Im sehr kurzen Vorwort zu seinem Buch über das Verschwinden der Rituale platziert Byung-Chul Han so etwas wie eine Klarstellung: Es ginge nicht darum, eine verschwundene Zeit zu beklagen, sondern es würde »ohne Nostalgie…eine Genealogie ihres Verschwindens skizziert.«
Das Buch hat nicht einmal 130 Seiten. Aber die haben es in sich. Wie ein Schmied hämmern die im zuweilen aufdringlich daherkommenden Heidegger-Duktus formulierten Sätze auf den Leser ein, einem Leser, der sofort zu Glühen beginnt, eine Mischung aus (anfänglicher) Faszination, Neugier und, besonders gegen Ende, auch Verstörung. Doch dazu später.
Han wiederholt in diesem Buch einige Thesen seiner kultur‑, zivilisations- und zeitkritischen Sichtweisen und erweitert sie um das Element der Rituale und Zeremonien. Er gilt als Kritiker der modernen Kommunikationsmittel, die er mit Kapitalismuskritik verknüpft. Die Internetkommunikation beherrsche nicht nur das Miteinander sondern trage auch noch zur Selbstausbeutung des arbeitenden Subjekts bei. Der böse Kapitalist, der seine Mitarbeiter knechtet, hat ausgedient. Heute begibt sich das Individuum selber und freiwillig in Abhängigkeiten. Diese Kritik ist nicht neu; sie wurde schon vor einiger Zeit als »Kolonialisierung der Lebenswelt« durch die Ökonomie beschrieben. Han nennt den Feind ein wenig nebulös »neoliberales Regime«.
Es folgen durchaus interessante Einsichten, beispielsweise über das Smartphone, welches »kein Ding im Sinne von Hannah Arendt« sei, weil ihm »die Selbigkeit, die das Leben stabilisiert« fehle. Oder die Kommerzialisierung von Werten wie Gerechtigkeit, Menschlichkeit oder Nachhaltigkeit, die leidlich »ökonomisch ausgeschlachtet« würden. Den Werbespruch »Tee trinkend die Welt verändern« eines Fairtrade-Unternehmens kommentiert Han sarkastisch: »Weltveränderung durch Konsum, das wäre das Ende der Revolution.« Prägnant die Hinweise über die Emotionalisierung und »die mit ihr zusammenhängende Ästhetisierung der Ware«. Das Ästhetische werde »durch das Ökonomische kolonialisiert« (sic!). Auch dies eine hinlänglich bekannte Klage.
Rituale und Zeremonien sind für Han »symbolische Praktiken der Einhausung.« Sie schützen uns vor den Abgründen des Seins und »bringen eine Gemeinschaft ohne Kommunikation hervor«, während das Internet »eine Kommunikation ohne Gemeinschaft« erzeuge.« In Ritualen wird, pointiert ausgedrückt, aus dem Egomanen (der von einer auf Ökonomie ausgerichteten Gesellschaft gewollt ist) ein soziales Wesen. Das Verschwinden der Rituale beschleunigt den Prozess einer Ent-Sozialisierung des Menschen und konditioniert ihn auf die Produktion.
Rituale dienen, so lernt man, nie einem besonderen Zweck – außer ihrem eigenen. Sie haben keinen moralischen Kontext. »Die rituelle Gesellschaft ist eine Gesellschaft der Regeln. Sie wird nicht von der Tugend oder vom Gewissen, sondern von einer Regelleidenschaft getragen. Im Gegensatz zum moralischen Gesetz werden die Regeln nicht verinnerlicht. Sie werden nur befolgt« (Hervorhebungen im Original). Moral und Ritual sind Widersprüche, denn Moral setze eine Seele voraus, die »die an ihrer Vervollkommnung arbeitet«, die auf »Selbstachtung« hinziele. Han nennt das »narzisstische Innerlichkeit«. Es ist das Gegenteil des im Ritual und den Zeremonien an der Gemeinschaft orientierten Menschen.
