Wenn und Aber

Ein kur­zer Rück­blick auf »2001: Odys­see im Welt­raum«

Ge­stern1 zum er­sten Mal »Odys­see 2001« von Stan­ley Ku­brick ge­se­hen, als Vi­deo und mit fünf­zig Jah­ren Ver­spä­tung ge­wis­ser­ma­ßen; sei­ner­zeit hat­te mich »Bar­ry Lyn­don« tief be­ein­druckt, der Ein­druck ist bis heu­te ge­blie­ben.

Die­se aben­teu­er­li­che Rei­se zum Mond und wei­ter zum Ju­pi­ter ist ei­gent­lich ein Kam­mer­stück: we­ni­ge Men­schen, die Räu­me im All und in den recht ge­räu­mi­gen Raum­schif­fen fast leer, ob­wohl der Mond in die­sem Jahr 2001 schon ei­ne Men­schen­ko­lo­nie zu be­her­ber­gen scheint. Die gan­ze zwei­te Hälf­te (oder län­ger) sind da nur zwei Fi­gu­ren, bzw. drei, zwei Men­schen und ein Com­pu­ter, am En­de nur noch ei­ner, der sich ver­wir­rend ver­viel­facht.

Stam­mes­ge­schich­te und In­di­vi­du­al­ge­schich­te; An­fang und En­de und Neu­an­fang. Zeit­ko­lo­rit: die psy­che­de­li­sche Rei­se, ein LSD-Trip, künst­li­che Far­ben, die in ra­sen­den Wel­len auf dich zu­ge­schos­sen kom­men. Das Au­ge ist, was es sieht.

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  1. Den Beitrag erhielt ich vor einigen Tagen zugeschickt. - G. K. 

By­ung-Chul Han: Vom Ver­schwin­den der Ri­tua­le

Byung-Chul Han: Vom Verschwinden der Rituale
By­ung-Chul Han:
Vom Ver­schwin­den der Ri­tua­le

Im sehr kur­zen Vor­wort zu sei­nem Buch über das Ver­schwin­den der Ri­tua­le plat­ziert By­ung-Chul Han so et­was wie ei­ne Klar­stel­lung: Es gin­ge nicht dar­um, ei­ne ver­schwun­de­ne Zeit zu be­kla­gen, son­dern es wür­de »oh­ne Nostalgie…eine Ge­nea­lo­gie ih­res Ver­schwin­dens skiz­ziert.«

Das Buch hat nicht ein­mal 130 Sei­ten. Aber die ha­ben es in sich. Wie ein Schmied häm­mern die im zu­wei­len auf­dring­lich da­her­kom­men­den Heid­eg­ger-Duk­tus for­mu­lier­ten Sät­ze auf den Le­ser ein, ei­nem Le­ser, der so­fort zu Glü­hen be­ginnt, ei­ne Mi­schung aus (an­fäng­li­cher) Fas­zi­na­ti­on, Neu­gier und, be­son­ders ge­gen En­de, auch Ver­stö­rung. Doch da­zu spä­ter.

Han wie­der­holt in die­sem Buch ei­ni­ge The­sen sei­ner kultur‑, zi­vi­li­sa­ti­ons- und zeit­kri­ti­schen Sicht­wei­sen und er­wei­tert sie um das Ele­ment der Ri­tua­le und Ze­re­mo­nien. Er gilt als Kri­ti­ker der mo­der­nen Kom­mu­ni­ka­ti­ons­mit­tel, die er mit Ka­pi­ta­lis­mus­kri­tik ver­knüpft. Die In­ter­net­kom­mu­ni­ka­ti­on be­herr­sche nicht nur das Mit­ein­an­der son­dern tra­ge auch noch zur Selbst­aus­beu­tung des ar­bei­ten­den Sub­jekts bei. Der bö­se Ka­pi­ta­list, der sei­ne Mit­ar­bei­ter knech­tet, hat aus­ge­dient. Heu­te be­gibt sich das In­di­vi­du­um sel­ber und frei­wil­lig in Ab­hän­gig­kei­ten. Die­se Kri­tik ist nicht neu; sie wur­de schon vor ei­ni­ger Zeit als »Ko­lo­nia­li­sie­rung der Le­bens­welt« durch die Öko­no­mie be­schrie­ben. Han nennt den Feind ein we­nig ne­bu­lös »neo­li­be­ra­les Re­gime«.

