Blick ins No­bel-Ar­chiv

Die teil­wei­se hef­ti­gen Dis­kus­sio­nen um die jüng­ste Ver­ga­be des Li­te­ra­tur­no­bel­prei­ses an Bob Dy­lan zei­gen, dass der Preis im­mer noch ei­ne ge­wis­se Strahl­kraft hat. An­son­sten wür­den sich die Emo­tio­nen nicht der­art hoch­schau­keln. We­nig Be­ach­tung fin­det da­bei, dass die Schwe­dische Aka­de­mie je­des Jahr ein klei­nes biss­chen ihr Ar­chiv öff­net. Mit dem je nach Tem­pe­ra­ment wohl­tu­en­den oder ob­so­let-hin­hal­ten­den Ab­stand von 50 Jah­ren wer­den die No­mi­nie­run­gen zu den No­bel­prei­sen ver­öf­fent­licht. Das Fin­den auf der Web­sei­te ist et­was kom­pli­ziert. Hat man sich aber erst ein­mal ein­ge­groovt, wird man mit in­ter­es­san­ten Er­kennt­nis­sen be­lohnt.

Der­zeit gibt es Zu­griff auf die No­mi­nie­rungs­li­sten zu den No­bel­prei­sen von 1901 bis 1965. Die Su­che kann leicht so­wohl über den Na­men als auch über das Ver­ga­be­jahr durch­geführt wer­den. Ins­ge­samt wa­ren bis da­hin 3005 No­mi­nie­run­gen für den Literaturnobel­preis ein­ge­gan­gen. 1901 la­gen 37 No­mi­nie­run­gen vor, 1965 wa­ren es be­reits 90. (Die Zahl ist in­zwi­schen deut­lich hö­her.) Ein Blick auf die Li­sten zeigt, dass ne­ben Ein­zel­vor­schlä­gen auch Sam­mel­no­mi­nie­run­gen meh­re­rer Per­sön­lich­kei­ten für ei­nen Kan­di­da­ten gab, die al­ler­dings nur ein­mal ge­zählt wur­den. Stu­diert man die Li­sten ge­nau, so gab es kei­ne Ga­ran­tie für den »Un­ter­le­ge­nen« bei ei­ner der näch­sten Preis­ver­ga­ben be­rück­sich­tigt zu wer­den.

1902, als wo­mög­lich auf Emp­feh­lung von 18 Mit­glie­dern der »Preu­ssi­schen Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten« der Hi­sto­ri­ker Theo­dor Momm­sen den No­bel­preis be­kam, tauch­te auch zum er­sten Mal der Na­me Ger­hart Haupt­mann auf. 1906 mach­ten sich 35 deut­sche und öster­rei­chi­sche Pro­fes­so­ren für ihn stark. Ob dann 1912 die No­mi­nie­rung von Erich Schmidt den Aus­schlag gab oder ob da et­was »ab­ge­ar­bei­tet« wur­de? Drei­mal schlug Haupt­mann da­nach sel­ber vor: 1916 für Ver­ner von Hei­den­s­tam, 1919 Hu­go von Hof­manns­thal und 1924 Tho­mas Mann. Von Hei­den­s­tam, der selbst Mit­glied der Schwe­di­schen Aka­de­mie war, be­kam den Preis tat­säch­lich 1916. Tho­mas Mann erst 1929. Ein­zig Hu­go von Hof­manns­thal wur­de nicht be­rück­sich­tigt.

Das Stu­di­um der No­mi­nie­run­gen und Vor­schlä­ge zeigt: Die rei­ne An­zahl der Vor­schlä­ge spiel­te kei­ne Rol­le. Man­che Ge­win­ner wur­den so­gar nur ein Mal vor­ge­schla­gen wie bei­spiels­wei­se Wil­liam Faul­k­ner. Oder auch der Phi­lo­soph Ru­dolf Eucken 1908 (dem Va­ter des heu­te noch be­kann­te­ren Wirt­schafts­wis­sen­schaft­lers Wal­ter Eucken). Er wur­de nur ein­mal vor­ge­schla­gen, Sel­ma La­ger­löf hin­ge­gen er­hielt 6 von ins­ge­samt 23 Vor­schlägen. Noch er­drücken­der wa­ren die Stim­men für La­ger­löf 1909, so dass sie dann den Preis be­kam. Um­ge­kehrt gibt es auch Dau­er­kan­di­da­ten wie et­wa der spa­ni­sche Hi­sto­ri­ker Ramón Me­nén­dez Pi­dal, der in 34 Jah­ren 149 x no­mi­niert war – aber nie den Preis er­hielt (al­ler­dings auch 6 x sel­ber vor­schla­gen durf­te). An­ders Hall­dor Lax­ness, dem 25 Nominie­rungen bin­nen sie­ben Jah­ren ge­nüg­ten.

