­ne Buch­sta­ben, fast kal­li­gra­phisch. Er schrieb kurz, aber vol­ler Lie­be und zu­vor­kom­mend. Er schick­te uns Küs­se. Mir schrieb er auch ein paar Mal; ei­ne Kar­te oder ei­nen Brief. »Eu­er Va­ti« un­ter­schrieb er im­mer und ich könn­te heu­len, wenn ich vor mei­nem gei­sti­gen Au­ge uns bei­de durch die Brief­mar­ken­ge­schäf­te ge­hen se­he, wo er die Samm­lung für mich kom­plet­tier­te – Bund/Berlin ab 1949, post­frisch (aber oh­ne Post­horn­satz; der war zu teu­er).

20.9.1970

20.9.1970

Da war die Sa­che mit der wei­ter­füh­ren­den Schu­le schon ver­ges­sen. Er woll­te nicht, dass ich zur Re­al­schu­le gin­ge, wie die Leh­re­rin, Frau Bück­mann, ei­ne 60jährige Frau mit unend­licher Ge­duld, mei­ner Mut­ter emp­fahl. Ich sei zu dumm, sag­te er, sag­te spä­ter mei­ne Mut­ter. War­um er so von mir dach­te, weiß ich nicht. Viel­leicht weil ich be­gann ein Mutter­kind zu wer­den, aber wie soll­te es auch an­ders sein bei die­ser Ab­we­sen­heits­quo­te. Nur ganz sel­ten toll­te ich mit ihm sonn­tags im Bett oder saß beim Fern­seh­schau­en ne­ben ihm auf dem Bo­den, ein ge­pol­ster­tes Ses­sel­bein als Leh­ne für mei­nen Rücken. In die­sen Augen­blicken wa­ren wir eins, auch wenn wir nichts sag­ten. Kost­ba­re Mo­men­te.

Im­mer wie­der in­si­stier­te mei­ne Mut­ter, war­um wir in die­sem Loch woh­nen blie­ben. Aber mein Va­ter schaff­te es, sie zu be­ru­hi­gen. Bis in die 80er Jah­re hin­ein heiz­ten wir mit ei­nem Koh­len­ofen, der aus den 50er Jah­ren stamm­te, schlepp­ten die Koh­len aus dem Kel­ler sechs Trep­pen hoch und fühl­ten uns doch ir­gend­wie wohl. Von den Bü­chern in mei­nem Zim­mer muss­te ich ab und zu den Koh­len­staub ent­fer­nen. Auf ei­ge­ne Ko­sten wur­de in den 70ern ein Ba­de­zim­mer er­rich­tet; mei­ne Mut­ter ko­or­di­nier­te die Hand­wer­ker mit schwer­stem grip­pa­lem In­fekt. Als mein Va­ter zu­rück­kam, brach­te er sie auf die Pal­me mit dem Satz »Wie ha­be ich das ge­macht?«

Mei­ne Mut­ter hat­te mei­nen Va­ter ge­hei­ra­tet, als ich sechs Jah­re alt war. Ich soll­te nicht als un­ehe­li­ches Kind in die Schu­le müs­sen; es war schon schlimm ge­nug, dass er evan­ge­lisch und mei­ne Mut­ter ka­tho­lisch war. Die Stel­le als Haus­wirt­schafts­hil­fe bei ei­nem Frau­en­arzt hat­te sie schon et­was frü­her auf­ge­ge­ben; sie woll­te sich um mich küm­mern und ver­meiden, dass ich von mei­ner Oma ver­zo­gen wer­de. Die starb ein Jahr spä­ter; der Schwie­gersohn fand nie ih­re Zu­stim­mung. Mein Va­ter ver­dien­te gu­tes Geld, er konn­te die Leu­te über­zeu­gen oh­ne zu­dring­lich zu wer­den, sein Vor­trag zu dem Heim­wer­ker­ge­rät war so über­zeu­gend, dass man, wenn man ein biss­chen Ah­nung da­von hat­te, kaum wi­der­ste­hen konn­te. Es gab noch kei­ne Bau­märk­te und die Leu­te be­gan­nen, in den Häu­sern vie­les sel­ber zu ma­chen. Als Ju­gend­li­cher war ich ein paar Mal bei Mes­sen und Aus­stel­lun­gen in der Um­ge­bung da­bei. Ich schrieb dann die Auf­trä­ge der Leu­te aus, die das Ge­rät nach Hau­se ge­schickt be­kom­men woll­ten und dann per Nach­nah­me be­zahl­ten. Aus dem Vor­trag muss­te man schlie­ßen, dass mein Va­ter ein be­gna­de­ter Hand­wer­ker war. In Wirk­lich­keit hat­te er kei­ne Ah­nung. Das heißt: Er mein­te schon, dass er Ah­nung hat­te. Er »wuss­te« ei­gent­lich al­les.

