Wel­ten und Zei­ten XII

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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Tschechows Ge­wehr. Wenn zu Be­ginn ei­ner Er­zäh­lung ein Ge­wehr an der Wand hängt, muß es ir­gend­wann los­ge­hen, sei es auch erst auf der letz­ten Sei­te. Die­ser Satz wird oft als Re­gel pro­pa­giert. Öko­no­mi­sches Er­zäh­len, jahr­zehn­te­lang das li­te­ra­tur­kri­ti­sche Ide­al und Heil­mit­tel des deut­schen Feuil­le­tons. Bloß nichts Über­flüs­si­ges in die Ge­schich­ten!

Was, wenn das Ge­wehr nicht los­geht? In ei­nem Film kann es mehr oder we­ni­ger zu­fäl­lig an der Wand hän­gen, ein ver­ges­se­nes Re­likt, ir­gend­wer hat es ir­gend­wann dort auf­ge­hängt. Doch der Schrift­stel­ler muß es wil­lent­lich und ei­gen­hän­dig be­schrei­ben oder we­nig­stens evo­zie­ren, al­so gleich­sam selbst auf­hän­gen, sonst ist es nicht da. Der Schrift­stel­ler wählt im­mer aus, selbst wenn er Rea­li­en in gro­ßer Fül­le liebt, die Fül­le der Nich­tig­kei­ten. Er ent­schei­det – si­cher oft un­be­wußt, aber in ei­nem fort –, was zur Exi­stenz kommt und was nicht. Das­sel­be gilt für Ma­ler, nicht aber für Pho­to­gra­phen. Gött­li­che Dich­ter!

2002 sag­te ein ame­ri­ka­ni­scher Film­kri­ti­ker im Ge­spräch mit Ha­yao Mya­za­ki, dem Zeich­ner und Re­gis­seur zahl­rei­cher Zei­chen­trick­fil­me, er lie­be die »gra­tui­tous mo­ti­on«, die un­mo­ti­vier­ten Be­we­gun­gen – schwer zu über­set­zen – in des­sen Fil­men. Grund- und zweck­lo­se klei­ne Sze­nen, oh­ne Be­grün­dung oder not­wen­di­ge Funk­ti­on im Er­zähl­ver­lauf. Din­ge, die sind, weil sie sind, und sich ein­fach nur ih­rer Exi­stenz er­freu­en (oder zu ihr ver­dammt sind). Und den Be­trach­ter er­freu­en (oder be­un­ru­hi­gen), weil sie exi­stie­ren. Hin und wie­der sitzt ei­ne Fi­gur bloß da oder seufzt oder schaut auf ei­nen da­hin­flie­ßen­den Fluß, oder tut zu­sätz­lich ir­gend­was, das die Hand­lung nicht wei­ter­bringt, »ein­fach nur, um ein Ge­fühl für die ver­ge­hen­de Zeit und für den Ort, an dem sie ge­ra­de sind, zu ver­mit­teln.« Adal­bert Stif­ter hat das auch ge­macht, fast ein biß­chen ex­zes­siv in sei­nem letz­ten gro­ßen Werk, dem Wi­ti­ko. Er­zäh­len – und Le­sen, viel­leicht so­gar noch mehr als Er­zäh­len – heißt auch, sich in Ge­duld zu üben. Ei­ne wich­ti­ge Übung, auf die wir nicht ver­zich­ten soll­ten. Ja, ja, lie­be Tik­To­ker!

Ha­yao Mi­ya­za­ki be­kräf­tigt die Vor­lie­be des Kri­ti­kers für die funk­ti­ons­lo­sen Sze­nen, in­dem er er­klärt: »Im Ja­pa­ni­schen ha­ben wir ein Wort da­für: Ma. Zwi­schen­raum. Sol­che Zwi­schen­räu­me set­zen wir ab­sicht­lich ein.« Zur Ver­an­schau­li­chung klatscht Mi­ya­za­ki in die Hän­de und sagt: »Die Zeit zwi­schen den bei­den Ge­räu­schen ist ma. Wenn dau­ernd nur ac­tion ist, oh­ne Zeit zum At­men da­zwi­schen, er­gibt das nur ge­schäf­ti­gen Streß.« Der Re­gis­seur hat das eher bild­lich oder räum­lich ge­mein­te State­ment des Kri­ti­kers in­stink­tiv auf die Ach­se der Zeit über­tra­gen. Film­kunst ist wie je­des Er­zäh­len, wenn auch nicht aus­schließ­lich (wie die Mu­sik), Zeit­kunst: Sie ge­stal­tet Zeit. De fac­to tritt na­tür­lich bei­des zu­sam­men, Raum und Zeit. Zeit­räu­me und Raum­zei­ten mit Zwi­schen­räu­men, Zwi­schen­zei­ten. Das Wort ma schreibt sich ideo­gram­ma­tisch so: 間. Man sieht hier sehr schön die Öff­nung, das Tor (門), und in der Mit­te nicht ein­fach nichts, son­dern et­was, und wenn nicht et­was Be­stimm­tes, so doch das Ta­ges­licht (日), das die Din­ge letzt­lich er­schei­nen läßt. Dies al­so be­fin­det sich in sol­chen mi­ni­ma­len Zwi­schen­räu­men: Klei­nig­kei­ten, Nich­tig­kei­ten, le je-ne-sais-quoi et le pres­que-ri­en, um nach lan­ger Zeit wie­der ein­mal die­sen wun­der­ba­ren Buch­ti­tel (von Vla­di­mir Jan­ké­lé­vitch) zu zi­tie­ren. Und die Zeit, Atem zu ho­len. »Das ist wich­tig«, wür­de Mi­cha­el En­des Stra­ßen­keh­rer in Mo­mo, die­sem Zeit­ro­man par ex­cel­lence, sa­gen.

