Vortrag vom 2. November 2013 beim Symposium »Interkulturalität in der Literatur – regionale, nationale und kontinentale Identitäten«, Städtische Universität (Shiritsu Daigaku) Nagoya/Japan
Ich bin ein Migrant. Seit elf Jahren lebe ich in einem Land fern von meinem Geburtsort, davor habe ich in vier anderen Ländern dauerhaft gewohnt, und auch die Jahre in Wien waren für mich als überzeugten Westösterreicher ein Auslandsaufenthalt, übrigens der unangenehmste von allen. Wo ich den Lebensabend verbringen werde, wo ich begraben sein möchte? Keine Ahnung. Vielleicht »zu Hause«, vielleicht nicht. Meine Wanderungen sind noch nicht beendet.
Migrant zu sein ist nichts Besonderes, heutzutage eher die Regel als die Ausnahme. Eine Lebensform, mit der viele Menschen auf die eine oder andere Weise Bekanntschaft geschlossen haben. Insofern ist auch »Migrantenliteratur« nichts Besonderes. Man wird sogar sagen können, daß die Literatur mit ihrer alten und notorischen Neugier für alles Fremde das, was heute der gesellschaftliche Regelfall ist, vorweggenommen hat. Im Grunde beruht die Rede von den Migranten mit ihrem Hintergrund und ihrer Kultur nur auf einer bestimmten Sichtweise. Die Wurzeln der Migration gehen weit, sehr weit zurück. Ebenso das Phänomen der Globalisierung. Wann hat sie begonnen? Mit Kolumbus? Mit der Hanse? Mit Odysseus? Mit den Argonauten? Als ich in den siebziger Jahren Germanistik studierte, war Exilliteratur ein Modethema. Das Exil aber ist nur eine besondere Art der Migration, wie Sevgi Özdamars Roman Die Brücke vom Goldenen Horn sinnfällig macht.
Vor einigen Jahren wurde ich von einer Literaturzeitschrift um einen Beitrag für ein Heft zum Thema Reiseliteratur gebeten. Ich sagte zu und hatte ein ungutes Gefühl, weil ich mich nicht als Reiseschriftsteller betrachte. Meistens bin ich nicht auf Reisen, sondern lebe woanders (als in meinem Herkunftsland) und bewege mich zwischen verschiedenen Orten, weil ich dort etwas zu tun habe, etwas suche, Freunde treffen will, mich in eine Frau verliebt habe, an einem Kongreß teilnehme, mit einem Autor über ein zu übersetzendes Buch sprechen will. Der Reisende im herkömmlichen Sinn hat seine Rückkehr eingeplant. Das ist bei meinem Migrantentum – meiner vielfältigen Wanderschaft – oft nicht der Fall. Manchmal sage ich, um einen Gesprächspartner zu verblüffen: Ich reise nicht gern. Und füge, wenn die Verblüffung aufgebraucht ist, hinzu: Ich halte mich gern an verschiedenen Orten auf, aber ich bin nicht so gern unterwegs. Mein Ideal wäre die Ubiquität. Semper et ubique. Den Körper beamen, nicht nur den Geist und die Bilder (was durch die kommunikationstechnische Entwicklung sehr erleichtert worden ist). Reisen ist mir auf die Dauer zu anstrengend.
Trotzdem habe ich jener Literaturzeitschrift einen Beitrag gegeben, ein Stück über eine Reise nach Spanien, auf den Spuren einer Pilgerreise, die ich in meiner Kindheit zusammen mit meiner Tante unternommen hatte. Dieses Stück war schon damals als Teil eines Romans geplant, der jahrelang den Arbeitstitel Analogia entis trug: die Analogie des Seienden, oder anders gesagt: die Ähnlichkeit, mithin Vergleichbarkeit von allem, was auf der Welt vorkommt. Der Roman spielt in Argentinien und Japan, also in zwei einander nicht nur geographisch, nicht nur global (wenn man an den Erdglobus denkt), sondern auch kulturell scharf entgegengesetzten Kulturbereichen. Das sowohl körperliche als auch geistige und emotionale Hin und Her prägte die Struktur dieses ziemlich komplexen, für die Leserschaft vielleicht allzu komplexen Buchs. Eine Art Schaukeln von dieser Seite zu jener, von einem Extrem zum anderen, bei dem es darauf ankommt, die Spannung zu halten, gespannt zu bleiben, neugierig, aufmerksam, ausdauernd, aber auch sparsam, ökonomisch, haushaltend, weil die Energie eines Menschen (einer Romanfigur) nicht unbegrenzt ist. Es klingt vielleicht paradox, aber ich teile das stilistische Ideal des Schaukelns mit einem meiner großen Vorbilder, Michel de Montaigne, der gern zu Pferde durch die französische Landschaft ritt.
