Ein kurzer Rückblick auf »2001: Odyssee im Weltraum«
Gestern1 zum ersten Mal »Odyssee 2001« von Stanley Kubrick gesehen, als Video und mit fünfzig Jahren Verspätung gewissermaßen; seinerzeit hatte mich »Barry Lyndon« tief beeindruckt, der Eindruck ist bis heute geblieben.
Diese abenteuerliche Reise zum Mond und weiter zum Jupiter ist eigentlich ein Kammerstück: wenige Menschen, die Räume im All und in den recht geräumigen Raumschiffen fast leer, obwohl der Mond in diesem Jahr 2001 schon eine Menschenkolonie zu beherbergen scheint. Die ganze zweite Hälfte (oder länger) sind da nur zwei Figuren, bzw. drei, zwei Menschen und ein Computer, am Ende nur noch einer, der sich verwirrend vervielfacht.
Stammesgeschichte und Individualgeschichte; Anfang und Ende und Neuanfang. Zeitkolorit: die psychedelische Reise, ein LSD-Trip, künstliche Farben, die in rasenden Wellen auf dich zugeschossen kommen. Das Auge ist, was es sieht.
Vorweggenommen das kommende Jahrhundert, 2001, indem der Film die Tatsache zeigt und veranschaulicht, daß es selbstlernende und selbstentscheidende Maschinen bzw. Computerprogramme (neuerdings lieber »Algorithmen« genannt) gibt, die als Körper nur ein allsehendes Auge – nicht einmal Sensoren, aber die Zukunft wird HAL perfektionieren – brauchen. Die Interessen dieser intelligenten Maschinen könnten früher oder später mit den menschlichen, menschlich-partikularen oder menschheitlichen (Invididual-/Stammesgeschichte) kollidieren, so daß die Maschinen sich eines Tages, in ihrer Logik: notwendigerweise, gegen uns wenden werden, sofern sie mit einem Selbsterhaltungsbefehl ausgestattet sind (aber vielleicht genügt wirklich nur der Verfolg einer einzigen Mission, eines Grundbefehls). Was wir hier sehen und sehen werden, sind neue Formen des alten Kampfs zwischen Herr und Knecht.
Voraussetzung für das alles: daß solche intelligenten Maschinen besser sind, also leistungsfähiger und verläßlicher, als die Menschen. Bessere Rechner, bessere Autofahrer, bessere Flugzeugpiloten, bessere Schachspieler, bessere Chirurgen, bessere Müllentsorger, bessere Krankenpfleger, und zuletzt, ja: besser im Verständnis und der Befolgung der geltenden – einprogrammierten – moralischen Regeln, vielleicht sogar in der Adaptierung dieser Regeln.
Eigentlich überhaupt nicht verwunderlich. Früher waren Maschinen bessere Mähdrescher, Transporteure, Monteure usw., also den Menschen vor allem physisch überlegen, an Kraft und Geschicklichkeit, und das gilt selbstverständlich weiterhin. Wir konnten uns sagen, daß wir Menschen eben besser denken, begründen, entwerfen, beurteilen, wählen können. Inzwischen ist klar, daß der Algorithmus von Amazon oder einer anderen Internetfirma unsere eigenen Entscheidungen besser, schneller und sicherer trifft als wir es können. HAL, der sprechende Computer in »2001«, ist den Astronauten geistig überlegen, und er wird sie bis auf den letzten vernichten, wenn nicht…
Immer gibt es ein menschliches »Wenn nicht…«, ein Wenn und Aber, ein Zögern und Zweifeln, eine irrationale Intuition, einen – popsprachlich gesprochen – Schuß Romantik, und die Geschichte dreht sich in eine andere, unvorhergesehene Richtung. Am Unvorhersehbaren scheitert HAL. Wird er jedoch weiter perfektioniert, oder perfektioniert er sich selbst, gibt es in seiner Wahrnehmung, und das heißt: in seiner Macht, nichts Unvorhersehbares mehr (und die zeitgenössischen Odysseen werden langweilig). Aber so weit sind wir und Kubrick noch nicht; in seinem Film tritt die unerwartete, romantische Wendung ein, vielleicht ein wenig zu »gach«, wie man in gewissen langsamen Dialekten heute immer noch sagt. Jedenfalls sehen wir uns zusammen mit Dave, diesem letzten Menschen, ins Offene katapultiert.
