Anmerkungen zu einer Handvoll legendärer Sätze
1 – Ich weiß, daß ich nichts weiß.
»Ich weiß, daß ich nichts weiß«, einer der berühmtesten Sätze der Geistesgeschichte: im Grunde genommen klingt diese Aussage nach einer Dummheit. Was soll dieses Eingeständnis des Nichtwissens, angeblich geäußert vom angeblich klügsten Mann des griechischen Altertums (dem Orakel von Delphi zufolge)? Ist ja in Ordnung, wenn er nichts weiß, aber sollte das Streben eines Klugen nicht dahin gehen, etwas zu wissen, auch wenn er sich der eigenen Beschränktheiten und der Relativität alles Festgestellten bewußt sein mag? Der berühmte Satz klingt weiter, und er klingt jetzt ein wenig nach einem trotzigen Ich will-auch-gar-nichts-wissen! Ist dieser Satz nicht, genauer betrachtet, eine bloße Variation des Paradoxons des Lügners, der die Wahrheit sagt, wenn er behauptet, er lüge, und lügt, wenn er behauptet, er sage die Wahrheit? Wie kann denn der Nichtwissende etwas wissen (nämlich daß er nichts weiß)? Offensichtlich handelt es sich hier um einen Sophismus, und tatsächlich wird dieser Satz dem Sokrates lediglich zugeschrieben, gerüchteweise, man findet ihn nirgendwo in schriftlichen Aufzeichnungen, weder bei Platon noch bei Xenophon.
Für Michel de Montaigne war Sokrates ein großes Vorbild: nicht nur ein scharfsinniger Denker, sondern einer, der stets den richtigen Blick, die angemessene Haltung zu den Dingen und Wechselfällen des Lebens und zuletzt auch zum Tod fand – fast so etwas wie der ideale Mensch. Dennoch zitiert Montaigne in seinen weitläufig mäandernden Essais den Sokrates zugeschriebenen Satz vom Nichtwissen kein einziges Mal. Er unterläßt es nicht aus quellenkritischer Vorsicht, sondern, wie ich vermute, weil er in dieser Form nicht zur Gestalt des Philosophen zu passen scheint. Wohl aber findet sich an zentraler Stelle im Werk Montaignes wie auch in auch in seinem Lebenskontext, an dem Ort nämlich, an dem sein Werk entstand, im Bücherzimmer oben im Turm des Schlosses von Eyquem, ein ähnlicher, wenn auch viel schlichterer Satz: »Que scay-je?« Also eine Frage, keine Behauptung, verewigt im Blason des Geistesadels unter einer Waage; ich glaube nicht, daß dies ein Zufall oder bloßes Ornament ist.
An dem, was man weiß oder zu wissen glaubt, ist immer aufs neue zu zweifeln; es gilt abzuwägen, ob die Sätze des Wissens und Erkennens (noch) zutreffen oder nicht (mehr). Mehrmals in seinen Essays führt Montaigne die oft atemberaubenden Wandlungen der Ansichten zu einem bestimmten Thema an. Es handelt sich um allererste Ansätze zu einer Geschichte des Wissens und der Wissenschaften, lange bevor die so benannte akademische Disziplin entstand. Für die Methodik des Erkennens leitet sich daraus die Forderung ab, Wissenssätze abzuwägen gegenüber der Erfahrung von Wirklichkeit, auf die sie sich beziehen, aber auch in Bezug auf anders geartete Sätze, die ebenfalls Wissensanspruch erheben, sowie – drittens – auf all das, was ich – und »man« – noch nicht weiß, was man aber vielleicht schon ahnen, sich vorstellen kann. Das, glaube ich, ist der Sinn der Inschrift und der Tatsache, daß Montaigne sie an so zentraler Stelle plazierte. Eine Korrektur der Überlieferung des »sokratischen« Paradoxons im Sinn einer fruchtbaren Vereinfachung, die den Gehalt weniger schwammig und vielfacher anwendbar macht.