In jungen Jahren dachte ich, ich könnte mir nach und nach alles aneignen. Die Literatur, zuerst die deutsche, dann die europäischen, dann die anderen Literaturen; die Städte, die Länder, die Sprachen; Gegenwart und Geschichte. Irrtum, man kann nicht alles, niemand kann alles (erkennen, tun usw.). Als ich mit zwanzig eine Zeit in Rom verbrachte, verzweifelte ich an der Möglichkeit, die gesamte Stadt, die mehr hat als nur sieben Hügel, durchwandern, überblicken und erinnern zu können. Denn soviel begriff ich schon damals und weiß ich noch heute, daß man einen Ort begehen muß, um ihn wirklich zu kennen.
Also, man kann sich nicht alles aneignen, es gibt da immer noch, immer wieder, immer mehr Grenzen. Wer hat gesagt, daß die Grenzen aus der Welt verschwinden? Allerdings kann man sich eine große Vielfalt erwerben. Man kann hier und dort anknüpfen, Verbindungslinien ziehen, Verknüpfungen mit Orten erreichen, an die man zuerst vielleicht gar nicht gedacht hatte. Nicht von einem Punkt auf der Landkarte zum anderen, sondern von einer Intensität zur nächsten. Nur wo solche Intensitäten entstehen, das heißt erfahren werden, spinnt sich das Netz weiter. Ein Netz, an dem jeder selbst arbeiten muß. Es ist nicht vorgegeben, man findet es nicht im Internet, nicht im Fernsehen. Ein Bekannter von mir arbeitet als Reiseleiter, er hat fast alle Länder und die wichtigsten Städte der Erde mindestens einmal besucht. Trotzdem habe ich im Gespräch mit ihm den Eindruck, daß er nichts von den Orten weiß, die er auf seiner Liste anführen kann. Manchmal gibt er eine Prognose politischer oder sozialer Natur ab, zum Beispiel über Kuba, Myanmar oder Ägypten. Die Prognosen haben sich allesamt als falsch erwiesen. Reiseleiter sind Vertreter einer abstrakten Globalisierung, bei der ein Schema, in der Regel in den alten Zentren des Westens ausgeheckt, über den Erdball geworfen wird. Ein Schema intellektueller, medialer oder ökonomischer Natur, wobei der letztgenannte Faktor, ganz im Sinne von Karl Marx, wohl der entscheidende ist. Diese Art der Globalisierung ist nicht meine Sache. Die Reiseschriftstellerei mag ihre Berechtigung haben, aber ein Autor, der diesen Namen verdient, ist das Gegenteil eines Reiseleiters. Seine Verbindungen sind konkret. Von hier nach dort, wobei vieles, was dazwischen liegt, außer Acht bleiben wird. Mut zur Lücke. Die Qualität eines Netzes erweist sich in der Erhabenheit seiner Lücken. Der Verknüpfungskünstler (vulgo networker) kann sich dabei von Launen, vom Zufall, von der Liebe, aber auch, warum nicht, von einer Methode oder Systematik leiten lassen. Vorausgesetzt, die Systematik verzichtet auf jeden totalisierenden Anspruch.
