Der Wil­le zum Nicht­wis­sen (1/9)

An­mer­kun­gen zu ei­ner Hand­voll le­gen­dä­rer Sät­ze

1 – Ich weiß, daß ich nichts weiß.

»Ich weiß, daß ich nichts weiß«, ei­ner der be­rühm­te­sten Sät­ze der Gei­stes­ge­schich­te: im Grun­de ge­nom­men klingt die­se Aus­sa­ge nach ei­ner Dumm­heit. Was soll die­ses Ein­geständnis des Nicht­wis­sens, an­geb­lich ge­äu­ßert vom an­geb­lich klüg­sten Mann des grie­chi­schen Al­ter­tums (dem Ora­kel von Del­phi zu­fol­ge)? Ist ja in Ord­nung, wenn er nichts weiß, aber soll­te das Stre­ben ei­nes Klu­gen nicht da­hin ge­hen, et­was zu wis­sen, auch wenn er sich der ei­ge­nen Be­schränkt­hei­ten und der Re­la­ti­vi­tät al­les Fest­ge­stell­ten be­wußt sein mag? Der be­rühm­te Satz klingt wei­ter, und er klingt jetzt ein we­nig nach ei­nem trot­zi­gen Ich will-auch-gar-nichts-wis­sen! Ist die­ser Satz nicht, ge­nau­er be­trach­tet, ei­ne blo­ße Va­ria­ti­on des Pa­ra­do­xons des Lüg­ners, der die Wahr­heit sagt, wenn er be­haup­tet, er lü­ge, und lügt, wenn er be­haup­tet, er sa­ge die Wahr­heit? Wie kann denn der Nicht­wissende et­was wis­sen (näm­lich daß er nichts weiß)? Of­fen­sicht­lich han­delt es sich hier um ei­nen So­phis­mus, und tat­säch­lich wird die­ser Satz dem So­kra­tes le­dig­lich zugeschrieb­en, ge­rüch­te­wei­se, man fin­det ihn nir­gend­wo in schrift­li­chen Auf­zeich­nun­gen, we­der bei Pla­ton noch bei Xe­no­phon.

Für Mi­chel de Mon­tai­gne war So­kra­tes ein gro­ßes Vor­bild: nicht nur ein scharf­sin­ni­ger Den­ker, son­dern ei­ner, der stets den rich­ti­gen Blick, die an­ge­mes­se­ne Hal­tung zu den Din­gen und Wech­sel­fäl­len des Le­bens und zu­letzt auch zum Tod fand – fast so et­was wie der idea­le Mensch. Den­noch zi­tiert Mon­tai­gne in sei­nen weit­läu­fig mä­an­dern­den Es­sais den So­kra­tes zu­ge­schrie­be­nen Satz vom Nicht­wis­sen kein ein­zi­ges Mal. Er un­ter­läßt es nicht aus quel­len­kri­ti­scher Vor­sicht, son­dern, wie ich ver­mu­te, weil er in die­ser Form nicht zur Ge­stalt des Phi­lo­so­phen zu pas­sen scheint. Wohl aber fin­det sich an zen­tra­ler Stel­le im Werk Mon­tai­gnes wie auch in auch in sei­nem Le­bens­kon­text, an dem Ort näm­lich, an dem sein Werk ent­stand, im Bü­cher­zim­mer oben im Turm des Schlos­ses von Ey­quem, ein ähn­li­cher, wenn auch viel schlich­te­rer Satz: »Que scay-je?« Al­so ei­ne Fra­ge, kei­ne Be­haup­tung, ver­ewigt im Bla­son des Gei­stes­adels un­ter ei­ner Waa­ge; ich glau­be nicht, daß dies ein Zu­fall oder blo­ßes Or­na­ment ist.

Vignette mit Michel de Montaignes Wahlspruch „Que sais-je?“ (Was weiß ich?)

Vi­gnet­te mit Mi­chel de Mon­tai­gnes Wahl­spruch „Que scay-je?“ (Was weiß ich?)
Scan aus: Mi­chel de Mon­tai­gne –- Es­sais. Er­ste mo­der­ne Ge­samt­über­set­zung von Hans Sti­lett. Frank­furt am Main: Eich­born Ver­lag 1998 S. 1 ISBN 3–8218-4472–8

An dem, was man weiß oder zu wis­sen glaubt, ist im­mer aufs neue zu zwei­feln; es gilt ab­zu­wä­gen, ob die Sät­ze des Wis­sens und Er­ken­nens (noch) zu­tref­fen oder nicht (mehr). Mehr­mals in sei­nen Es­says führt Mon­tai­gne die oft atem­be­rau­ben­den Wand­lun­gen der An­sich­ten zu ei­nem be­stimm­ten The­ma an. Es han­delt sich um al­ler­er­ste An­sät­ze zu ei­ner Ge­schich­te des Wis­sens und der Wis­sen­schaf­ten, lan­ge be­vor die so be­nann­te akade­mische Dis­zi­plin ent­stand. Für die Me­tho­dik des Er­ken­nens lei­tet sich dar­aus die For­de­rung ab, Wis­sens­sät­ze ab­zu­wä­gen ge­gen­über der Er­fah­rung von Wirk­lich­keit, auf die sie sich be­zie­hen, aber auch in Be­zug auf an­ders ge­ar­te­te Sät­ze, die eben­falls Wis­sens­an­spruch er­he­ben, so­wie – drit­tens – auf all das, was ich – und »man« – noch nicht weiß, was man aber viel­leicht schon ah­nen, sich vor­stel­len kann. Das, glau­be ich, ist der Sinn der In­schrift und der Tat­sa­che, daß Mon­tai­gne sie an so zen­tra­ler Stel­le pla­zier­te. Ei­ne Kor­rek­tur der Über­lie­fe­rung des »so­kra­ti­schen« Pa­ra­do­xons im Sinn ei­ner frucht­ba­ren Ver­ein­fa­chung, die den Ge­halt we­ni­ger schwam­mig und viel­fa­cher an­wend­bar macht.