Es fol­gen durch­aus in­ter­es­san­te Ein­sich­ten, bei­spiels­wei­se über das Smart­phone, wel­ches »kein Ding im Sin­ne von Han­nah Are­ndt« sei, weil ihm »die Sel­big­keit, die das Le­ben sta­bi­li­siert« feh­le. Oder die Kom­mer­zia­li­sie­rung von Wer­ten wie Ge­rech­tig­keit, Mensch­lich­keit oder Nach­hal­tig­keit, die leid­lich »öko­no­misch aus­ge­schlach­tet« wür­den. Den Wer­be­spruch »Tee trin­kend die Welt ver­än­dern« ei­nes Fair­trade-Un­ter­neh­mens kom­men­tiert Han sar­ka­stisch: »Welt­ver­än­de­rung durch Kon­sum, das wä­re das En­de der Re­vo­lu­ti­on.« Prä­gnant die Hin­wei­se über die Emo­tio­na­li­sie­rung und »die mit ihr zu­sam­men­hän­gen­de Äs­the­ti­sie­rung der Wa­re«. Das Äs­the­ti­sche wer­de »durch das Öko­no­mi­sche ko­lo­nia­li­siert« (sic!). Auch dies ei­ne hin­läng­lich be­kann­te Kla­ge.

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Mein Häm­mer­chen

Seit sieb­zehn Jah­ren, fast so lan­ge, wie ich in Ja­pan le­be, be­sit­ze ich die­ses Sak­ko. Ich tra­ge es gern, es ist be­quem, et­was weit, schwarz oder von ei­nem sehr dunk­len Blau, bei Son­nen­licht glit­zert die Ober­flä­che manch­mal ganz leicht (kommt mir vor). Im Win­ter ist es recht warm, im Früh­ling und Herbst nicht zu warm, in Wahr­heit aber von be­schei­de­ner Qua­li­tät, fil­zig, ein we­nig aus­ge­beult, Staub und Här­chen und Fus­sel blei­ben am Stoff haf­ten, so daß ich oft dar­an her­um­zup­fe und ‑wi­sche. Ge­kauft ha­be ich es mit­ten in ei­nem der en­gen Gäß­chen ei­nes Markts ne­ben dem gro­ßen Ats­u­ta-Schrein in Na­go­ya, von ei­nem chi­ne­si­schen Händ­ler, der die Stücke in klei­ne­ren Men­gen vom Fest­land auf die In­sel brach­te. Bei Le­sun­gen und ähn­li­chen Ge­le­gen­hei­ten tra­ge ich das Sak­ko gern, weil ein Schrift­stel­ler nicht gar zu ele­gant wir­ken soll­te, ich an­de­rer­seits aber doch et­was dar­stel­len möch­te, ei­nen Ver­fas­ser von Bü­chern, ei­nen ma­ker, ei­nen poe­ta fa­ber; ei­nen, der et­was von sei­nem Hand­werk, den Wör­tern und Sät­zen, ver­steht.

Da traf es sich gut, als mir in der Al­ten Schmie­de, dem Ort in der Wie­ner In­nen­stadt, wo sich die Dich­ter und im­mer auch ein paar Hö­rer tref­fen, ei­ner der Ma­cher dort, ein Fä­den­zie­her im Hin­ter­grund, glau­be ich – so je­den­falls sieht er sich selbst –, ein klei­nes ro­tes Ding in die per­ple­xe Hand drück­te: ei­nen Ham­mer. Den konn­te, den soll­te ich an­stecken, und das tat ich, ans Re­vers mei­nes dunk­len Fa­ber-Sak­kos, das traf sich gut, da paß­te es hin, Rot auf Schwarz, rouge et noir, win­zig klein vor dem ozea­ni­schen Hin­ter­grund, dem um­hül­len­den Schwarz, ein Bluts­trop­fen, aus der Fer­ne ge­se­hen. En rouge et noir, mes lut­tes, mes fai­bles­ses…