Den Beitrag erhielt ich vor einigen Tagen zugeschickt. - G. K. ↩
Derzeit läuft eine vom norwegischen Schachweltmeister Magnus Carlsen intitiierte (und von Sponsoren bezahlte) Onlineturnierserie, die ich mir im Internet anschaue (das Finale beginnt m. E. am 9. August). Neben den Kommentaren zu den unmittelbaren Partien sind für mich auch die Erläuterungen der Kommentatoren von Interesse, die sich mit den »Maschinen«, d. h. den Schachcomputern auseinandersetzen. Wer will kann die Partien mit der jederzeit aktualisierten Einschätzung eines Schachprogramms sehen. Es gibt einen Balken links daneben, der je nach Analyse des Computers ausschlägt. Wenn er sich in der Mitte hält, ist die Stellung ausgeglichen; im Extremfall ist der ganze Balken schwarz oder eben weiß, je nachdem wer dann auf Gewinn steht. Einige Kommentatoren rieten den Zuschauern, ohne diese Analyse die Partien zu schauen, um sich selber besser zu schulen. Bei dem letzten Turnier wurde der Balken in der englischsprachigen Kommentierung immer aktuell angezeigt. Interessant dabei ist, dass es inzwischen eine neue Generation von Schachcomputern gibt, die Züge vorschlägt, die vom Menschen gar nicht in Erwägung gezogen werden, weil sie zu bizarr oder abseitig erscheinen. Es könnte sein, dass, wenn man einem Spieler einen solchen Zug verraten würde, dieser damit nicht gewinnen würde, weil die Rechentiefe derart weit im voraus reicht, dass der Mensch es nicht erfasst. Entsprechend kann auch der menschliche Gegenspieler nicht den »optimalen« Antwortzug finden.
Um dem Rechnung zu tragen, analysieren die Großmeister inzwischen mit diesen Maschinen und »erfinden« neue, nie vorher erwogene Züge in Eröffnungen. So wird in sehr vielen der Onlinepartien (Schnellschach, d. h. 15 Minuten pro Partie mit je 10 Sekunden Zeitgutschrift pro Zug) der Zug h2-h4 des weißen Randbauers eingeflochten. Wer darauf nicht vorbereitet ist, wird vor Problemen gestellt. Das bedeutet dann nicht, dass der Zug »richtig« war, sondern er war der, der den Gegner vor die größten Probleme gestellt hat.
Inzwischen gibt es also Schachcomputer die definitiv keine Menschen brauchen, um ihre Spielstärke zu optimieren (sie brauchen nur mehr den Programmierer). Es wird somit vermutlich irgendwann Schachturniere geben, bei denen ausschließlich Computer die Sekundanten sind. Das menschliche Schachspiel wird am Ende nicht mithalten können. Das Niveau wird ungleich höher sein, wenn zwei Computerprogramme gegeneinander spielen. Das menschliche Spiel wird zu fehlerhaft bleiben.
Deep Learnin, ja. Das muß man in seiner ganzen Tragweite sehen. Wir stehen erst am Anfang. Und sollten den intelligenten Maschinen gegenüber ein freundschaftliches Verhältnis aufbauen (wie die oben erwähnten Schachmeister), im eigenen Interesse.
Vor ungefähr 22 Jahren habe angefangen über Computerschach zu lesen. Sogar angefangen ein eigenes Schachprogramm zu schreiben – wohl nur die grafische Eingabe, keine Engine.