Die migrantische Autorin Olga Martynova (oder ihre Erzählerin) vergleicht im Roman Mörikes Schlüsselbein die U‑Bahn zweier verschiedener Städte. »Die nüchterne New Yorker Subway ähnelte mitnichten Fjodors Vorstellung von einer U‑Bahn. In Petersburg kannst du zwei oder drei oder gar vier Seiten in einem Buch lesen, bis dich die Rolltreppe nach unten zu den unterirdischen Kronleuchtern und Mosaikwänden gebracht hat. Hier machst du ein paar Schritte eine gewöhnliche Treppe runter und bist bereits in der unspektakulären Unterwelt (so unterscheidet sich wohl die russisch-orthodoxe Prachthölle von dem dezenten Protestantenorkus).« Beim Lesen dieser Sätze habe ich den Vergleich weitergesponnen: Also gleicht die Petersburger U‑Bahn eher der von Mexiko-Stadt mit ihren unendlich langen Abständen zwischen den Haltestellen, wo man während einer Fahrt ganze Romane auslesen kann. Was natürlich den Nachteil hat, daß die nächste U‑Bahnstation, wenn man sie oben auf der Erde sucht, oft sehr weit entfernt ist. Ganz im Gegensatz zu Paris, wo es fast an jeder Hausecke einen U‑Bahn-Abgang gibt, kurze Beschleunigungen, viele Bremsphasen, Strecken mit scharfen Kurven und Ausblicken auf Bootshäfen. Solche Vergleiche sind zufällig, natürlich von Biographien bestimmt (in denen der Zufall eine große Rolle spielt), es ließen sich viele andere Vergleiche hinzufügen, auch Kontrastbilder anstelle von Ähnlichkeiten. In Buenos Aires ist mir eines Tages im uralten U‑Bahn-System der Stadt aufgefallen, daß die neueren Züge aus Japan stammen und – wenn man sich all das Schmuddelige und Kaputte wegdachte – denen von Nagoya gleichen. Nachzulesen ist der schriftgewordene Vergleich in meinem bereits erwähnten Roman Erinnerung an das, was wir nicht waren. Das Metaphorische, die Feststellung von Ähnlichkeiten und der Austausch von Positionen (Wörtern, Dingen), ist Teil der alltäglichen Wahrnehmung des Autors und seiner Figuren geworden. Das nenne ich poetisches, transversalästhetisches Leben: in einem fort am großen Zusammenhang weben (ohne Bedürfnis und Notwendigkeit, zu totalisieren). Martynova deutet sogar eine theoretische Unterfütterung an, die in die Richtung von Max Webers Protestantischer Ethik weist.
An und für sich tun wir das alle, wir vergleichen pausenlos, ganz gleich, ob wir mehr oder weniger empfänglich sind für Poesie und Transversalität. Wir vergleichen, um zu verstehen. Wir sortieren Ähnlichkeiten und Unterschiede. Dieses Verhalten ist der Grundgestus unseres Denkens – und erst in zweiter Linie ein Aufschwung zu den zweiten und dritten Ebenen des Metaphorischen. Oder anders gesagt: Unser Denken ist selbst metaphorisch; ohne den Gebrauch von Metaphern könnten wir überhaupt nicht denken und sprechen. Analogia entis ist unsere conditio humana. Durch die Bildung von Metaphern verschieben und erweitern wir den Sinn.
Olga Martynova und viele andere Autoren, die im medialen und universitären Diskurs der Migrantenliteratur zugerechnet werden, sind exophon. Seltsames Wort, »exophon«, dessen Bedeutung sich vermutlich darauf bezieht, daß sich ein Sprecher oder Schreiber außerhalb seiner angestammten Sprache bewegt, also in einer Fremdsprache. Auf Autoren bezogen bedeutet es meist, daß er (oder sie) sich in seinen (ihren) Werken nicht oder nicht nur der sogenannten Muttersprache, sondern einer anderen Sprache bedient. Manchmal frage ich mich bei diesem Thema allerdings, wie es um zweisprachige Menschen bestellt ist. Ein solcher Mensch müßte, um ein exophoner Autor zu werden, in einer dritten Sprache schreiben. Der Begriff »Exophonie« macht ohne die Annahme einer persönlichen Ursprache keinen rechten Sinn. Entspricht diese Annahme der von uns erfahrenen Realität? Ich denke, im wesentlichen schon. Nur kann es auch hier nicht schaden, die Ausnahmen, Grenzen und Übergänge mitzubedenken.