Die Kämp­fe; Schwä­chen und Stär­ken. Der Ma­cher hat­te mit dem Au­ge ge­zwin­kert, oder zu­min­dest ver­schmitzt drein­ge­schaut. Der klei­ne Ham­mer war doch ein Sym­bol, er ver­wies auf et­was; et­was an­de­res, das er nicht selbst war, mit dem er viel­leicht in Zu­sam­men­hang stand, das er aber nicht war. Rich­tig – mir ist es erst viel spä­ter auf­ge­fal­len, beim näch­sten oder über­näch­sten Mal in der Schön­la­tern­gas­se, in der ich noch nie ei­ne schö­ne La­ter­ne ge­se­hen ha­be – rich­tig, da hing es, das Sym­bol, über den Köp­fen der Pas­san­ten, der Dich­ter und Hö­rer und Nacht­schwär­mer, da hing es, elek­tro­rot, um ein Viel­fa­ches grö­ßer als das Sym­bol­chen an mei­nem Re­vers, aber un­auf­fäl­lig im Ver­gleich zum Schlüs­sel, dem schmie­de­ei­ser­nen, ewi­gen, der da eben­falls hing, et­was prot­zig, nicht wahr? Al­so Schmie­de, Ham­mer, Werk­zeug, Mit­tel zu… Ei­ne Met­ony­mie, kei­ne Me­ta­pher.

Ab und zu wer­de ich ge­fragt, was der klei­ne Ham­mer zu be­deu­ten ha­be und war­um ich ihn tra­ge; an­de­re Ma­le se­he ich am Ge­sichts­aus­druck mei­nes Ge­gen­übers, daß es ir­ri­tiert ist, sich viel­leicht so­gar be­droht fühlt, wie ich mich vom schmie­de­ei­ser­nen Schlüs­sel be­droht fühl­te. Was hät­te ich de­nen, die sich zu fra­gen ge­trau­en, ant­wor­ten sol­len, was soll ich ih­nen sa­gen? Si­cher, das Sym­bol des Kom­mu­nis­mus, Ham­mer und Si­chel, bei­de Werk­zeu­ge zu­sam­men, ge­kreuzt, Ar­bei­ter und Bau­ern, Hu­fe für Pfer­de und Gras für Kü­he, vor­in­du­stri­el­le Sym­bo­le, wenn man’s recht be­denkt, al­so ro­man­tisch, kei­ne Angst, oder doch, Angst vor dem Un­heim­li­chen, nicht zu Durch­schau­en­den. Ei­ne Zeit­lang in mei­ner Ju­gend dach­te ich, der Kom­mu­nis­mus könn­te wirk­lich schö­ne Ver­hält­nis­se für uns al­le brin­gen, Zucker­erb­sen für je­der­mann, Bü­cher für al­le Schul­kin­der, al­so je­dem nach sei­nen Be­dürf­nis­sen, je­der nach sei­nen Fä­hig­kei­ten. Schö­ne Idea­le! Wenn man je­den tun läßt, wie er will, wird die­ser Je­der­mann, Mi­ster Ni­ne­ty-Ni­ne Per­cent, auf der fau­len Haut lie­gen blei­ben, kei­nen Ham­mer und kei­ne Si­chel an­rüh­ren, son­dern sich ei­ne Fla­sche Bier grap­schen und Fuß­ball­spie­le oder Por­nos oder Shop­ping­teaser in sein Hirn rein­zie­hen, und wer sorgt dann für die Be­dürf­nis­se bzw. die Gü­ter, die sie be­frie­di­gen. Un­mög­lich – das ha­be ich ir­gend­wann ein­ge­se­hen (nach­dem ich mich so­gar ein biß­chen »en­ga­giert« hat­te). Trotz­dem fin­de ich die Idee ei­nes sol­chen Blu­men­wie­sen­kom­mu­nis­mus im­mer noch schön und will nicht ganz von ihr las­sen. Flower Power! Viel­leicht ist das ja ein Grund, ei­ner der Grün­de, war­um ich das klei­ne ro­te Häm­mer­chen am Re­vers tra­ge: ei­ne hal­be Hoff­nung. Und der Grund, war­um der Ma­cher von der Al­ten Schmie­de die Din­ger in der Rock­ta­sche bei sich trägt, um ge­ge­be­nen­falls eins in ei­ne war­me Hand­flä­che glei­ten zu las­sen. Aber der meint das doch an­ders, kon­kre­ter, das Ro­te ist für ihn eher et­was wie der Fa­den auf dem un­end­li­chen Marsch durch die In­sti­tu­tio­nen, die­ses La­by­rinth, in dem man sich schon mal ver­ir­ren kann oder, um die Wahr­heit zu sa­gen, sich dau­ernd und dau­er­haft ver­irrt.