Ein Ge­wehr ist kei­ne Klei­nig­keit, aber in ei­ner frei­en, oder sa­gen wir: un­öko­no­mi­schen Er­zäh­lung kann es zu ei­ner sol­chen wer­den. Das un­schein­ba­re, doch aber schein­ba­re Ding kann ge­nau­so­gut ei­ne Ei­chel im Wald sein. Oder der Trop­fen auf To­to­ros Re­gen­schirm. Oder der Re­gen­schirm selbst. Oder das War­ten un­ter dem Schirm, oh­ne Smart­phone vor der Na­se. Es geht dann um nichts mehr, und das wä­re der ei­gent­li­che Ho­ri­zont ei­ner sol­chen Er­zäh­lung: die Wirk­lich­keit selbst. Oder wenn man das Wort »Wirk­lich­keit« nicht mag: das Sein der Din­ge. Je­des ein­zel­nen Dings. Zu de­nen am En­de auch die Men­schen ge­hö­ren. Das je ein­zel­ne Sein wird ernst­ge­nom­men und so ver­ehrt wie in Ja­pan die Din­ge, die man ver­zehrt. Man be­dankt sich bei den Din­gen, nicht bei Gott. Oder an­ders ge­sagt: Die Din­ge sind Gott. Und der Dich­ter oder Zeich­ner, der sie schafft, in­dem er sie wie­der­holt. Ge­nau die­sen – durch­aus alt­her­ge­brach­ten – Blick hat und ver­mit­telt Mi­ya­za­ki in sei­nen Fil­men.

Ins gro­ße, glo­ba­le, trans­ver­sal zu durch­strei­fen­de Feld der Er­zähl­li­te­ra­tur über­setzt sich das so­eben Ge­sag­te ein Plä­doy­er für luf­ti­ge Li­te­ra­tur. Ei­ne Li­te­ra­tur, die Raum und Zeit läßt. Raum und Zeit, der und die nicht so­gleich durch et­was, das Be­deu­tung trans­por­tiert, zu be­set­zen sind. Raum und Zeit für das Vor­stel­lungs­ver­mö­gen, auch Phan­ta­sie ge­nannt, sich zu ent­fal­ten.

Es hängt von mei­nem gu­ten Wil­len ab, aber ei­gent­lich ist so ziem­lich je­der Ro­man »in­ter­es­sant«, so­bald es um ei­nen nen­nens­wer­ten Ein­satz gebt. Al­so das, was man im Fran­zö­si­schen »en­jeu« nennt. Spiel­ein­satz. Et­was soll­te auf dem Spiel ste­hen. Die­ses Et­was muß gar nichts Groß­ar­ti­ges sein. Es ist dann auch nicht so wich­tig, ob die Haupt­fi­gur, der wir uns na­he füh­len, sym­pa­thisch ist oder nicht, in­ter­es­sant ist oder nicht, kom­plex oder ein­fach ge­strickt. Wir sind bei ihm oder ihr und ge­hen mit, mei­stens bis zum En­de.

Oft fällt in die­sem Zu­sam­men­hang das Wer­tungs­wort »glaub­wür­dig«. Aber gibt es Kri­te­ri­en für Glaub­wür­dig­keit? Mir je­den­falls scheint bald ein­mal et­was glaub­wür­dig. Ob ich dem Au­tor und sei­nem Werk glau­be, hängt nicht zu­letzt von mei­nem gu­ten Wil­len ab. Im ge­wöhn­li­chen Le­ben, zum Bei­spiel vor Ge­richt, wird man Un­wahr­schein­lich­kei­ten und Wi­der­sprü­che nicht ak­zep­tie­ren. Wenn ein To­ter auf­er­steht und in das Le­ben der Haupt­fi­gur tritt, muß man das nicht un­be­dingt psy­cho­lo­gisch, d. h. rea­li­stisch er­klä­ren. Es ist ein­fach so. Es ist glaub­wür­dig. In ei­nem Ro­man, wenn das Spiel läuft, ak­zep­tiert man es: Ist so­wie­so al­les Il­lu­si­on und Lü­ge.