Bewußtsein des Nichtwissens als Wissen um die Relativität des eigenen, des aktuellen, des herrschenden Standpunkts und der daraus resultierenden Formulierung des Wissens. Daß man in Frankreich an Montaignes Maxime anknüpfend eine Buchreihe unter dem Titel »Que sais-je?« begründete, die mittlerweile über 70 Jahre alt ist und mehr als 4000 Bändchen umfaßt, ist mit Sicherheit im Sinne des Großen Vordenkers. Positives Wissen ist keineswegs verwerflich, sondern nützlich, aufklärend, erbaulich usw., immer unter der Voraussetzung, daß wir uns seiner Relativität und Gewordenheit bewußt bleiben. In gewisser Weise wächst das Nichtwissen mit dem Wissen, denn dieses erlaubt mir, besser abzuschätzen, was alles noch zu tun, zu erarbeiten, zu durchdenken bleibt. So schrieb unlängst der Biologe David Reich in einem Artikel über den Begriff der Rasse im Zeitalter der modernen Genetik: »Wenn Wissenschaftler heute irgendeine Gewißheit haben können, dann die, daß unsere gegenwärtigen Annahmen über die genetische Natur der Unterschiede zwischen Bevölkerungen höchstwahrscheinlich falsch sind.« Nur Dumme glauben, alles zu wissen. Nichtwissen und Unsicherheit sollten uns nicht von künftiger Forschungstätigkeit abhalten – im Gegenteil. Das Streben nach Sammlung und Verfügbarkeit von Wissen führte zur enzyklopädischen Bewegung des 18. Jahrhunderts. Problematisch war nur der Totalitätsanspruch, der bestimmten Enzyklopädien zugrunde lag. Im digitalen 21. Jahrhundert haben wir es viel leichter, offene Enzyklopädien zu schaffen, mit der neu entstehenden Gefahr, daß mehr und mehr Unerheblichkeiten ausführlich besprochen und gespeichert werden, die Überschaubarkeit schwindet und die Beteiligten – Produzenten wie Kosumenten – Wesentliches nicht mehr ausreichend von Unwesentlichem zu unterscheiden verstehen.
→ 2 – Selig die Armen im Geiste...
© Leopold Federmair
Im digitalen 21. Jahrhundert haben wir es viel leichter, offene Enzyklopädien zu schaffen, mit der neu entstehenden Gefahr, daß mehr und mehr Unerheblichkeiten ausführlich besprochen und gespeichert werden, die Überschaubarkeit schwindet und die Beteiligten – Produzenten wie Kosumenten – Wesentliches nicht mehr ausreichend von Unwesentlichem zu unterscheiden verstehen.
Wenn man sich dann auf das sogenannte Wissen in digitalen Enzyklopädien verlassen will, so ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, mit falschen Informationen bedient zu werden.
Die Diskussion um die Administratorrechte in Wikipedia zeigt ja, das zwischen Wissen und Manipulation ein schmaler Grad ist. In sofern kann man hier sicher von ich weiß, das ich nichts weiß, sprechen.
Wissenschaften erheben per se so etwas wie einen »Totalitätsanspruch«. Ihre Resultate beanspruchen immer universale Geltung – bis zum Beweis des Gegenteils (Popper). Enzyklopädien speicherten diese jeweils auf ihre Zeit beziehbaren Erkenntnisse. Gleichzeitig hatten sie eine gewisse Autorität.
Wer etwas älter ist, wird sich an einige wissenschaftlichen Prognosen und/oder Verheissungen noch erinnern können, die inzwischen längst widerlegt oder relativiert wurden. Die digitale Gesellschaft trägt allerdings dazu bei, dass diese »Wissenszyklen« immer schneller wechseln: Das, was vor ein paar Jahren noch Standard war, ist veraltet. Zusätzlich gelangen viele Informationen, die strengen wissenschaftlichen Standards nicht standhalten, immer mehr als »Wissen« in die Medien. Zudem bekommt man ständig erklärt, dass man »lebenslang zu lernen« habe. Vielleicht auch darin ein gewisser Überdruss, sich Wissen anzueignen. Einher geht dies mit einer zunehmenden Geringschätzung des Wissens. Es taugt allenfalls noch für Quizshows um Gewinne zu erzielen.
Die »Editwars« zu manchen Beiträgen der Wikipedia zeigen, wie schwierig es ist, über Wissensaspekte Konsense zu erzielen. Zwar sind die empirischen Daten immer die Gleichen, aber wo endet das Faktum und wo beginnt die Interpretation. »Wissen« ist untrennbar mit dem Glauben an »Wahrheit« verbunden. Aber die Moderne bzw. Postmoderne hat den Wahrheitsbegriff längst entsorgt. Er gilt als autoritär – und totalitär. Womit man wider am Anfang ist...
