Der Text zu Gessmann ist vielleicht etwas lang geworden. Ungeduldigen sei gesagt, dass der Prolog »Fußball und Politik« nicht zwingend für das Verständnis der Äußerungen zum Gessmann-Buch ist. Es ist vielleicht auch ein bisschen unfair, noch ein zweites Buch ins Spiel zu bringen, aber ich konnte nicht widerstehen. Wer möchte, kann den Prolog überspringen und sofort auf Auftritt der Philosophen klicken.
Prolog: Fußball und Politik (Norbert Seitz)
Als bei der Fußball-WM 1998 Gastgeber Frankreich Weltmeister wurde, initiierte Daniel Cohn-Bendit, damals Moderator der Schweizer Literatursendung »Literaturclub«, eine »Spezialsendung«, die dann tatsächlich einen Tag nach dem Endspiel ausgestrahlt wurde. Am Ort, an dem normalerweise über literarische Neuerscheinungen diskutiert wurde, lud der sicht- wie hörbar aufgewühlte Moderator vier Gäste ein, um über Parallelen zwischen Fußball und Politik und den vielleicht hieraus resultierenden Konsequenzen zu diskutieren.1 Cohn-Bendit führte die Runde zielgerichtet in eine Diskussion um ein Buch von Norbert Seitz mit dem Titel »Doppelpässe«. Seitz’ Buch wurde seinerzeit stark rezipiert Der Titel ist doppeldeutig. Zum einen geht um den Doppelpass zwischen Fußball und Politik (das, was man hochtrabend Interdependenzen nennen könnte), zum anderen wird auf die Möglichkeit der doppelten Staatsbürgerschaft angespielt, die Ende der 1990er Jahren in Deutschland für große Diskussionen sorgte. Verkürzt lautet die These des Buches, dass sich der Zustand und die politische Lage einer Gesellschaft (vulgo: Nation) in deren Fußballspiel spiegelt (und umgekehrt!).
Da wurde, so die These, 1954 der Krieg für Deutschland in Bern nachträglich gewonnen – mit einer Mannschaft, die Trainer und Tugenden aus dem Dritten Reich übernommen hatten und nun praktizierten; diesmal spielte allerdings – im Gegensatz zu Stalingrad – das Wetter mit. 1974 wurde eine deutsche Mannschaft Weltmeister, die den gesellschaftlichen Aufbruch im Geist der Zeit verkörperte. Und 1990 gab es die »Energie« der Wiedervereinigung (Cohn-Bendit), die einer schlechtspielenden, aber durch die Ereignisse selbstbewussten Mannschaft den Titel brachte – und den damaligen Teamchef Franz Beckenbauer zu der Aussage trieb, Deutschland werde nun auf unbestimmte Zeit unschlagbar bleiben (ein veritabler Trugschluss, der der Aura des »Kaisers« dann aber doch nichts anhaben konnte).
Natürlich spiel(t)en politische Einflüsse beim Fußball immer eine gewisse Rolle. Eisenberg wies auf die Stärken autoritärer und faschistischer Regime in den 1930er Jahren hin (bspw. Italien aber auch Deutschland), die alleine schon von großen finanziellen Zuwendungen profitierten. Aber Seitz geht es um mehr als nur staatliche Gelder oder einfache Wechselwirkungen. Es geht um Parallelen zwischen dem Spiel von Fußballmannschaften und der politischen Verfasstheit einer Gesellschaft.
Leidenschaftlich verteidigte Cohn-Bendit Seitz’ These und unterbrach fast immer bei Einwänden seiner Gäste. Der Titel von 1954 nur ein »Zufall« (Christiane Eisenberg)? »Quatsch!«. Als Anhänger der sogenannten Multikulti-Gesellschaft passte es ja auch 1998 zu schön: Die französische Nationalmannschaft war das Spiegelbild der Einwanderungsgesellschaft Frankreich, die sich auch entsprechend als solche stolz präsentierte, mit Schwarzen, Nordafrikanern und den »blanc«, den Weißen. Hier entstand, so Cohn-Bendit fast esoterisch, eine »Produktionskraft«, eine Energie. Die »integrative Mannschaft« reüssierte auf dem Spielfeld und machte so der Einwanderungsgesellschaft, die auch in Frankreich damals schon unter dem »Front National« politisch unter Druck stand, alle Ehre.2 Der Gegensatz dazu war die hermetische Einwanderungsgesellschaft Deutschland, die ohne Türken und EU-»Gastarbeiter« spielte und sang- und klanglos im Viertelfinale gegen Kroatien auch noch als schlechter Verlierer ausgeschieden war. Die gesellschaftliche Blockade der Bundesrepublik, verkörpert durch Kohl, spiegele sich, so Cohn-Bendit, im Spiel der deutschen Mannschaft.3 Im Angesicht des triumphalen Endspielsiegs von 3:0 gegen Brasilien verblasste ein wenig das zähe Achtelfinalspiel gegen die defensiv-destruktive Mannschaft von Paraguay, die Frankreich erst mit einem Golden Goal besiegen konnte. Aber auch solche Einwände prallten ab: So sei er eben, der Fußball! Eine tautologische Erklärung; wie so oft, wenn nichts anderes mehr hilft. Vergessen auch das zähe Ringen mit Italien im Viertelfinale, dass erst im Elfmeterschießen für Frankreich entschieden wurde.4
Obwohl die These einigen Charme habe, bezeichnete Stephan Müller Seitz damals als einen »Wahrscheinlichkeitsopportunisten«. Bei entsprechender Auslegung wird man tatsächlich sehr viele zutreffende Punkte zu Seitz finden, was jedoch voraussetzt, die nicht stimmigen Beispiele entweder als Sonderfälle anzufertigen oder zu Ausnahmen zu deklarieren. Da wird dann etwas zusammengedichtet, was nicht immer ganz zusammenpasst. So geht Seitz kaum auf die diversen Titel südamerikanischer Mannschaften (insbesondere Argentinien 1976 und 1982 – einmal Diktatur, dann Demokratie) ein, die mit dieser These nicht zu erklären ist. Und es bleibt auch unklar, warum das in den 1960er Jahren untergegangene British Empire noch 1966 den WM-Titel schaffte. Schließlich: Deutschland errang noch 1996 mit dem zwei Jahre später »abgewirtschafteten« System Vogts (Klinke) die Europameisterschaft (wenn auch glanzlos).
Was die Diskutanten 1998 natürlich nicht wissen konnten: 2000 wurde Frankreich Europameister (noch stimmt’s also). 2005 brannten dann in Paris die Vorstädte und 2010 gab es einen offenen »Putsch« in der französischen Nationalmannschaft gegen den Trainer. Der Multikulturalismus innerhalb der Mannschaft hat da nichts geholfen; vielleicht war unter dem selbstherrlichen Coach, der die Nachfolge des Meistertrainers angetreten hatte, eher das Gegenteil der Fall? Natürlich kann man hier auch Seitz »retten«: Die Unruhen innerhalb der französischen Gesellschaft sind infolge falscher Politik wieder aufgekommen, aber 2006 hatte die équipe tricolore abermals die Chance, Weltmeister zu werden und unterlag unglücklich im Zidane-Kopfstoß-Endspiel gegen Italien.5
Auch Martin Gessmann knüpft zunächst scheinbar in seinem Essayband »Mit Nietzsche im Stadion« eine Analogie zwischen Fußball und Politik, indem er die Aufgabenverteilungen in einem professionell geführten Fußballverein mit politischen Organen vergleicht. So ist für ihn ein Trainer der Verfassungsgeber, der Manager übernimmt die Rolle des Parlamentspräsidenten und der Vereinspräsident ist äquivalent zum Staatsoberhaupt. Glücklicherweise führt er diese Betrachtungen nicht weiter, sondern entdeckt in der Analyse der Spielsysteme eine konzeptionelle Verbindung zwischen Fußball und der Gesellschaft. Eine deutliche Absage erteilt Gessmann dabei Theorien, die im Fußball eine Art Kompensation für archaische Verhaltensweisen sehen. Vielleicht passiert dies ein bisschen arg kursorisch, da sich beispielsweise immer noch bellizistische Elemente bis hinein in die Sprache des Fußballs zeigen. Aber sein Buch würde mit einer ausgiebigen Demontage in dieser Hinsicht aus den Nähten geplatzt sein.Gessmann beschäftigt auch sich in seiner Strukturanalyse kaum mit den vergangenen Spielsystemen, was sich im Laufe der Lektüre als ein bisschen problematisch zeigt. Das jahrzehntelang praktizierte Spiel mit Libero hat sich (für ihn) längst erledigt. Hier erklärt er Martin Heidegger zum Kronzeugen, der in den 60er und 70er Jahren wenn möglich seinen Lieblingsspieler Franz Beckenbauer, den Libero par excellence, im Fernsehen anschaute. Der »freie Mann«, entbunden jeglicher direkter Abwehr-Verpflichtung, der aus dem Mittelfeld heraus das Spiel offensiv machen konnte – hier sah Heidegger, der in seiner Hybris geglaubt hatte, den Führer führen zu können, das Führerprinzip auf ästhetische Art und Weise verwirklicht. Aber bereits in den 1970er Jahren sei dieses hierarchische Spielsystem obsolet gewesen, so Gessmann. Die deutsche Mannschaft habe 1974 gegen die Niederlande nicht wegen sondern trotz ihres Systems die Weltmeisterschaft gewonnen. Die Niederlande habe den besseren Fußball gespielt, aber verloren. Johan Cruyff ist für Gessmann der Vorreiter des schnellen, dominanzausstrahlenden Kurzpassspiels. Dabei vergisst er, dass Cruyff damals nicht der Trainer war, sondern in der doch eigentlich »veralteten« Rolle als »Spielmacher« agierte. Der Mann dahinter, Trainer Rinus Michels, kommt bei Gessmann genau so wenig vor wie der Begriff des »totalen Fußballs«, den Michels aus der holländischen Fußballtradition fortschrieb und perfektionierte und Cruyff dann später in Barcelona modifizierte.
