Neu­es vom er­zäh­len­den Bio­gra­phen

Malte Herwig: Meister der Dämmerung

Mal­te Her­wig: Mei­ster der Däm­me­rung

Mal­te Her­wig er­gänzt sei­ne Bio­gra­phie Mei­ster der Däm­me­rung über Pe­ter Hand­ke um die Ge­scheh­nis­se um den Li­te­ra­tur­no­bel­preis 2019

Als Mal­te Her­wig En­de 2010 sei­ne Bio­gra­phie Mei­ster der Däm­me­rung vor­leg­te, war das Werk von Pe­ter Hand­ke zwar nicht ab­ge­schlos­sen, aber gro­ße Über­ra­schun­gen schie­nen nicht mehr zu er­war­ten. Her­wigs Bio­gra­phie, die in vie­lem Neu­es bot (be­son­ders die Brie­fe Hand­kes an sei­nen leib­li­chen Va­ter und die Er­läu­te­run­gen da­zu), gab ei­nen gu­ten Auf­riss von Vi­ta, Werk und Hand­kes Wir­ken im li­te­ra­ri­schen Be­trieb. Fast en pas­sant gab es bis­wei­len ori­gi­nel­le In­ter­pre­ta­tio­nen. Die ewi­ge wie ei­gent­lich dum­me Fra­ge, ob der Bio­graph sei­nen »Ge­gen­stand« mö­gen muss (wenn dem so wä­re, wie könn­te man Bio­gra­phien bei­spiels­wei­se von Ver­bre­chern schrei­ben), stell­te sich nicht. Her­wig ließ kei­nen Zwei­fel dar­an, dass er das Werk Hand­kes, sei­ne Li­te­ra­tur schätz­te – oh­ne da­bei die mensch­li­chen Schwä­chen des Dich­ters zu ver­schwei­gen.

Es kam dann doch an­ders als er­war­tet. Trotz ei­nes Hand­bruchs, der den Dich­ter an­dert­halb Jah­re stark be­hin­der­te, er­schie­nen seit 2010 sechs wei­te­re Er­zäh­lungs­bän­de Hand­kes, drei Thea­ter­stücke (das jüng­ste über den Tsche­chen Zdeněk Ada­mec erst vor we­ni­gen Ta­gen) und ein Jour­nal­band mit Aus­schnit­ten aus sei­nen Auf­zeich­nun­gen zwi­schen 2006 und 2015. Dies al­lei­ne wä­re aber kaum An­lass ge­we­sen, die Bio­gra­phie zu er­gän­zen. Die un­er­war­te­te Ver­ga­be des Li­te­ra­tur­no­bel­preis nebst der sich zwi­schen Ok­to­ber und De­zem­ber 2019 an­schlie­ßen­den »Dis­kus­si­on« dar­über war dann doch Ge­le­gen­heit zur Ak­tua­li­sie­rung.

Der Bio­gra­phie wur­de ein ach­tes Ka­pi­tel mit dem viel­deu­ti­gen Ti­tel Er­wähl­te nach­ge­stellt. So liegt nun im Pan­the­on Ver­lag (bei DVA war 2010 die Bio­gra­phie er­schie­nen; bei­de Ver­la­ge ge­hö­ren zu Ran­dom Hou­se) ei­ne ak­tua­li­sier­te und er­wei­ter­te Aus­ga­be vor. Ne­ben dem neu­en Ka­pi­tel kor­ri­gier­te Her­wig auch ei­ni­ge klei­ne­re Feh­ler (Ge­burts­da­ten) bzw. er­gänz­te in­zwi­schen Ge­sche­he­nes (wie Ster­be­da­ten). Hier und da wur­den ab­ge­wan­del­te For­mu­lie­run­gen für un­be­tei­lig­te Drit­te ge­fun­den. Der Te­nor der ur­sprüng­li­chen Bio­gra­phie wur­de da­durch nicht ver­än­dert; es dürf­te ei­nem ehe­ma­li­gen Le­ser kaum auf­fal­len.

