Wel­ten und Zei­ten XIII

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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»Road mo­vie« ist ein ge­läu­fi­ger Be­griff der Ci­ne­phi­lie, je­der Ki­no­ge­her könn­te so­fort ein paar Bei­spie­le da­für auf­zäh­len. Aber »Rei­se­ro­man« sagt man ge­wöhn­lich nicht, ob­wohl es sehr vie­le Rei­se­ro­ma­ne gibt. Road no­vels. Vie­le Ro­man­hel­den be­we­gen sich gern, sind nicht seß­haft, ver­spü­ren Wan­der­lust wie wei­land Ei­chen­dorffs Tau­ge­nichts.

Schon die Wil­helm Mei­ster-Ro­ma­ne sind road no­vels; die Thea­ter­trup­pe, der sich Wil­helm an­schließt, ist ei­ne Wan­der­trup­pe. Rei­sen birgt Ge­fah­ren und die Chan­ce auf Aben­teu­er. Ge­hen wir noch wei­ter zu­rück: Don Qui­jo­te, der, wie oft ge­sagt wird, er­ste eu­ro­päi­sche Ro­man, ist ein Rei­se­ro­man, das Gen­re de­fi­niert sich zu­nächst als ei­nes der Be­weg­lich­keit, erst spä­ter, im 19. Jahr­hun­dert, meh­ren sich die häus­li­chen Ro­ma­ne, von wel­chen Bud­den­brooks ei­nen Kul­mi­na­ti­ons­punkt dar­stellt. Das Haus Bud­den­brook und sei­ne Re­prä­sen­tan­ten., die Er­ben von Ver­mö­gen und Ver­ant­wor­tung. Da­ge­gen sind Don Qui­jo­te und sei­ne Nach­fah­ren bis hin zu den Ro­man­ti­kern No­ma­den.

Ein Gut­teil der Ro­ma­ne Pe­ter Hand­kes sind Rei­se­ro­ma­ne. Der kur­ze Brief zum lan­gen Ab­schied so­wie­so, ein Ame­ri­ka­ro­man, wie Lang­sa­me Heim­kehr, wo der Weg in die um­ge­kehr­te Rich­tung führt. Spä­ter die Hei­mat Nie­mands­bucht, wo der Er­zäh­ler sie­ben Rei­se­be­rich­te von Freun­den emp­fängt: mul­ti­ple road no­vel. Aber auch spä­te Wer­ke wie Die Obst­die­bin.

Oder Ro­ber­to Bo­la­ños Wil­de De­tek­ti­ve, wo die me­xi­ka­ni­sche Rei­se im ame­ri­ka­ni­schen Stra­ßen­kreu­zer als Quest der jun­gen Dich­ter und Le­bens­künst­ler an­ge­legt ist.

(Ne­ben­bei be­merkt: Ad­ven­ture-Vi­deo­ga­mes fol­gen fast im­mer dem mit­tel­al­ter­li­chen Sche­ma der Quest. Er­zähl­tech­nisch al­so nichts Neu­es. Nur me­di­en­tech­nisch. Ei­ne Quest, was oder wen im­mer du auch suchst, macht je­de Ge­schich­te span­nend. Amen!)

Wie­der­lek­tü­ren ste­hen ei­nem al­ten Mann bes­ser an als Neulek­tü­ren. War­um? Weil vom Neu­en bei ihm nicht viel hän­gen bleibt; weil es ihn nicht tief be­rührt und je­den­falls sei­ne Per­sön­lich­keit nicht mehr prä­gen kann. Von neu­en Bü­chern, die ich jetzt le­se, mer­ke ich mir bei wei­tem nicht so viel wie von Bü­chern, die ich als 15‑, 20- oder 30jähriger las. Die jet­zi­gen Lek­tü­ren sen­ken sich nicht in die Tie­fe mei­nes We­sens. Klingt pa­the­tisch, ist aber ein­fach so. Der­zeit le­se ich Wil­helm Mei­sters Lehr­jah­re wie­der, und par­al­lel da­zu Tor­qua­to Tas­so (kein Ro­man, son­dern ein sehr klas­si­sches Dra­ma). Da den­ke ich ein ums an­de­re Mal: Aha, ge­nau, so ist er, die­ser Wil­helm, die­ser Tas­so! Ich ken­ne sie, mei­ne Pap­pen­hei­mer. Dann wie­der Er­in­ne­rungs­blit­ze: Ach, das hat­te ich ganz ver­ges­sen! Ich se­he man­che Fi­gu­ren, Si­tua­tio­nen, ge­dank­li­chen Im­pli­ka­tio­nen neu, auch das kommt vor. Ei­ni­ges hat­te ich viel­leicht vor vier­zig Jah­ren nicht be­grif­fen. Aber ins­ge­samt hat­te ich viel, viel mehr be­grif­fen, als ich jetzt bei ei­ner Erst­lek­tü­re be­grei­fe. Mein Ge­hirn ist nicht mehr das, was es war. In man­cher Hin­sicht ist es jetzt viel­leicht so­gar bes­ser: kon­nek­ti­ver, manch­mal auch schnel­ler, weil ge­schult. In an­de­rer Hin­sicht ist es schwä­cher, trä­ger: be­gei­ste­rungs­trä­ge.