Der Abgesang auf die Libero-Spielweise hat sich inzwischen längst umfassend durchgesetzt, was Gessmann als synonym für die Veränderungen in der Gesellschaft sieht (hier streift er Seitz’ These). Entworfen werden nun drei aktuelle Spielsysteme, die Gessmann Philosophietheorien zuordnet und dann gesellschaftliche Entwicklungen in ihren gespiegelt sieht. Sie werden in seinem Buch nach der Einführung in je einem Kapitel ausgiebig vorstellt und analysiert.
Man kann sie wie folgt kursorisch zusammenfassen:
Liberalismus
- Vertreter: José Mourinho
- Philosophische Referenz: Thomas Hobbes
- Defensive Grundausrichtung
- Wettbewerb der Individuen innerhalb der Mannschaft
- Geringe Starbildung möglich
- Am Ende: Gesellschaftsvertrag mit Trainer als primus inter pares
- ergebnisorientiert
Republikanismus
- Vertreter: Pep Guardiola
- Philosophische Referenz: Jean-Jacques Rousseau
- Genaues, präzises Kurzpassspiel
- Die Mannschaft ist ohne Stars; alle sind gleich
- Das System steht über dem Ruhm des Spielers und des Trainers
- Torschießen fast »lästig«
Ästhetizismus
- Vertreter: Jürgen Klopp
- Philosophische Referenz: Friedrich Nietzsche
- Offensives Spiel, hohe Laufbereitschaft mit »überfallartigen« Angriffen
- Passspiel mit großer Geschwindigkeit kombiniert
- Inkaufnahme eines hohen Risikos (Konter)
- Schönheit vor Ergebnis
In den jeweiligen Kapiteln führt Gessmann den Leser an die entsprechenden philosophisch-gesellschaftlichen Grundtexte heran, die sich dann im Spielstil spiegeln und dabei die jeweiligen Befindlichkeiten bzw. Mentalitäten zeigen. Man mag die Ableitungen zum Teil sehr konstruiert finden – aber hierin liegt auch ein sympathischer Zug. Dabei ist in jedem Fall die Grundthese zu akzeptieren, dass der Fußball mehr ist als nur ein Spiel von 22 sehr oft sehr hoch bezahlten Balltretern. Das Spiel sei, so Gessmann, mitten in der Gesellschaft angekommen. Intellektuelles Naserümpfen über den einstigen Proletensport führt hier nicht weiter.
So weit, so gut. Man lernt aus diesem Buch einiges. Manchmal ist man von einer Parallele zwischen philosophisch-gesellschaftlicher These und dem entsprechendem Spielsystem verblüfft. Gessmann scheut sich auch nicht, scheinbare Widersprüche zu seinen Analogien zu erwähnen. So rekurriert er auf das ultra-permissiv[e] Spiel der Niederlande der 1970er Jahre, welches aber trotz seiner vermeintlichen Fortschrittlichkeit nicht zu einem Titel geführt habe. Etwas schnell wischt Gessmann die Überraschung durch griechischen Mannschaft, die 2004 mit Otto Rehhagels »veraltetem« System Europameister wurde, vom Tisch.
Die dritte Person
Das liberale Spielsystem mit seiner grundsätzlichen Freiheit, die jeder Spieler hier beanspruchen darf, birgt die Gefahr des Eskalationspotential[s] des Starkults. Nicht umsonst kommen die großen egomanischen Stars, die auf dem Platz für sich einen Sonderstatus beanspruchen, mit dem republikanischen System Guardiolas, das noch viel mehr auf das Kollektiv zielt, überhaupt nicht klar. Zlatan Ibrahimović, ein sogenannter »Superstar«, der um seine Qualitäten sehr genau weiß und einer der bestbezahltesten Fußballspieler der Welt, kann mit Guardiolas Spielidee nichts anfangen und bezeichnete sie als »Scheiße für Fortgeschrittene«. Diese Abneigung bleibt allerdings nicht auf das Spielsystem des katalanischen Trainers bezogen; auch menschlich kamen die beiden nicht zurecht. Das sah bei Mourinho anders aus, für ihn hätte er »töten« können.
Dennoch hat ein Star wie Ibrahimović auch im liberalen Spielsystem seine Probleme, wenn er zu sehr seine Allüren ausleben möchte. Liberalismus bedeutet nicht laissez faire. Selbst hier soll der Weg von einem Starensemble zu einem Starensemble führen. Möglich wird dies durch ein Gesellschaftsvertrag à la Hobbes: Jeder gibt sein Recht auf alles auf und damit sein Recht sich selbst zu regieren und überträgt dieses Recht auf eine dritte Person. Für Gessmann ist diese dritte Person der Trainer, jener Spieler, der als einziger nicht durch den anstehenden, gegenseitigen Rechteverzicht und Nichtangriffspakt gebunden ist. Er, der Trainer, bleibt die Ausnahme in der Allürenvermeidungsregel, er muss es vielleicht sogar bleiben, weil der Trainer ja aus einem Verfahren als Begünstigter und damit als ein ‘primus inter (vormals) pares’ hervorgegangen ist und er ursprünglich also ein gleicher unter gleichen, ein Star unter Stars gewesen sein muss.
Mourinho habe sich über Jahre hinweg als ein Meister der begrenzten Mittel und des reinen Ergebnisfußballs etabliert. Die »begrenzten Mittel« erscheinen im Angesicht der hochkarätigen Stars, die Mourinho trainiert hat und noch trainiert eher eine theoretische Formulierung. Interessant ist, dass das liberale Spielsystem praktisch systemimmanent reinen Ergebnisfußball praktizieren soll. Zwar stimmt dies ja tatsächlich – Mourinhos defensives Agieren, sein »Mauerfußball«, macht ihn bei Fans anderer Mannschaften per se schon unbeliebt. Aber warum dies ein spezifisches Kriterium in einer liberalen Spielform sein soll, leuchtet nicht ganz ein, es sei denn man argumentiert mit den stark beanspruchten physischen Ressourcen von Spielern im längst ausufernden Spielzirkus in Europa (Meisterschaft, Pokal, internationaler Wettbewerb; Nationalmannschaft), was jedoch auch kein Spezifika eines Spielsystems darstellt.
Warum Gessmann in der Beschreibung des liberalen Modells auf die Tatsache hinweist, dass die europäischen Spitzentrainer der Gegenwart zu großen Teilen eher mittelmässige bis schwache Spieler gewesen sind, ist ebenfalls nicht ganz nachvollziehbar. Zwar ist die Aussage an sich interessant und wird auch an Beispielen illustriert (alle drei Repräsentanten der Spielsysteme, zusätzlich werden erwähnt: Thomas Tuchel, Ralf Rangnick, Arsène Wenger, Arrigo Sacchi [man könnte auch Joachim Löw nennen] – im Gegensatz zu Beckenbauer, Cruyff, Berti Vogts beispielsweise). Aber warum es mit einem speziellen Spiel- bzw. Gesellschaftssystem in Verbindung gebracht wird, leuchtet nicht ganz ein.
»… dann schauen wir mal, ob wir ein Tor erzielen können«
Ausgiebig und am ausführlichsten widmet sich das Buch dem republikanischen Spielmodell. Weit holt sein Autor aus und findet etliche Parallelen zum Gesellschaftsentwurf Jean-Jacques Rousseaus. Kurz und sehr vereinfachend gesagt: Rousseaus »neuer« Gesellschaftsvertrag »verlängert« Hobbes’ Kontrakt. Die »dritte Person« des Trainers, der die »Rechte« der Spieler sozusagen koordiniert und bündelt, wird weitgehend abgeschafft zu Gunsten eines fast kollektivistischen Systems, der Mannschaft. Idealerweise wird ein »Naturzustand« erreicht, der es –Rousseau! – den Spielern gestattet, ihre Kräfte und Eignungen ohne einengende Hierarchien und ohne Entfremdungen auszuleben. Alle müssen zum Souverän über alle werden. Es gibt keine Stars mehr; ihr Gehabe wäre für das Spielsystem hinderlich und kontraproduktiv. Die Mannschaft wird zu einem einzigen »Körper«; zum Kollektiv. Die Spieler »spielen« im wörtlichen Sinne. Gessmann anthropomorphisiert das »Spielsystem«, welches die Spieler in eine Art Naturzustand versetzt. Der Trainer bleibt dann zwar doch noch, aber eben nur eine Art Vermittler; ein »Coach«.
Ballbesitz, Kurzpassspiel; jeder Pass eine Kommunikation mit dem Mitspieler. Guardiolas System ist, wie er es ausdrückt, fast simpel: »Wir haben den Ball, und jetzt wollen wir mal sehen, ob sie es schaffen, ihn uns wieder abzunehmen. Wir spielen ihn uns so oft wie möglich gegenseitig zu, und dann schauen wir mal, ob wir ein Tor erzielen können.« Das republikanische Spielsystem entfernt sich vom reinen Nützlichkeitsdenken und Ergebnisfußball. Toreschießen wird, wie Gessmann einmal etwas süffisant erklärt, fast »lästig«; es stört den kombinatorischen Spielfluss. Die Gegenspieler kommen gar nicht mehr an den Ball. Bevor sie realisiert haben, wer den Pass erhalten soll, hat der Passempfänger bereits wieder abgespielt. Ein 0–10‑0 ist das Ideal dieses Spiels, dass nach außen eine extrem hohe Ballbesitzquote zeigt. Am Ende soll die Spielweise den Spieler eingepflanzt sein; nichts darf mehr davon ablenken, was auch dazu führt, dass die Auseinandersetzung mit anderen Spielsystemen vermieden wird.