Be­wußt­sein des Nicht­wis­sens als Wis­sen um die Re­la­ti­vi­tät des ei­ge­nen, des ak­tu­el­len, des herr­schen­den Stand­punkts und der dar­aus re­sul­tie­ren­den For­mu­lie­rung des Wis­sens. Daß man in Frank­reich an Mon­tai­gnes Ma­xi­me an­knüp­fend ei­ne Buch­rei­he un­ter dem Ti­tel »Que sais-je?« be­grün­de­te, die mitt­ler­wei­le über 70 Jah­re alt ist und mehr als 4000 Bänd­chen um­faßt, ist mit Si­cher­heit im Sin­ne des Gro­ßen Vor­den­kers. Po­si­ti­ves Wis­sen ist kei­nes­wegs ver­werf­lich, son­dern nütz­lich, auf­klä­rend, er­bau­lich usw., im­mer un­ter der Vor­aus­set­zung, daß wir uns sei­ner Re­la­ti­vi­tät und Ge­wor­den­heit be­wußt blei­ben. In ge­wis­ser Wei­se wächst das Nicht­wis­sen mit dem Wis­sen, denn die­ses er­laubt mir, bes­ser ab­zu­schät­zen, was al­les noch zu tun, zu er­ar­bei­ten, zu durch­den­ken bleibt. So schrieb un­längst der Bio­lo­ge Da­vid Reich in ei­nem Ar­ti­kel über den Be­griff der Ras­se im Zeit­al­ter der mo­der­nen Ge­ne­tik: »Wenn Wis­sen­schaft­ler heu­te ir­gend­ei­ne Ge­wiß­heit ha­ben kön­nen, dann die, daß un­se­re ge­gen­wär­ti­gen An­nah­men über die ge­ne­ti­sche Na­tur der Un­ter­schie­de zwi­schen Be­völ­ke­run­gen höchst­wahr­schein­lich falsch sind.« Nur Dum­me glau­ben, al­les zu wis­sen. Nicht­wis­sen und Un­si­cher­heit soll­ten uns nicht von künf­ti­ger For­schungs­tä­tig­keit ab­hal­ten – im Ge­gen­teil. Das Stre­ben nach Samm­lung und Ver­fügbarkeit von Wis­sen führ­te zur en­zy­klo­pä­di­schen Be­we­gung des 18. Jahr­hun­derts. Pro­ble­ma­tisch war nur der To­ta­li­täts­an­spruch, der be­stimm­ten En­zy­klo­pä­dien zu­grun­de lag. Im di­gi­ta­len 21. Jahr­hun­dert ha­ben wir es viel leich­ter, of­fe­ne En­zy­klo­pä­dien zu schaf­fen, mit der neu ent­ste­hen­den Ge­fahr, daß mehr und mehr Un­er­heb­lich­kei­ten aus­führ­lich be­spro­chen und ge­spei­chert wer­den, die Über­schau­bar­keit schwin­det und die Be­tei­lig­ten – Pro­du­zen­ten wie Ko­sumen­ten – We­sent­li­ches nicht mehr aus­rei­chend von Un­we­sent­li­chem zu un­ter­schei­den ver­ste­hen.

→ 2 – Se­lig die Ar­men im Gei­ste...

© Leo­pold Fe­der­mair

20 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Im di­gi­ta­len 21. Jahr­hun­dert ha­ben wir es viel leich­ter, of­fe­ne En­zy­klo­pä­dien zu schaf­fen, mit der neu ent­ste­hen­den Ge­fahr, daß mehr und mehr Un­er­heb­lich­kei­ten aus­führ­lich be­spro­chen und ge­spei­chert wer­den, die Über­schau­bar­keit schwin­det und die Be­tei­lig­ten – Pro­du­zen­ten wie Ko­sumen­ten – We­sent­li­ches nicht mehr aus­rei­chend von Un­we­sent­li­chem zu un­ter­schei­den ver­ste­hen.

    Wenn man sich dann auf das so­ge­nann­te Wis­sen in di­gi­ta­len En­zy­klo­pä­dien ver­las­sen will, so ist die Wahr­schein­lich­keit sehr hoch, mit fal­schen In­for­ma­tio­nen be­dient zu wer­den.
    Die Dis­kus­si­on um die Ad­mi­ni­stra­tor­rech­te in Wi­ki­pe­dia zeigt ja, das zwi­schen Wis­sen und Ma­ni­pu­la­ti­on ein schma­ler Grad ist. In so­fern kann man hier si­cher von ich weiß, das ich nichts weiß, spre­chen.

  2. Wis­sen­schaf­ten er­he­ben per se so et­was wie ei­nen »To­ta­li­täts­an­spruch«. Ih­re Re­sul­ta­te be­an­spru­chen im­mer uni­ver­sa­le Gel­tung – bis zum Be­weis des Ge­gen­teils (Pop­per). En­zy­klo­pä­dien spei­cher­ten die­se je­weils auf ih­re Zeit be­zieh­ba­ren Er­kennt­nis­se. Gleich­zei­tig hat­ten sie ei­ne ge­wis­se Au­to­ri­tät.