»Man is not as com­ple­te­ly so­cial as ants or bees, who ap­par­ent­ly never have any im­pul­se to be­have in an an­ti-so­cial man­ner”, heißt es bei Bert­rand Rus­sel, in sei­ner klei­nen Schrift Has Man a Fu­ture? Li­te­ra­tur und wahr­schein­lich Kunst über­haupt le­ben aus die­sem Wi­der­spruch. Künst­ler sub­li­mie­ren den an­ti­so­zia­len Im­puls in ih­rer Kunst. Wer viel in­ne­re En­er­gie be­sitzt, bleibt aus der Ge­sell­schaft weg und schreibt ein Buch.

Die nar­ra­ti­ve Struk­tur der Träu­me, wie wir sie al­le im­mer wie­der träu­men, ist we­sent­lich und struk­tu­rell frag­men­ta­risch, un­ab­ge­schlos­sen, un­ab­schließ­bar. Wir wer­den aus ih­nen her­aus­ge­ris­sen durch Er­wa­chen, an­ders kom­men sie nicht zu En­de. Bei Kaf­ka wird die­se Struk­tur fast un­mit­tel­bar zu Li­te­ra­tur. Bei an­de­ren Au­toren auch, aber bei Kaf­ka am rein­sten. Traum­haft ist da­bei we­ni­ger das Phan­ta­sti­sche von Er­eig­nis­sen oder At­mo­sphä­ren als die Struk­tur der Ver­schie­bung, der Un­ab­schließ­bar­keit. Die Frag­men­ta­rik von Kaf­kas gro­ßen Er­zähl­tex­ten und die Rät­sel­haf­tig­keit sei­ner klei­nen hat kei­ne äu­ße­ren Grün­de, et­wa daß die Zeit oder die Kräf­te nicht reich­ten, um sie ab­zu­schlie­ßen oder ver­ständ­li­cher zu ma­chen. Nein, die­se Ei­gen­schaft kommt aus ih­rem in­ner­sten, oni­ri­schen We­sen.

Die schwä­che­ren Träu­me ver­eb­ben, sie wer­den nicht Li­te­ra­tur. Bei Kaf­ka sind es die Er­zähl­an­sät­ze in sei­nen Ta­ge­bü­chern. Er hat sie mit gu­ten Grün­den – und nicht, weil ihm Zeit oder En­er­gie fehl­ten – nicht wei­ter­ver­folgt. So wie wir uns um un­se­re schwä­che­ren re­al­welt­li­chen Träu­me nicht wei­ter küm­mern; wir ver­ges­sen sie au­gen­blick­lich. Die stär­ke­ren ge­hen uns nach, oh­ne daß wir sie lö­sen könn­ten, auch nicht durch In­ter­pre­ta­ti­on.

The Cat­cher in the Rye1 von J. D. Sa­lin­ger ge­hört zu den Bü­chern, von de­nen ich im­mer dach­te, daß ich sie le­sen müs­se, die ich dann aber aus ir­gend­wel­chen Grün­den doch nicht ge­le­sen ha­be. Viel­leicht nur aus Faul­heit, oder weil ich ahn­te, daß sie mir doch nicht so viel ge­ben wür­den, wie mir an­de­re Le­ser oder der Ka­non der Li­te­ra­tur­ge­schich­te ver­spra­chen. Ich ha­be mir das Buch jetzt be­sorgt und so­gleich die häu­fi­gen sprach­li­chen Wie­der­ho­lun­gen, ähn­lich wie bei Tho­mas Bern­hard, be­merkt. Aber bei Sa­lin­ger sind es um­gangs­sprach­li­che Flos­keln, die ei­nen be­stimm­ten Slang der Jah­re um 1950, al­so Ele­men­te ei­ner im 21. Jahr­hun­dert längst au­ßer Ge­brauch ge­kom­me­ne Ju­gend­spra­che zur Ge­stal­tung der Fi­gu­ren­re­de ein­streu­en, aber kei­ne hoch­ar­ti­fi­zi­el­le, struk­tur­bil­den­de Rhe­to­rik wie bei Bern­hard.