Das republikanische Spielsystem habe die Physik des Spiels vollkommen verändert, so Gessmann. Auf die dritte Dimension – das Kopfballspiel – werde fast vollständig verzichtet; Standard-Situationen (Eckbälle, Freistösse) nicht als Hereingaben für besonders großgewachsene Spieler konzipiert und in der Regel kurz geschlagen. Die »Recken« der Abwehr, die bei Standards in den Strafraum kommen um mit dem Kopf ein Tor zu erzielen, haben ausgedient. Die Raumdimension geht bei diesem Spielsystem in die Fläche. Hier werden kleinere, technisch versierte Spieler bevorzugt.
Gessmann zeigt auch, wie die menschlichen Eigenschaften und Umgangsformen der Spieler in der Jugendarbeit beispielsweise des FC Barcelona geformt werden (die Johann Cruyff übrigens begründete). Benehmen, Demut, Bescheidenheit, Teamgeist werden parallel zur fußballerischen Technik gelehrt. Spieler müssen vom Kollegen zum Kameraden werden. Es bekommt etwas sektiererisches. Alles ist langfristig angelegt; auch in den Profivereinen. Kurzfristige Spielerverträge und allzu große Fluktuationen innerhalb des Mannschaftsgefüges sind unerwünscht. Was dann allerdings streng genommen wieder gegen Rousseaus »Naturzustand« sprechen würde.
Den Ausdruck »republikanisch« für dieses Spielsystem hat Gessmann gut gewählt. Es steht im krassen Gegensatz zum »monarchischen« Spielsystem mit Libero, Führungsspieler, Stoßstürmer und »Wasserträgern«, die den anderen zuzuarbeiten haben. Interessant am Rande, dass der FC Barcelona und auch Pep Guardiola sich als Vertreter eines katalanischen Separatismus zeigen.
Wieder magische Momente
Schließlich widmet sich Gessmann dem Ästhetizismus, den er, was überrascht, mit der Kapitalisierung des Fußballs verbindet. Ganz am Ende versucht er, dies aufzuklären. Gemeint ist nicht die Kommerzialisierung des Fußballs per se mit Senderechten, Ablösesummen, Werbeeinnahmen und Spielergehältern. Den Tempo- und Risikofußball des ästhetischen Spielsystems vergleicht mit dem Hochfrequenzhandel an den Börsen – dies ist eine Analogie, mit der ich große Schwierigkeiten habe und die mir nicht schlüssig erscheint.
Kronzeuge für das ästhetische Spiel ist Jürgen Klopp und Borussia Dortmund. Die Einleitung zu dieser Betrachtung ist durchaus doppeldeutig angelegt, denn wenn Gessmann schreibt, dem Fußball drohte die Langeweile und der Verlust der magischen Momente so kann dies auch auf das Guardiola-Spiel zurückgeschlossen werden. Klopp hat nun Nietzsches Elan der Revolutionen auf das Spielfeld gebracht, zeigt Kampf-Fußball mit Bolzplatzpathos. Das nennt Gessmann Willensfußball und wer dabei nicht an Nietzsche denkt, ist dann endgültig selber schuld. Die Dialektik apollinisch und dionysisch verwendet Gessmann erstaunlicherweise nicht, könnte man doch hieran den Ergebnisfußball des liberalen Modells dem Klopp-System entgegensetzen.
Klopps energetische Aufladung des Spiels ist von den Spielern ebenso verinnerlicht wie Guardiolas »Hallenhandballspiel« vor des Gegners Strafraum. Das Gegenpressing erfolgt auf den Pass, nicht auf den Mann. Die Angriffe werden überfallartig initiiert. Kurze Pässe gibt es dabei ebenso wie lange, die allerdings sehr präzise ausgeführt werden müssen, damit durch einen Ballverlust der Gegner keinen Konter beginnen kann, da alle Spieler aufgerückt sind. In Klopps Spielsystem bleibt die dritte Dimension, der Luftraum, erhalten. Immer wieder wird gebetsmühlenartig vom Umschaltspiel geschwafelt, dass die Dortmunder beherrschen. Dabei ist es umgekehrt, wie Gessmann en passant eine Reporterphrase decouvriert: Das Umschaltspiel beherrscht die Dortmunder. Das ästhetische Spielsystem wird mit Hochgeschwindigkeit gespielt und ist mit hohem Risiko verbunden. Die Laufbereitschaft, das Sprinten von einem Ende des Platzes zum anderen – nirgends sind diese Spielweise so wichtig wie hier. Dieses Spielsystem fordert und fördert die kreative Entfaltung des Menschen.
Es besteht kein Zweifel, dass Gessmann, der sich so neutral wie möglich gibt, das ästhetische Spielsystem bevorzugt. Das ist auch kein Problem; die Systeme, wie Gessmann sie sieht, werden mit philosophischen Analogien weitgehend gleichrangig behandelt. Manches Bild sticht nicht; anderes ist erhellend. Das Grundproblem des Buches liegt in seiner Generalisierungstendenz. Zwar wird vage angedeutet, dass diese Systeme nur eine Bestandsaufnahme des Status quo sind. Gessmann versteift sich zu sehr auf die drei Protagonisten ohne auch andere wichtige Konzepte, die unter Umständen Mischformen darstellen, auch nur anzusprechen. Fast schon merkwürdig, dass einer der maßgeblichen Verfechter und Weiterentwickler der republikanischen »Tiki-Taca«-Spielmethode, der spanische Nationaltrainer Vincente del Bosque, bei Gessmann keine Beachtung findet. Neben der taktischen und strategischen Ausrichtung liegt das Verdienst del Bosques ja vor allem auch darin, die beiden großen rivalisierenden landsmannschaftlichen »Blöcke« innerhalb des Teams – die Katalanen und die »Spanier« – befriedet zu haben. Ähnlich ließe sich gewiss auch von Aimé Jacquet sagen, der 1998 mit Frankreich den Titel gewann und die Einwandererfraktion mit den »Einheimischen« zusammenfügte. Womit man dann über einen kleinen Umweg doch wieder bei Seitz vorbeigekommen wäre. Und was ist eigentlich mit Joachim Löw, der im Buch nur als taktischer und strategischer Kopf hinter dem Motivator Klinsmann bei der WM 2006 vorkommt? Löws Spielweise zeigt ja große Parallelen zum republikanischen System.
Auch nichts zu Carlo Ancelottis Spielweise, dem aktuelle Trainer von Real Madrid. Entgegen der gängigen Doktrin, in der jeder Feldspieler praktisch situativ jede Position spielen muss, sind bei ihm zwei Spieler, die »Stars« Cristiano Ronaldo und der Stoßstürmer Karim Benzema, von Abwehraufgaben weitgehend befreit. Ähnliches findet sich auch in der schwedischen Nationalmannschaft, die ihren Superstar Ibrahimović auch von defensiven Aufgaben entbunden hatte (ob dies dazu führte, dass man nicht bei der WM 2014 dabei ist?). Dies ist eine Element, dass verdächtig an die »monarchistischen Zeiten« erinnert, wenn auch die Spielanlage ansonsten sehr modern ist.
Was auch fehlt: Spielsysteme aus niederen Ligen. Wie spielt Hansa Rostock gegen Unterhaching in der 3. Liga? Oder Rot-Weiß Essen gegen Oberhausen im Pott-Duell in der Regionalliga West? Gessmann orientiert sich zu stark am Spitzenfußball. Womöglich betrachtet er die drei differenten Spielmodi als Oberbegriffe. Andere Systeme, die immer wieder ja nach Spielsituation auftauchen, wie den berühmten Catenaccio oder der Vorläufer des modernen Spiels, die sogenannte Raute, würden dann als untergeordnete »Zwischensysteme« fungieren. Einen entsprechenden Hinweis darauf hätte man schon gerne gelesen. Man darf aber auch nicht vergessen, dass Gessmann kein Fußball-Taktikbuch geschrieben hat und sich daher vermutlich bewusst nicht ins Detail einlässt.
Sehr bedauerlich, dass neben den fehlenden Hinweisen auf Vorspieler des republikanischen Systems auch die historischen Parallelen zum ästhetischen Spiel, die immer wieder in der Bundesliga aufflackerten, gänzlich unberücksichtigt bleiben. In den 70ern galt vor allem Borussia Mönchengladbach und in der ersten Hälfte der 80er der Hamburger SV als Vertreter jenes Dauerbegeisterungsfußball à la Klopp heute. Trainer wie Hennes Weisweiler und Ernst Happel spielten nietzscheanischen Fußball, während Bayern München und vor allem Trainer Udo Lattek für das ergebnisorientierte Spiel standen. Der aktuell von Borussia Dortmund praktizierte Fußball ist nicht ganz neu erfunden worden.
Statt sich die zuweilen doch eher langweilige Vorberichterstattung zu den Spielen anzutun, empfehle ich – bei aller Kritik – Gessmanns Buch als intellektuellen Wachmacher. Es ist weder liberal, noch republikanisch, sondern – in Anlehnung an Nietzsche – dionysisch und damit ganz nah beim ästhetischen Hochrisikofußball.
Und dann bleibt ja immer noch das »ultimative« philosophische Endspiel mit dem wichtigsten Satz der Fußballreportergeschichte überhaupt: »Beckenbauers Aufstellung überrascht ein wenig«.
Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch von Martin Gessmann
Zu Gast waren die Historikerin Christiane Eisenberg, der Theaterregisseur und –intendant Stephan Müller, Johnny Klinke, der als "Lebenskünstler" vorgestellt wurde (er betreibt ein Varieté-Theater in Frankfurt, der Heimatstadt Cohn-Bendits) und der Schriftsteller Thomas Hürlimann. ↩
Dabei hatte Cohn-Bendit vermutlich den Aufsatz von Lucas Delettre, einem ehemaligen "Le Monde"-Korrespondenten in Bonn, überlesen, der sich in Seitz' Buch mit der französischen Nationalmannschaft und deren Chancen beschäftigte, eine Art Wagenburgmentalität Frankreichs ausmachte und am Ende feststellte: "Inwieweit wollen wir, inwieweit können wir uns von der Globalisierung des Sports abkapseln?" ↩
Auch den sehr feinen Aufsatz von Jochen Leinemann aus Seitz' Buch hatte er vielleicht nicht präsent. Während Seitz in seinen Texten kaum ein gutes Haar an Vogts ließ und ihn kongenial zum ungeliebten Kanzler Kohl rückte, schrieb Leinemann fast eine Hommage auf den ehemaligen "Terrier" Vogts. ↩
Auch Brasilien quälte sich gegen die Niederlande im Halbfinale und gewann erst nach Elfmeterschießen. ↩
- ↩ "Doppelpässe" ist dennoch heute größtenteils sehr gut lesbar, auch wenn Seitz, wie Helmut Böttiger feststellt, sehr "sozialdemokratisch" argumentiert. Einige Beiträge von Politikern sind erschreckend langweilig. Aber es gibt auch sehr schöne und instruktive Aufsätze über den spanischen, französischen und holländischen Fußball – alle natürlich nur bis 1997. Und Seitz' Bemerkungen zum Ruhrgebiets-Fußball und die oft abenteuerlich-spitzbübischen Konstrukte auf seine These hin, sind interessant und amüsant, auch wenn er gelegentlich bestimmten Klischees – Borussia Mönchengladbach als rebellische Mannschaft darzustellen etwa - aufsitzt. Die paar Euro, die es im Antiquaritat kostet, versprechen durchaus Vergnügen.
Was jetzt schreiben, wenn der Blogbeitrag ziemlich weitgehend mit meiner eigenen Wahrnehmung übereinstimmt?
Ich habe das Buch mit Gewinn gelesen, auch (oder gerade weil?) ich mich fast auf jeder Seite über den Autor geärgert und aufgeregt habe. Super-Ideen, zum Beispiel die zum Zusammenhang von massenmedialer und informationstechnologischer Entwicklung und Fußballtaktik verfolgt er leider gar nicht – da wäre auch eine interessante Parallele zu Änderungen in der Arbeitsorganisation von Unternehmen und zur Installation des Kreativ-Dispositivs durchzuspielen.
Je länger ich darüber nachgedacht habe, desto interessanter finde ich Gessmanns (Hypo)These –nur überzeugen mich seine eigene Ausführung und Beispiele nicht besonders. Zentrale Einwände hat @Georg Keuschnig schon formuliert.
Ich würde noch weiter gehen: Da fehlen neben den Totalvoetbal-Leuten Rinus Michels und Ernst Happel (dann HSV) die zentralen Figuren Helenio Herrera (Catenaccio UND Libero-Miterfinder! und wenn man sich seinen Trainerstil so anschaut, dass direkte Vorbild für Mourinho) sowie Wiktor Maslow (Erfinder des Pressings und des 4–4‑2-Systems) und Walerij Lobanowskyj (der Mann, der das alles mit datenbank-gestützter Sportwissenschaft und Taktik-Ausklamüserung perfektioniert hat) – als Trainer von Torpedo Moskau und Dynamo Kiew – in der Sowjetunion, unter Stalin und Breschnew. Gessmanns schnippische Bemerkungen über den Roboterfussball von Ostblock-Mannschaften gehen da völlig an deren Bedeutung für die Taktik-Entwicklung vorbei – dabei wäre es ja gerade interessant zu überlegen, warum die beiden taktisch ganz ähnlichen Ansätze von Ajax Amsterdam und Dynamo Kiew in so ganz unterschiedlichen politischen Systemen entstehen konnten. (Zumal Rangnick und Löw von denen viel gelernt haben, während des Wintertrainings von Dynamo Kiew in der Sporthochschule Ruit – sagt zumindest Bierkamnn von den 11Freunden.) Völlig verlustig gegangen sind außerdem die südamerikanischen Fußballnationen, die ja auch was können.
Das bringt mich auch zu etwas, was mich wirklich an Gessmann nervt: der ins gönnerhafte neigende Sportreporter-Ton, den er für meinen Geschmack ein bisschen zu oft anschlägt – und dann sind wir trotz politikphilosophischer Hochrüstung doch allzuoft auf dem Bela Rethy-Niveau, wo der Spanier immer schön spielt, der Russe unkreativ-roboterhaft, der Engländer ein saufender Proll ist etc. Von den grausligen Plattitüden zur Kunst‑, Kultur- und politischen Geschichte schweige ich jetzt mal.
Mit anderen Worten: Um selbst zu denken und zu diskutieren ein sehr guter Anreger, als Ausweis der philosophischen und fussballhistorischen Kompetenz von Gessmann eher schwach.
Sorry, das muss natürlich Gregor heißen! Tipp-Furor!
Mein Resümee in aller Kürze:
Mein Eindruck vom Buch ist zwiespältig. Einerseits habe ich mit Gewinn gelesen, ist mir durch die Zuspitzungen oder Vereinfachungen einiges klarer geworden. Als WM-Vorbereitung ist das schon ‘mal ein gewinn! Andererseits stören mich auch die Vereinfachungen, die Engführung bzw. Zuordnung aller realen Stile, Zwischenstile, Stilbrüche und Kuddelmuddel auf die drei Typen Liberalismus, Republikanismus und Ästhetizismus. Hinzu kommen die von Gregor Keuschnig genannten fussballbezogenen Fehlstellen.
Täusche ich mich, oder findet Gessmann den »republikanischen Stil« am besten? Mir bereitet dieses System in der Praxis und beim Lesen in Gessmanns Beschreibung eher Unbehagen, es ist mir nach der Lektüre gar noch »unmöglicher« geworden. (Das System bzw. das Kollektiv sei alles, der Einzelne nichts... Es funktioniert nur wenn keiner aus der Reihe tanzt, in der Praxis also gar nicht.)
Ich bin mir nach der Lektüre (des Buches und der kursorischen Zusammenfassung hier oben) also noch sicherer geworden, das meine Sympathie dem System Mourinhos gehört – und dem von Klopp.
(Die Reckwitz-Anmerkungen erhöhen meinen Stapel zu lesender Bücher.)
Erst einmal vielen Dank für diese Einschätzungen. Ich warte noch einen Tag; vielleicht gibt’s ja noch andere Reaktionen.
Reckwitz kann ich nur empfehlen!
Und anscheinend hat Gessmann Zugang zu Herrn Löw oder Herr Löw hat das Buch gelesen: Löw hat wohl vor – wenn man mal die nomminierte Mannschschaft anschaut – Deutschland ohne Stürmer spielen zu lassen: also 4–6‑0. Auf dem direkten Weg zum 0–11‑0, oder?
Ja, auf dem direkten Weg zum 0-10-0. Gessmanns Ausführungen haben mich darin bestärkt, dass Löw versucht das spanische respektive katalanische Spiel wenn nicht zu kopieren, so doch sich daran anzugleichen. Daher sehen dann auch gelegentlich die Dortmunder schlechter aus, die immer noch mal einen hohen Ball schlagen wollen, was wohl unter Strafe verboten zu sein scheint. Eckbälle bringen eher Gefahr für den Gegner (Konter) und Strafstösse werden zu Glücksschüssen, die wenn, dann nur direkt verwandelt werden.
Aber welchen Stürmer gibt es derzeit für D? Die aktuelle Torschützenliste zeigt neben Reus nur Kießling, und der ist ja schon länger Löw-non-grata. Müller ist dabei, Kruse, der Platz 4 in der »Scorer-Liste« der Saison einnimmt, wurde gar nicht erst berücksichtigt. Auch Lasogga fehlt (das kann ich verstehen) und Hahn.
Dass Löw jetzt nur halbwegs körperlich fitte Spieler mitnimmt, wird sich rächen.
Hat Löw sich über Müllers Kopfballtor nach von Boateng irgendwie geschlagener Flanke enttäuscht gezeigt? Ein glattes Stilbruch-Tor. Oder?
Naja, enttäuscht gezeigt hat er sich nicht. Aber so schrecklich viel hat sich nach dem Artikel in der FAZ vor zwei Jahren nicht geändert, oder?
Ich bin mal gespannt, wie die Spanier spielen werden. Ich hatte den Eindruck, da hat sich el toque aka tiki-taka schon wieder deutlich weiter entwickelt – und nicht in die Dortmunder Richtung (die ja in den letzten Spielen auch nicht mehr Nietzsche-Fußball gespielt haben). Vielleicht wird die WM ja auch die Rückkehr des Catenaccio.
Ja, das kann sein. Ich habe das Hinspiel Atlético Madrid gegen Chelsea noch vor dem geistigen Auge: ein grauenhaftes Spiel. Chelsea in einer Art »Stellungskrieg« (warum dürfen nur die Briten Kriegsvokabeln verwenden?) und Atlético völlig überfordert damit.
Eine kurze (persönlich gefärbte) Einschätzung meinerseits, ohne den Ausgangstext oder andere Stellungnahmen gelesen zu haben.
Die These, dass wir uns auch für Fußball interessieren, »weil wir verstehen wollen, wie Gesellschaft funktioniert« (Seite 7) konnte ich vorher nicht nachvollziehen und kann es auch nachher nicht (ich könnte auch kein einziges Beispiel aus meinem persönlichen Umfeld nennen). — Mein (eingeschränktes) Interesse an diesem Sport war und ist ganz banal (die Hoffnung ein spannendes, schönes Spiel zu sehen, in dem einige Tore fallen; mit einer Mannschaft mitzufiebern; und ein dilettantisches, mittlerweile vergangenes Hobbysportinteresse).
Ich hätte mir einen systematischeren Aufbau gewünscht: Zunächst nur vom Fußball ausgehend und danach die Politiktheorie hinzunehmend; so geht es mir manchmal etwas zu sehr durcheinander; mir ist auch die Erkenntnisreihenfolge wenig verständlich (Was können die Parallelen bedeuten, wenn es nur Korrelationen wären? Oder sind sie nur als solche anzusehen? Was bedeutet das dann für Gessmanns Versuch?). — Trotzdem sind die fußballerischen Charakterisierungen für sich schon erhellend (aber braucht es dafür die Politiktheorie?).