    Wer et­was äl­ter ist, wird sich an ei­ni­ge wis­sen­schaft­li­chen Pro­gno­sen und/oder Ver­hei­ssun­gen noch er­in­nern kön­nen, die in­zwi­schen längst wi­der­legt oder re­la­ti­viert wur­den. Die di­gi­ta­le Ge­sell­schaft trägt al­ler­dings da­zu bei, dass die­se »Wis­sens­zy­klen« im­mer schnel­ler wech­seln: Das, was vor ein paar Jah­ren noch Stan­dard war, ist ver­al­tet. Zu­sätz­lich ge­lan­gen vie­le In­for­ma­tio­nen, die stren­gen wis­sen­schaft­li­chen Stan­dards nicht stand­hal­ten, im­mer mehr als »Wis­sen« in die Me­di­en. Zu­dem be­kommt man stän­dig er­klärt, dass man »le­bens­lang zu ler­nen« ha­be. Viel­leicht auch dar­in ein ge­wis­ser Über­druss, sich Wis­sen an­zu­eig­nen. Ein­her geht dies mit ei­ner zu­neh­men­den Ge­ring­schät­zung des Wis­sens. Es taugt al­len­falls noch für Quiz­shows um Ge­win­ne zu er­zie­len.

    Die »Edit­wars« zu man­chen Bei­trä­gen der Wi­ki­pe­dia zei­gen, wie schwie­rig es ist, über Wis­sens­aspek­te Kon­sen­se zu er­zie­len. Zwar sind die em­pi­ri­schen Da­ten im­mer die Glei­chen, aber wo en­det das Fak­tum und wo be­ginnt die In­ter­pre­ta­ti­on. »Wis­sen« ist un­trenn­bar mit dem Glau­ben an »Wahr­heit« ver­bun­den. Aber die Mo­der­ne bzw. Post­mo­der­ne hat den Wahr­heits­be­griff längst ent­sorgt. Er gilt als au­to­ri­tär – und to­ta­li­tär. Wo­mit man wi­der am An­fang ist...

  3. Zu­dem be­kommt man stän­dig er­klärt, dass man »le­bens­lang zu ler­nen« ha­be. Viel­leicht auch dar­in ein ge­wis­ser Über­druss, sich Wis­sen an­zu­eig­nen. Ein­her geht dies mit ei­ner zu­neh­men­den Ge­ring­schät­zung des Wis­sens.

    Zu­mal man im­mer mehr das Ge­fühl hat, dass es ein vor sich her trei­ben, statt ein Zu­ge­winn an Wis­sen ist.
    An­schei­nend wird das auch als Ge­schäfts­mo­dell be­trach­tet.
    Ich den­ke an das gu­te al­te Be­triebs­sy­stem DOS, wel­ches in sei­nen Aus­prä­gun­gen von Mil­lio­nen An­wen­dern er­forscht und aus­ge­lo­tet wur­de. Ein rie­si­ger Wis­sens­berg türm­te sich auf. Je­der der sich mit dem Com­pu­ter be­schäf­tig­te wuss­te über klei­ne Pro­gram­me wie Clip­per oder Ba­sic ( man nann­te das Com­pu­ter­spra­chen) zu be­rich­ten.
    Man lernt Spra­che die nicht ein­mal 20 Jah­re be­stand hat.
    Mit dem Weg­fall ent­sorg­te sich die­ses Wis­sen, und mit ihm rie­si­ge Bü­cher­ber­ge, die sich als Pa­pier­müll in die Ton­nen er­goss.
    Sinn­lo­se Ver­schwen­dung von Res­sour­cen und Ge­hirn­schmalz.
    Zum nut­zen von Mi­cro­soft. Da steckt auch Um­er­zie­hung da­hin­ter. Man lernt um am Ball zu blei­ben und wird zum Skla­ven sei­ner selbst.
    Der Ver­lust von Le­bens­zeit, und die Freu­de an ei­ner er­lern­ten Fä­hig­keit geht ver­lo­ren.
    Eben­so die Freu­de z. B. Ein In­stru­ment er­ler­nen.
    Be­la­stung, da in­ef­fek­tiv.
    Wich­ti­ger ist es sei­nen Be­ruf auf dem neu­sten Stand zu hal­ten.
    Der Ver­lust von Hand­werk­li­chen Fä­hig­kei­ten, das ab­hän­gig ma­chen von IT Werk­zeu­gen, die Aus­tausch­bar­keit am Ar­beits­platz.
    Al­les zum Woh­le des Ver­brau­chers, der sich eben­falls ab­hän­gig macht.
    Wie kann ich mei­ne Hei­zung Ein­schal­ten? Mein Smart­phone geht nicht.