Nachdem Schach geknackt war, habe ich eine Zeit lang versuch Go zu lernen, aber selbst da mussten sich die stärksten Profis der Maschine kürzlich geschlagen geben. Jetzt hat meinen sechsjährigen Sohn das Schachfieber gepackt und ich bin auch dabei. Corona scheint einen regelrechten Online-Schach-Boom ausgelöst zu haben. Dass die Engines viel stärker sind muss der Spielfreude ja keinen Abbruch tun. Mittlerweile sind sie wohl einfach ständiger Begleiter, zum Trainieren – als eine Art objektive Bewertungsinstanz für Stellungen und Züge. Die machinelle Intelligenz ist nicht immer perfekt, aber es für statistisch fast nicht mehr möglich noch eine Lücke in ihrem Spiel zu finden. (Lee Sedol gelang es noch in einem Spiel der Partien gegen AlphaGo, https://en.wikipedia.org/wiki/AlphaGo_versus_Lee_Sedol, aber nach weiterem Training oder mit der zweiten Inkarnation AlphaZero dürften die heutigen Chancen für einen Menschen dagegen zu gewinnen null sein.)
So viel noch ließe sich hier diskutieren: Warum ausgerechnet diese begrenzten Spiele in unserer Kultur so sehr überhöht wurden, schon als Intelligenzgradmesser oder als fände auf den Brettern ein geistiger Kampf statt, eine Art intellektuelles Schlachtfeld (während des kalten Krieges schon nahe am Wahnsinn, s. auch Bobby Fischer, – oder auch Nabokovs grandioses »Lushins Verteidigung«) – Grund für die AI-Forscher sich darauf zu stürzen.
Was mich an diesem Mensch-Maschine-Metapherngewirr seit jeher umtreibt ist,.. warum wir die Logik der Maschine immer als so kalt und sklavisch herabwürdigen. Müssen wir dann nicht Adorno folgend einen großen Teil unseren eigenen Denkens und »Kalkulierens« als »instrumentelle Vernunft« und positivistisch diffamieren?
Das ist für mich wie so eines dieser seltsamen Kippbilder: Mal denke ich, ja, ganz klar Adorno hatte vollkommen recht. Schau doch nur, er saß damals schon an der Quelle, der Nation, die diesen unfassbaren, virtuellen Kosmos der Leiterbahnen hervorbrachte und in der üblichen Weise kommerzialisierte und bestialisierte, dass wir nun nur noch willenlose Datenwölkchen in den Fängen der FAANG sind. Schau doch das ist HAL. Und dann wieder denke ich: Nein, aber die Aufklärung, die Vernunft und Logik, den technischen Fortschritt, das kann man doch nicht alles so in den Dreck ziehen, nur weil wir intuitiv in der Maschine den Terminator sehen. Dieser instinktiven Metaphernintuition ist zu misstrauen. Kant hatte doch recht die Triebe so zu geißeln. Mehr Vernunft, mehr Aufklärung brauchen wir, nicht schale Gratis-Intuition, die dies oder jenes, als falsch oder böse gefühlt deklariert. In einen rationalen Diskurs sollten wir treten, Dinge intersubjektiv begründen können....
Und ich werde mich wohl nie gänzlich für die eine oder andere Seite entscheiden können.
Man kann Adorno ja in manchem zustimmen (Kulturindustrie, instrumentelle Vernunft, die sich ausgebreitet hat, aber nicht allgegenwärtig ist), und anderes ablehnen (Kulturpessimismus, negative Dialektik – ich persönlich lehne schon den Hegelianismus ab, so kritisch er daherkommen mag).
Man kann die »Dialektik der Aufklärung« mit Gewinn lesen, sollte dabei aber bedenken, daß Horkheimer und Adorno sie in den finstersten Stunden (1944) verfaßt haben, wobei sie den deutschen Totalitarismus mit ihren Erfahrungen in den USA kurzgeschlossen haben. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als auf Aufklärung, Vernunft und Ethik zu bestehen bzw. sie den heutigen Gegebenheiten anzupassen, auch im Umgang mit intelligenten Maschinen, die möglicherweise auch die besseren Ethiker sind, weil sie Handlungssituationen besser durchspielen, auf mehr Erfahrungsdaten zugreifen können.