Tas­so hat mich dar­an er­in­nert, daß ich in mei­ner Stu­den­ten­zeit, als ich für ei­ne Ta­ges­zei­tung über ei­ne In­sze­nie­rung bei den Salz­bur­ger Fest­spie­len be­rich­ten durf­te. Goog­le sag­te mir dan­kens­wer­ter Wei­se die Da­ten: 1982, im Au­gust, vor 41 Jah­ren. Und jetzt, mit all dem ver­flos­se­nen Was­ser da­zwi­schen: Rück­kehr zu Goe­the, im­mer wie­der, die­se Rück­kehr be­rührt im­mer noch et­was, setzt so­gar Kräf­te frei, von de­nen ich nicht wuß­te.

Und ein Jahr spä­ter, 1983, Dom Ju­an von Mo­liè­re, In­sze­nie­rung von Ing­mar Berg­man. Auch Don Gio­van­ni hat mich im­mer be­glei­tet: letz­te Sta­ti­on 2022, In­sze­nie­rung in To­kyo von Asa­garoff, ei­nem durch die Salz­bur­ger Fest­spie­le ge­präg­ten Mann, Re­gie­as­si­stent bei Jean-Pierre Pon­nel­le. Und jetzt ha­be ich sei­nen Don Gio­van­ni, der durch­aus an Pon­nel­les Zau­ber­flö­te er­in­nert, mit mei­ner 16jährigen Toch­ter wie­der­ge­se­hen und da­bei ver­sucht, so­weit mir das eben mög­lich ist, mit ih­ren jun­gen Au­gen zu se­hen.

Das Ge­sag­te na­tür­lich eben­so für die Pop- und Folk- und Rock­mu­sik, mit der ich auf­ge­wach­sen bin. Im­mer wie­der mal ha­be ich in spä­te­ren Jah­ren ver­sucht, mich mit ak­tu­el­ler Mu­sik die­ser Art an­zu­freun­den, bis mir auf­ging, daß das Un­ter­fan­gen lä­cher­lich war. Die Mu­sik, die du als 15jähriger hörst, prägt dich, das kann gar nicht an­ders sein. Und wenn es noch so ein Schmar­ren ist… (Ich schmei­che­le mir mit der Über­zeu­gung, daß ich so­fort und oh­ne Leh­rer die »rich­ti­ge« Mu­sik, die »rich­ti­ge« Li­te­ra­tur er­kannt ha­be.1 ) Spä­ter ist es zu spät – ab wann, will ich hier nicht dis­ku­tie­ren, aber ir­gend­wann… Was du spä­ter hörst oder liest, »ge­fällt« dir wo­mög­lich, doch es wird nicht Teil dei­nes Le­bens. Wo­bei ich hier ganz rasch hin­zu­fü­gen muß: Die Tex­te die­ser Songs und oft auch die Mu­sik wa­ren schon von ganz an­de­rer Qua­li­tät als z. B. die ei­ner Tay­lor Swift (die ich gar nicht so übel fin­de, aber für den No­bel­preis wird es nicht rei­chen). Bob Dy­lan, Leo­nard Co­hen – ich nen­ne nur die­se zwei. Au­then­ti­sche Dich­ter. Co­hen hat­te ja als sol­cher be­gon­nen und sich we­gen Er­folg­lo­sig­keit – im Grun­de ge­nom­men das Schick­sal der wah­ren Dich­ter, der poè­tes mau­dits al­ler Zei­ten – der po­pu­lä­ren Mu­sik zu­ge­wandt.