Zudem bekommt man ständig erklärt, dass man »lebenslang zu lernen« habe. Vielleicht auch darin ein gewisser Überdruss, sich Wissen anzueignen. Einher geht dies mit einer zunehmenden Geringschätzung des Wissens.
Zumal man immer mehr das Gefühl hat, dass es ein vor sich her treiben, statt ein Zugewinn an Wissen ist.
Anscheinend wird das auch als Geschäftsmodell betrachtet.
Ich denke an das gute alte Betriebssystem DOS, welches in seinen Ausprägungen von Millionen Anwendern erforscht und ausgelotet wurde. Ein riesiger Wissensberg türmte sich auf. Jeder der sich mit dem Computer beschäftigte wusste über kleine Programme wie Clipper oder Basic ( man nannte das Computersprachen) zu berichten.
Man lernt Sprache die nicht einmal 20 Jahre bestand hat.
Mit dem Wegfall entsorgte sich dieses Wissen, und mit ihm riesige Bücherberge, die sich als Papiermüll in die Tonnen ergoss.
Sinnlose Verschwendung von Ressourcen und Gehirnschmalz.
Zum nutzen von Microsoft. Da steckt auch Umerziehung dahinter. Man lernt um am Ball zu bleiben und wird zum Sklaven seiner selbst.
Der Verlust von Lebenszeit, und die Freude an einer erlernten Fähigkeit geht verloren.
Ebenso die Freude z. B. Ein Instrument erlernen.
Belastung, da ineffektiv.
Wichtiger ist es seinen Beruf auf dem neusten Stand zu halten.
Der Verlust von Handwerklichen Fähigkeiten, das abhängig machen von IT Werkzeugen, die Austauschbarkeit am Arbeitsplatz.
Alles zum Wohle des Verbrauchers, der sich ebenfalls abhängig macht.
Wie kann ich meine Heizung Einschalten? Mein Smartphone geht nicht.
Nur eines: Die Möglichkeit – oder sogar Wahrscheinlichkeit – auf »falsche Informationen«, manipulierte Daten, Veraltetetes usw. zu stoßen, ist nicht internetspezifisch. Wissen und Wissenschaft veralten und erneuern sich. Im Internet laufen diese Prozesse viel schneller ab, und Kontrollinstanzen bzw. Autoritäten, denen man mit Grund vertrauen kann, sind oft nicht vorhanden, werden von vielen sogar abgelehnt und politisch torpediert. Hinzu kommt die zunehmende Unübersichtlichkeit, die Schwierigkeit, sich im Datendschungel zu orientieren, damit die Notwendigkeit von Filtern – die ebenfalls nicht internetspezifisch sind, im Internet aber oft gar nicht als solche wahrgenommen werden, weil sie durch Maschinen (Algorithmen) konstruiert und eingesetzt werden.
οἶδα οὐκ εἰδώς heisst eher so viel wie »Ich weiß, dass ich nicht weiß.« Von »nichts« ist nicht die Rede. Sorry für so viel Besserwisserei. ;)
Nun, der Begriff des lebenslangen Lernens, mit dem sich mittlerweile sogar Kindergärten schmücken, gehört zum humankapitalistischen Paradigma: Die Ressource Mensch bleibt, solange er sich stets brav »weiterbildet« (d.h. ausbildet!), als Kapital erhalten. Bildung meint heute Kompetenzerwerb aus ebendiesem Grund. Der traditionelle Bildungsbegriff bedeutet selbstverständlich das Gegenteil und das, was gerne als träges Wissen diffamiert wird, ist nichts anderes als der Hintergrund der den Gebildeten einschätzen lässt, ob das, was er vor sich hat, zutreffen könnte. Und genau dieses Vermögen, etwas einschätzen zu können, damit man nicht zum Narren gehalten wird, geht zunehmend verloren: Wozu etwas wissen, wenn man es jederzeit nachschauen kann? Aber was man nachschauen sollte, das weiß man freilich nicht, wenn man tatsächlich »nichts« weiß. — Die Widersprüche, die sich auftun, beim Lesen, beim Zuhören, beim Hinsehen, wo auch immer, sind das Entscheidende, denn sie veranlassen uns einer Sache nachzuspüren.