An­dré Gi­de, der 1947 den Preis be­kam, schlug 1951 Pär La­gerk­vist vor, der auch prompt aus­ge­zeich­net wur­de (al­ler­dings schon mehr­mals Vor­schlä­ge auf sich ver­ei­nen konn­te). Gi­des und Haupt­manns Tref­fer täu­schen: Die Vor­schlä­ge der No­bel­preis­trä­ger sel­ber fan­den eher sel­ten Be­rück­sich­ti­gung. Ro­main Rollands Kan­di­da­ten gin­gen leer aus; al­lei­ne drei Mal setz­te er sich für den heu­te un­be­kann­ten Ru­dolf Ma­ria Holz­ap­fel ein und auch Sig­mund Freud be­kam den Preis nicht. Fünf Mal schlug Pearl S. Buck Kan­di­da­ten vor – stets er­folg­los. Tho­mas Mann muss­te 15 Jah­re war­ten bis sein Vor­schlag Her­mann Hes­se aus­ge­zeich­net wur­de. Es gibt üb­ri­gens kei­nen Hin­weis dar­auf, dass man 1946 zwi­schen Hes­se und Brecht ent­schie­den hat­te, wie es in ei­ner Le­gen­de heisst. Brecht wur­de nur ein Mal, 1956, sei­nem To­des­jahr, vor­schla­gen. Hes­se hin­ge­gen wur­de im­mer wie­der vor­geschlagen, auch in den Kriegs­jah­ren als es nicht zur Preis­ver­ga­be kam.

Fast noch in­ter­es­san­ter ist ja, wer den Preis nicht er­hal­ten hat. Dar­un­ter Klas­si­ker wie Hen­rik Ib­sen und Émi­le Zo­la (sie star­ben viel­leicht zu früh). Oder Al­fred Dö­b­lin, Ez­ra Pound, Leo Tol­stoi (zu­letzt ver­such­te man es mit dem Frei­dens­no­bel­preis) und Ja­mes Joy­ce (nicht ein ein­zi­ges Mal wur­de er vor­ge­schla­gen); die Li­ste kann fast end­los er­wei­tert wer­den. Auch Ernst Jün­ger wur­de bis 1965 5 x vor­ge­schla­gen. Und man kann si­cher sein, dass es bei den 9 Vor­schlä­gen für Max Frisch bzw. 11 für Fried­rich Dür­ren­matt nicht ge­blie­ben ist.

In den 1960er Jah­ren wur­den nur we­ni­ge deut­sche Au­toren vor­ge­schla­gen, dar­un­ter Ma­rie-Lui­se Ka­schnitz, Ina Sei­del und Ar­nold Zweig. Nur ei­ner stach mit da­mals be­reits 10 No­mi­nie­run­gen her­aus: Hein­rich Böll – dar­un­ter 1961 von Wal­ter Höl­le­rer; des­sen ein­zi­ger Vor­schlag.

Höl­le­rer blieb nicht der ein­zi­ge Deut­sche nach dem Krieg, der Vor­schlä­ge un­ter­brei­te­te. Be­son­ders häu­fig trat Fried­rich von der Ley­en in Er­schei­nung. Erich Käst­ner war
so­wohl no­mi­niert als auch Vor­schla­gen­der (da sein Na­me ge­nannt wird und nicht die Or­ga­ni­sa­ti­on [der PEN], dürf­te es sich um »pri­va­te« Vor­schlä­ge ge­han­delt ha­ben).

Man­che brauch(t)en den No­bel­preis nicht. Ir­gend­wie setz(t)en sie sich durch. Aber es gab auch Au­toren, die in ih­rer Zeit sehr be­kannt wa­ren und häu­fig vor­ge­schla­gen wur­den wie Ru­dolf Kass­ner oder Paul Ernst. Sie sind längst ver­ges­sen. Aber die­ses Schick­sal tei­len sie auch mit et­li­chen No­bel­preis­trä­gern. Und bei so man­chem Kan­di­da­ten ist es nach­träg­lich ziem­lich gut, dass sie lang­fri­stig igno­riert wur­den (et­wa hier oder hier).