Wil­helm Mei­sters Lehr­jah­re hat noch viel vom Ba­rock­ro­man, mit all den Ver­wick­lun­gen und Ver­wechs­lun­gen, Um­ständ­lich­kei­ten, Heim­lich­kei­ten und spä­ten Auf­lö­sun­gen. Die Kon­struk­ti­on – »Ar­chi­tek­tur« – ist kühn und et­was wind­schief, die zeit­li­chen Ver­hält­nis­se und Ab­läu­fe sind oft nicht nach­voll­zieh­bar. Dem Ge­fühl nach ver­geht we­nig Zeit: Fe­lix, Wil­helms Sohn, ist im­mer noch ein Kna­be, sein Va­ter ein Grün­schna­bel, doch Wer­ner, Wil­helms Ju­gend­freund, hat Kin­der, die er bald dem Ar­beits­le­ben zu­zu­füh­ren ge­denkt, wäh­rend er selbst wie ein ver­brauch­ter al­ter Mann aus­sieht (Wil­helm nicht, er ist kaum erst ge­reift und ge­kräf­tigt). Mi­gnon müß­te im ach­ten (und letz­ten) Buch des Ro­mans ei­gent­lich schon er­wach­sen sein.

Lo­tha­rio, der an­geb­lich so gu­te, vor­bild­li­che Mann, Mit­glied der Turm­ge­sell­schaft, ver­führt all die­se Frau­en oder, noch lie­ber, läßt sich gön­ner­haft von ih­nen ver­füh­ren. Wie es scheint, hat er je­de sich da­zu bie­ten­de Ge­le­gen­heit ge­nützt. Hier die Li­ste (auf 1003 kommt er zwar nicht): Au­re­lie, Ly­die, The­re­se und The­re­ses Mut­ter (da war Lo­tha­rio wohl gut zehn Jah­re jün­ger als die Frau), da­zu au­ßer­dem die un­ge­nannt blei­ben­de Toch­ter ei­nes Päch­ters. Ly­die hat ihn be­zirzt, den Ar­men. Aus »Langer­wei­le«, wie es heißt, gibt er nach. Al­le bis auf ei­ne sind Schau­spie­le­rin­nen. Die Män­ner »sind nun mal so«, die­se Auf­fas­sung spricht aus Goe­thes Er­zähl­hal­tung. Ei­ne Fra­ge stellt sich mir in­des­sen: War­um, wenn er doch so fort­schritt­lich war (für sei­ne Zeit), hat Lo­tha­rio es nicht ge­wagt, die Toch­ter sei­ner ehe­ma­li­gen Ge­lieb­ten zu ehe­li­chen? Das wä­re doch ein be­son­de­rer Kit­zel ge­we­sen. Kommt aber in der Er­zäh­lung über­haupt nicht in Fra­ge.

Das Haus der ed­len Na­ta­lie, sei­ner Schwe­ster, er­in­nert an das von Ba­ron Ri­sach in Stif­ters Nach­som­mer, es ist das »ernst­haf­te­ste«, Wil­helm nennt es »hei­lig«. Mit all den Sta­tu­en, dem Mar­mor, sei­ner Ein­rich­tung, den Kunst­ge­gen­stän­den, der Bi­blio­thek, der Na­tu­ra­li­en­samm­lung und dem phy­si­ka­li­schen Ka­bi­nett, mit sei­ner voll­kom­men aus­ge­wo­ge­nen Ord­nung ist es ein Tem­pel von Ver­nunft und Auf­klä­rung wie auch von klas­si­zi­sti­scher Äs­the­tik. Frü­her das Haus des Oheims, von dem zum er­sten Mal in den Be­kennt­nis­sen ei­ner schö­nen See­le die Re­de ist.

Auch das Wirt­schaf­ten, das Bei­spiel­ge­ben, das er­zie­he­ri­sche Wir­ken durch die Tat, bei Stif­ter wie bei Goe­the. Ri­sach, Bri­git­ta… Auf­klä­rung fo­re­ver, durch die Zei­ten hin­durch.