@ Jürgen Nielsen
Genauigkeit ist gut, unabhängig davon, ob und wieviel man weiß. Wenn es stimmt, daß der Spruch das erste Mal bei Cicero auftaucht, dann ist das »Original« lateinisch, die griechische Fassung schon eine Übersetzung. Bei einem wahrscheinlich anonymen, kollektiv tradierten Satz ist die Suche nach dem »wahren« Original nicht so zielführend. Man kann nur dem Sinn, den Sinnvarianten nachspüren. Das abendländische Denken hat er so oder so stark beeinflußt.
@Leopold Federmair
Gibt es Genauigkeit »ohne« Wissen? Beeinflusst Wissen, egal woher es kommt, nicht die Art und Weise wie wir hinsehen? Befördert ein gewisser Umfang an Wissen nicht die Genauigkeit?
@metepsilonema – »lebenslanges Lernen«
Sicherlich ist die propagandistische Strossrichtung klar. Aber auch im Alltag zeigt sich, dass derjenige, der nicht bereit ist sich den Gegebenheiten anzupassen, am Ende buchstäblich auf der Strecke bleibt. Als ich meine Ausbildung in einem Großhandel begann gab den Fernschreiber, der eine mehr oder weniger schnelle schriftliche Kommunikation mit Unternehmen ermöglichte (Briefe galten bereits damals als veraltet; Post bestand großteils nur noch aus Rechnungen). Ich habe selber die Dinger noch auf Lochstreifen vorgeschrieben (dann konnte man noch korrigieren, wenn man sich verschrieben hatte). Ein paar Jahre später arbeitete ich in einer Firma, die einen Computer dafür hatte. Zwar musste man noch um die Eingänge einzusehen zum Fernschreiber gehen und die Nachricht von einer Rolle abreißen, aber das senden ging jetzt deutlich komfortabler. Der nächste Schritt war das Telefax-Gerät. Es gab eine Firma dessen Inhaber – er war jenseits der 70 – dieses Gerät vehement ablehnte und auf Fernschreiben bestand. Einige Jahre später war er pleite. Das Telefax hielt sich vielleicht 15 Jahre. Dann kamen die ersten Mails, wir überlegten die Umstellung. Das Fax-Gerät blieb weiter, aber mehr und mehr stiegen die Unternehmen um. Wir konnten auf die Dame, die bisher Faxe und Korrespondenz geschrieben hatte, verzichten und schrieben von nun an unsere Sachen am Computer selber.
All dies ging ohne große Ankündigung vonstatten. Da ich immer in KMU gearbeitet habe, gab es keine Schulungen, wo man das Arbeiten mit diesen Techniken hätte lernen können. Man nahm die Bedienungsanleitung und legte los. Das ist eben auch »lebenslanges Lernen« – fast erzwungen durch die Umstände.
Pingback: Lichtwolf | Links der Woche, rechts der Welt 17/18
Die Kommentare reflektieren recht schön die drei Aspekte, die ich schon im Text ausmachen konnte. Da wäre das kanonische Wissen der Wissenschaften, das Technik-Wissen und das Ereignis-Wissen, und komplementär zu dieser Trias jenes legendäre aber gleichsam diffuse »Bildungswissen«, das wir im Umgang mit Philosophie und Kunst erwerben. Dieses Wissen hat nicht nur eine Kenntnis-Seite, sondern weist auch eine psychologische Verpackung auf; die Teilhabe basiert auf angeborenen aber zu Beginn rudimentären Fähigkeiten, sodass man auf den kühnen materialistischen Gedanken verfallen könnte, nach dem Erwerb des Wissensgutes »den Inhalt wegzuwerfen und die Verpackung zu behalten«... Man erinnere sich an Wittgenstein’s Metapher im Tractatus von der Philosophie als Leiter, auf der man aufsteigen könne, um sie hinterher wegzuwerfen.
Auf dieses Wissen-inclusive-Verpackung bezieht sich jedenfalls der veraltete Bildungsbegriff, der keine direkten Verwertungschancen bietet, obwohl streng genommen die sozial austrainierte Persönlichkeit ihren materiellen Lebenserfolg ja immer steigert. Waren die Nutzer der klassisch fundierten Bildungstechniken frühe Erfolg-Optimierer, im Sinne des Erwerbs von kulturellen Kapital (Bourdieu, leider einseitig kritisch)?!