Das Verschwinden der Rituale geht einher mit dem Verschwinden von Gemeinschaften, aber auch der Kraft der Religion. Dennoch ist das Kapitel über Religion und Ritual vergleichsweise kurz. Illustrativer ist da Hans Beispiel für die gemeinschaftsstiftende Wirkung von Ritualen anhand von Peter Nadas’ Essay (Bericht?) »Behutsame Ortsbestimmung«, in der er, der Stadtmensch und Intellektuelle, von seinem Einleben in eine Dorfgemeinschaft erzählt, in der er ein Haus erworben hatte und nun abseits der Hauptstadt zeitweise lebt. Das Dorf ist hier der »rituell geschlossene Ort«, in dessen Mitte ein Wildbirnenbaum steht. Dort »herrscht ein stillschweigendes Einverständnis. Niemand stört es mit persönlichen Erlebnissen und Meinungen. Niemand versucht, sich Gehör und Aufmerksamkeit zu verschaffen. Die Aufmerksamkeit gilt in erster Linie der Gemeinschaft.«
Der bei diesen Gelegenheiten häufig vorgebrachte Provinzialismus-Vorwurf kommt weder bei Nadas noch bei Han vor. Die Gemeinschaft im »geschlossenen Ort« ist nicht per se stumpfsinnig. Zwar wird zugestanden, dass dem heute »wieder erwachenden Nationalismus […] das Bedürfnis nach jener Schließung inne[wohnt], die zum Ausschluss des Anderen, des Fremden führt«. Aber »nicht nur die Negativität totaler Schließung, sondern auch die Positivität exzessiver Öffnung« sei eine Gewalt, die »eine Gegengewalt nach sich zieht«. Diese Gegengewalt sei eine Reaktion »auf die globale, neoliberale Hyperkultur, auf die hyperkulturelle Ortlosigkeit«. Beiden Denkgebäuden fehle, so Han, der Zugang zum Fremden.
Han unterscheidet Gemeinschaft von den modernen Massen-Events, in der jeder für sich bleibt. Eine Gemeinschaft schützt das zum Knecht degradierte bzw. sich selber degradierende »neoliberale Leistungsobjekt«. Wo »Rituale als Schutzvorrichtungen wegfallen, ist das Leben ganz ungeschützt.«
Anhand von zwei im Schwinden begriffenen, eher zeremoniellen Ritualen, wird die These illustriert. Zum einen wird die »Ethik der Höflichkeit« aufgegriffen. Sie ist »eine reine Form. Mit ihr ist nichts beabsichtigt. Sie ist leer. Als rituelle Form ist sie jeden moralischen Inhaltes entleert.« Ähnliches gilt für das Trauerritual. Die Trauerzeremonie »legt sich wie ein Firnis schützend über die Haut und isoliert diese gegen die grausamen Verbrennungen der Trauer angesichts des Todes eines geliebten Menschen.« Trauer stelle ein »objektives Gefühl, ein Kollektivgefühl dar.« Und »Kollektivgefühle haben nichts mit der individuellen Psychologie zu tun. Im Trauerritual ist die Gemeinschaft das eigentliche Subjekt der Trauer. Die Gemeinschaft erlegt sie sich selbst auf angesichts der Verlusterfahrung. Diese Kollektivgefühle verfestigen die Gemeinschaft.«
Wo gibt es anderenorts noch Rituale? Han wird in Japan fündig, wobei sein Befund allerdings uneindeutig ist. Japan weise »auf jene kommende rituelle Gesellschaft hin, die ohne Wahrheit, ohne Transzendenz auskommt, eine durchästhetisierte Gesellschaft, in der der schöne Schein an die Stelle der Religion getreten ist«. Aber was ist mit dem schönen Schein gemeint? Han wirft Roland Barthes eine Japan-Idealisierung vor. Aber betreibt er diese nicht selber, in dem er von der japanischen Teezeremonie schwärmt, der man sich »einem minutiösen Ablauf ritualisierter Gesten« zu unterwerfen habe? »Hier gibt es keinen Raum für Psychologie. Man wird regelrecht entpsychologisiert«, so der Befund. Han konstatiert, die Kommunikation trete »zurück zugunsten ritueller Gesten.«
Aber ist es nicht gerade Japan, in der die Identifikation des Arbeitnehmers mit seinem Arbeitsgeber fast bis zur Selbstausbeutung reicht? Könnte es nicht sein, dass die Teezeremonie nur noch eine Art kulturelle Routine ist? Hier rächt sich, dass Han nur sehr unpräzise Routinen von Ritualen unterscheidet. Eine Routine ist für ihn individuell, nicht auf Kommunikation ausgerichtet. Und ausgerechnet bei der japanischen Teezeremonie konstatiert er, dass dort in der »Selbstvergessenheit« des Individuums keine Kommunikation stattfinde. Rituale erzeugen ja, so Han, im Gegensatz zur Routine, »Intensität«. Aber was, wenn diese Intensität sich dann später wieder in der »fortstürzenden Zeit« einzufügen hat? Wie kann eine Gesellschaft, die im Sog der Kommerzialisierung das Verweilen verlernt hat (für Han eines der Wesensmerkmale der Gegenwart) plötzlich eine Teezeremonie zelebrieren? Der Leser bleibt verwirrt.