Bil­dung für al­le, für Wil­helm ge­nau­so wie für die Jun­gen und Mäd­chen aus ein­fa­chen Ver­hält­nis­sen. Er­zie­hungs­an­stal­ten noch und noch. In Wil­helm Mei­sters Wan­der­jah­re wird die­ser Aspekt aus­ge­walzt, der Ro­man als Ro­man schwer ge­nieß­bar. Wil­helm selbst ist jetzt ein Er­zie­her. Lehr­jah­re: Vom Er­zo­ge­nen zum Er­zie­her. In den Lehr­jah­ren wird noch al­les re­la­ti­viert, stel­len­wei­se auch iro­ni­siert. »Ich fürch­te, er [= der wun­der­li­che Fried­rich, Bru­der von Na­ta­lie und Lo­tha­rio] wird das Op­fer die­ser päd­ago­gi­schen Ver­su­che [der Turm­ge­sell­schaft] wer­den«, heißt es da.

Dem Mann kann man »je­de klei­ne Phan­ta­sie nach­se­hen« (The­re­se, die ver­ächt­lich von Ly­die spricht und ih­re Mut­ter, die­se scham­lo­se He­tä­re, ganz of­fen ver­ach­tet). Schuld sind im­mer die Frau­en, wenn es Trou­bles gibt. Da ist Goe­the ein Kind sei­ner Zeit.

Dick auf­ge­tra­gen: Mi­gnon (ihr Al­ter ken­nen wir nicht, aber wir ler­nen sie, so­viel ist si­cher, als Kind ken­nen) und ih­re Ne­ben­buh­le­rin (Phi­li­ne) wol­len gleich­zei­tig zu Wil­helm ins Bett, der ge­ra­de zum er­sten Mal den Ham­let ge­ge­ben hat. Mi­gnon, ei­ne »halb­ent­wickel­te Na­tur«, mit den Wor­ten des Arz­tes. Al­so viel­leicht am An­fang der Pu­ber­tät. Flos­keln wie »dunk­le Be­gier­de«.

Mar­gue­ri­te Du­ras, in La vie ma­té­ri­el­le die Häus­lich­keit rüh­mend, ähn­lich The­re­se in Wil­helm Mei­sters Lehr­jah­re. Öko­no­misch, ja, der Haus­halt als Grund­mo­dell des Wirt­schaf­tens. Aber nicht fe­mi­ni­stisch.

Viel­leicht soll­te ich nicht ver­schwei­gen, daß ich in den letz­ten Jah­ren selbst an ei­nem ris­kan­ten, kom­ple­xen und um­fang­rei­chen, wo­mög­lich (wie­der ein­mal) schei­tern­den Ro­man ge­schrie­ben ha­be. Wahr­schein­lich ist je­der Ro­man, der die­se Be­zeich­nung ver­dient, ei­ne Qua­dra­tur des Krei­ses und folg­lich ein Kind der Un­mög­lich­keit.

Im Ta­ge­buch heu­te, am 26. 6. 2023, steht zu le­sen: »Der Ro­man be­wegt sich dem En­de zu, al­le Fä­den fin­den zu­ein­an­der, ver­bin­den sich noch ein­mal, ver­dich­ten un­merk­lich das Ge­we­be. Frü­he Mo­ti­ve stel­len sich ein, Ele­men­te, die nach Ant­wort ver­lan­gen. Jetzt ist es nicht mehr schwer, sie zu ge­ben.«

In mei­nem Le­ben – im letz­ten Vier­tel, oder Fünf­tel, oder Sech­stel, Sie­ben­tel, Ach­tel . . . Hun­dert­stel – wird es auch so sein, dar­an wer­de ich mer­ken, daß es mit mir zu En­de geht, und ich wer­de ein­ver­stan­den sein kön­nen.

Hof­fent­lich täu­sche ich mich nicht. (Ich ha­be mich im­mer ge­täuscht.)

Die­ses ewi­ge »X ist nicht der Sohn / nicht die Toch­ter von Y.« Lau­ter Irr­tü­mer, Ge­heim­nis­se, Täu­schungs­ma­nö­ver. Das al­lein treibt die Hand­lung vor­an. Und der Turm­ge­sell­schaft schenkt Wil­helm stets Glau­ben, blind, er hin­ter­fragt sie nie. Wo­her wol­len die­se my­ste­riö­sen My­ste­ri­en­trä­ger denn die Her­kunft des Kin­des so si­cher wis­sen? Pa­ter in­cer­tus!