Erwerb von »Kapital« kann man vernünftigerweise nicht ausschlagen! Die Frage, ob man sich weigern soll zu wissen, bezieht sich daher nur auf die technische Entwicklung. Ich meine, hier kann die Weigerung folgenlos sein, und so gesehen sind wir frei, darüber zu entscheiden. Obwohl: Wie Gregor schon andeutete, kann das wirtschaftlich leichtsinnig sein.
Ja, und was die dritte Kategorie betrifft: Das Ereignis-Wissen (politisches Denken) hat auch heute noch eine beträchtliche Unschärfe. Nicht nur dass Politik hinter verschlossenen Türen stattfindet (Frau Merkels Komfortzone), es macht sich auch eine deutliche Verdünnung mit der Entfernung bemerkbar. Da täuscht man sich leicht, weil die Vernetzung ja eine globale »Verfügbarkeit« von Informationen suggeriert. Das ist aber (sobald man auch qualitative Forderungen erhebt) nicht der Fall. Man kann diese Illusion leicht aufdecken, indem man sich selbst analytische Aufgaben vornimmt, etwa einen »Bericht über den Bürgerkrieg in Afghanistan im Jahr 2017« zu schreiben. Probiert es mal aus! Ist kaum machbar, und die Journalisten stehen vor keinem geringerem Problem.
Der Einwand von Jürgen Nielsen ist vielleicht weitreichender, als es zuerst scheint. Ich weiß, dass ich nichts weiß ist einer dieser Sätze, den Gödels Unvollständigkeitssatz ins Reich des Sinnlosen katapultiert. Solche Sätze sind, wenn man auf der Basis des Methodischen bleiben möchte, ohne Aussage. Mit der Aussage Jedes hinreichend mächtige, rekursiv aufzählbare formale System ist entweder widersprüchlich oder unvollständig sind genau diese widersprüchlichen Aussagen gemeint, die in jedem formalen System auftauchen, sich aber weder beweisen noch widerlegen lassen. Die Sprengkraft dieses mittlerweile weit generalisierten Satzes ist glaube ich noch nicht ganz verstanden.
Wissenschaft entzieht sich der Problematik, indem sie eben nicht totalitär ist, sondern immer im Feuer der Realität gehärtet werden muss. Sie erhebt keinen Anspruch auf Wahrheit, alles ist vorläufig. Wahrheit ist kein wissenschaftlicher Begriff. Einstein hat beschrieben, wie sich seine allgemeine Relativitätstheorie durch einen Versuch gegenüber der 300 Jahre gültigen newtonscher Mechanik nachweisen lässt. Was dann auch geschah. Morgen kommt vielleicht jemand und schmeißt das alles wieder über den Haufen. Was auch nicht weiter schlimm ist, da bisher anscheinend keine Lücke in der Theorie ist, die für Menschen von belang ist.
Ich weiß, dass ich nicht weiß wäre dann ein Satz, den Montaigne, der durch seine Vita im prallen Leben gebadet hatte, wohl eher goutiert hätte. Das manchmal unfassbar Moderne in Montaignes Gedanken ist ja gerade dieses Zulassen des Zweifels. Ich kann zumindest mit Montaigne deutlich mehr anfangen, als mit diesen ganzen monumentalen philosophischen Weltgebäuden, die immer wieder vollständig neu gebaut wurden und immer wieder monumental scheiterten, da sie wegen ihrer scholastischen Spitzfindigkeiten weggegödelt werden. Ex falso quodlibet.
An Metepsilonema:
Leider hält mich das reale Leben im Moment davon ab, mit der gewünschten Ruhe zu antworten. Deshalb nur punktuell: Ich würde schon auch sagen, daß Wissen Genauigkeit fördert. Es gibt aber auch eine Art der Detailgenauigkeit, die ich bei Akademikern in meinem Umkreis oft bemerke und die dem Erkennen von Zusammenhängen gar nicht zuträglich ist. Umgekehrt würde ich sagen, daß methodische Genauigkeit in Erkenntnisprozessen auch dann förderlich ist, wenn (noch) kein oder wenig oder nur unsicheres Wissen da ist und man es erst erarbeiten (bearbeiten) muß. Darauf hatte ich abgezielt. Genauigkeit hat meines Erachtens mit Nähe und Ferne zu tun. Bei hermeneutischen Vorgängen auch »close reading«, um einen altmodischen Begriff zu verwenden, das aber mit einem Sinn für Kontexte einhergehen sollte.