  4. Nur ei­nes: Die Mög­lich­keit – oder so­gar Wahr­schein­lich­keit – auf »fal­sche In­for­ma­tio­nen«, ma­ni­pu­lier­te Da­ten, Ver­al­te­te­tes usw. zu sto­ßen, ist nicht in­ter­net­spe­zi­fisch. Wis­sen und Wis­sen­schaft ver­al­ten und er­neu­ern sich. Im In­ter­net lau­fen die­se Pro­zes­se viel schnel­ler ab, und Kon­troll­in­stan­zen bzw. Au­to­ri­tä­ten, de­nen man mit Grund ver­trau­en kann, sind oft nicht vor­han­den, wer­den von vie­len so­gar ab­ge­lehnt und po­li­tisch tor­pe­diert. Hin­zu kommt die zu­neh­men­de Un­über­sicht­lich­keit, die Schwie­rig­keit, sich im Da­ten­dschun­gel zu ori­en­tie­ren, da­mit die Not­wen­dig­keit von Fil­tern – die eben­falls nicht in­ter­net­spe­zi­fisch sind, im In­ter­net aber oft gar nicht als sol­che wahr­ge­nom­men wer­den, weil sie durch Ma­schi­nen (Al­go­rith­men) kon­stru­iert und ein­ge­setzt wer­den.

  5. οἶδα οὐκ εἰδώς heisst eher so viel wie »Ich weiß, dass ich nicht weiß.« Von »nichts« ist nicht die Re­de. Sor­ry für so viel Bes­ser­wis­se­rei. ;)

  6. Nun, der Be­griff des le­bens­lan­gen Ler­nens, mit dem sich mitt­ler­wei­le so­gar Kin­der­gär­ten schmücken, ge­hört zum hu­man­ka­pi­ta­li­sti­schen Pa­ra­dig­ma: Die Res­sour­ce Mensch bleibt, so­lan­ge er sich stets brav »wei­ter­bil­det« (d.h. aus­bil­det!), als Ka­pi­tal er­hal­ten. Bil­dung meint heu­te Kom­pe­tenz­er­werb aus eben­die­sem Grund. Der tra­di­tio­nel­le Bil­dungs­be­griff be­deu­tet selbst­ver­ständ­lich das Ge­gen­teil und das, was ger­ne als trä­ges Wis­sen dif­fa­miert wird, ist nichts an­de­res als der Hin­ter­grund der den Ge­bil­de­ten ein­schät­zen lässt, ob das, was er vor sich hat, zu­tref­fen könn­te. Und ge­nau die­ses Ver­mö­gen, et­was ein­schät­zen zu kön­nen, da­mit man nicht zum Nar­ren ge­hal­ten wird, geht zu­neh­mend ver­lo­ren: Wo­zu et­was wis­sen, wenn man es je­der­zeit nach­schau­en kann? Aber was man nach­schau­en soll­te, das weiß man frei­lich nicht, wenn man tat­säch­lich »nichts« weiß. — Die Wi­der­sprü­che, die sich auf­tun, beim Le­sen, beim Zu­hö­ren, beim Hin­se­hen, wo auch im­mer, sind das Ent­schei­den­de, denn sie ver­an­las­sen uns ei­ner Sa­che nach­zu­spü­ren.

  7. @ Jür­gen Niel­sen

    Ge­nau­ig­keit ist gut, un­ab­hän­gig da­von, ob und wie­viel man weiß. Wenn es stimmt, daß der Spruch das er­ste Mal bei Ci­ce­ro auf­taucht, dann ist das »Ori­gi­nal« la­tei­nisch, die grie­chi­sche Fas­sung schon ei­ne Über­set­zung. Bei ei­nem wahr­schein­lich an­ony­men, kol­lek­tiv tra­dier­ten Satz ist die Su­che nach dem »wah­ren« Ori­gi­nal nicht so ziel­füh­rend. Man kann nur dem Sinn, den Sinn­va­ri­an­ten nach­spü­ren. Das abend­län­di­sche Den­ken hat er so oder so stark be­ein­flußt.

  8. @Leopold Fe­der­mair
    Gibt es Ge­nau­ig­keit »oh­ne« Wis­sen? Be­ein­flusst Wis­sen, egal wo­her es kommt, nicht die Art und Wei­se wie wir hin­se­hen? Be­för­dert ein ge­wis­ser Um­fang an Wis­sen nicht die Ge­nau­ig­keit?

  9. @metepsilonema – »le­bens­lan­ges Ler­nen«
    Si­cher­lich ist die pro­pa­gan­di­sti­sche Stross­rich­tung klar. Aber auch im All­tag zeigt sich, dass der­je­ni­ge, der nicht be­reit ist sich den Ge­ge­ben­hei­ten an­zu­pas­sen, am En­de buch­stäb­lich auf der Strecke bleibt. Als ich mei­ne Aus­bil­dung in ei­nem Groß­han­del be­gann gab den Fern­schrei­ber, der ei­ne mehr oder we­ni­ger schnel­le schrift­li­che Kom­mu­ni­ka­ti­on mit Un­ter­neh­men er­mög­lich­te (Brie­fe gal­ten be­reits da­mals als ver­al­tet; Post be­stand groß­teils nur noch aus Rech­nun­gen). Ich ha­be sel­ber die Din­ger noch auf Loch­strei­fen vor­ge­schrie­ben (dann konn­te man noch kor­ri­gie­ren, wenn man sich ver­schrie­ben hat­te). Ein paar Jah­re spä­ter ar­bei­te­te ich in ei­ner Fir­ma, die ei­nen Com­pu­ter da­für hat­te. Zwar muss­te man noch um die Ein­gän­ge ein­zu­se­hen zum Fern­schrei­ber ge­hen und die Nach­richt von ei­ner Rol­le ab­rei­ßen, aber das sen­den ging jetzt deut­lich kom­for­ta­bler. Der näch­ste Schritt war das Te­le­fax-Ge­rät. Es gab ei­ne Fir­ma des­sen In­ha­ber – er war jen­seits der 70 – die­ses Ge­rät ve­he­ment ab­lehn­te und auf Fern­schrei­ben be­stand. Ei­ni­ge Jah­re spä­ter war er plei­te. Das Te­le­fax hielt sich viel­leicht 15 Jah­re. Dann ka­men die er­sten Mails, wir über­leg­ten die Um­stel­lung. Das Fax-Ge­rät blieb wei­ter, aber mehr und mehr stie­gen die Un­ter­neh­men um. Wir konn­ten auf die Da­me, die bis­her Fa­xe und Kor­re­spon­denz ge­schrie­ben hat­te, ver­zich­ten und schrie­ben von nun an un­se­re Sa­chen am Com­pu­ter sel­ber.