Bei der Suche anderer ritualisierter und somit wohl erstrebenswerter Formen kommt Han schließlich auf das Spiel zu sprechen. Mit Georges Bataille unterscheidet er das »schwache Spiel« (welches gesellschaftlich »geduldet« sei) vom »starken Spiel«. Letzteres lässt sich, so Han, nicht mit dem »Prinzip der Arbeit und Produktion vereinbaren. Es setzt das Leben selbst aufs Spiel.« Han philosophiert über den »heiligen Ernst« des »starken Spiels«, schlägt einen Bogen über die Ritualhaftigkeit des Duells (»Nach dem Duell gelten beide Duellanten im Urteil der Gesellschaft als Ehrenmänner«) und endet beim Krieg. »Der Krieg als ritueller Zweikampf zügelt die Gewalt, indem es ihr ein Formgewand aus strengen Spielregeln auferlegt.« Wichtig sei dabei die »Symmetrie der Kampfmittel«. Einigermassen überrascht liest man weiter: »Der Krieg als erweiterter Zweikampf unterscheidet sich grundsätzlich von der Kampfhandlung, die heute immer mehr zu einer rücksichtslosen Tötung ausartet«. Den modernen Bomben- und den postmodernen Drohnenkrieg lehnt Han als »Produktionsschlacht« ab. Sein Ideal ist auch nicht der Soldat, der als Söldner agiere, sondern der »souveräne Spieler«, der »Krieger«. Weder im Duell noch im Kriege ginge es primär um den physischen Tod des Feindes sondern um »Lebensintensität«. Huizinga wird noch dahingehend vereinnahmt, »dass die Ritualisierung des Krieges das ‘ethische Niveau’« wesentlich gehoben« habe. Ob die immer mehr sich verbreitenden Hooligan-Schlägereien, die nach festen Regeln ausgetragen werden, Hans Ideal nahekommen? Man erfährt es nicht. Zwischenzeitlich glaubt man, einen Jünger-Adepten vor sich zu haben.
Es verwundert danach kaum, dass der Regisseur Werner Schroeter noch als Kronzeuge für den »souveränen Freitod«, der mit einer »extremen Lust« einher zu gehen habe, zitiert wird (was von Ferne an Jean Améry erinnert). Die letzten Kapitel behandeln so unterschiedliche Thematiken wie Immanuel Kant, die zeitgenössische Pornografie und den »Dataismus«. Sie wirken eher additiv, zumal sich Han hier auch zuweilen selber wiederholt.
Es passt zum raunend-verschwörerischen Subtext des Buches, dass das laufend konstatierte »neoliberale Regime«, jener Urquell allen Übels, am Ende ein anonymer, nicht definierter Diabolus ex Machina bleibt. Einer »Topologie der Gegenwart«, wie der Untertitel verspricht, ist das nicht würdig. Byung-Chul Hans Ausführungen zur gemeinschaftsbildenden Funktion von Ritualen und Zeremonien sind erhellend und luzide. (Ver-)Störend ist die explizite Würdigung des archaischen Kampfes. Allenfalls die Erinnerung an das kurze Vorwort mildert den leichten Ärger. Das Glühen des Lesers ist nach und nach verschwunden. Der Zunder wurde nass.
Eine erhellende Rezension! Die geschilderte Leseerfahrung gleicht dem Erlebnis eines Gesprächs Byung-Chul Hans mit dem Literaturkritiker Stephan Zweifel im Zürcher Schauspielhaus im Januar dieses Jahres. Es ging um einen zuvor gezeigten zweistündigen Film Hans, der nach eigener Aussage zuvor nie was mit Film zu tun und nie eine Kamera in der Hand gehabt hatte. Der Film war eine schöne Visualisierung von Hans Philosophieren: ein experimentierendes Vorantasten, getrieben von einer ebenso gebildeten wie kindlichen Neugier. Das Gespräch war durchaus unterhaltsam.