@Joseph Branco
Wissenschaft entzieht sich der Problematik, indem sie eben nicht totalitär ist, sondern immer im Feuer der Realität gehärtet werden muss. Sie erhebt keinen Anspruch auf Wahrheit, alles ist vorläufig.
Das Problem ist nur, dass dieses »Feuer der Realität« (sehr schöne Formulierung) in der jeweiligen Zeit allzu selten eine Rolle spielt. Die Medizin lebt beispielsweise davon, unveränderliche »Wahrheiten« zu produzieren. Wer sich außerhalb davon positioniert gilt als Abtrünniger oder Esoteriker. In der Praxis wird eben sehr wohl der Wahrheitsanspruch erhoben – übrigens nicht zuletzt von den Medien. In der Realität hängen Wissenschaftler häufig an Geldtöpfen Anderer. Wenn sie dabei postulieren würden, dass ihre Erkenntnisse nur vorläufig sind, würde dies mindestens Befremden auslösen.
Aber ich schweife ab.
Ansonsten d’accord. (Die Frage ist ja, ob Philosophie überhaupt eine »Wissenschaft« ist.)
Je nachdem wie man es interpretiert, ist der Unterschied zwischen dem »nicht wissen« und dem »nichts wissen«, um das der Aussagende weiß, doch fast verschwindend. Das Wichtige daran ist doch, dass es sich um eine Meta-Aussage handelt, um das Eingeständnis oder die Erkenntnis, dass es im eigenen Bewusstsein blinde Flecken gibt. – Insofern gäbe es ja auch keinen Widerspruch, da nur um das Nichtwissen gewusst wird, ein Widerspruch entstünde ja nur, wenn man den nichtgewussten Gegenstand selbst wissen würde.
Wie weit aber solche Meta-Aussagen wirklich neue Türen für das Bewusstsein aufstoßen? – vgl. https://xkcd.com/1447/ (Gödels erster Unvollständigkeitssatz handelt doch davon, dass schon das »primitive« System der Arithmetik ausreicht, um ähnlich problematische Meta-Aussagen zu treffen, wie Sokrates’ Satz. – Für Sokrates wäre das nur vermutlich eine mechanisch-rhetorische Konstruktion bar jeder Erkenntnis?)
Wenn man präzise sprechen möchte, ist die Erkenntnis Nichts zu wissen eben doch Wissen und damit ein Widerspruch. Das ist das Gleiche wie die Frage, ob Gott einen Stein schaffen kann, den er nicht selbst heben kann, die Aussage eines Kreters, dass alle Kreter lügen oder die fast schon poetische Aussage, dass das Nichts keine Eigenschaften hat, außer der Eigenschaft keine Eigenschaften zu habe. Das führt alles, Kausalität natürlich vorausgesetzt, direkt ins Verderben. Das Problem sind auch nicht Meta-Sätze, sondern selbstreferentielle Aussagen.
Ich gehe davon aus, dass Gödels Satz nicht nur auf mathematische axiomatische Systeme beschränkt ist, sondern das gesamte menschliche Denken davon betroffen ist. So wie Russell oder Hilbert bei der Erstellung einer konsistenten Gesamtdarstellung der Mathematik gescheitert sind, war Wittgenstein über die Sprache gestolpert. Ich befürchte, dass wir uns mit Grenzen unseres Denkens abfinden müssen. Zumindest jegliche Art von Allaussagen sollte man tunlichst unterlassen.