Ich bin kein exophoner Autor. Zwar habe ich viele Jahre in fremdsprachigen Umgebungen verbracht, aber nur sehr wenig, ein paar kleine Essays, in anderen Sprachen geschrieben. In Japan habe ich keine Chance, schreibend in die Sprache »meines Landes« – denn derzeit ist es mein Land – zu wechseln. Trotzdem kommen in meinen Büchern seit einigen Jahren auch japanische Sätze vor, und ich bin sogar sicher, daß manch eine ungewöhnliche deutsche Formulierung durch einen japanischen Hintergrundsatz bedingt ist – ein Phänomen, nach dem bei exophoner Literatur gern gesucht wird. Aber ich bin kein exophoner, sondern ein polyphoner, plurilingualer Schreiber. Es gefällt mir – und ich hoffe, ich gefalle mir nicht zu sehr darin -, auf mehrere Sprachen zurückzugreifen, die ich einigermaßen beherrsche, zumal ich seit Jahrzehnten auch als literarischer Übersetzer tätig bin und die Übersetzungen auf mein eigenes Schreiben nicht ganz ohne Einfluß sind. Als plurilingualer Autor habe ich einen berühmten Vorläufer: James Joyce. Joyce habe ich mit sechzehn zu lesen begonnen, damals besorgte ich mir den unlesbaren, nein, lesbaren, aber kaum verständlichen Finnegans Wake in der von Anthony Burgess herausgegebenen und gekürzten Fassung. Joyce war nicht nur gelehrt und sprachbegabt, er war auch ein Migrant, lebte in Triest, wo er Englisch unterrichtete, und in Paris, entfaltete aber in seinem Hauptwerk, dem Ulysses, mit irischem (?) Starrsinn Geschichten, die in Dublin, dem Ort seiner Herkunft, spielen. (Nebenbei bemerkt: Eine deutschsprachigen Literaturjury würde ihm heutzutage zuflüstern, er solle doch lieber über seine Migrationserfahrungen schreiben.)
Beim Schreiben, aber auch beim Sprechen, kommen mir nicht selten Ausdrücke aus anderen Sprachen in den Sinn. Manche Sachverhalte lassen sich besser auf spanisch oder japanisch ausdrücken als auf deutsch. Ein Oktopus heißt im Gespräch mit meiner Tochter nicht »Oktopus«, sondern tako, und wenn etwas furchterregend ist, sagen wir kowai: »Der tako da ist kowai!« Will ich den Zuruf ganbatte kudasai! in eine andere Sprache bringen, fällt mir auf Anhieb nichts Deutsches oder Englisches, sondern das italienische forza, su! ein. In meinen Büchern füge ich fast immer eine deutsche Übersetzung hinzu, wenn ich einen fremdsprachigen Ausdruck gebrauche. Und zwar auf eine Weise, daß die Wiederholung unmerklich in den Textfluß eingeht, so daß ein Leser in vielen Fällen nicht merken wird, was vor sich geht. Es widerstrebt mir, meine Geschichte mit Anmerkungen, Erklärungen, Glossen zu versehen. Warum ich dann überhaupt das Fremdsprachige in meinen Texten übersetze? Wahrscheinlich spielt der vom kommerziellen Literaturbetrieb ausgehende Verständlichkeitsdruck eine Rolle. Hinzu kommt aber, daß dieses übersetzerische Hin-und-Her selbst ein schöpferisches Potential entfaltet und Teil des Spiels wird, das ich als Autor mit dem Leser spiele. Joyce hat sich in seinen beiden großen Romanwerken nicht selbst übersetzt. Diese Unterlassung, wenn es eine ist, trägt zum änigmatischen Charakter seiner Texte bei. Joyce ist ein Sonderfall, ein berühmter, weithin anerkannter Sonderling der Literaturgeschichte. Seine Änigmatik hat zahllose Exegeten und Interpreten auf den Plan gerufen, die bis heute an Ulysses und Finnegans Wake herumtüfteln. Als gewöhnlicher Autor, der um ein bißchen Anerkennung zu kämpfen hat (als Arbeiter im Weinberg der Literatur, wie ich mich gern sehe), kann man mit der Konstituierung einer solchen Fangemeinde nicht rechnen. Den unerläßlichen Teil der Exegetik muß man selbst übernehmen.