Her­wig hat­te Hand­ke im Herbst 2019 nach der No­bel­preis­be­kannt­ga­be auf­ge­sucht. Er be­stä­tig­te das Ur­tei­le von Freun­den: Die Un­ter­stel­lun­gen und mit Be­lei­di­gun­gen ge­spick­ten An­wür­fe hat­ten ihn ge­trof­fen. Und dies ob­wohl Hand­ke sich im Sumpf der so­ge­nann­ten so­zia­len Me­di­en nicht tum­melt. Auf ei­ne um­fas­sen­de Dar­stel­lung der An­wür­fe ver­zich­tet Her­wig; er nennt nur die Spit­zen, die er, so­weit mög­lich, in den End­no­ten ver­steckt. Die Per­so­nen kom­men oft nicht zu ih­rem zwei­fel­haf­ten Ruhm – das kann man un­ter­schied­lich se­hen. Die An­wür­fe auf­grund ei­nes schein­bar ge­ge­be­nen Ge­sprächs mit den Ket­zer­brie­fen wird mit Hand­kes Er­klä­rung in der Süd­deut­schen Zei­tung be­ant­wor­tet.

Her­wig stellt klar, dass er die Rol­le als letz­ten Be­wah­rer Ju­go­sla­wi­en, die Hand­ke Mi­loše­vić ein­räumt, für falsch hält. Er, Hand­ke, ha­be bei der Teil­nah­me an der Be­er­di­gung Mi­loše­vić’ nicht an die Bil­der ge­dacht, die dies pro­du­zie­re. Da­mit wi­der­spricht sich der Bio­graph ein biss­chen sel­ber, weil er zu­vor be­schrie­ben hat­te, was Hand­ke zur Teil­nah­me be­wegt hat­te. Das ver­mag als na­iv, über­trie­ben oder falsch be­wer­ten. Aber im­mer noch bil­ligt Her­wig dem Dich­ter die­se Sicht­wei­se zu, sieht die An­wür­fe als »Ge­no­zid-Leug­ner« oder auch noch Schlim­me­res als nicht ge­ge­ben.

Über­ra­schend, dass Hand­ke, so Her­wig, kei­nen Hass auf die »Kri­ti­ker« ver­spü­re. Es sei der »Man­gel an Wahr­haf­tig­keit«, der ihm zu »Zorn und Wut und Ekel« trei­be. Dies ist »kein mo­ra­li­sches Ur­teil, son­dern ein äs­the­ti­sches«. Wenn Hand­kes Sprach­kri­tik auf vor­ge­stanz­te, mo­ra­linge­tränk­te Ur­tei­le trifft, die für sich die ab­so­lu­te Wahr­heit be­an­spru­chen, wird sie es schwer ha­ben, weil sie ge­nau die­se Ur­tei­le be­fragt. Dies al­lei­ne gilt schon als Blas­phe­mie.

In­so­fern war die »Cau­sa Hand­ke« in ih­ren di­ver­sen Er­re­gungs­zy­klen (1996, 1999, 2006 und 2019) die Fo­lie für je­nen Reiz­wort-Alar­mis­mus der sich in den Feuil­le­tons in­zwi­schen breit­ge­macht hat. Au­toren, die kein »ein­wand­frei­es, li­te­ra­tur­po­li­zei­lich be­glau­big­tes Füh­rungs­zeug­nis« (An­ton Thus­wald­ner) vor­zei­gen kön­nen oder un­lieb­sa­me Äu­ße­run­gen ge­tä­tigt ha­ben, sol­len mit na­he­zu je­dem Mit­tel aus dem Dis­kurs ent­fernt und als nicht mehr sa­tis­fak­ti­ons­fä­hig dis­kre­di­tiert wer­den. Aus ih­ren Wer­ken wird, wenn über­haupt, de­kon­te­xua­li­siert zi­tiert, da­mit auch das Er­geb­nis her­aus­kommt, was man möch­te. Als Suhr­kamp ei­ne »Cla­ri­fi­ca­ti­on« ge­gen die An­wür­fe ge­gen Pe­ter Hand­kes Li­te­ra­tur ver­öf­fent­lich­te, ent­blö­de­te sich ein Jour­na­list nicht, als Be­grün­dung für sei­ne Ab­leh­nung die um­fas­sen­den Zi­ta­te aus Hand­kes Wer­ken an­zu­ge­ben. Und es war ei­ne Wis­sen­schaft­le­rin, die ernst­haft ei­ne Art »be­treu­tes Le­sen« für Hand­kes Ju­go­sla­wi­en-Tex­te vor­schlug, in dem sie ei­ne di­rek­te Kom­men­tie­rung in­kri­mi­nie­ren­der Stel­len vor­schlug – die na­tür­lich in ih­rer In­ter­pre­ta­ti­on statt­fin­den dürf­te.