Mit dem Schachcomputer gegen die Dialektik der Aufklärung, Leopold Federmair, das ist schon beachtlich!
Ein wenig ernster: Ihre Maschinen-Kontemplation wirkt auf mich eher wie eine proto-theologische Einlassung. Sie zeigt Demut, Hingabe und Bewunderung.
Die kürzeste Antwort auf die Dialektik der Aufklärung und überhaupt die Kritische Theorie stammt von Odo Marquart: Schuld sind immer die anderen... (der Kapitalismus, der Faschismus, die Kulturindustrie, die Aufklärer v o r der Kritischen Theorie, der Schlager, das Kino...die klassische Harmonielehre (die Regression des Hörens...).
Fellt mir g’rade ein: Hannah Arendt ist wird nun auch unter die Rassisten gezählt – mal sehen, wann Adornos Proto-Theorie der »Neger« einer entdeckt...
Jedenfalls wird hier am See bereits darüber öffentlich diskutiert, ob die Hannah Arendt Schule auf der Höri nicht umbenannt werden soll – auch wegen ihrer Liebesbeziehung zu Heidegger, die ihr z. B. Daniel Cohn Bendit sehr sehr ankreidet. (- Dabei war sie doch erwachsen?)
Ich schlage schon mal Oprah-Winfrey-Schule vor, als Ersatz, damit die kleinen Racker was zu lesen kriegen! – Und sehen, wie man Geld verdient! Ist doch wahr!
@Phorkyas
Das mit den Kippbildern in Bezug auf AI oder KI habe ich auch, obwohl ich nicht Ihren Kenntnis- und Wissensstand besitze. Bei Kathrin Passig habe ich mal gelesen, dass man sich um Bots, die Gedichte und Literatur schreiben, keine Sorgen machen muss, da es ja indirekt menschliche Texte sind, denn schließlich wurden die Programme ja von Menschen geschrieben.
Die »Gratis-Intuition« oder, vielleicht griffiger, die Gratis-Furcht vor allzu viel Maschinendominanz entspringt m. E. tatsächlich der Angst, dass in nicht allzu ferner Zeit die Maschinen den Menschen derart dominieren, dass sie bestimmen, was geschieht, und was nicht. Das zeigt ja HAL 9000 sehr gut und scheint implantiert zu sein in uns (bzw. in den meisten). Vielleicht bahnt sich da (Freud paraphrasierend) die vierte Kränkung der Menschheit an.
Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, aber das Projekt der Aufklärung halte ich für gescheitert. Es war eine schöne Zeiterscheinung.
@Phorkyas und andere Schach-Deuter
Diese Untersuchung zeigt, dass Schach und »intellectaul ability« nicht so sehr zusammenhängen wie man vielleicht denkt.
That study also had IQ data (see section 3.1).
Does chess need intelligence? — A study with young chess players
https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0160289606001139
Abstract:
Although it is widely acknowledged that chess is the best example of an intellectual activity among games, evidence showing the association between any kind of intellectual ability and chess skill has been remarkably sparse. One of the reasons is that most of the studies investigated only one factor (e.g., intelligence), neglecting other factors relevant for the acquisition of chess skill (e.g., amount of practice, years of experience).
Bei James Thompson gelesen auf seinem Blog Psychological Commenter.
Es ist längst eine Banalität, dass die Fähigkeit zu außergewöhnlichem Schachspiel und/oder ein IQ nichts mit Intelligenz in anderen Dingen zu tun hat.
@Gregor K.: Kathrin Passig würde ich sagen, daß Maschinen auch neue Maschinen programmieren können. An Computerprogrammen wirken Menschen allenfalls mit.
»Die vierte Kränkung der Menschheit« – das könnte tatsächlich die passende geschichtsphilosophische Formel sein.
@ Dieter Kief: Ein bißchen Hingabe an die intelligenten Maschinen – why not?
@ Leopold Fedemair – ok man kann alles kontemplieren.