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Blick ins No­bel-Ar­chiv

Die teil­wei­se hef­ti­gen Dis­kus­sio­nen um die jüng­ste Ver­ga­be des Li­te­ra­tur­no­bel­prei­ses an Bob Dy­lan zei­gen, dass der Preis im­mer noch ei­ne ge­wis­se Strahl­kraft hat. An­son­sten wür­den sich die Emo­tio­nen nicht der­art hoch­schau­keln. We­nig Be­ach­tung fin­det da­bei, dass die Schwe­dische Aka­de­mie je­des Jahr ein klei­nes biss­chen ihr Ar­chiv öff­net. Mit dem je nach Tem­pe­ra­ment wohl­tu­en­den oder ob­so­let-hin­hal­ten­den Ab­stand von 50 Jah­ren wer­den die No­mi­nie­run­gen zu den No­bel­prei­sen ver­öf­fent­licht. Das Fin­den auf der Web­sei­te ist et­was kom­pli­ziert. Hat man sich aber erst ein­mal ein­ge­groovt, wird man mit in­ter­es­san­ten Er­kennt­nis­sen be­lohnt.

Der­zeit gibt es Zu­griff auf die No­mi­nie­rungs­li­sten zu den No­bel­prei­sen von 1901 bis 1965. Die Su­che kann leicht so­wohl über den Na­men als auch über das Ver­ga­be­jahr durch­geführt wer­den. Ins­ge­samt wa­ren bis da­hin 3005 No­mi­nie­run­gen für den Literaturnobel­preis ein­ge­gan­gen. 1901 la­gen 37 No­mi­nie­run­gen vor, 1965 wa­ren es be­reits 90. (Die Zahl ist in­zwi­schen deut­lich hö­her.) Ein Blick auf die Li­sten zeigt, dass ne­ben Ein­zel­vor­schlä­gen auch Sam­mel­no­mi­nie­run­gen meh­re­rer Per­sön­lich­kei­ten für ei­nen Kan­di­da­ten gab, die al­ler­dings nur ein­mal ge­zählt wur­den. Stu­diert man die Li­sten ge­nau, so gab es kei­ne Ga­ran­tie für den »Un­ter­le­ge­nen« bei ei­ner der näch­sten Preis­ver­ga­ben be­rück­sich­tigt zu wer­den.

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Die Kla­gen­furt-For­mel oder Vi­deo Kil­led the Ra­dio Star

Im Wall­stein-Ver­lag ist vor kur­zem ein Buch mit dem in­ter­es­san­ten Ti­tel »Dichter­darsteller – Fall­stu­di­en zur bio­gra­phi­schen Le­gen­de des Au­tors im 20. und 21. Jahr­hundert« er­schie­nen. Die bei­den Her­aus­ge­ber Ro­bert Leucht und Ma­gnus Wie­land stel­len zu­nächst in ei­ner Ein­lei­tung die lan­ge ver­ges­se­ne The­se der »bio­gra­phi­schen Le­gen­de« des rus­si­schen Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­lers Bo­ris To­maševskij aus dem Jahr 1923 vor. Schließ­lich gibt es Fall­stu­di­en di­ver­ser Au­toren, die die bio­gra­phi­schen Le­gen­den von Hu­go von Hof­manns­thal, Tho­mas Mann, Franz Kaf­ka, B. Tra­ven und Tho­mas Bern­hard un­ter­su­chen. Zu Pe­ter Hand­ke re­fe­riert Karl Wag­ner den »Auf­tritt« Hand­kes bei der Grup­pe 47 in Prin­ce­ton 1966 und setzt ihn in Re­la­ti­on zu an­de­ren, da­mals durch­aus üb­li­chen, weit­aus opu­len­te­ren Auf­trit­ten von Schrift­stel­lern in Kon­zert­hal­len oder Sta­di­en. Auch über Rol­len­zu­wei­sun­gen bei Dich­te­rin­nen gibt es ei­nen (sehr in­ter­es­san­ten) Bei­trag (von Eve­lyn Polt-Heinzl). Schließ­lich be­schäf­tigt sich ein Text mit Me­di­um Twit­ter und den »Ge­brauch« die­ses Me­di­ums von ame­ri­ka­ni­schen Au­toren wie vor al­lem Bret Ea­ston El­lis aber auch von Mark Z. Da­nie­lew­ski, Chuck Pa­lah­ni­uk und Lind­say Lo­han.