Sprachlich war ich ab und an mit einigen Formulierungen nicht einverstanden, zu viele Worte, zu wenig Gehalt (bzw. zu assoziativ).
So bleibt ein zwiespältiger Eindruck zurück, der schon im Titel (für den Gessmann vielleicht nichts kann) angedeutet ist. Oder anders ausgedrückt: Das Fußballerische fand ich immer sehr ordentlich, aber ob beides zusammengeht, da bin ich mir nicht sicher (und ich glaube, dass sich der Fußball von den ökonomischen Aspekten kommend auch anders analysieren ließe und dass das dann wieder anderes, womöglich weniger erfreuliches über diesen Sport, sein Umfeld und uns selbst sagen würde).
Der Gedanke, dass wir aus der Taktik und Strategie des Fußballspiels die Gesellschaft sozusagen erkennen können, ist natürlich kühn. Das löst Gessmann ja auch nicht ein. Stattdessen sucht er Analogien zwischen philosophischen Konzepten und dem Spiel auf dem Rasen, die er denn mehr oder weniger kunstvoll verknüpft.
Unbefragbar ist für Gessmann anscheinend die kommerzielle Vermarktung des Spiels mit ihren zum Teil absurden Auswüchsen. Auch die mafiaartige Struktur des Weltfussballvereins kommt bei ihm nicht vor. Sein Einwand könnte sein, dass sich dies auf dem Rasen weder direkt noch indirekt zeigt. Dabei wäre es aber doch interessant, warum man sich technischen Möglichkeiten (Videobeweis, Torlinientechnik) so derart vehement verschliesst. Ich erinnere mich an Aussprüche von hochbezahlten Fußballspielern, Managern und auch Trainern, die hierauf freiwillig verzichten möchten, weil der Fußball sonst irgendetwas einbüssen würde. Am skurrilsten war die Aussage von Thomas Müller, der sinngemäss meinte, der Fußball biete keinen Stoff für Diskussionen mehr, wenn der Schiedsrichter technische Unterstützung erfahren würde. Das ist natürlich vollkommener Blödsinn.
Die Technikverweigerung hat natürlich mit einem gewissen Bild zu tun, dass vermittelt werden soll: Das Bild des archaischen, allen Zeitläuften trotzenden Spiels. So wie der Profifußball sehr lange nur »unter dem Tisch« stattfand und die Illusion des ehrenhaften Kickers bis in die 80er Jahre hinein gepflegt wurde, wo soll die Illusion des Bolzplatzes aktiviert bleiben. Dadurch wird die Kommerzialisierung auf dem Rasen noch weiter ausgeblendet. Ich habe nach einem verlorenen Spiel noch niemals einen Spieler gehört, der beklagte, jetzt keine Siegprämie zu erhalten. Es ging immer um Ehre und Titel.
(Etwas spät, und ich hoffe, das war nicht schon das Schlusswort von Gregor Keuschnig): Mein Eindruck vom Buch deckt sich weitgehend mit dem Kommentar von Metepsilonema. Ich habe es aus einer gewissen Ahnungslosigkeit heraus gelesen – also ich schaue mir schon gern ab und an ein schönes Spiel an, weiß aber z. B. kaum etwas über zurückliegende Entwicklungen in den 60er oder 70er Jahren. Insofern war mir Vieles neu, die Darstellung der unterschiedlichen Stile der Trainer (Mourinho, Guardiola, Klopp) recht interessant. Was mich von Anfang an aber immer wieder störte, waren die vom Autor gar nicht erst infrage oder zur Diskussion gestellten Aussagen, wie schon von Metepsilonema erwähnt: „Wir interessieren uns für diesen Sport nicht mehr nur, um uns zu unterhalten, sondern längst auch deshalb, weil wir verstehen wollen, wie Gesellschaft eigentlich funktioniert.“ Nö. Ich nicht. Und wer ist „wir“? Und von solchen Feststellungen ohne Diskussion oder Beweisführung gibt es einige im Buch. Neben anderen Passagen, die mich zum Widerspruch reizten, fand ich z. B. auch den Vergleich eines Fußballclubs mit einem Staat nicht unbedingt zutreffend – wäre ein Vergleich mit einem Wirtschaftsunternehmen nicht vielleicht angebrachter? – Sehr gut finde ich den Hinweis von G. K., dass nur Erstligisten in die Betrachtungen einbezogen wurden. Das stimmt, ergänzende Überlegungen zu den unteren Ligen wären vielleicht noch spannend gewesen. Insgesamt gesehen: Die Rezension von Gregor Keuschnig samt Prolog war für mich interessanter und schlüssiger als das Buch von Martin Gessmann. Aber, wie gesagt, ich räume auch eine weitgehende Fußballahnungslosigkeit ein. – Auf jeden Fall aber finde ich den Gedanken solcher Leserunden sehr schön. Bitte machen Sie damit weiter, Gregor Keuschnig (muss ja nicht unbedingt Fußball sein …).
PS: Ich verschenke das Buch gern weiter. Bei Interesse bitte melden.
Den Vergleich Fußballclub / Staat statt des vielleicht tatsächlich üblichen Fußballclub / Unternehmen nimmt er vor, weil er die philosophische Staatsentwürfe als Referenzgrössen für die Spielsysteme nimmt. Das Problem ist m. E. nur die Zuordnung. Der Trainer wird zum Verfassungsgeber, der Manager übernimmt die Rolle des Parlamentspräsidenten und der Vereinspräsident ist äquivalent zum Staatsoberhaupt. Dabei ist der »Verfassungsgeber« (Trainer) problematisch, da es sich normalerweise hierbei um eine Gruppe von Personen handelt (Parlament), was sich bei der Zuordnung des Managers als »Parlamentspräsident« zeigt. Warum nicht »Bundeskanzler«, zumal er die repräsentative Funktion des Staatsoberhaupts in Deutschland ja adaptiert hat? Und wie verträgt sich das am Ende mit der Rolle des Trainers im republikanischen Spiel?
Eine adäquate Überführung in eine Unternehmenshierarchie wäre schwieriger. Der Trainer wäre ein »Manager«, der Manager ein »Bereichs- oder Abteilungsleiter« und der Vereinspräsident dann der Vorstandsvorsitzende? Das passt nicht, da im Fußball mindestens offiziell ein Präsident oder Manager nicht die Mannschaft aufstellt, d. h. die einzelnen Verantwortungsbereiche nicht hierarchisch bestimmt sind.
Zur Leserunde: Es tut mir leid, dass ich da ein Buch ausgesucht habe, dass wohl nur suboptimal daherkommt bzw. nicht genügend Gesprächsstoff ausweist. Meine Überlegungen zu weiteren Leserunden werde ich noch in einem anderen Text formulieren...
@Gregor Keuschnig: Sie müssen sich doch nicht entschuldigen. Wie gesagt, ich bin ins Denken gekommen – und sehr spannend auch, dass alle Leser, die sich hier bis jetzt geäußert haben, ganz ähnliche Dinge am Text bemängeln. So ganz subjektiv und idiosynkratisch sind die Urteile also nicht.
Noch mal zum Essay von Gessmann:
Wenn man die Ausgangsidee Fußball gucken gleich Gesellschaft gucken anders angeht, wird’s vlt. doch spannend. So kann man die Klinsmann/Löw-Reformen im DFB schon als eine Art nachholende Modernisierung im Fußball beschreiben – sowohl in Bezug auf den avancierten Fußball und seine Organisation in anderen Ländern als auch zu den avancierten Formen der postfordistischen Arbeitsorganisation und Subjektbildung (Reckwitz erklärt diese Veränderungen gut und geht auch am Rande auf Fußball ein) in DE selbst. Ich weiß noch, wie ich das erste große Interview mit Klinsmann / Löw gesehen habe und dachte: »Ach schau an, jetzt hat sich der Kreativitäts- und Selbstmotivationssprech, den wir seit Jahren in unseren Kreativwirtschafts-Meetings pflegen, als allgemeinverbindlich etabliert.« Und von der Fußballberichterstattung und Selbstbeschreibung ist er dann auch zu den Kreisen durchgesickert, die an sich nicht in diesen Meetings sitzen. Ein wichtiger anderer Popularisator dieses Sprechs sind Sendungen wie Germanys Next Top Modell etc.
Den Wendepunkt mit Klinsmann/Löw finde ich sehr wichtig und interessant. Mit der WM 2006 endete das bisher mehr oder weniger sorgfältig gepflegte Herberger-11-Freunde-sollt-ihr-sein-Fußball-Bild. Die Kommerzialisierung des Fußballs wurde in die Kabine und das Trainingslager hineingetragen. Die Gewissheiten innerhalb der Mannschaft wurden fast brutal zur Disposition gestellt, was sich z. B. darin zeigte, dass Lehmann ins Tor gestellt wurde und nicht Kahn. Was zählen sollte war die »Leistung«, nicht die Reputation oder Verdienst eines Spielers. Dadurch kamen plötzlich Spieler in die Auswahl, die nur wenige Einsätze in der Nationalmannschaft hatten. »Wettbewerb« galt als Deus ex machina in einer pomadig gewordenen DFB-Struktur. Zwei schlechte Bundesligaspiele – und ein verdienstvoller Nationalspieler fand sich auf der Bank zu Gunsten eines Youngstern wieder, der mit Hilfe der Medien sofort als neuer Superstar gefeiert wird (und genau so schnell wieder in die Krise geschickt wird, wenn er mal 354 Minuten kein Tor geschossen hat).
Interessant ist bis heute, dass sich kaum noch jemand an die WM 2002 und das verlorene Endspiel gegen Brasilien erinnert, aber alle von der WM 2006 und auch 2010 schwärmen, obwohl es dort nur um Platz 3 ging. Die Siege gegen Argentinien 2002 und 2006 und England 2010 überstrahlen die reinen Fakten. Das Ausscheiden gegen Italien 2006 war »unglücklich«. Aber 2010 hatte die Mannschaft gegen Spanien »wie früher« ihren »Rumpelfussball« gespielt – thematisiert wurde das nie (es ging auf die Taktik von Löw, der die Spanier kommen liess).