Auch vom Krieg wuss­te er al­les. So streu­te er di­ver­se Or­te ein, in de­nen er wäh­rend des Krie­ges als Sol­dat war. Hielt man dies ge­nau nach kam man schnell dar­auf, dass es nicht sein konn­te. Wo er wirk­lich war und was er ge­macht hat­te – wir ha­ben es nie er­fah­ren; er sag­te nichts oder er­zähl­te nur weit und aus­schwei­fend. Ich weiß nicht, was er, Jahr­gang 1913, da­mals ge­tan hat. Oft stell­te ich mir die Fra­ge. Manch­mal auch ihm. Er ant­wor­te­te nicht. Da­bei hät­te mich zu­nächst ein­mal in­ter­es­siert, ob er bei­spiels­wei­se ei­nen Men­schen ge­tö­tet hat. Als Sol­dat »durf­te« man das ja (was ich nicht ge­nau ver­stand). Ich ha­be mei­nen Va­ter we­nig­stens ein­mal Trä­nen ab­wi­schen se­hen, als in ei­nem Fern­seh­film, den er zu­fäl­lig mit uns an­schau­te, vom Ho­lo­caust die Re­de war und je­mand ab­ge­führt wur­de. Mein Va­ter war ein wei­cher Mensch, aber in Ge­mein­schaft könn­te es an­ders aus­ge­se­hen ha­ben (oder eben nicht).

Als die Fir­ma ihn nicht mehr ha­ben woll­te – er war jen­seits der 60 und jün­ge­re Kol­le­gen dräng­ten und gleich­zei­tig be­gann sich das Ge­schäft zu än­dern – mel­de­te er die Ren­te an. Das, was man ihm gab, war lä­cher­lich. Er hat­te so gut wie nie ein­ge­zahlt. Fast nur Kriegs­jahre zähl­ten, aber auch die nicht ganz, weil er nicht lücken­los be­wei­sen konn­te, wo er über­all war. Bei dem Au­to­händ­ler fand ei­ne Hand­lan­ger­tä­tig­keit. Er wur­de sein Fak­to­tum, fuhr mit zu Pfer­de­ren­nen und muss­te sei­ne Lau­nen er­tra­gen (er war der deut­lich äl­te­re und in­tel­li­gen­te­re), Brie­fe auf­set­zen und Rat­schlä­ge er­tei­len. Jah­re zu­vor hat­te mein Va­ter die Idee ge­habt, die ihm ein ge­wis­ses Ver­mö­gen er­brach­te. Bis zum letz­ten Au­gen­blick hat­te er mei­nem Va­ter an­ge­bo­ten, sich an dem Pro­jekt fi­nan­zi­ell zu be­tei­li­gen. Mein Va­ter lehn­te das ab. Zum ei­nen hat­te er das Geld nicht; zum an­de­ren trau­te er viel­leicht auch der Idee nicht. Die Aus­stel­lung wur­de jahr­zehn­te­lang ein fi­nan­zi­el­ler Er­folg; al­le Be­tei­lig­ten hat­ten bald aus­ge­sorgt.