    All dies ging oh­ne gro­ße An­kün­di­gung von­stat­ten. Da ich im­mer in KMU ge­ar­bei­tet ha­be, gab es kei­ne Schu­lun­gen, wo man das Ar­bei­ten mit die­sen Tech­ni­ken hät­te ler­nen kön­nen. Man nahm die Be­die­nungs­an­lei­tung und leg­te los. Das ist eben auch »le­bens­lan­ges Ler­nen« – fast er­zwun­gen durch die Um­stän­de.

  10. Pingback: Lichtwolf | Links der Woche, rechts der Welt 17/18

  11. Die Kom­men­ta­re re­flek­tie­ren recht schön die drei Aspek­te, die ich schon im Text aus­ma­chen konn­te. Da wä­re das ka­no­ni­sche Wis­sen der Wis­sen­schaf­ten, das Tech­nik-Wis­sen und das Er­eig­nis-Wis­sen, und kom­ple­men­tär zu die­ser Tri­as je­nes le­gen­dä­re aber gleich­sam dif­fu­se »Bil­dungs­wis­sen«, das wir im Um­gang mit Phi­lo­so­phie und Kunst er­wer­ben. Die­ses Wis­sen hat nicht nur ei­ne Kennt­nis-Sei­te, son­dern weist auch ei­ne psy­cho­lo­gi­sche Ver­packung auf; die Teil­ha­be ba­siert auf an­ge­bo­re­nen aber zu Be­ginn ru­di­men­tä­ren Fä­hig­kei­ten, so­dass man auf den küh­nen ma­te­ria­li­sti­schen Ge­dan­ken ver­fal­len könn­te, nach dem Er­werb des Wis­sens­gu­tes »den In­halt weg­zu­wer­fen und die Ver­packung zu be­hal­ten«... Man er­in­ne­re sich an Wittgenstein’s Me­ta­pher im Trac­ta­tus von der Phi­lo­so­phie als Lei­ter, auf der man auf­stei­gen kön­ne, um sie hin­ter­her weg­zu­wer­fen.
    Auf die­ses Wis­sen-in­clu­si­ve-Ver­packung be­zieht sich je­den­falls der ver­al­te­te Bil­dungs­be­griff, der kei­ne di­rek­ten Ver­wer­tungs­chan­cen bie­tet, ob­wohl streng ge­nom­men die so­zi­al aus­trai­nier­te Per­sön­lich­keit ih­ren ma­te­ri­el­len Le­bens­er­folg ja im­mer stei­gert. Wa­ren die Nut­zer der klas­sisch fun­dier­ten Bil­dungs­tech­ni­ken frü­he Er­folg-Op­ti­mie­rer, im Sin­ne des Er­werbs von kul­tu­rel­len Ka­pi­tal (Bour­dieu, lei­der ein­sei­tig kri­tisch)?!
    Er­werb von »Ka­pi­tal« kann man ver­nünf­ti­ger­wei­se nicht aus­schla­gen! Die Fra­ge, ob man sich wei­gern soll zu wis­sen, be­zieht sich da­her nur auf die tech­ni­sche Ent­wick­lung. Ich mei­ne, hier kann die Wei­ge­rung fol­gen­los sein, und so ge­se­hen sind wir frei, dar­über zu ent­schei­den. Ob­wohl: Wie Gre­gor schon an­deu­te­te, kann das wirt­schaft­lich leicht­sin­nig sein.
    Ja, und was die drit­te Ka­te­go­rie be­trifft: Das Er­eig­nis-Wis­sen (po­li­ti­sches Den­ken) hat auch heu­te noch ei­ne be­trächt­li­che Un­schär­fe. Nicht nur dass Po­li­tik hin­ter ver­schlos­se­nen Tü­ren statt­fin­det (Frau Mer­kels Kom­fort­zo­ne), es macht sich auch ei­ne deut­li­che Ver­dün­nung mit der Ent­fer­nung be­merk­bar. Da täuscht man sich leicht, weil die Ver­net­zung ja ei­ne glo­ba­le »Ver­füg­bar­keit« von In­for­ma­tio­nen sug­ge­riert. Das ist aber (so­bald man auch qua­li­ta­ti­ve For­de­run­gen er­hebt) nicht der Fall. Man kann die­se Il­lu­si­on leicht auf­decken, in­dem man sich selbst ana­ly­ti­sche Auf­ga­ben vor­nimmt, et­wa ei­nen »Be­richt über den Bür­ger­krieg in Af­gha­ni­stan im Jahr 2017« zu schrei­ben. Pro­biert es mal aus! Ist kaum mach­bar, und die Jour­na­li­sten ste­hen vor kei­nem ge­rin­ge­rem Pro­blem.