Die bio­gra­phi­sche Le­gen­de wird da­bei als Kon­struk­ti­on hin zum Werk in­ter­pre­tiert und als Ab­gren­zung zum em­pi­ri­schen Au­tor aber auch zur Au­toren­fi­gur im li­te­ra­ri­schen Text be­trach­tet. Sie ist so­mit ei­ne drit­te aukt­oria­le In­stanz; so­zu­sa­gen »zwi­schen« der rea­len Vi­ta des Au­tors und des­sen Werk. Sie ist vom Au­tor nur be­grenzt zu be­ein­flus­sen. In ei­nem der Auf­sät­ze im Buch wird To­maševskij da­hin­ge­hend zi­tiert, dass es im Ein­zel­fall »schwie­rig zu ent­schei­den [sei], ob die Li­te­ra­tur die­se oder je­ne Le­bens­er­schei­nung re­pro­du­ziert oder ob um­ge­kehrt die­se Le­bens­er­schei­nun­gen das Re­sul­tat des Ein­drin­gens li­te­ra­ri­scher Scha­blo­nen in das Le­ben ist«. Da­her darf, wie die Her­aus­ge­ber im Ré­su­mé des Bu­ches klar­stel­len, die bio­gra­phi­sche Le­gen­de nicht re­du­ziert wer­den auf »Po­se, Mar­ke, Image, In­sze­nie­rung oder Ha­bi­tus«. Die­se Selbst­in­sze­nie­rungs­stra­te­gien wer­den vom Au­tor (bzw. dem Ver­lag oder an­de­ren Ver­mark­tern) be­wusst ge­wählt. Da­ge­gen ver­schmel­zen in der bio­gra­phi­schen Le­gen­de bio­gra­phi­sche Aspek­te im Werk und Werk­aspek­te im Le­ben zu ei­ner neu­en äs­the­ti­schen Fi­gu­ra­ti­on.

Die bio­gra­phi­sche Le­gen­de bö­te sich an, die je­wei­li­gen li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­li­chen La­ger zu ver­söh­nen: Zum ei­nen je­ne, die ei­ne strik­te Tren­nung von Werk und Le­ben for­dern. Und zum an­de­ren je­ne, die ei­nem Bio­gra­phis­mus frö­nen und je­de Text­stel­le mit dem rea­len Le­ben des Au­tors, der Au­torin in Be­zug brin­gen.

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Wer­ner Bar­tens: Es reicht!

Werner Bartens: Es reicht!
Wer­ner Bar­tens: Es reicht!
Wer ei­ne be­lie­bi­ge Rat­ge­ber- oder Verbrau­chersendung im Fern­se­hen an­schaut kann es nicht ver­mei­den auf die ewig glei­chen, aber mit Em­pha­se vor­ge­brach­ten Er­näh­rungs- und Le­bens­mit­tel­tipps (nebst ent­spre­chen­den Koch­re­zep­ten) zu sto­ßen. Dem­nach sind wir (fast) al­le zu dick, es­sen und trin­ken zu viel und zu fet­tig bzw. voll­kom­men falsch und be­we­gen uns zu we­nig. Wenn wir wi­der Er­war­ten ein­mal al­les rich­tig ma­chen, droht den­noch im­mer wie­der neu der Ab­grund des Bö­sen. Die Nah­rungs­mit­tel­in­du­strie ist näm­lich ein Dä­mon, der uns bei­spiels­wei­se mit Zucker und Salz ab­hän­gig macht wie ein Pau­sen­hof­dea­ler, der Ju­gend­li­che zum Dro­gen­kon­sum ver­führt. Dass die Lebens­erwartung stän­dig steigt, wird ger­ne igno­riert. Wenn ra­tio­na­le Ar­gu­men­te ver­sa­gen, wird mo­ra­lisch ar­gu­men­tiert. Neu­lich wur­de in ei­nem WDR2-Ra­dio­bei­trag das kor­rek­te Hei­lig-Abend-Me­nü be­spro­chen. Auch der Hun­ger in der Welt soll sich mit der Stär­kung re­gio­na­ler Le­bens­mit­tel und be­son­ders scho­nen­dem Land­bau be­kämp­fen las­sen, was ein biss­chen an die gut­ge­mein­ten Rat­schlä­ge der Groß­mutter er­in­nert, die an die ar­men Kin­der­chen in Afri­ka er­in­ner­te, wenn man als Kind par­tout den Tel­ler nicht leer­essen moch­te.