Ich würde freilich vorschlagen, bei der Komtemplation die Tradition nicht aus dem Auge zu verlieren – und mich eher an Lau Dse als an Ray Kurzweil orientieren. Der Hauptunterschied zwischen den beiden ist die Maschinenkritik des Älteren.
PS
Ich meine, das sei auch Stanley Kubricks Schluss-Pointe in – seiner – Odysee.
@ Gregor Keuschnig wg. Schach und IQ
Sie fasssen die gestern von mir um 12:15 hier verlinkte Studie Studie nicht korrekt zusammen – da wird gesagt, dass Schach und IQ ein wenig disjunkt seien.
Eine andere Frage ist es, wie der IQ mit dem Leben zusammenhängt. Wenn man es so sagt, wie Sie das tun, findet man zugegebenermaßen Beispiele, die belegen, dass der IQ und der Erfolg im Leben nicht unbedingt zusammenhängen. Es gibt schlaue Leute, die scheitern. Das ist richtig.
Das ist aber etwas anderes, als zu behaupten es gebe generell keinen Zusammenhang zwischen dem IQ hie und dem Erfolg im Leben da. Diese Aussage verträgt sich freilich nicht mit den zum IQ vorliegenden Forschungen. Und dem, was ausgewissene Fachleute auf diesem Gebiet wie etwa Steven Pinker in »Das unbeschriebene Blatt« feststellen: – Dass es nämlich einen wissenschaftlich gut belegten Zusammenhang zwischen dem IQ und Erfolg im Leben gebe.
Hier ist eine Meta-Studie, die eine Vorstellung davon verschafft, wie gut das alles erforscht ist – ich verdanke sie – - – dem Blogger James Thompson (sein sehr gelehrter Blog heißt: Psychcological Commenter) -
- As summarized in this useful chart from Strenze (2015), meta-analyses of hundreds of IQ studies have demonstrated that IQ is predictive of life success across many domains.
Strenze 2015.JPG
This is the basic validating fact when it comes to IQ: the use of IQ tests can help us predict things we want to predict and to explain things we want to explain.
PS
Leider funktioniert der eingebettete link hier nicht – man kann ihn aber leicht finden wenn man bei James Thompson Psycholgical Commenter nach Strenze 2015 sucht.
Studien interessieren mich immer nur dann, wenn ich weiß, wer sie bezahlt hat.
@Leopold Federmair
Passig wurde/wird vom Feuilleton ein bisschen hochgejubelt, weil sie, was AI/KI angeht, die Einäugige unter den Blinden ist. Ihr Kernsatz in ihren Grazer Vorlesungen ist denn auch: »Aus Literatur Unfug machen, das interessierte mich damals schon.«
Die Stelle, auf die ich mich u. a. bezog: »Es wirkt eben gleich viel weniger exotisch, wenn man nicht sagt ‘hier erzählt ein Computer’, sondern ‘hier hat ein Computer viele Variationen von Textbausteinen ausgespuckt und ein Mensch hat sie auf eine ansprechende Art zusammengesetzt.’ «
Von Literatur hat sie übrigens wenig Ahnung. Subtext in ihren Ausführungen: »Da ich aber mein halbes Germanistikstudium verschlafen habe, belasse ich es bei der Andeutung, die Details kann man bestimmt irgendwo nachlesen.«
Solche Leute geben den Ton im Diskurs um Literatur und Literatur im Netz an (sie kennt tatsächlich nicht einmal Alban Nikolai Herbsts Projekt – oder sie verschweigt es aus irgendwelchen Gründen). Aber ich schweife ab.
@Gregor Keuschnig
»Studien interessieren mich immer nur dann, wenn ich weiß, wer sie bezahlt hat.«
Vermutlich die Videopsiel-Branche, um die Schach-Konkurrenz loszuwerden. Hehe.
Etwas ernster: Ignoranz finde ich dann ok, wenn sie souverän auftritt und schweigt. Kenntnisfrei mitreden finde ich nicht so gut.