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Ich be­gann auch zu spie­len; mein al­ler­er­ster Ein­satz auf ei­ner Renn­bahn be­scher­te mir ei­nen für da­ma­li­ge Ver­hält­nis­se gro­ßen Ge­winn. Es stimmt wirk­lich: Kin­der und Ver­rück­te ge­win­nen im­mer. Ich woll­te von nun an al­les bes­ser wis­sen – und war ihm da­bei ähn­li­cher, als ich mir da­mals zu­ge­stand. Ich such­te auf sei­nem Ge­biet wohl sei­ne An­er­ken­nung. Ei­ne An­er­ken­nung, die ich sonst nicht er­reich­te. Ir­gend­wann ver­hielt ich mich mei­nem Va­ter ge­gen­über hoch­nä­sig, sprach mo­na­te­lang nicht mit ihm, dann nur das nö­tig­ste. Er war für mich ab­schreckend ge­wor­den, ein Dorn im Au­ge. Ich ha­be mich in den Wett­bu­den für ihn manch­mal ge­schämt. Heu­te schä­me ich mich da­für, mich da­mals für ihn ge­schämt zu ha­ben. Viel­leicht weil ich in ihm mein Schick­sal sah, wenn ich so wei­ter­mach­te? (Das den­ke ich heu­te.).

Merk­wür­dig dann die­se Ko­in­zi­denz: Als ich kei­ne Lust mehr auf Pfer­de­wet­ten hat­te, weil mir auch die so­zia­le Un­ter­stüt­zung der Wett­kum­pa­ne ab­han­den kam, wur­de bei ihm die Krank­heit dia­gno­sti­ziert. Die Fa­mi­lie rück­te ir­gend­wie wie­der zu­sam­men. Mei­ne Mut­ter, die mei­nen Va­ter so oft be­schimpf­te, wur­de mil­der. Jah­re nach sei­nem Tod ge­stand sie mir, dass sie ihn ver­mis­se. Es war ei­ner der merk­wür­dig­sten Au­gen­blicke in mei­nem Le­ben: Sie ver­miss­te den jah­re­lang ve­he­ment ver­schmäh­ten und so oft ver­fluch­ten Mann. Als sie dies sag­te, hat­te sie Trä­nen in den Au­gen.

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Die letz­ten Mo­na­te ver­brach­te er zu Hau­se. Als am Hals wie­der ei­ne Ge­schwulst kam, ging er nicht zum Arzt. Er woll­te un­be­dingt se­hen, wie sich der Golf­krieg 1991 ent­wickel­te. Schließ­lich war es ei­ne rie­si­ge Ge­schwulst ge­wor­den. Der Haus­arzt setz­te ein paar Mal die Wo­che Mi­stel­sprit­zen. Mein Va­ter litt, konn­te kaum noch kau­en und schlecht schlucken. Selbst trin­ken fiel ihm schwer. U., den er fast ver­ach­tet hat­te, küm­mer­te sich jetzt um ihn. Mein Va­ter er­kann­te sei­ne Lei­stung hoch an. Nein, am Tropf kommt er erst ganz zum Schluss. Der Stuhl für die Not­durft. Wenn die Ge­schwulst auf­platzt, soll man ihn, den Arzt, so­fort an­ru­fen. Als es dann so­weit war – an ei­nem Sonn­tag – war er nicht zu Hau­se. Der Not­arzt kam, schreck­te vor dem blu­ten­den Mann zu­rück, woll­te ihn nicht be­rüh­ren. Mei­ne Mut­ter zeig­te ihm ein mit Blut voll­ge­so­ge­nes Hand­tuch. Ent­wür­di­gend, wie sich die­ser Arzt ver­hal­ten hat. Mei­ne Straf­an­zei­ge wur­de schnell ein­ge­stellt. Mein Va­ter kam auf un­ser Drän­gen ins Kran­ken­haus und wur­de nach ei­nem Tag wie­der frei­ge­las­sen. Nie­mand woll­te ei­nen ster­ben­den Mann; für die Un­ter­la­gen war das schlecht. Als wir an ei­nem Sonn­tag zu Mit­tag aßen, klang ein Stöh­nen aus dem Zim­mer. Das Schmerz­zäpf­chen hat er dann nicht über­lebt. Lan­ge hat­te ich die­ses letz­te Auf­bäu­men, die­se wim­mern­den Schmerz- und Lei­dens­lau­te im Ohr.