Re­prä­sen­ta­tiv für die­se Form der Gou­ver­nan­ten­tums ist Yvonne Wil­licks vom WDR, die in ih­rer Sen­dung »Ser­vice­zeit« (ein eu­phe­mi­sti­scher Na­me, denn der ein­zi­ge Ser­vice be­steht dar­in, den Kon­su­men­ten ein schlech­tes Ge­wis­sen ob ih­res Le­bens­stils ein­zu­re­den) kei­ne Ge­le­gen­heit aus­lässt, den per se fau­len, über­ge­wich­ti­gen und – mein Gott! – fleisch­essenden Zu­schau­er auf den rech­ten Pfad zu lot­sen. Be­fragt wer­den die Be­haup­tun­gen über die ver­meint­lich rich­ti­ge Er­näh­rung längst nicht mehr (das ha­ben sie mit Re­li­gio­nen ge­mein, die sich auch nicht be­fra­gen) oder höch­stens noch in Mit­ter­nachtstalk­shows, wenn ei­ne Knall­char­ge wie Udo Poll­mer schlank­weg das Ge­gen­teil der gän­gi­gen Er­näh­rungs­dok­trin be­haup­ten darf. Be­son­ders er­hel­lend ist das auch nicht.

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Die neue Bi­got­te­rie

So­ge­nann­te Po­stings, al­so meist pseud­onym for­mu­lier­te Kom­men­ta­re von Informations­konsumenten im In­ter­net, ha­ben kei­ne Be­deu­tung, auch wenn sich die so­ge­nann­ten Po­ster, wenn sie mit ih­ren Mei­nun­gen und Ge­füh­len in die Öf­fent­lich­keit ge­hen, wich­tig vor­kom­men mö­gen. Aus die­sem Grund ist es mir ziem­lich egal, wenn ei­nes mei­ner Po­stings zen­su­riert wird. Die Zen­sur, die man in der zwei­ten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts für über­holt hielt, ein hi­sto­ri­sches Phä­no­men, ist im 21. Jahr­hun­dert wie­der­ge­kehrt. In der Re­gel wird sie au­to­ma­tisch vor­ge­nom­men, al­so von Ma­schi­nen, die den In­halt der Tex­te nicht wirk­lich ver­ste­hen kön­nen, son­dern auf Reiz­wör­ter und de­ren Kom­bi­na­tio­nen re­agie­ren.

Mei­ne Kom­men­ta­re wer­den öf­ters am öf­fent­li­chen Er­schei­nen ge­hin­dert, und in der Re­gel ver­ges­se ich den Vor­fall gleich wie­der. Neu­lich aber setz­te sich die er­lit­te­ne Zen­sur in mei­nem Kopf fest, weil sie mir viel­sa­gend schien. Es ging im so­ge­nann­ten Fo­rum, das den alt­ehr­wür­di­gen rö­mi­schen, auf die grie­chi­sche De­mo­kra­tie zu­rück­ver­wei­sen­den Na­men nicht ver­dient, um Pä­do­phi­lie, ein The­ma, das im In­ter­net kaum je mit Ver­nunft­grün­den be­spro­chen wird. Den Wort­laut mei­nes Po­stings ha­be ich nicht in Er­in­ne­rung, aber ich er­wähn­te un­ter Klar­na­men – die Ano- und Pseud­ony­mi­tät leh­ne ich für mich per­sön­lich ab – mei­ne Er­fah­rung, daß sich mei­ne klei­ne Toch­ter für mei­nen Pe­nis in­ter­es­siert. Ich bin über­zeugt, daß ähn­li­che Er­fah­run­gen die mei­sten Vä­ter ma­chen, aus­ge­nom­men die be­son­ders ver­schäm­ten, die sich ih­ren Kin­dern nie­mals nackt zei­gen. Nur die­se ei­ne Tat­sa­che ha­be ich im Po­sting kurz, oh­ne Emo­tio­na­li­sie­rung und oh­ne »schmut­zi­ge Wör­ter«, er­wähnt. Nicht ge­schrie­ben ha­be ich, daß ich ge­ge­be­nen­falls Be­rüh­run­gen mei­nes Ge­schlechts­teils durch mei­ne Toch­ter zu­las­se und daß mei­ne Emp­fin­dung da­bei am­bi­va­lent ist: zu­nächst gar nicht un­an­ge­nehm, in ei­ner zwei­ten, ver­mut­lich moral­geleiteten Re­ak­ti­on dann aber doch. Mein Kör­per re­agiert da­bei nicht so, wie er bei der Be­rüh­rung durch mei­ne Frau re­agiert. Das er­leich­tert mich grund­sätz­lich und be­stä­tigt: Ich bin nicht pä­do­phil und ha­be kei­ne Nei­gung zum In­zest. Ich bin aber auch froh, daß ich das in Er­fah­rung brin­gen konn­te – em­pi­risch über­prü­fen, wür­de ein Wis­sen­schaft­ler sa­gen. Al­les, was mich um­gibt, macht mich neu­gie­rig; neu­gie­rig wie mei­ne Toch­ter, von der ich im­mer wie­der ei­ni­ges ler­nen kann.