Wenn es nach den Kriterien von Klinsmann 2006 ginge, dürften etliche Spieler nicht im deutschen Kader stehen. Löw ist in den letzten Jahren in vielen Dingen eingeknickt. So hätte Ballack bei der WM 2010 ganz sicher seine übliche Rolle einnehmen dürfen, wenn er nicht verletzt worden wäre. Später war man froh drum; sein Erscheinen im Trainingslager und der Kampf um die Kapitänsbinde nach der WM wurde als Störung empfunden.
Mir fällt gerade auf, dass Germany’S Next Topmodell auch 2006 gestartet ist, wie die Sommermärchen-WM. Sommermärchen – auch so eine Mytholgisierung, über die wir mal diskutieren könnten.
Der »Sommermärchen«-Mythos geht einher mit dem Tiefpunkt der deutschen Fußballherrlichkeit bei der EM 2004. Ohne Sieg, mit 2:3 Toren scheiterte man in der Vorrunde gegen Tschechien und die Niederlande. Gegen den Fussballzwerg Lettland erreichte man nur ein 0:0. Völler, der zwei Jahre zuvor noch gefeiert wurde (damals spielte die Mannschaft auch schrecklich, hatte aber gegen die USA und Paraguay einfach das Glück auf ihrer Seite), musste zurücktreten. Die Mannschaft drohte in die schlimmsten Ribbeck-Zeiten zurückzufallen, was sich schon in der Qualifikation andeutete, als Völler im Gespräch mit Hartmann nach einem fürchterlichen Spiel gegen Island ausrastete. Die Mannschaft lag also praktisch am Boden, als Klinsmann kam (Löw wurde kaum bemerkt). Als Ausrichter für die WM musste sich Deutschland damals nicht qualifizieren, was von vielen als Vorteil empfunden wurde, denn mit diesen Leistungen wär’s womöglich schwer geworden.
Das beschreibt vielleicht ein bisschen die Lage 2005/2006. Klinsmanns Methoden waren nicht ganz ganz unumstritten. Und das Lehmann im Tor stehen würde – das schaffte schon im Vorfeld Unmut, besonders auf dem Boulevard. Dazu kam eine desaströse Niederlage gegen Italien in einem Vorbereitungsspiel kurz vor der WM.
Das »Märchen«-Attribut verwendet man in der Regel auf unvorhersehbare schöne Ereignisse. Dahingehend war dann insbesondere der Einzug ins Halbfinale (das 1:0 gegen Polen nebst Sieg über Argentinien) das »märchenhafte«. Die deutsche Mannschaft zeigte Einsatz und Spielfreude – all das, was man so scheinbar lange entbehrt hatte (ein bisschen Nietzsche halt). Hinzu kam, dass die Nationalisierung, die damit einher ging, nicht aggressiv war, sondern eher »sportlich«. Da spielte es dann keine grosse Rolle, dass das Spiel gegen Argentinien eher schwach war (von beiden Teams) und auch das Halbfinale gegen Italien eine enttäuschende Leistung bot. Das Pulver war deutlich verschossen, allerdings auch bei den Italienern, was die Niederlage am Ende dann umso schmerzhafter machte. Der Film von Wortmann war dann der Fortschreiber dieses Mythos.
So, jetzt wieder der Pass zu Ihnen, Doktor D und zur Analogie zu GNTM... (Ich habe nur dieses Jahr einige Folgen gesehen...sehr interessant.)
Volle Zustimmung zu Doktor D #15 !
(Und der Reckwitz liegt hier...)
@Gregor #12
Wenn ich an den Zusammenhang von Gesellschaft (Politik) und Fußball denke, dann immer zuerst an die Kommerzialisierung dieses Sports, u.a. die Behandlung der Zuschauer als Konsumvieh, dort wo vor Videowänden (EM, etwa) innerhalb riesiger Einzäunungen nur das Bier des Hauptsponsors verkauft werden darf. Auswüchse, die sich natürlich parallel zu vielen anderen gesellschaftlichen Entwicklungen zeigen: Klar ist das die alte kulturkritische Leier, die Gessmann nicht zu mögen scheint, aber ist sie falsch? Ist sie nicht vielleicht notwendig? Kann man da so einfach vorbei (natürlich böte sein Buch wenig Neues, wenn er nur diesen Ton anschlüge)?
Mann könnte Gessmann grundsätzlich folgenden Gedanken entgegenhalten: Wenn sich theoretisch bestimmte Organisationsformen menschlicher Gemeinschaft denken lassen, warum sollten sie sich nicht (oder zumindest ähnlich) im Kleinen, etwa innerhalb einer Fußballmannschaft finden lassen (so das Regelwerk das zulässt)? Aufschlussreich wäre, ob sich ähnliche Beschreibungen für andere Mannschaftssportarten anfertigen lassen. — Weiß da vielleicht jemand näheres?
Vielleicht bin ich schon zu sehr abgestumpft, um mich über die Kommerzialisierung von Fußball noch auf- bzw. zu erregen. Da sind schon ganz andere Genres und Lebensbereiche von der Ökonomisierung und Kommerzialisierung betroffen, als das mich dies besonders verwundert. Ich bin ja wohl Durchschnitt, was ich daran festmache, dass sich fast jeder über Millionen-Gehälter von Managern und Unternehmern oder Vortragshonoraren von Politikern aufregt aber kaum jemand über die Gagen bei Fussballern, Tennisspielern oder Autorennfahrern. Die Heroisierung dieser Spezies ist derart fortgeschritten, dass man (= das Publikum) dies längst akzeptiert hat und nicht mehr befragt.
Ich glaube, dass Fussballspieler (in anderen Kulturkreisen vielleicht andere Mannschafts- oder Einzelsportler) eine Art gesellschaftlicher Stellvertreterrolle übernehmen. Wie im Wilhelmismus der Soldat das Maß der Dinge war, der am Ende dann (im Ersten Weltkrieg) für das Vaterland in den Krieg zog, so ist es heute der Fussballspieler, Ski-Abfahrer oder Rennfahrer, der stellvertretend agiert. So bekommt Thomas Müllers Spruch von den Kohlen, die die Mannschaft aus dem Feuer hole, durchaus eine doppeldeutige Bedeutung. Und als der Nationalspieler Reus am Freitag in einem Freundschaftsspiel so schwer verletzt wurde, dass er nicht an der WM teilnehmen kann, titelte jemand »Reus verloren«, was nur eine Nuance entfernt ist von »Reus gefallen«. Okay, mehr als eine Nuance...
#GNTM und WM2006 – die Parallelen:
extreme individuelle Karriereorientierung, die mit totalem Willen zur Selbstoptimierung nach externen Vorgaben einhergeht, zu denen eben heute Teamfähigkeit, Empathie mit dem Gegenüber, Selbstmotivation, Kreativivtät und Sponatneität gehört. Es entsteht eine, jedenfalls für mich, total seltsame Mischung aus der Rhetorik der Selbstermächtigung und Emanzipation (z. B. bei Erich Fromm, Klaus Theweleit) und der ökonomischer Rhetorik der Wettbewerbsfähigkeit, Innovation und Investition. Herauskommen ein Sprech und eine (Selbst-)Sozialisierung / Individualisierung, in der man sich in die ökomomischen Verwertungszwänge der Selbstvermarktung kreativ hineinemanzipiert und emanzipiert wird. Gleichzeitig realisieren sich dadurch aber auch für viele Menschen tatsächlich Kreatvivitäts- und Individualisierungsversprechen, die früher exklusiv für die besseren Kreise und Künstler reserviert waren. (Das erklärt alles viel besser und ausführlicher Reckwitz, aber schon Foucaults Sexualität und Wahrheit 1 hat diese Entwicklung deutlich beschrieben.) Und 2006 war das anscheinend soweit durchgesetzt, dass man es nun auch in der Massenunterhaltung sich nicht mehr anders denken und sagen konnte... Das könnte aber auch heißen, dass dieser Diskurs und gesellschaftliche Formatierung vlt. schon wieder an ihr Ende gelangt ist und eine nächste Transformationsphase ansteht, die wir aber natürlich erstmal nicht im Fernsehen sehen. Das kommt – wenn meine Hypothese stimmt – eigentlich immer zu spät für die eigentliche Aktion, verstärkt sie aber so, dass der Kipppunkt kommt.
#Ökonomie und Fußball:
Das fehlte mir auch bei Gessmann, zumal er da immer mal wieder interessante Gedankensplitter dazu bietet. Man muss das ja auch nicht moralisierend machen, sodnern einfach beobachtend: Könnte es sein, dass die ökonomische Bedeutung der Fernsehübertragung für den Fußball generell und für die einzelnen Mannschaften, Einfluss auf Taktik und Spielstil hat? Oder, welche Spieler gekauft werden? Die Startruppe von Real Madrid zwischen 2000 und 2007 – los galacticos – ist beispielsweise sehr stark nach dem Gesichtspunkt der Vermarktbarkeit und nicht des Sports ausgewählt worden. Del B0sque hat dann wirklich das Beste draus gemacht.
Jorge Valdano, der das Galacticos-Team mit zusammengestellt hat, soll laut Jonathan Wilson (Revolutionen auf dem Rasen) gesagt haben, dass die extreme Beschleunigung des Spiels in den letzten Jahren auch ein TV-Effekt sei: Schnelles Spiel sieht im Fernsehen einfach gut aus und suggeriert Dramatik, was sich wiederum richtig gut verkauft. Da kann man dann als Moderator jede Doppelpass-Staffette wild beschreien und die wenigsten merken, dass eigentlich gar nix passiert ist. Denn im Prinzip sei Fußball ein eher langweiliges Spiel, über 80 Minuten des Spiels passiert eigentlich nichts. Eine Analyse, die auch ganz gut zu meiner Beobachtung passt, dass viele Leute, die Fußball immer nur zu großen Events schauen oder das erste Mal live im Stadion, erschüttert sind, wie langweilig das doch ist. Ohne Ablenkung durch Public Viewing Schnickschnack und andere Emotionalisierungen.