@Gregor, #9
Das ist alles richtig, teilweise in einer technisierten Gesellschaft unvermeidlich, teils eine Nötigung oder Zumutung. Dennoch: Die Wendung vom lebenslangen Lernen erschöpft sich nicht in bloßer Propaganda und auch nicht in diesen unzweifelhaft korrekten Feststellungen, sie beschreibt je nach Sichtweise das Resultat oder ist die Vorwegnahme (sie ist, so weit ich weiß schon ein paar Jahrzehnte alt) etlicher Entwicklungen in unseren Bildungssystemen in den vergangenen 15–20 Jahren. In Kürze geht es dort heute im Vergleich zu »früher« nicht mehr – um die manchmal bessere, manchmal schlechtere – Grundlegung oder Vermittlung von Bildung, sondern um Erzeugung kompetenter Arbeitskräfte für eine (Hoch)leistungsgesellschaft (dabei ist es gleich wo man hinsieht, Kindergarten, Universität oder Schule). Es geht um Verfügbarkeit (Humankapitalismus) und nicht mehr um eine Abstimmung von gesellschaftlich legitimen und individuellen Ansprüchen: Lebenslang zu lernen, bedeutet lebenslang formbar in außerindividuellem (ökonomischen) Interesse zu bleiben, der klassische Bildungsbegriff, der u.a. auf eine Einigkeit des Individuums mit sich selbst und durch es selbst zielt, würde sich dem verweigern. — Dass all das durch überstaatliche Institutionen wie die OECD (PISA) oder die EU (Bolonga) ohne demokratische Beschlüsse in die Wege geleitet wurde, sei der Vollständigkeit erwähnt.
@Joseph Branco Falls es überhaupt eine Differenz gibt, dann vielleicht die, dass ich die meisten dieser selbstreferentiellen »Paradoxa« für sophistische Taschenspielertricks halte – wie auch die Gödelschen Unvollständigkeitssätze für ein wenig überhypet. – Zwar habe ich in meinen zehn Jahren an einer naturwissenschaftlichen Fakultät mit Kommolitonen auch spekuliert, ob, wenn unser Hirn vollständig in einer Turing-Maschine simuliert werden könne, die Unlösbarkeit des Halteproblems damit auch eine harte Erkenntnisbarriere für unsren Geist darstelle...
Aber mit den kleinen Dosen Adorno, die ich mir zusetzte, beschlich mich doch auch das Unbehagen, ob mit dem positivistischen Endsieg menschliche Kommunikation sich nicht langsam in das Pfeifen eines Modems morpht. (Wie Wittgensteins Aussage, wenn alle wissenschaftlichen Fragen beantwortet seien, wären unsere Lebensprobleme noch nicht einmal berührt.)
Taschenspielertricks waren diese Sätze eben nur bis Gödel, weil jeder fühlte, dass etwas faul ist, aber nicht wusste was. Gödel hat gezeigt, dass es sich um ein systemisches Problem handelt und die Mathematik niemals zu einem konsistenten Ganzen kommen kann. Womöglich ist die gesamte Epistemologie betroffen. Das zu überhypen scheint mir kaum möglich. Den ÖPNV wird der Satz aber wohl nicht attraktiver machen. (Was das Halteproblem damit zu tun hat, habe ich nicht verstanden).
P.S. Als Gödel gezeigt hatte, dass eine Folge der Relativitätstheorie die Nichtexistenz von Zeit ist, war selbst Einstein überrascht bis schockiert. Solche Hirne sind schon etwas sehr besonderes.
@Joseph Branco: Dass es sich um tiefe Aussagen handelt, mit der große Hirne ziemlich ringen mussten, wollte ich nicht abstreiten. Nur auf was das für unsere Normalo-Hirne heruntergebrochen wird, bereitet mir manchmal sorgen – so ähnlich wie die Hawkingsche Verballhornisierung der Kosmologie – das erzeugt dann manchmal so einen Brei im Kopf, den Eindruck dass das alles doch verbunden sei. Was es ja vielleicht auch ist: Das Turingsche Halteproblem ist auch wieder ein Beispiel für Unvollständigkeit: Ein formales System das reich genug ist Sätze zu formulieren, die in ihm selbst nicht entscheidbar sind.
Aber was sind die dahinter verborgenen Themen? Selbstreferentialität?... oder vielleicht sogar die Unendlichkeit – von der Mathematik erhoffte ich da präzisere Aussagen als von der Religion, aber mit der Unentscheidbarkeit der Kontinuumshypothese war es für mich nur noch verwirrender?
PS. Wandel und Zeit ist vielleicht eines der größten philosophischen Probleme. Spielen Sie darauf an, was in etwa in diesem Buch: http://www.ams.org/notices/200707/tx070700861p.pdf verhandelt wird. (Ich hatte es etwa zu zwei Dritteln gelesen, aber dann ist es wieder verschwunden)