Das ist schon eine Enttäuschung, wenn eine kulturelle Streitschrift fast völlig ohne vertiefte Beispiele auskommt. Auch die psychologischen Bemerkungen scheinen mir völlig willkürlich zu sein. Über die Trauer wird sehr kontra-intuitiv fabuliert, und den Krieg möchte man am liebsten vor so viel Unsinn in Schutz nehmen.
Ich finde auch bei den typischen anti-thetischen Begriffen keine Überraschungen: Neoliberalismus. Kommunikation. Konsum. Moral.
Immerhin: Psychologie.
Den Begriff »Psychologie« als Warnung vor falschen Denkgewohnheiten zu verwenden, hat eine sentimental-nietzscheanische Note. Das liegt ein wenig abseits des Mainstream, ist aber nicht zu 100% originell.
Den Seitenhieb auf das Christentum finde ich ziemlich läppisch. Han meint, nur eine falsche Moral betet oder bettelt rituell für die Vervollkommnung der Seele. Narzisstische Innerlichkeit, die immer in Irrtum und Verhängnis mündet.
Wäre schon schön gewesen, wenn wir Ritual und Gebet unterschieden hätten, obwohl rituelles Beten ja der Klassiker jüdisch-christlicher Religionen ist...
Apropos: die stärksten Rituale wie die »Wandlung von Brot und Wein in der Eucharistie«, oder wie die feierliche Vereidigung der Soldaten sind wohl keine Erwähnung wert?! Das sind ja wohl Verzweckungen, die Han nicht gebrauchen kann.
EIn Hauch von Leere weht uns da aus dem Osten an. Transzendente praktizierend-sinnhafte Leere, für Erwachsene ohne Moral, mit dem Ich am rechten Fleck, der Gemeinschaft nur im Verhältnis 1:1 verpflichtet. Wer uns mehr aufdrängt, den nennen wir einen Rechtspopulisten, und wer das Ich über die Gemeinschaft stellt, den nennen wir einen neoliberalen Nihilisten.
Der Samurai hat Heidegger und Ernst Jünger aus dem gleichen Grund gefallen, wie er nun Byung-Chul Han gefällt – oder den Kraftsportlern Nicholas Taleb und Joe Rogan: Weil deren Kampfhandlungen persönlicher Natur und zugleich in höchstem Maße durch Regeln und Traditionen geformt – und in dieser Hinsicht entsubjektiviert waren.
Der Nullpunkt moderner Gesellschaften ist die mit der forcierten Individualisierung (=Subjektivierung) einhergehende Einsamkeit. Das große säkulare Gegenbeispiel ist der Sport als emphatisch erlebbares Massenspektakel. Das Militär verliert gesellschaftlich an Bedeutung.
Das Theater hält einen mittleren Bereich besetzt,verliert aber deutlich an Bindung bei den Jüngeren. Die Religion (=der Gottesdienst) als Pflegstätte nicht zuletzt »der schönen Geste« (Han) verkümmert. Heidi Klum z. B. tritt an dessen Stelle mit ihrer publikumswirksamen Model-Schule im TV, wie auch das Promi-Dinner, wo insbesondere das gute Benehmen (=»die schöne Geste«) massenwirksam behandelt werden.
Byung Chul Hans Smartphone-Deutung geht an den Besitzern vorbei, wie mir scheint.
Die nicht ganz taufrische Frage steht im Raum: Wie kann modernes Leben gelingen und welche Rolle spielt dabei das Ritual?
Viel Interessantes dazu findet sich nicht nur bei Mircea Eliade und Emile Durkheim, sondern auch im Rolling Stone Magazine und in der Theorie des kommunikativen Handelns (besonders Bd. 1, S. 72 – S. 114).
Han kommt ohne Sozialpsychologie aus, das ist methodisch der sozusagen vormoderne Zug bei ihm – nochmal eine Berührung mit Nicolas Taleb und Ernst Jünger.
»Die rituelle Gesellschaft ist eine Gesellschaft der Regeln. Sie wird nicht von der Tugend oder vom Gewissen, sondern von einer Regelleidenschaft getragen. Im Gegensatz zum moralischen Gesetz werden die Regeln nicht verinnerlicht. Sie werden nur befolgt.«
Rituale erzeugen ja, so Han, im Gegensatz zur Routine, »Intensität«.