  12. Der Ein­wand von Jür­gen Niel­sen ist viel­leicht weit­rei­chen­der, als es zu­erst scheint. Ich weiß, dass ich nichts weiß ist ei­ner die­ser Sät­ze, den Gö­dels Un­voll­stän­dig­keits­satz ins Reich des Sinn­lo­sen ka­ta­pul­tiert. Sol­che Sät­ze sind, wenn man auf der Ba­sis des Me­tho­di­schen blei­ben möch­te, oh­ne Aus­sa­ge. Mit der Aus­sa­ge Je­des hin­rei­chend mäch­ti­ge, re­kur­siv auf­zähl­ba­re for­ma­le Sy­stem ist ent­we­der wi­der­sprüch­lich oder un­voll­stän­dig sind ge­nau die­se wi­der­sprüch­li­chen Aus­sa­gen ge­meint, die in je­dem for­ma­len Sy­stem auf­tau­chen, sich aber we­der be­wei­sen noch wi­der­le­gen las­sen. Die Spreng­kraft die­ses mitt­ler­wei­le weit ge­ne­ra­li­sier­ten Sat­zes ist glau­be ich noch nicht ganz ver­stan­den.

    Wis­sen­schaft ent­zieht sich der Pro­ble­ma­tik, in­dem sie eben nicht to­ta­li­tär ist, son­dern im­mer im Feu­er der Rea­li­tät ge­här­tet wer­den muss. Sie er­hebt kei­nen An­spruch auf Wahr­heit, al­les ist vor­läu­fig. Wahr­heit ist kein wis­sen­schaft­li­cher Be­griff. Ein­stein hat be­schrie­ben, wie sich sei­ne all­ge­mei­ne Re­la­ti­vi­täts­theo­rie durch ei­nen Ver­such ge­gen­über der 300 Jah­re gül­ti­gen new­ton­scher Me­cha­nik nach­wei­sen lässt. Was dann auch ge­schah. Mor­gen kommt viel­leicht je­mand und schmeißt das al­les wie­der über den Hau­fen. Was auch nicht wei­ter schlimm ist, da bis­her an­schei­nend kei­ne Lücke in der Theo­rie ist, die für Men­schen von be­lang ist.

    Ich weiß, dass ich nicht weiß wä­re dann ein Satz, den Mon­tai­gne, der durch sei­ne Vi­ta im pral­len Le­ben ge­ba­det hat­te, wohl eher gou­tiert hät­te. Das manch­mal un­fass­bar Mo­der­ne in Mon­tai­gnes Ge­dan­ken ist ja ge­ra­de die­ses Zu­las­sen des Zwei­fels. Ich kann zu­min­dest mit Mon­tai­gne deut­lich mehr an­fan­gen, als mit die­sen gan­zen mo­nu­men­ta­len phi­lo­so­phi­schen Welt­ge­bäu­den, die im­mer wie­der voll­stän­dig neu ge­baut wur­den und im­mer wie­der mo­nu­men­tal schei­ter­ten, da sie we­gen ih­rer scho­la­sti­schen Spitz­fin­dig­kei­ten weg­ge­gö­delt wer­den. Ex fal­so quod­li­bet.

  13. An Me­tep­si­lo­n­e­ma:

    Lei­der hält mich das rea­le Le­ben im Mo­ment da­von ab, mit der ge­wünsch­ten Ru­he zu ant­wor­ten. Des­halb nur punk­tu­ell: Ich wür­de schon auch sa­gen, daß Wis­sen Ge­nau­ig­keit för­dert. Es gibt aber auch ei­ne Art der De­tail­ge­nau­ig­keit, die ich bei Aka­de­mi­kern in mei­nem Um­kreis oft be­mer­ke und die dem Er­ken­nen von Zu­sam­men­hän­gen gar nicht zu­träg­lich ist. Um­ge­kehrt wür­de ich sa­gen, daß me­tho­di­sche Ge­nau­ig­keit in Er­kennt­nis­pro­zes­sen auch dann för­der­lich ist, wenn (noch) kein oder we­nig oder nur un­si­che­res Wis­sen da ist und man es erst er­ar­bei­ten (be­ar­bei­ten) muß. Dar­auf hat­te ich ab­ge­zielt. Ge­nau­ig­keit hat mei­nes Er­ach­tens mit Nä­he und Fer­ne zu tun. Bei her­me­neu­ti­schen Vor­gän­gen auch »clo­se re­a­ding«, um ei­nen alt­mo­di­schen Be­griff zu ver­wen­den, das aber mit ei­nem Sinn für Kon­tex­te ein­her­ge­hen soll­te.

  14. @Joseph Bran­co
    Wis­sen­schaft ent­zieht sich der Pro­ble­ma­tik, in­dem sie eben nicht to­ta­li­tär ist, son­dern im­mer im Feu­er der Rea­li­tät ge­här­tet wer­den muss. Sie er­hebt kei­nen An­spruch auf Wahr­heit, al­les ist vor­läu­fig.
    Das Pro­blem ist nur, dass die­ses »Feu­er der Rea­li­tät« (sehr schö­ne For­mu­lie­rung) in der je­wei­li­gen Zeit all­zu sel­ten ei­ne Rol­le spielt. Die Me­di­zin lebt bei­spiels­wei­se da­von, un­ver­än­der­li­che »Wahr­hei­ten« zu pro­du­zie­ren. Wer sich au­ßer­halb da­von po­si­tio­niert gilt als Ab­trün­ni­ger oder Eso­te­ri­ker. In der Pra­xis wird eben sehr wohl der Wahr­heits­an­spruch er­ho­ben – üb­ri­gens nicht zu­letzt von den Me­di­en. In der Rea­li­tät hän­gen Wis­sen­schaft­ler häu­fig an Geld­töp­fen An­de­rer. Wenn sie da­bei po­stu­lie­ren wür­den, dass ih­re Er­kennt­nis­se nur vor­läu­fig sind, wür­de dies min­de­stens Be­frem­den aus­lö­sen.