Zu letzerem: Siehe Ihre Bemerkungen oben über Kathrin Passig – oder, noch einen Tick unversöhnlicher: Hans Magnus Enzensberger: Über die Ignoranz, in Mittelmaß und Wahn, Ffm 1988, S. 9 – 22
Heute geht’s zum finalen Schlagabtausch zwischen Nakamura und Carlsen. Hoffe ich kann mal reinschauen (die ruhige, spezielle Art und der melodische Akzent von Rustam Kasimjanov im Livestream sind für mich schon fast Grund genug).
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»Die vierte Kränkung der Menschheit« – das könnte tatsächlich die passende geschichtsphilosophische Formel sein.
Von den ersten drei wüsste ich mit der kopernikanischen Wende wohl nur die dritte? Was sind die anderen? Vertreibung aus dem Paradies, da fing der menschliche Hochmut doch eher an?
An der vierten frage ich mich, ob es um die Möglichkeit von machinellem Bewusstsein geht oder um unsere Sicht auf was Bewusstsein ist. Ob schon eine naturalistische, monistische Sicht, wo es keine Seele, keinen göttliche Hauch oder immatirielle Träger mehr gäbe, ob das schon genügend Kränkungspotential hätte.
@Phorkyas
Kasimjanov ist wirklich klasse!
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Nach Freud gibt es drei Kränkungen: Kopernikus, Darwin und – Freud! Größenwahnsinnig wie ich bin, erklärte ich die vierte in Anlehnung an ihn.
@ Phorkyas
Über Schach kann ich leider nicht mitreden, aber was die Kränkungen betrifft: Den Begriff hat Freud erfunden, und er ist, wie so viele bei ihm, eine Metapher, sehr stark verallgemeinernd. Worum es ihm ging: Die Selbstmächtigkeit der Menschen wurde mehrmals traumatisch erschüttert. Erstens, Kopernikus, die Erde, auf der wir leben, ist nicht im Zentrum des Alls, kosmisch gesehen sind wir so gut wie nichts. Zweitens Darwin: Der Mensch ist nur ein Tier. Drittens Freud: Das Ich hat nicht viel zu sagen, es regiert das Es. (1) Viertens Keuschnig: Der Mensch hat als Produzent, Denker, Pilot, Autofahrer, Programmentwickler etc. abgedankt, er ist generell arbeitslos, funktionslos geworden.
Der Tod Gottes ist eine Kränkung Gottes, nicht des Menschen oder der Menschen, die sich vielfach durch diese Tötung ermächtigt fühlen (»Homo Deus«, Harari). Allerdings steht dieser Vorgang mit den vier Kränkungen in engem Zusammenhang.
(1) Freud sah sich gewissermaßen am Endpunkt der Geschichte, wie Hegel vor ihm. Als Vollender, der den letzten Stein des Weisen gefunden hatte. Im Grunde ist das normal, wir befinden uns immer am Ende der Geschichte. Nur daß die Geschichte beweglich ist, kein starres Relief.
Was für ein Finale! Als hätte es ein Dramaturg geskriptet!
(Nur Rammstein zu singen hätte Kasimjanov besser sein gelassen)
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Danke für den Link. – An das »nicht mehr Herr im eigenen Hause« hätte ich mich erinnern können. Die moderne Hirnforschungsentzauberung der »Seele« oder des »Ichs« würde ich dann aber immer noch zur psychologischen Kränkung zählen.
Aber selbst wenn man die alten ideologischen, religiösen Überlegenheitsansprüche des menschlichen Geises langsam abmildert, könnte doch auch neue Bewunderung entstehen, für das was unser Körper und Gehirn leisten. Unsere kruden Zauberlehrlingsschöpfungen können sich mit denen der Natur nicht wirklich messen. Wie es im Moravec-Paradox formuliert ist: »it is comparatively easy to make computers exhibit adult level performance on intelligence tests or playing checkers, and difficult or impossible to give them the skills of a one-year-old when it comes to perception and mobility« (vgl. https://scottlocklin.wordpress.com/2020/07/29/open-problems-in-robotics/)
Die AI-Forschung hat sich immer wieder die Zähne an für trivial gehaltenen Probleme ausgebisschen. In den 1960er Jahren glaubte man, man könne innerhalb weniger Jahre machinelle Übersetzungen beliebiger Bücher anfertigen. Jeder Philologe hätte nur gelacht.