»…daß The­re­se nicht die Toch­ter ih­rer Mut­ter ist« (Lo­tha­rio): ko­mi­scher Satz!

Wil­helm Mei­sters Lehr­jah­re ist ein Sy­stem von Ge­schich­ten – von »Fremd­ge­schich­ten«, wie ich frü­her gern sag­te, wenn ich ir­gend­was Frem­des in ei­ge­ne Tex­te ein­ließ, und das tut man ja an­dau­ernd –, man­che sehr lang (die Be­kennt­nis­se ei­ner schö­nen See­le). Kei­ne blo­ße Samm­lung, aber die­ses früh­hi­sto­ri­sche Ge­schich­ten­sam­meln ist ei­ne Vor­be­rei­tung auf den eu­ro­päi­schen Ro­man. Ah, Boc­c­ac­cio! Uns spä­ter noch: Goe­thes Un­ter­hal­tun­gen deut­scher Aus­ge­wan­der­ten. Und, wenn ich mich hier ein­mal selbst zi­tie­ren darf: Ein Fisch geht an Land. Kennt nie­mand, ein längst ver­schol­le­ner Ge­schich­ten-Ro­man.

Rich­tig: der Ro­man als Sy­stem von Ge­schich­ten, in dickem Plu­ral, oder aber: ein Sy­stem von Ver­sio­nen ei­ner ein­zi­gen Ge­schich­te, von Sicht­wei­sen, viel­leicht auch Mut­ma­ßun­gen, oder Lü­gen, An­deu­tun­gen, Ver­zer­run­gen, wo­bei die »ob­jek­ti­ve« Ge­schich­te nie dar­ge­stellt wird, gar nicht dar­ge­stellt wer­den kann, in den Ver­sio­nen aber gleich mehr­mals er­zählt wird. Ry­u­no­s­uke Aku­tag­awa hat auch so ge­ar­bei­tet. Will sa­gen, er hat sehr de­zi­diert und kon­zen­triert mit die­ser ge­bün­del­ten Plu­ra­li­tät ge­ar­bei­tet. Oder Hi­ro­katsu Ko­ree­da in sei­nem neu­en Film, Kai­butsu (»Die Un­schuld«, wört­lich über­setzt: »Mon­ster«).

Ir­gend­wie ha­be ich nach der Lek­tü­re des ach­ten Buchs von Wil­helm Mei­sters Lehr­jah­re das Ge­fühl, daß Goe­the der Ro­man am En­de aus dem Ru­der ge­lau­fen ist. Eben­des­halb will er noch ein­mal al­le Strän­ge recht­fer­ti­gen und be­grün­den. Und die Turm­ge­sell­schaft geht nicht nur Wil­helm, son­dern viel­leicht auch ihm (Goe­the) selbst zu­letzt – a esta alt­u­ra del part­ido – auf die Ner­ven. Aber ei­gent­lich schön, daß die­ses »Mei­ster­werk«, von Fried­rich Schle­gel so­gar als ein­zig­ar­ti­ges Wun­der­werk über den grü­nen Klee ge­lobt, an­greif­bar ist, al­les an­de­re als per­fekt. Über­haupt Goe­the… Er wird mir lang­sam zum Bru­der, wie Hand­ke, wie Kaf­ka. Die Stüm­per und Stol­pe­rer. Trotz­dem per­fekt.

Ei­ni­ges von Goe­thes Schrif­ten mit der Fra­ge im Hin­ter­kopf (wieder)gelesen, wo denn da das Ich des al­ten Mei­sters stecke. Ant­wort, nach die­sen Lek­tü­ren: Goe­the schrieb eher, um sein Ich zu dis­si­mu­lie­ren, als um es zu zei­gen. Zu die­ser ethisch-äs­the­ti­schen Pro­ble­ma­tik cf. Ex­hi­bi­tio­nis­mus und Scham, dia­lek­ti­sche Ab­hand­lung von L. Fe­der­mair, in: Das ro­te So­fa. Ge­schich­ten von Schan­de und Scham, er­schie­nen vor zir­ka zehn Jah­ren.

