My­thos und Öko­no­mie

Wie alt mag sie wohl sein? Die Zahl Hun­dert ist für uns, die wir so weit da­von ent­fernt le­ben, wie ein Tor zu ei­ner my­thi­schen Land­schaft. Et­wa so, als müß­te man, wenn man da ein­mal durch ist, nicht mehr ster­ben. Un­ter dem dün­nen ka­sta­ni­en­far­be­nen Haar der klei­nen, bucke­li­gen Frau scheint die wei­ße Kopf­haut durch. Ih­re Hän­de schie­ben ent­schlossen kon­trol­lie­rend die Wa­ren auf dem La­den­tisch zu­sam­men, wäh­rend ihr Mund das un­ver­än­der­li­che Ge­spräch mit der Ver­käu­fe­rin führt. Karg, denkt der Be­ob­ach­ter aus der rea­len Welt; ärm­lich. Din­ge, die wir nicht kau­fen, die wir nicht ein­mal se­hen im Re­gal, win­zi­ge Fläsch­chen mit Ge­sund­heits­ge­trän­ken, ei­ne ein­zel­ne, ab­ge­pack­te Ba­na­ne, die spä­ter in drei Stücke, drei Ta­ge ge­teilt wird. Drau­ßen, ne­ben der Ein­gangs­tür, hat die Hun­dert­jäh­ri­ge ihr Fahr­zeug ab­ge­stellt: Kof­fer, Thron und Rol­la­tor in ei­nem. Die Frau stellt die wei­ße Kon­bi­ni­pla­stik­tü­te auf dem Asphalt ab, klappt den Deckel (die Sitz­flä­che) hoch, holt (zau­bert) al­ler­lei Tü­cher und Beu­tel her­vor, ent­fal­tet zwei oder drei da­von, legt (zau­bert) die an­de­ren zu­rück und be­ginnt mit ra­schen, en­er­gi­schen Hand­grif­fen den Ein­kauf zu ord­nen, die Wa­ren auf zwei oder drei Beu­tel zu ver­tei­len. Wo­her die­se En­er­gie? Und was für ei­ne Art von En­er­gie? Wie mag sich das Trei­ben an­füh­len in der my­thi­schen Welt? Oder ist es nur Öko­no­mie, spar­sam­ster Um­gang mit der vor­han­de­nen En­er­gie, den Res­sour­cen? Da­bei be­steht das jetzt der Glas­front und der grel­len, scharf um­ris­se­nen, stets neu­en und al­ters­lo­sen Welt zu­ge­wand­te, zu­gleich ab­ge­wand­te Ge­sicht nur aus zwei brei­ten wei­ßen Lap­pen mit kaum ge­öff­ne­ten Seh- und Atem­schlit­zen. Der Deckel im Hand­um­dre­hen zu­ge­klappt, der Ein­kauf ist ver­teilt und ver­staut, auf den wei­ßen Lap­pen le­sen wir Zu­frie­den­heit (aber die le­sen wir hin­ein, weil wir die Aus­drucks­lo­sig­keit nicht er­tra­gen). Ab­ge­wetzt, ab­ge­ses­sen, an den Ecken ab­ge­sto­ßen und ab­ge­run­det ist das Ge­fährt der Frau, die es jetzt mit lang­sa­men und en­er­gi­schen Schrit­ten um­run­det, um es schließ­lich an der ho­ri­zon­ta­len Hal­te­stan­ge, die als Stüt­ze und Steu­er dient, zu packen. Sie rich­tet sich auf; run­det sich ab; der Buckel wölbt sich über den Thron mit dem un­sichtbaren – ich weiß nicht, ob Kö­nig, Ehe­mann, Bet­tel­mann, Nichts. Ent­schlos­sen durch­stößt die Frau die Gren­ze un­se­res Ge­sichts­felds, das sei­ne be­mes­se­ne Rea­li­tät wie­der­ge­winnt.

1 Kommentar Schreibe einen Kommentar

  1. Ich muss ein­fach nur los­wer­den, dass ich den Text sehr ger­ne ge­le­sen ha­be.
    (Es hat mich an Stu­dio Ghi­b­li-Fil­me er­inn­nert – das wan­deln­de Schloss v.a.)