#GNTM und Fußball
Bei GNTM wird ja der Wettbewerbsgedanke extrem ausgespielt. Erstaunlich dann, dass in der letzten Staffel das Mädchen mit dem verbal breitesten Ego und einer gewissen Stutenbissigkeit ganz schnell vollkommen unbeliebt wurde und auch entsprechend dargestellt wurde. Sport und insbesondere Fußball diente früher auch dazu, dass Jungen ohne besondere schulische Kenntnisse Karriere machen konnten, sofern das Talent ausreichte. Die Castingshows wie DSDS oder GNTM (+ viele andere, die ich nur vom Zappen kenne) gaben ein solches Versprechen ab. Es ist noch einfacher als sich im Sport zu quälen.
Ich bin nun wahrlich nicht besonders feministisch angehaucht, aber die letzte Staffel GNTM, die ich fast ganz gesehen habe, hat doch einiges Erschrecken gebracht. Zum einen: Die Mädchen sehen fast alle gleich aus; das kenne ich ja schon von den diversen Covern auf Programmzeitschriften. Ich hatte tatsächlich bis zum Schluss Schwierigkeiten, die Namen dem jeweiligen Mädchen zuzuordnen. Differenzen, Unterschiede werden ja fast immer auch nivelliert, wenn nicht schon von vornherein eine gewisse Auswahl getroffen wird. Bei schwarzen Mädchen ist das besonders gut zu beobachten: Eine hatte im Posing und bei entsprechender Kosmetik durchaus Ähnlichkeit mit Grace Jones, wobei dieses Klischee dann auch fast immer bedient wurde.
Ein weiterer Punkt: Die Mädchen haben einen Spagat zu machen zwischen Individualität und Konformität. Zum einen werden sie dressiert auf bestimmte Bewegungen, Haltungen, Posen (am Ende konnte ich schon vorher sagen, wie der »Walk« gewesen ist) – zum anderen sollen, ja müssen sie hier ihre »Persönlichkeit« einbringen. Das müssen die mit 16, 17 oder 18 erst einmal hinbekommen. Am Ende winkt das Jetset-Leben, das Leben als »Prominente«, wovon die Mädchen womöglich nur eine kleine Ahnung haben und stattdessen noch an Aschenputtel-Märchen glauben.
Die Uniformität ist im Fussball schon sichtbar. Auch hier müssen 11 Individuen aufeinander eingehen – sie müssen sogar miteinander in Interaktion treten, die nicht geplant ist (diese Modenschauen sind ja choreographiert). Auch sie haben am Ende zu »funktionieren«, wobei die Sichtbarkeit ihres Könnens oder Scheiterns einem Millionenpublikum sofort auffallen.
Nicht zu trennen von der Gemeinsamkeit ist der erwartete finanzielle und soziale Aufstieg, der sozusagen an allen klassischen Bildungs- und Karrierewegen vorbei geschieht und eine Erlösung aus der Alltäglichkeit bspw. eines Angestelltendaseins suggeriert. Dabei wird ein Versprechen der Moderne sozusagen stofflich: Die Individualität einer Persönlichkeit kann jeden zum Star machen. Früher hiess es: der Marschallstab ist im Tornister jedes Soldaten. Heute: Du kannst es!. Dieses Individualisierungsversprechen war früher – Sie schreiben es, Doktor D – den höheren Klassen vorbehalten. Die Moderne schafft es, zu suggerieren, es sei demokratisiert worden. Daher rühren uns auch Postzusteller, die wie ein Tenor singen.
2006 war vielleicht wirklich so ein Jahr, in dem das ökonomisierte Denken der damals bereits abgewählten Schröder-Regierung gesellschaftlich Wurzeln schlug. In Krisenzeiten wie jetzt (wir durchleben m. E. eine veritable Wirtschaftskrise auf europäischer Basis) sind die »normalen« Lebensentwürfe noch fragiler geworden.
#Fußball und Langeweile
Es gibt sicherlich Spiele, die extrem langweilig sind. Das Endspiel der WM 2010 zwischen Spanien und den Niederlanden beispielsweise. Dazu gab es noch viele Fouls und ein überforderter Schiedsrichter (was der auch später zugab). Solche Spiele leben von der Spannung im diesem Moment, was auch dazu führt, dass man eigentlich Fußballspiele nicht aufnimmt und später schaut (wenn man u. U. das Ergebnis schon weiss).
Aber Fußball ist m. E. nicht langweiliger als z. B. Boxen (oft genug ist es am spannendsten, den Punktrichterentscheid zu hören). Oder Basketball. Vollkommen langweilig finde ich Autorennen. Extrem spannend dagegen Hallenhandball, weil da Ballbesitz irgendwie schon mehr als ein halbes Tor ist und das Vergeben einer Chance hoch gewichtet wird.
Wie man sich Autorennen anschauen kann – live oder im Fernsehen – ist für mich ein echtes Mysterium.
In Fortführung von Valdanos und meiner Hypothese, dass TV an der Art wie Fußball gespielt wird, etwas geändert hat: Vielleicht ist Soccer in den USA deswegen so unbeliebt, weil er zu Beginn der Ausbildung des medialen-sportlichen Entertainmentkomplexes keine ordentlichen Schauwerte und Emotionalisierungen geboten hat? American Football, Basketball und Eishockey bieten – so zumindest meine USamerikanischen Freunde – viel mehr Action. Anscheinend weil da ständig Kerle aufeinander rauschen. Baseball dagegen scheint in den USA an Bedeutung zu verlieren, obwohl (oder weil?) man da unglaublich nerdhafte Statistikorgien feiern kann.
Oh! Ein gutes Stichwort: Statistikorgien! Sportreporter scheinen sie geradezu magisch anzuziehen und die durchaus leeren Augenblicke im Spiel werden mit diesen Konservendosen-Häppchen ja leidlich aufgefüllt. Das Zitieren von Statistiken soll ja Prognosen erleichtern. Wenn nicht gleich die Vorhersage des Spielresultats, so doch die entscheidenden Fragen, wann Spieler X mit rechts mal wieder ein Tor schiesst oder wie oft Spieler Y nach einem Eckball einen Mitspielerkopf »gefunden« hat. Am interessantesten wird es dabei, wenn man zwei statistische Phänomene benennt, die sich dahingehend einander ausschließen, dass ihre Prognosen sich widersprechen. Hinter dieser Zahlenversessenheit steckt zum einen die Simulation der Berechnung des Unberechenbaren, zum anderen die Distinktion des Wissenden. Dabei ist längst klar, dass Fernsehreporter von anderen Personen »gebrieft« werden, auf Spielszenen aufmerksam gemacht werden und die Korrelationen als Kausalitäten aufbereitet als wie diskrete Kellner servieren. Daher meine Forderung seit Jahrhunderten schon: Eine Tonspur nur mit dem Original-Stadiongeräuschen, kommentatorlos.
Interessante neue Aspekte zu den Themen, die wir hier gerade beackern, bringt Peter Körte in der FAZ – am konkreten historischen Fall http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/die-fifa-vor-der-wm-das-endspiel-12978386.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2
Von den Vergleich zwischen Spielsystemen und Politiksystemen hält er aber nix – weil er auch zuviel geschichtliches Hintergrundwissen ins Spiel bringt.
Wie kam Euch denn der zwei-geteilte Auftritt von Neuer und Schweinsteiger vor?!
Am Training sollten die Spieler erst mal nicht teilnehmen, aber in der Werbung durften sie die Gladiatoren mimen?!
Kurios, oder: der Gladiator in der Verletzungspause...
Hab einen Witz dazu: der Team-Arzt hat das Training untersagt, allenfalls ein paar »leichte Werbespots« im Vorfeld zur WM seien o.k.
Das ist der Fluch des langfristigen Marketings: Du musst dich Monate vor dem eigentlichen Event entscheiden, wenn du zum WM-Star aufbauen willst oder wer es deiner Meinung nach wird. Wenn’s ganz schlecht läuft, sind die Jungs dann noch nicht mal im Kader. Oder sie scheiden verletzt aus. Deswegen ist es super wichtig, Spieler auch unabhängig von ihrer konkreten Leistung zu Stars bzw. Marken aufzubauen (Paradebeispiel: Beckham), dann kann man auch mit so einer Situation, wie du, @kalte_sophie sie schilderst, ganz gut umgehen – ohne dass einem der gesamte WM-Werbeetat um die Ohren fliegt. Für die Sammelbildchen-Verlage ist das ein echtes Problem, genauso wie für die Kicker- etc. Sonderhefte. Da schreibt man seitenweise über die Bedeutung von Ribèry für die frz. Mannschaft und dann bleibt er daheim. Blöd.
Interessant wäre es mal, Mannschaftsaufstellungen und Sponsor-Werbung miteinander abzugleichen. Vlt. weiß adidas aber nur zufällig immer ziemlich genau, wer im Kader ist.
Ich erinnere mich noch gut an diese Schokocremewerbung mit deutschen Nationalspielern. Als die Werbung kam, waren sie manchmal schon nicht mehr im Kader (Kevin Kurányi ist so ein Fall, den ich behalten habe). Bei Klinsmann und Löw hatte ich bisher immer das Gefühl, dass sehr frei aufgestellt wird. Bei anderen Trainern mag das anders sein.
Mit Ribéry kann jetzt das passieren, was Ballack 2010 ereilte: Erst hält man ihn für unersetzlich, danach stellt man fest, es geht ganz gut ohne. Als Werbeikone habe ich Ribéry nie wahrgenommen, so dass es tatsächlich so kommen kann.