    Aber ich schwei­fe ab.

    An­son­sten d’­ac­cord. (Die Fra­ge ist ja, ob Phi­lo­so­phie über­haupt ei­ne »Wis­sen­schaft« ist.)

  15. Je nach­dem wie man es in­ter­pre­tiert, ist der Un­ter­schied zwi­schen dem »nicht wis­sen« und dem »nichts wis­sen«, um das der Aus­sa­gen­de weiß, doch fast ver­schwin­dend. Das Wich­ti­ge dar­an ist doch, dass es sich um ei­ne Me­ta-Aus­sa­ge han­delt, um das Ein­ge­ständ­nis oder die Er­kennt­nis, dass es im ei­ge­nen Be­wusst­sein blin­de Flecken gibt. – In­so­fern gä­be es ja auch kei­nen Wi­der­spruch, da nur um das Nicht­wis­sen ge­wusst wird, ein Wi­der­spruch ent­stün­de ja nur, wenn man den nicht­ge­wuss­ten Ge­gen­stand selbst wis­sen wür­de.
    Wie weit aber sol­che Me­ta-Aus­sa­gen wirk­lich neue Tü­ren für das Be­wusst­sein auf­sto­ßen? – vgl. https://xkcd.com/1447/ (Gö­dels er­ster Un­voll­stän­dig­keits­satz han­delt doch da­von, dass schon das »pri­mi­ti­ve« Sy­stem der Arith­me­tik aus­reicht, um ähn­lich pro­ble­ma­ti­sche Me­ta-Aus­sa­gen zu tref­fen, wie So­kra­tes’ Satz. – Für So­kra­tes wä­re das nur ver­mut­lich ei­ne me­cha­nisch-rhe­to­ri­sche Kon­struk­ti­on bar je­der Er­kennt­nis?)

  16. Wenn man prä­zi­se spre­chen möch­te, ist die Er­kennt­nis Nichts zu wis­sen eben doch Wis­sen und da­mit ein Wi­der­spruch. Das ist das Glei­che wie die Fra­ge, ob Gott ei­nen Stein schaf­fen kann, den er nicht selbst he­ben kann, die Aus­sa­ge ei­nes Kre­ters, dass al­le Kre­ter lü­gen oder die fast schon poe­ti­sche Aus­sa­ge, dass das Nichts kei­ne Ei­gen­schaf­ten hat, au­ßer der Ei­gen­schaft kei­ne Ei­gen­schaf­ten zu ha­be. Das führt al­les, Kau­sa­li­tät na­tür­lich vor­aus­ge­setzt, di­rekt ins Ver­der­ben. Das Pro­blem sind auch nicht Me­ta-Sät­ze, son­dern selbst­re­fe­ren­ti­el­le Aus­sa­gen.

    Ich ge­he da­von aus, dass Gö­dels Satz nicht nur auf ma­the­ma­ti­sche axio­ma­ti­sche Sy­ste­me be­schränkt ist, son­dern das ge­sam­te mensch­li­che Den­ken da­von be­trof­fen ist. So wie Rus­sell oder Hil­bert bei der Er­stel­lung ei­ner kon­si­sten­ten Ge­samt­dar­stel­lung der Ma­the­ma­tik ge­schei­tert sind, war Witt­gen­stein über die Spra­che ge­stol­pert. Ich be­fürch­te, dass wir uns mit Gren­zen un­se­res Den­kens ab­fin­den müs­sen. Zu­min­dest jeg­li­che Art von All­aus­sa­gen soll­te man tun­lichst un­ter­las­sen.

  17. @Gregor, #9

    Das ist al­les rich­tig, teil­wei­se in ei­ner tech­ni­sier­ten Ge­sell­schaft un­ver­meid­lich, teils ei­ne Nö­ti­gung oder Zu­mu­tung. Den­noch: Die Wen­dung vom le­bens­lan­gen Ler­nen er­schöpft sich nicht in blo­ßer Pro­pa­gan­da und auch nicht in die­sen un­zwei­fel­haft kor­rek­ten Fest­stel­lun­gen, sie be­schreibt je nach Sicht­wei­se das Re­sul­tat oder ist die Vor­weg­nah­me (sie ist, so weit ich weiß schon ein paar Jahr­zehn­te alt) et­li­cher Ent­wick­lun­gen in un­se­ren Bil­dungs­sy­ste­men in den ver­gan­ge­nen 15–20 Jah­ren. In Kür­ze geht es dort heu­te im Ver­gleich zu »frü­her« nicht mehr – um die manch­mal bes­se­re, manch­mal schlech­te­re – Grund­le­gung oder Ver­mitt­lung von Bil­dung, son­dern um Er­zeu­gung kom­pe­ten­ter Ar­beits­kräf­te für ei­ne (Hoch)leistungsgesellschaft (da­bei ist es gleich wo man hin­sieht, Kin­der­gar­ten, Uni­ver­si­tät oder Schu­le). Es geht um Ver­füg­bar­keit (Hu­man­ka­pi­ta­lis­mus) und nicht mehr um ei­ne Ab­stim­mung von ge­sell­schaft­lich le­gi­ti­men und in­di­vi­du­el­len An­sprü­chen: Le­bens­lang zu ler­nen, be­deu­tet le­bens­lang form­bar in au­ßer­in­di­vi­du­el­lem (öko­no­mi­schen) In­ter­es­se zu blei­ben, der klas­si­sche Bil­dungs­be­griff, der u.a. auf ei­ne Ei­nig­keit des In­di­vi­du­ums mit sich selbst und durch es selbst zielt, wür­de sich dem ver­wei­gern. — Dass all das durch über­staat­li­che In­sti­tu­tio­nen wie die OECD (PISA) oder die EU (Bo­lon­ga) oh­ne de­mo­kra­ti­sche Be­schlüs­se in die We­ge ge­lei­tet wur­de, sei der Voll­stän­dig­keit er­wähnt.