Aber das hält die Leute vom Human Brain Project nicht davon ab innerhalb von zehn Jahren das menschliche Gehirn simulieren zu wollen. Mal gespannt, mit was für einem Abschlussbericht sie sich in drei Jahren an die Öffentlichkeit trauen (https://de.wikipedia.org/wiki/Human_Brain_Project)
@ Phorkyas
D’accord was die neurologische Forschung betrifft. Die Psychoanalyse ist inzwischen ein bißchen verstaubt (auch wenn Freud ein großartiger Schriftsteller und Denker bleiben wird).
Das Moravec ist, wenn ich nicht irre, auch längst überholt. Intelligente Kinder werden nicht Herumtoben wie kleine Kinder, weil sie keinen Grund und keinen Auftrag dafür haben. Aber außerordentlich anspruchsvolle Bewegungsleistungen erbringen sehr wohl. Sie müssen nur die neuesten Mercedes-Modelle (mit all ihren Sensoren) ausprobieren oder ein modernes Passagierflugzeug fliegen (lassen) oder einen Lastwagen, der Erz aus einem Schacht holt.
Und auch bei den Übersetzungen bin ich mir mittlerweile nicht mehr sicher. Bei verwandten Sprachen sind die Ergebnisse inzwischen oft verblüffend gut, die Fortschritte gehen bei diesen Programmen sehr, sehr schnell. Nur wenn ich die Maschine aus dem Japanischen ins Deutsche übersetze lassen, kommt oft ein ziemlicher Unsinn heraus. Wird schon noch!
Die Fortschritte von Maschinellem Lernen sind beeindruckend, ja. Was vor ein paar Jahrzehnten noch unmöglich oder schwer galt, z.B. in der Objekterkennung auf einem Bild einen Hamburger zu erkennen, kann heute fast jeder Softwareentwickler selbst machen. Momentan plane ich einen Teil oder etwas Ähnliches wie das hier zu bauen: http://www.raspberryturk.com/
Mit Ihrem »intelligente Roboter würden nicht Herumtoben wie kleine Kinder, weil sie keinen Grund und keinen Auftrag dafür haben« berühren oder bestätigen Sie, meiner Meinung, aber das Moravec-Paradox: Das Spiel oder »unsupervised learning« ist den Maschinen wahrscheinlich schwerer beizubringen (ähnlich wie Calvinball – https://xkcd.com/1002/). Ein Optimierungsproblem, für das sich eine leichte Metrik finden lässt, oder eine Kostenfunktion, diese Dinge wird ein Programm schnell besser können, aber was ein Kleinkind vollbringt ist nicht immer trivial: unbekanntes Terrain erkunden und die Lage seines eigenen Körper darin zu erfassen. Ohne das dieses Ziel von vorneherein sichtbar hineinprogrammiert worden wäre (dies als Anfänge des Körperbewusstseins, für mich auch eine leicht zu übersehende wichtige Vorstufe zu den anderen wirren Bewusstseinsfunktionen) – Aber was man heute für schwer erklärt kann morgen schon gelöst sein.
Die maschinelle Übersetzung ist ja nun auch langsam da, wo sie vor 60 Jahren schon sein wollte. Beeindruckend finde ich die Liveübersetzung mit Smartphone, wo dieses in Echtzeit über einen mit der Kamera erfassten Text die (grobe) Übersetzung legt. Oder selbst mit Sprachnachrichten geht dies nun auch schon so, dass ein rudimentäres Verstehen möglich ist. – Aber wie Sie sagen an so manchem verschluckt sich die Maschine noch. Ich hatte z.B. auch mal was von Салтыко́в‑Щедри́н hineinkopiert und die Maschine war wohl doch mehr mit temporärem Russisch gespeist worden. Da kam dann einiges heraus was nicht zum Sprachregister des Originals passte.