»Die Wahr­heit ist, dass ihm auf Er­den nicht zu hel­fen war« – die­sen leicht ab­ge­wan­del­ten Kleist-Satz wähl­te ich als Mot­to auf der To­des­an­zei­ge. Als der evan­ge­li­sche Pa­stor kam, war ich über­rascht. Er woll­te et­was von uns hö­ren. Wir er­zähl­ten über sein Spie­len, sei­ne gu­te Sei­ten, über das, was wir von ihm wuss­ten. An­geb­lich war er ins In­ter­nat oder auf ein Heim ge­kom­men, war früh Voll­wai­se. Der Pa­stor hielt dann vor drei Per­so­nen ei­ne Re­de, die die­sem Mann wirk­lich ge­recht wur­de, oh­ne ihn zu glo­ri­fi­zie­ren oder zu ver­dam­men. Kind­heit wäh­rend des Er­sten Welt­kriegs, Steck­rü­ben­win­ter, fra­gi­le po­li­ti­sche La­ge, näch­ster Krieg. Ich ha­be lei­der fast al­les ver­ges­sen, was er ge­sagt hat, aber es war groß­artig.

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Spä­ter ha­be ich ein biss­chen re­cher­chiert. Sei­ne El­tern star­ben früh (in den 50er-Le­bens­­­jah­ren; die ge­nau­en Ge­burts­da­ten lie­ßen sich nicht er­mit­teln); er war aber erst mit 20, 1933, Voll­wai­se. Der Va­ter war Elek­tro­mei­ster. 1941 hei­ra­te­te mein Va­ter sei­ne er­ste Frau; G. war wohl ein Front­ur­laubs­kind, 1942 ge­bo­ren. 1948 die Schei­dung; wech­seln­de Wohn­sit­ze in Ber­lin, die sich spä­ter ver­lo­ren. Mehr war nicht zu er­fah­ren. Er taucht ir­gend­wann in Mön­chen­glad­bach auf, ver­kauft Uh­ren an der Haus­tür; gilt als Verkaufs­kanone. Ge­spielt ha­be er wohl im­mer sag­te mei­ne Mut­ter spä­ter, aber sie wuss­te gar nicht, was das ge­nau bedeutet.Spielen das klang doch so harm­los.

Mein Va­ter wur­de am 15. No­vem­ber 1913 in Wol­fen­büt­tel ge­bo­ren. Er starb am 8. Sep­tem­ber 1991. Auf den Bil­dern, die ich von ihm ha­be, wirkt er mir heu­te, mehr als 20 Jah­re nach sei­nem Tod, fast fremd. Viel­leicht, weil er mir ei­gent­lich im­mer fremd ge­blieben war. Und nicht nur mir, son­dern uns al­len. Wir kann­ten ihn ei­gent­lich nicht, wuss­ten nichts von sei­nen Sehn­süch­ten, die sich in die­ser elen­den Spiel­sucht viel­leicht Bahn bra­chen. Ei­ne Spiel­sucht, die ihn noch jen­seits der 70 mit fünf Mark noch abends aus dem Haus trieb zu ei­nem Spiel­au­to­ma­ten. Was fand er dort, in den Spiel­hal­len, was er bei uns nicht fin­den konn­te?

Mein Vater - Mitte der 1980er Jahre © Lothar Struck

Mein Va­ter – Mit­te der 1980er Jah­re © Lo­thar Struck

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Nein, ich ma­che nicht den Hand­ke und ver­spre­che, spä­ter Ge­naue­res dar­über zu schrei­ben. Es reicht. Mehr braucht Ihr nicht zu wis­sen. (Und mehr wollt Ihr ja auch gar nicht wis­sen.)