Von 1962 an er­laubt die Aka­de­mie noch tie­fe­re Ein­blicke in den Ent­schei­dungs­pro­zess. Auch hier lohnt das Nach­for­schen.

4 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Liest sich span­nend, aber mir stellt sich die Fra­ge: wel­che Hür­den muss denn ei­ne No­mi­nie­rung neh­men?! Wer darf no­mi­nie­ren?!
    Ab­ge­se­hen von den For­ma­lia und der Se­riö­si­tät des Vor­schlags, kam mir die Über­le­gung, ob es nicht wo­mög­lich ei­ne »an­ony­me In­ter­es­sen­ge­mein­schaft« rund um das Kom­mi­tee, rund um den Glo­bus, ge­ben könn­te, die ge­wis­ser­ma­ßen ei­ne Se­lek­ti­on der Kan­di­da­ten nach den Re­geln der Freund­schaft (al­so der So­zi­al­psy­cho­lo­gie) be­wirkt.
    So wä­ren auch feh­len­de Vor­schlä­ge pro­mi­nen­ter Au­toren oder Über­ra­schungs­sie­ger er­klär­bar.
    »End­lich hat je­mand den Faul­k­ner vor­ge­schla­gen!«
    Ist viel­leicht ei­ne Tri­via­li­tät, die ich hier er­wä­ge, aber kann es sein, dass ne­ben der Welt­öf­fent­lich­keit, die die Preis­ver­ga­be be­ob­ach­tet auch so ei­ne Art »Lob­by« gibt, al­so li­te­ra­risch und aka­de­misch be­stens be­stall­te Leu­te, die ein we­sent­li­ches In­ter­es­se, näm­lich die »rich­ti­ge Ver­ga­be des Li­te­ra­tur-No­bel­prei­ses« ver­bin­det...
    Ich ken­ne sehr vie­le Men­schen, die sich dar­über über­haupt kei­ne Ge­dan­ken ma­chen, al­so wen in­ter­es­siert das so­zu­sa­gen schon im Vor­feld?!
    Ist das psy­cho­lo­gisch ge­se­hen, nicht ein sehr »ver­däch­ti­ges« In­ter­es­se, der Preis für je­mand an­de­ren, des­sen Aus­zeich­nung mir sehr am Her­zen liegt?!
    Ich fra­ge mich, ob mit dem Li­te­ra­tur-No­bel­preis ge­ra­de in Hin­sicht auf die No­mi­nie­run­gen der psy­cho­lo­gi­sche Be­griff der »Ob­jekt-Be­set­zung« ei­ne zen­tra­le Rol­le spielt...
    Dem­nach wä­ren hoch­no­ta­ble Per­sön­lich­kei­ten in der au­ßer­ge­wöhn­li­chen La­ge, Pre­sti­ge-Ob­jek­te me­ta-nar­ziss­tisch zu be­set­zen.
    Der wich­ti­ge Preis (Be­set­zung) für die rich­ti­ge Per­son (Al­ter-Ego)...
    Oder fehlt mir Elends-Nietz­schea­ner ein­fach nur der Glau­be an den Edel­mut der Haut-Vo­leé und de­ren prak­tisch bud­dhi­sti­sche Voll­kom­men­heit?!

  2. Es ist klar de­fi­niert, wer Vor­schlä­ge un­ter­brei­ten darf (bzw. wes­sen Vor­schlä­ge über­haupt Be­rück­sich­ti­gung fin­den) Auf der Sei­te der Aka­de­mie heisst es:

    Zi­tat
    1. Mem­bers of the Swe­dish Aca­de­my and of other aca­de­mies, in­sti­tu­ti­ons and so­cie­ties which are si­mi­lar to it in cons­truc­tion and pur­po­se;
    2. Pro­fes­sors of li­te­ra­tu­re and of lin­gu­istics at uni­ver­si­ties and uni­ver­si­ty col­leges;
    3. Pre­vious No­bel Lau­rea­tes in Li­te­ra­tu­re;
    4. Pre­si­dents of tho­se so­cie­ties of aut­hors that are re­pre­sen­ta­ti­ve of the li­te­ra­ry pro­duc­tion in their re­spec­ti­ve count­ries.
    Zi­tat En­de

    Und na­tür­lich ist es ei­ne Il­lu­si­on zu glau­ben, dass die Vor­schla­gen­den kei­ne Sym­pa­thien da­mit ver­bin­den...