Ei­gent­lich hat­te ich The Cat­cher in the Rye doch ge­le­sen, aber in Ge­stalt von Nach­ah­mun­gen in an­de­ren Spra­chen. Vor al­lem die bei­den er­sten Ro­ma­ne des Me­xi­ka­ners Jo­sé Agu­stín, die er noch fast als Ju­gend­li­cher schrieb: De per­fil, 1966 er­schie­nen, wur­de in Me­xi­ko der er­ste Best­sel­ler der Pop­li­te­ra­tur. Drei­ßig Jah­re spä­ter ha­be ich Jo­sé Agu­stín in sei­nem Haus in Cu­aut­la be­sucht; ich wun­de­re mich noch heu­te, daß ich es oh­ne PKW ge­fun­den ha­be. Im eben­erdi­gen Wohn­zim­mer wa­ren Re­ga­le, voll­ge­stopft vor al­lem Schall­plat­ten, Hun­der­te, wenn nicht Tau­sen­de, das mei­ste da­von si­cher Pop- und Jazz­mu­sik. Wenn ich es rich­tig se­he, ist er in sei­ner li­te­ra­ri­schen Ent­wick­lung über die Ju­gend­ro­ma­ne nie hin­aus­ge­kom­men und im­mer je­ner auf­müp­fi­ge Jun­ge ge­blie­ben, auch äu­ßer­lich… Und war­um nicht, das war schließ­lich sei­ne Le­bens­auf­ga­be. Spä­ter hat er vor al­lem Rück­blicke ge­schrie­ben, Chro­ni­ken der fünf­zi­ger, sech­zi­ger und sieb­zi­ger Jah­re.

De per­fil wird in Me­xi­ko noch im­mer ge­le­sen. Ich hät­te das Buch da­mals gern ins Deut­sche über­setzt, aber kein Ver­le­ger hat an­ge­bis­sen. Viel­leicht dach­ten sie, ein Cat­cher in the Rye ge­nügt, wir brau­chen kei­nen me­xi­ka­ni­schen Ab­klatsch da­von. Auch okay. Das Buch von Sa­lin­ger ha­be ich nach der Hälf­te auf­ge­ge­ben, der Slang und die Cool­ness sind mir zu viel ge­wor­den. Und Jo­sé Agu­stín, er­fah­re ich aus Wi­ki­pe­dia, ist An­fang des Jah­res (2024) ge­stor­ben. In sei­nem Haus in Cu­aut­la, acht­zig ist der Jun­ge alt ge­wor­den.

Back to Kaf­ka. Nach­dem er Das Ur­teil in ei­ner ein­zi­gen Nacht nie­der­ge­schrie­ben hat­te, fin­det er durch die­se Lei­stung, de­ren Wert er so­fort er­kann­te, be­stä­tigt, daß er sich mit sei­nem Ro­man­schrei­ben »in den schänd­li­chen Nie­de­run­gen des Schrei­bens« be­fin­de. So steht es im Ta­ge­buch. Er schlug sich zu die­ser Zeit mit dem Ame­ri­ka-Ro­man her­um (heu­te un­ter dem Ti­tel Der Ver­schol­le­ne er­hält­lich). Ei­nen sol­chen Ro­man kann man nicht in ei­nem Zug, ganz si­cher aber nicht in ei­ner ein­zi­gen Nacht schrei­ben. Oder viel­leicht doch? Näm­lich Zug um Zug, Nacht für Nacht, oh­ne ei­gent­li­che Un­ter­bre­chun­gen. So ist es dann mit dem Pro­cess ge­sche­hen, auch da stell­te sich ein Schreib­sog ein, der al­ler­dings ei­nen viel län­ge­ren Er­zähl­a­tem vor­aus­setz­te und, um­ge­kehrt, ins Werk setz­te. Atem und Sog, Sog und Atem. Ein Er­zähl­a­tem oh­ne Schluß, wie schon ge­sagt, ge­wis­ser­ma­ßen: oh­ne Tod. Un­sterb­li­ches Er­zäh­len, un­end­li­che Ge­schich­te. Bzw. mit ei­nem Schluß, den Kaf­ka aus der un­end­li­chen Fer­ne her­aus­ge­zo­gen hat. Wie dort hin­zu­ge­lan­gen war, wuß­te er nicht.

Das Ur­teil hat, we­nig über­ra­schend, ei­nen Schluß, und zwar ei­nen we­nig über­ra­schen­den. All­zu ge­fü­gig viel­leicht, wie der gan­ze Ge­org Ben­de­mann, die­ser bra­ve Sohn, der zu­letzt brav von der Brücke springt. Was für ein kon­ven­tio­nel­les En­de!

Es gibt nur kon­ven­tio­nel­le En­den.

...wird fort­ge­setzt...

© Leo­pold Fe­der­mair


  1. Der Fänger im Roggen – G.K. 

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