Ich bin kein großer Schriftsteller, sondern ein kleiner. Wer guten Willens ist, kann mich so in eine Reihe mit Kafka und den anderen stellen; jene Reihe, die Deleuze und Guattari im Auge hatten, als sie ihr Buch Für eine kleine Literatur schrieben, das unter anderem als transversales Manifest zu verstehen ist. »Un grand écrivain écrit toujours dans une espèce de langue étrangère«, schrieb Marcel Proust, und jetzt werden Sie sicher erwarten, daß ich diesen Satz übersetze. Die Fremdsprache, die der große Autor, aber ebenso und vielleicht noch mehr, weil er aus seinen Nöten eine Tugend machen muß, der kleine Autor entwickelt, indem er seine Werke schreibt, ist fremd und befremdlich im Verhältnis zur Normsprache, zur gewöhnlichen Sprache, zu den Wörtern und Sätzen, die man im Alltag gebraucht, ohne nachzudenken, ohne an ihnen zu arbeiten. Trotzdem verbirgt sich in der Sprache, diesem überindividuellen Wesen, bereits eine Fülle an Kunst, an Schöpfertum, Kreativität, und der Autor, auch und gerade der exophone Autor, der die gewöhnliche Sprache als Fremdsprache hört, sollte ihr eine gesteigerte Aufmerksamkeit entgegenbringen. Dann aber, wenn er seine Gedichte, Erzählungen, Dialoge schreibt, bastelt er an seiner eigenen Sprache, und diese verhält sich zum Deutschen oder Japanischen oder Spanischen des alltäglichen Umgangs wie eine Fremdsprache – so jedenfalls meinte Proust.
Mit Sevgi Özdamar und Olga Martynova, deren Werke ich recht gut kenn, habe ich, wie man so sagt, unter vier Augen gesprochen. Natürlich können sie sehr gut Deutsch, aber nicht perfekt. Im spontanen Gespräch machen sie Fehler, die ein Muttersprachler nicht machen würde. Oder sie drücken sich ab und zu auf eine Weise aus, die ein bißchen seltsam ist, a little odd, wie die Briten sagen. Zweifellos ist ihr Deutsch viel besser als das eines durchschnittlichen deutschen Sprechers mit seinem beschränkten Wortschatz und einfallslosen Sprachgebrauch. Daß es sie etwas kostet, ein korrektes Deutsch zu sprechen – que les cuesta hablar –, ist ein Ansporn, sich in dieser Sprache schriftlich auszudrücken und sie durch Verfremdungen (wie Brecht sagen würde) zu bereichern. Die gesteigerte Aufmerksamkeit der Sprache gegenüber ist für sie schon deshalb notwendig, weil sie die Fremdsprache zunächst von außen sehen und vielleicht nie vollkommen verinnerlichen. Das ist eine große Chance, und vielleicht liegt hier der wesentliche Grund, warum uns, die deutsche Sprachgemeinschaft, in den letzten Jahren so viele aus anderen Sprach- und Kulturzonen zugewanderte Autoren mit zahlreichen Werken beschenkt und in die innovationsmüde Literaturszene einen neuen Schwung gebracht haben. Der »autochthone« Autor deutscher Mutterzunge hat damit zu schaffen, sich von lebensweltlichen, aber auch literarischen und literaturbetrieblichen Automatismen zu befreien, denen die exophonen Autoren gar nicht erst anheimgefallen sind.
Ich kann es nicht gut erklären, aber vielleicht verhält es sich ein wenig so wie im Fußball, wo die statistische Wahrscheinlichkeit, daß einer ein guter Kicker wird, bei einem Jungen mit Migrationshintergrund größer ist als bei einem selbstzufrieden aufwachsenden deutschen Knaben. Trotzdem gibt es immer noch, wird man mit Recht einwenden, neben den Özils, Cacaus und Khediras die Götzes, Draxlers und Müllers. Vielleicht ist der deutsche Fußball nicht mehr ganz so deutsch wie zu Zeiten des Wunders von Bern. Und genau deshalb, im neuen Kontext des 21. Jahrhunderts, erfolgreich.
© Leopold Federmair