Die Prä­ten­ti­on der Ro­man­ciers, die gan­ze Welt im Ro­man ein­zu­fan­gen; die Mensch­heit als sol­che, die gan­ze mensch­li­che Ko­mö­die, die na­tür­lich eben­so und noch mehr ei­ne Tra­gö­die ist. Da sind mir die be­schei­de­nen, klei­nen Ro­ma­ne ei­nes Ei­chen­dorff oder Mo­dia­no dann doch lie­ber. Da weiß man von vorn­her­ein, daß es im­mer nur bei Frag­men­ten und Rät­seln blei­ben kann. ALLES zu »durch­leuch­ten« – die Psy­che! – ist ver­zwei­felt un­mög­lich. Und locker un­nö­tig.

Ist nicht auch der »klei­ne« Hand­ke über­zeu­gen­der als der »gro­ße«? Kur­zer Brief und Wunsch­lo­ses Un­glück vs. Bild­ver­lust und Obst­die­bin?

Man ver­irrt und ver­liert sich mit die­sen un­zäh­li­gen Fi­gu­ren, die ei­nen Ro­man wie Krieg und Frie­den be­völ­kern; Fi­gu­ren, die ei­nen dann so­wie­so kalt und gleich­gül­tig las­sen, wenn man sich ih­nen zu wid­men ver­sucht. Die­se dau­ern­den, su­per­scharf ge­mei­ßel­ten Por­träts, eins nach dem an­de­ren, auch das ist doch ei­ne Ma­schi­ne­rie. Die gro­ße Ro­man­ma­schi­ne­rie. Der so­ge­nann­te Groß­ro­man! Man spa­ziert nicht durch die Ka­pi­tel wie noch an der Sei­te von Wil­helm Mei­ster durch den Ro­man, der nichts als den Na­men un­se­res Freun­des trägt. In sol­chen Ge­fil­den konn­te man sich frei­er be­we­gen, die Lek­tü­re war ein Spa­zier­gang, an­da­re a spasso, man wand­te den Kopf auf dem Weg mal hier­hin mal dort­hin, oh­ne An­spruch, ALLES zu er­fas­sen.

»Er­zäh­len hilft«, le­se ich in ei­nem Ro­man von Sa­bi­ne Gru­ber. Ge­meint ist hier: Er­zäh­len hilft bei der Trau­er­ar­beit, bei der lang­sa­men Lö­sung aus der Er­star­rung nach dem Tod ei­nes ge­lieb­ten Men­schen.

Der Satz kann als Le­bens­for­mel über­haupt gel­ten. Er­zäh­len hilft.

Ne­ga­tiv ge­wen­det: Wenn nicht mehr er­zählt wird, gibt es ei­ne Hil­fe mehr.

Für wen?

Für uns. Er­zäh­len hilft, weil es eint.

→ Wel­ten und Zei­ten XIV

© Leo­pold Fe­der­mair


  1. Einmal durften wir im Gymnasium in der Musikstunde die Musik mitbringen, die uns gefiel. Die Musiklehrerin empfand das als pädagogische Kühnheit. Als ich einen Song von Leonard Cohen spielte, hob sie den Blick wortlos zur Zimmerdecke. Und doch hatte ich recht. 

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  1. Ein Ro­man von Dir!

    Vor zwei Ta­gen hat­te ich mei­nen 1984 Ar­ti­kel (Deut­sche Vier­tel­jahrs­schrift) in der Hand: “Des Mau­rers Wan­deln / Es gleicht dem Le­ben”: The Free­ma­so­nic Ri­tu­al Rou­te in “Wil­helm Mei­sters Wan­der­jah­re.”

    The rem­nants of Free­ma­son­ry we see in the no­vel — pri­ma­ri­ly the in­itia­to­ry rou­te the Ma­sons use — gi­ve us cau­se to ex­ami­ne clo­se­ly the rou­tes to and th­rough the va­rious re­gi­ons Wil­helm vi­sits. Far from en­ga­ging in esoteric/hermetic games, Goe­the he­re rai­ses the Hand­werk to art. He builds on the foun­da­ti­on of Free­ma­son­ry a buil­ding who­se suc­ce­s­si­ve rooms fi­gu­ra­tively teach Wil­helm and the rea­der Goethe’s sen­se of the mea­ning of life.

    Die Wan­der­jah­re sind nun an­ge­tre­ten / Und je­der Schritt des Wand­rers ist be­denk­lich. (Ge­dicht am An­fang der 1821 Aus­ga­be).

    Dei­ne Ge­dan­ken hier ha­be ich ge­nos­sen. Herz­li­chen Dank

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