Zum Körte später. Er hat das Gessmann-Buch scheinbar nicht gelesen. Überhaupt finde ich den Ansatz, den Sport und seine Institutionen moralisch zu betrachten, für falsch. Das ist ja auch der Grund, warum ich für Doping wäre. Aber das ist ein weites Feld. (20.15 Uhr ARTE, also praktisch jetzt, eine Doku über Doping.)
Ein Spiel wird auch dadurch verändert, dass man einer Seite emotional verbunden ist (ein neutralerer Beobachter erzählt dann mitunter von einem ganz anderen; im Stadion zählt natürlich die überfließende Stimmung dazu); außerdem kann man einem Spiel, dessen Ausgang man zuvor neutral gegenüber gestanden ist, durch kleine Wetten Spannung verleihen (von dieser Praxis wurde mir zumindest erzählt).
Sportstatistik hat (im Fußball zumindest) meist nichts mit Statistik, die diesen Namen verdient, zu tun.
Eine moralische Komponente trägt Sport eigentlich immer in sich: Die Be- oder Missachtung des Reglements und damit in Zusammenhang das was man als »Fairness« bezeichnet.
Schon klar, dass die Einhaltung der Regeln (die sich natürlich ändern können) ein Gebot darstellt. Aber gerade was das Doping angeht, werden sie ja fast ständig missachtet (nicht unbedingt im Fußball, auch wenn es hier Beispiele gibt wie in Italien). Das ganze Gerede von »Sportsgeist« und »Fairness« ist m. E. längst ausgehöhlt. »It’s a business«, sagte einer der ehemaligen Sportler in der ARTE-Dokumentation gestern. Die Freude am Wettkampf, am Messen der Leistung ist längst einer Kommerzialisierung gewichen. Dies zu beklagen ist möglich, aber auch immer ein bisschen heuchlerisch, da man (= Journalisten) natürlich genau das betreiben, was sie auch verurteilen. Während ich bei Olympischen Spielen früher immer auch die »Exoten« zu sehen bekam (den thailändischen Langläufer beispielsweise) muss man jetzt dafür ein Promisternchen sein, andernfalls wird dann, wenn die »schlechten« kommen, gnadenlos zum nächsten Event umgeschaltet.
Der Fußball-WM-Zirkus, den Körte zu Recht angreift, ist aber »milieukonform« (aus dem Film gestern). wie der Sport an sich auch: Die Wachstumsideologie wird hier fortgeschrieben. In der Leichtathletik müssen immer neue Rekorde purzeln, obwohl es logisch sein sollte, dass der menschliche Körper irgendwann nicht mehr ohne Hilfsmittel solche Leistungen erbringen kann. Ähnliches gilt von der Tour de France, dem Radsport. Statt sie zu »entschleunigen«, werden die Etappen immer spektakulärer und immer schwieriger. Sich dann über Doping aufzuregen ist bigott.
Wenn der UEFA-Chef Platini jetzt noch eine Champions League der Nationen zusätzlich zu den anderen Wettbewerben vorschlägt und damit noch mehr Spiele pro Saison die Folge sein sollten, dann zeigt dies auch die Verachtung den Sportlern, nein, den Fußballprofis gegenüber, die natürlich nicht automatisch mit jeder Million mehr Gehalt auch schneller laufen können. Mein Trost in dieser Sache: irgendwann wird das für den Zuschauer schlicht uninteressant. Ein Überangebot führt auch zu schlechteren Spielen (die Qualität der Spiele der WM 2010 und EM 2012 wurde kaum ehrlich untersucht) und am Ende zu weniger Zuschauern. Die Fußball-Euphorie der Bundesliga in Deutschland beispielsweise muss ja auch nicht so bleiben; in der Vergangenheit gab es schon Dellen in der Beliebtheit.
Sprachlos vor dem Fernseher sitzend, die ersten Spiele nun resümierend: Gessmanns Analysen scheinen überholt. Das »republikanische Spiel« der Spanier ist passé; es wird nie mehr so gespielt werden wie noch 2012 bei der EM. Spanien ist ‘raus. Taktisch kluge Holländer und kämpferische Chilenen haben sie besiegt. Gut so. Einen neuen Catenaccio scheint es auch nicht zu geben, die überlegenen Mannschaften spielen auch nach 3:0 noch weiter. Hohe Bälle kommen wieder vor, Eckbälle generieren Gefahr. Fast zu schön um wahr zu sein.
@Gregor
Man muss unterscheiden zwischen dem was Praxis ist (auch auf Grund der Umstände) und dem was den Sport ausmacht (oder: ausmachen könnte). Mit Sport meine ich auch Hobby- und Amateursport, wobei sicherlich auch dort Doping vorkommt.
Meine These ist, dass dem Sport immer eine Ehrgeiz‑, eine Leistungs‑, eine Wettbewerbs- oder eine Mess»idee« zugrunde liegt: Entweder sich selbst oder anderen gegenüber. Und diese Idee, die immer Vergleichbarkeit meint, braucht Regeln und einen Rahmen, den alle, die mitmachen, akzeptieren (der Rahmen kann sich ändern, klar). — Man kann das Gerede nennen, weil sich in vielen Bereichen keiner mehr daran hält, aber übersieht man dann nicht, dass gerade das den Sport ausmacht? Doping ist deswegen auch immer Selbstbetrug, der nicht dadurch verschwindet, dass es alle tun (oder dazu »gezwungen« werden).
Noch eine internationale Liga würde m.E. ein Überangebot und eine Übersättigung darstellen (von den Konsequenzen für die Sportler einmal abgesehen).
[Bei den hohen Pässen der Holländer musste ich auch an Gessmann denken.]
Den Gessmann leider nicht gelesen, aber diese Politikübertragungen stimmen mich auch ein wenig skeptisch. Hatte mir vor einiger Zeit mal: »Der Ball ist rund, damit das Spiel die Richtung ändern kann: Wie moderner Fussball funktioniert« (Biermann, Fuchs) zu Gemüte geführt, was sich gut las und auch sehr informativ war, nur wohl mit dem etwas großen Manko, dass das »modern« schon wieder Schnee von gestern ist (daher leider keine uneingeschränkte Leseempfehlung).
So ist es jetzt auch mit den Gessmannschen Analysen?
Was mich nur jedes Mal wieder nervt: Diese emotionalisierende, vereinnahmendwollende mediale Dauerberieslung, die in ihren Amplituden nach unten und oben einfach irrational ausschlägt: Nach dem ersten Spiel ergeht man sich schon in Großfußballmachtsphantasien, um dann nach dem zweiten das eigene Haupt mit Asche zu bedecken?
Najo, der Fußball macht (mir) wenigstens Freude. Ziemlich hohe, enge Leistungsdichte, würde ich sagen. Da kann sich eigentlich kein »Favorit« mehr so sicher sein.
Die Dauerberieselung findet ja nur statt, wenn wir sie zulassen. Und die Großfußballmachtsphantasien blühen ja anläßlich solcher Ereignisse immer und überall. Im Vorfeld erhoben sich die Engländer schon zu den allerersten Titelaspiranten. Vom Gastgeber Brasilien gar nicht zu reden. Auch hier gab es ein Unentschieden nach dem ersten Sieg – und die Kritik war immens. Als Klinsmann nebenbei sagte, die USA könne nicht Weltmeister werden, hagelte es Prügel von amerikanischen Medien. Bescheidenheit ist keine Kategorie des Leistungssports. Und erst recht nicht der Medien.
Ob dass das Ende von La Toque ist – wir werden sehen: Vor allem sind die Spanier an das Ende ihrer körperlichen und mentalen Fähigkeiten gekommen, scheint mir. Große Mannschaften gehen mit einem Knall, so ähnlich hat es ja auch die französische Wundermannschaft gemacht.
Ballbesitz durch Kurzpassspiel wird ja immer noch sehr gepflegt, aber die erfolgreichen Mannschaften scheinen das jetzt mit den klassischen hohen Bällen zu kombinieren und schnellem Spiel nach vorne. Ziemlich tot scheint dagegen die Vierer-Kette. Stattdessen wird so eine Art 5–4‑1 gespiel (Niederlande und Überraschungsmannschaft Costa Rica), bei dem dann die Abwehrleute aber mit nach vorne gehen. Wir werden sehen, wie das weitergeht.
Was ich zu sehen glaube: Mannschaften mit hohen Anteil an UEFA Topspielern (die also eine nationale und eine Champonsleague-Saison in den Knochen haben) haben’s deutlich schwerer als gedacht gegen weniger bekannte Leute, die sich aber noch nicht tot gespielt haben. (Gegenargument 1: Frankreich mit Karim Benzema. Wow!)
Meine Prä-Turnier-Tipps, wer Weltmeister wird, sind ziemlich dahin (Spanien vs. Brasilien). Jetzt bin ich einfach nur noch gespannt. Vielleicht ist das die WM, in der Frankreich wieder zu sich selbst findet.
Ist es nicht so, dass die Dreierkette hinten bei gegnerischem Ballbesitz zur 5er-Kette wird? Das Spiel scheint mir insgesamt sehr viel offensiver zu sein. Bärenstark die Mittel- und Südamerikaner, nicht nur Brasilien, sondern auch Kolumbien und Mexiko. Argentinien wächst mit den Aufgaben. Auch hier: die Abwehr ist gelegentlich unorthodox. Italien ist gestern rausgeflogen, weil sie wieder Catenaccio spielen wollten. Aber Uruguay hatte einfach mehr Biss.
So kann man es auch ganz gut beschreiben. Und entweder rappelt es in Sachen Tor oder es geht ganz bescheiden aus. Dazwischen scheint’s nix zu geben. Hat vlt. auch damit zu tun, dass es bestimmt spätstens ab Mitte 2. Halbzeit in den subtropischen Zonen eine üble Quälerei wird und dann Löcher entstehen.
Und: The Return of the Standardsituation!
Alles sehr spannend.
Schlagzeilen, die heute möglich wären:
7:1 Die Schmach von Belo Horizonte
Deutsche Nationalmannschaft verdammt Bachmann-Wettbewerb zur Bedeutungslosigkeit
That’s it.