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Mar­tin Ge­ss­mann: Mit Nietz­sche im Sta­di­on

An­mer­kung zur Le­se­run­de:

Der Text zu Ge­ss­mann ist viel­leicht et­was lang ge­wor­den. Un­ge­dul­di­gen sei ge­sagt, dass der Pro­log »Fuß­ball und Po­li­tik« nicht zwin­gend für das Ver­ständ­nis der Äu­ße­run­gen zum Ge­ss­mann-Buch ist. Es ist viel­leicht auch ein biss­chen un­fair, noch ein zwei­tes Buch ins Spiel zu brin­gen, aber ich konn­te nicht wi­der­ste­hen. Wer möch­te, kann den Pro­log über­sprin­gen und so­fort auf Auf­tritt der Phi­lo­so­phen klicken.

Pro­log: Fuß­ball und Po­li­tik (Nor­bert Seitz)

Als bei der Fuß­ball-WM 1998 Gast­ge­ber Frank­reich Welt­mei­ster wur­de, in­iti­ier­te Da­ni­el Cohn-Ben­dit, da­mals Mo­de­ra­tor der Schwei­zer Li­te­ra­tur­sen­dung »Li­te­ra­tur­club«, ei­ne »Spe­zi­al­sen­dung«, die dann tat­säch­lich ei­nen Tag nach dem End­spiel aus­ge­strahlt wur­de. Am Ort, an dem nor­ma­ler­wei­se über li­te­ra­ri­sche Neu­erschei­nun­gen dis­ku­tiert wur­de, lud der sicht- wie hör­bar auf­ge­wühl­te Mo­de­ra­tor vier Gä­ste ein, um über Par­al­le­len zwi­schen Fuß­ball und Po­li­tik und den viel­leicht hier­aus re­sul­tie­ren­den Kon­se­quen­zen zu disku­tieren.1 Cohn-Ben­dit führ­te die Run­de ziel­ge­rich­tet in ei­ne Dis­kus­si­on um ein Buch von Nor­bert Seitz mit dem Ti­tel »Dop­pel­päs­se«. Seitz’ Buch wur­de sei­ner­zeit stark re­zi­piert Der Ti­tel ist dop­pel­deu­tig. Zum ei­nen geht um den Dop­pel­pass zwi­schen Fuß­ball und Po­li­tik (das, was man hoch­tra­bend In­ter­de­pen­den­zen nen­nen könn­te), zum an­de­ren wird auf die Mög­lich­keit der dop­pel­ten Staats­bür­ger­schaft an­ge­spielt, die En­de der 1990er Jah­ren in Deutsch­land für gro­ße Dis­kus­sio­nen sorg­te. Ver­kürzt lau­tet die The­se des Bu­ches, dass sich der Zu­stand und die po­li­ti­sche La­ge ei­ner Ge­sell­schaft (vul­go: Na­ti­on) in de­ren Fuß­ball­spiel spie­gelt (und um­ge­kehrt!).

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  1. Zu Gast waren die Historikerin Christiane Eisenberg, der Theaterregisseur und –intendant Stephan Müller, Johnny Klinke, der als "Lebenskünstler" vorgestellt wurde (er betreibt ein Varieté-Theater in Frankfurt, der Heimatstadt Cohn-Bendits) und der Schriftsteller Thomas Hürlimann