Zur Not schreckt man auch nicht vor de­zi­dier­ten Falsch­zi­ta­ten zu­rück. Wie bei Saša Sta­nišić zum Bei­spiel, der ein fal­sches Zi­tat von Hand­ke in sei­ner Buch­preis­re­de zum In­iti­al sei­ner Hand­ke-Be­schimp­fung ver­wen­de­te. Al­ber die Lek­tü­re der Pri­mär­tex­te Hand­kes ist nicht mehr not­wen­dig ge­wor­den. Meist macht man sich nicht ein­mal mehr die Mü­he, Zi­ta­te zu fäl­schen. Der Nek­tar für die De­nun­zia­tio­nen speist sich bei Er­doǧan, dem al­ba­ni­schen Mi­ni­ster­prä­si­den­ten bis zu den ob­sku­ren »Müt­tern von Sre­bre­ni­ca« aus Se­kun­där- bzw. Ter­ti­är­tex­ten. In den deutsch­spra­chi­gen Feuil­le­tons geht es nicht bes­ser zu. Selbst nach­dem das an­geb­li­che Hand­ke-Zi­tat ei­ner iri­schen Zei­tung als Lü­ge längst ent­tarnt wur­de (Her­wig be­rich­tet dar­über, nennt je­doch nicht die Ur­he­ber), hielt man am Hand­ke-Bas­hing fest. Was zähl­te, war der Di­stink­ti­ons­ge­winn im Be­trieb, den man hier­durch er­reich­te. Wer die Kam­pa­gnen in ei­ni­gen Me­di­en ver­folgt hat (in­iti­iert von ei­ner Hand­voll Per­so­nen, die im­mer wie­der die Trom­mel rühr­ten und dank­ba­re Ver­brei­tung fan­den), konn­te sich am En­de nicht den Ein­drucks er­weh­ren, dass Hand­kes Vor­be­hal­te ge­gen­über Jour­na­li­sten und Leit­ar­ti­keln durch­aus ih­re Be­rech­ti­gung ha­ben.

Die­se Schlüs­se zieht Her­wig nicht; er ver­sucht, den Mitt­ler (frei nach Goe­thes Wahl­ver­wandt­schaf­ten) zwi­schen Dich­tung und Jour­na­lis­mus zu ge­ben. Die Pos­se um den ju­go­sla­wi­schen Pass kom­men­tiert er mit Au­gen­zwin­kern. Er er­wähnt nicht, dass es Hand­ke war, der die vor­über­ge­hen­de Lö­schung des seit Jah­ren auf der Web­sei­te Hand­keon­line ab­ge­bil­de­ten Pas­ses (er fin­det sich auch in der Bio­gra­phie) aus­drück­lich re­vi­dier­te. Ziem­lich neu hin­ge­gen ist der Tat­be­stand, dass Hand­ke lan­ge, bis in die 1960er Jah­re hin­ein, war­ten muss­te, bis er die öster­rei­chi­sche Staats­bür­ger­schaft be­kam.

Her­wig weiß auch sonst Neu­es zu be­rich­ten. Et­wa ei­ne auf­schluss­rei­che Epi­so­de zum Stel­len­wert Hand­kes bei Mi­loše­vić. Und er er­zählt (ja, Her­wig ist im­mer noch der er­zäh­len­de Bio­graph) von ei­nem Pe­ter Hand­ke, der »Op­fer und Rä­cher zu­gleich« ist (an­hand sei­nes letz­ten Pro­sa­bands Das zwei­te Schwert). Be­ein­druckend, wie er Hand­ke als ei­nen sei­nem Schrei­ben Un­ter­wor­fe­nen cha­rak­te­ri­siert, der ei­ne Art Selbst­ex­or­zis­mus be­geht, der, so viel lässt er ver­lau­ten, in ei­ner (wo­mög­lich) letz­ten, gro­ßen Er­zäh­lung mün­det. Her­wigs An­deu­tun­gen sind das, was man in­zwi­schen als »span­nend« be­zeich­net. Ob es dem Dich­ter Recht sein wird?

Bei al­ler Un­ter­schied­lich­keit so man­cher von Her­wigs Be­wer­tun­gen: Ich glau­be, es ist un­mög­lich, sich über Hand­ke sinn­voll zu äu­ßern, oh­ne die­se Bio­gra­phie ge­le­sen zu ha­ben. Das gilt jetzt, nach der ak­tua­li­sier­ten Aus­ga­be, noch mehr.