@ Phorkyas
Hübsch, der kleine Schachroboter. Ich glaube wirklich, daß man etwas wie Zuneigung zu solchen Maschinen entwickeln kann. Und entwickeln sollte, wenn wir an die Zukunft denken. Gutes Gelingen!
Ihre Erwähnung des Moravec-Paradoxons hat bewirkt, daß ich mir die Sache noch eine Weile überlegte. Das hat natürlich mehrere oder viele Aspekte. Das Spielerische ist eine Sache, schwer rationalisierbares, ja, freiheraus irrationales Verhalten, wie sollen Maschinenprogramme sowas erfassen? Es ist nicht rechnerisch erfaßbar, was ein Kind so treibt. Scheint mir, aber vielleicht würde ein Neurologe das anders sehen und sich mit einem Programmierer zusammentun.
Meine Überlegungen gingen mehr in die Richtung »allseitige Persönlichkeit«, ein Begriff, der durch die DDR-Ideologen und-Pädagogen heillos desavouiert ist. »Vielseitige Persönlichkeit« würde auch genügen, ich glaube, daß das in einer humanistischen Pädagogik unverzichtbar ist, wenn nicht das wesentliche Ziel. Computergesteuerte intelligente Maschinen sind spezialisiert, auf ganz bestimmte Aufgaben festgelegt, die ihnen im Grunde genommen befohlen wurden. Auch Alexa ist spezialisiert, diese sprechende Maschine bereitet ja nur das im Internet verfügbare Wissen sprachlich auf und hat einige (wenige) Kompetenzen in verbaler Kommunikation. Diese Vielseitigkeit, der oft plötzliche, unvorhersehbare, auch vom menschlichen Subjekt selbst nicht immer vorhergesehene Wechsel zwischen den vielen Seiten einer Persönlichkeit, bleibt einstweilen ein menschliches Spezifikum (Tieren wahrscheinlich noch eher zugänglich als Maschinen). Und der letzte Denkschritt, daß diese Vielseitigkeit eben auch zusammengehalten wird, latent in jedem Augenblick da ist. Von wem oder was, welcher Instanz, zusammengehalten? Ich denke, dafür gab es jahrhundertlang den Begriff »Seele«.
Manchmal bin ich an die scholastischen Diskussionen erinnert, ob Tiere eine Seele haben oder nicht. Wir stellen uns diese Frage heute in Bezug auf Menschen und Maschinen.
Ihr Einwand hat auch bewirkt, dass ich mich mit der Frage wieder offener zugewandt habe. Andere korrigieren die Zeitfenster, in welchem wir eine menschenähnliche Computerintelligenz sehen könnten schon nach unten (https://www.begleitschreiben.net/der-wille-zum-nichtwissen-postskriptum/#comment-27702). Das sind alles Kristallkugelblicke, das spannende aber, dass wir es wohl noch erleben könnten.
Den alten humanistischen Bildungszielen bin ich auch sehr zugewandt. Versuche alle paar Jahre Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen wiederzulesen – da ist so viel schon vorgedacht, das reicht so tief in unsere heute, bestehende Kultur, das vielleicht langsam schwindende Bürgertum.
Mit der »Tierseele« oder der Aberkennung einer solchen weisen Sie auf einen anderen Weg der vierten Kränkung hin: die mögliche Erkenntnis, dass unser Bewusstsein in der Natur nicht so einzigartig, dass es möglicherweise im Tierreich schon kontinuierliche Vorformen und Übergänge dorthin gibt. – Gerade bei »höheren« (schon wieder diese unterschwelligen Wertungen) Säugetieren spürt man bei einer Begegnung doch deutlich die Präsenz eines anderen Wesens und selbst ohne gemeinsame Sprache ist über Körperhaltungen, Laute, Mimik doch so etwas wie Kommunikation möglich. Wir bräuchten also gar nicht uns vor den Maschinen so gruseln, sondern könnten uns schon so von dem Sockel der Einzigartigkeit stoßen.