  18. @Joseph Bran­co Falls es über­haupt ei­ne Dif­fe­renz gibt, dann viel­leicht die, dass ich die mei­sten die­ser selbst­re­fe­ren­ti­el­len »Pa­ra­do­xa« für so­phi­sti­sche Ta­schen­spie­ler­tricks hal­te – wie auch die Gö­del­schen Un­voll­stän­dig­keits­sät­ze für ein we­nig über­hy­pet. – Zwar ha­be ich in mei­nen zehn Jah­ren an ei­ner na­tur­wis­sen­schaft­li­chen Fa­kul­tät mit Kommo­li­to­nen auch spe­ku­liert, ob, wenn un­ser Hirn voll­stän­dig in ei­ner Tu­ring-Ma­schi­ne si­mu­liert wer­den kön­ne, die Un­lös­bar­keit des Hal­te­pro­blems da­mit auch ei­ne har­te Er­kennt­nis­bar­rie­re für uns­ren Geist dar­stel­le...
    Aber mit den klei­nen Do­sen Ador­no, die ich mir zu­setz­te, be­schlich mich doch auch das Un­be­ha­gen, ob mit dem po­si­ti­vi­sti­schen End­sieg mensch­li­che Kom­mu­ni­ka­ti­on sich nicht lang­sam in das Pfei­fen ei­nes Mo­dems mor­pht. (Wie Witt­gen­steins Aus­sa­ge, wenn al­le wis­sen­schaft­li­chen Fra­gen be­ant­wor­tet sei­en, wä­ren un­se­re Le­bens­pro­ble­me noch nicht ein­mal be­rührt.)

  19. Ta­schen­spie­ler­tricks wa­ren die­se Sät­ze eben nur bis Gö­del, weil je­der fühl­te, dass et­was faul ist, aber nicht wuss­te was. Gö­del hat ge­zeigt, dass es sich um ein sy­ste­mi­sches Pro­blem han­delt und die Ma­the­ma­tik nie­mals zu ei­nem kon­si­sten­ten Gan­zen kom­men kann. Wo­mög­lich ist die ge­sam­te Epi­ste­mo­lo­gie be­trof­fen. Das zu über­hy­pen scheint mir kaum mög­lich. Den ÖPNV wird der Satz aber wohl nicht at­trak­ti­ver ma­chen. (Was das Hal­te­pro­blem da­mit zu tun hat, ha­be ich nicht ver­stan­den).

    P.S. Als Gö­del ge­zeigt hat­te, dass ei­ne Fol­ge der Re­la­ti­vi­täts­theo­rie die Nicht­exi­stenz von Zeit ist, war selbst Ein­stein über­rascht bis schockiert. Sol­che Hir­ne sind schon et­was sehr be­son­de­res.

  20. @Joseph Bran­co: Dass es sich um tie­fe Aus­sa­gen han­delt, mit der gro­ße Hir­ne ziem­lich rin­gen muss­ten, woll­te ich nicht ab­strei­ten. Nur auf was das für un­se­re Nor­ma­lo-Hir­ne her­un­ter­ge­bro­chen wird, be­rei­tet mir manch­mal sor­gen – so ähn­lich wie die Haw­king­sche Ver­ball­hor­ni­sie­rung der Kos­mo­lo­gie – das er­zeugt dann manch­mal so ei­nen Brei im Kopf, den Ein­druck dass das al­les doch ver­bun­den sei. Was es ja viel­leicht auch ist: Das Tu­ring­sche Hal­te­pro­blem ist auch wie­der ein Bei­spiel für Un­voll­stän­dig­keit: Ein for­ma­les Sy­stem das reich ge­nug ist Sät­ze zu for­mu­lie­ren, die in ihm selbst nicht ent­scheid­bar sind.
    Aber was sind die da­hin­ter ver­bor­ge­nen The­men? Selbst­re­fe­ren­tia­li­tät?... oder viel­leicht so­gar die Un­end­lich­keit – von der Ma­the­ma­tik er­hoff­te ich da prä­zi­se­re Aus­sa­gen als von der Re­li­gi­on, aber mit der Un­ent­scheid­bar­keit der Kon­ti­nu­ums­hy­po­the­se war es für mich nur noch ver­wir­ren­der?

    PS. Wan­del und Zeit ist viel­leicht ei­nes der größ­ten phi­lo­so­phi­schen Pro­ble­me. Spie­len Sie dar­auf an, was in et­wa in die­sem Buch: http://www.ams.org/notices/200707/tx070700861p.pdf ver­han­delt wird. (Ich hat­te es et­wa zu zwei Drit­teln ge­le­sen, aber dann ist es wie­der ver­schwun­den)