»Rituale und Zeremonien sind für Han »symbolische Praktiken der Einhausung.««
Vergleicht man die drei Stellen, wird ein Widerspruch deutlich: Wenn symbolisches Handeln (als Ritual) Intensität erzeugt, dann wirkt es aus sich heraus und es steht zugleich für etwas anderes. Das ist eben keine Regelleidenschaft, nichts äußeres und sicherlich keine bloße Befolgung, sondern Anteilnahme: die Regel, das Ritual wird aus und durch sich als bindend, bedeutsam und intensiv erfahrenen. Und gerade weil das nicht mehr so ist, fehlt der Religion die Kraft. Die Eucharistiefeier – kundigere Mitleser und ‑schreiber mögen mich korrigieren – steht symbolisch für das letzte Abendmahl und man kann ihren regelhaften Ablauf einfach hinnehmen oder sie als bedeutsam erfahren. Das ist doch der entscheidende Unterschied.
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Hyperkulturelle Ortlosigkeit? Sagt Han was das sein soll? Ich stehe vor dem Begriff einigermaßen ratlos.
Hyperkulturelle Ortlosigkeit: Womöglich in Anlehnung an den »Hypertext« des Internet – eine virtuelle Ortlosigkeit. So interpretiere ich das.
Über Eucharistie steht im Buch nichts. Vermutlich weil das Ritualhafte einem Bild, einer »These«, also mehr als nur dem reinen Zweck des Rituals selber folgt. Es ist ja die Wandlung von Wasser in Blut und vom Brot in Fleisch (Transsubstantiation [Kathpedia-Link absichtlich gesetzt, obwohl er »parteiisch« ist]). Auch hier bin ich nicht sicher.
@Gregor
Nur wird sich eine vergleichbare These in den meisten religiösen Ritualen finden (ein anderes Beispiel wäre die Taufe). Das Ritual aber wirkt nicht durch die These. Pointiert gesagt: Ein gotischer Dom spricht heute noch, die in ihm praktizierten Rituale aber nicht mehr. Wenn Rituale nicht mehr lebendig sind und dann erst verschwinden, dann ist das Verschwinden gar nicht das Problem, sondern der Lebendigkeitsverlust davor.
Man könnte gegen Han auch einwenden, dass moderne Gesellschaften ja Regelgesellschaften sind, hinsichtlich Recht und Gesetz und zwar ausufernde.
@Dieter Kief
Die Individualisierung ist eine scheinbare, oder? Ihr zu Grunde liegt eine Konformität, also bestimmte Praktiken wie Konsum, Selbstdarstellung, usw.
Rituale binden, insofern könnten sie, selbst wenn sie bloß ungefähr wiederkehrende, intensive Handlungen wären, ein Gegengewicht bilden. Fortschreiten, Zerstreuung, Unaufmerksamkeit und Abwesenheit gerieten dann in eine dialektische Spannung, Moderne wäre als (phasenweise) entschleunigte denkbar.
Die Eucharistie als Ritual ist das beste Beispiel dafür, dass Han sich die Abgrenzung von Zeremonie und Gebet von den profanen Ritualen nicht richtig überlegt hat.
Denn mit der Abgrenzung könnte man auch über Parallelen nachdenken; immerhin ist die Tee-Zeremonie und das »berühmteste Abendessen aller Zeiten« einer Alltagssituation abgewonnen, die erst mit der Länge der Tradition zu ihrer Regularität gefunden hat. Beide Rituale münzen soziale Rollen aus, sind also nicht auf eine einzige Subjektivität reduzierbar, in der sich dann alle und keiner wiederfinden, in einer gelungenen Synthese des Bewusstseins womöglich...
Ich lese bei Han eine gewisse Un-Entschlossenheit darüber, ob man die Rituale tatsächlich als Kur gegen die moderne Krankheit einsetzen kann. Er neigt unwillkürlich auf die bekannte Schlagseite des kritischen Denkens, wonach der Verfall (hier des erfüllten individuellen Lebens) nur eine Erklärung im Äußeren der Gesellschaft gestattet, womit im wesentlichen die »schlechten Nachrichten« nur verdoppelt werden. Der Verfall hat einen »guten Grund«, aber die pragmatische Schlussfolgerung bleibt offen...
Seine Psychologie (hehe!) ist dennoch nicht ganz ohne, weil er offenbar bemüht ist, eine falsche Individualität, die sich auch noch zeitgeistig rückversichert, von einer gelungenen, aber nur im Antagonismus zu den Umständen erreichbaren Individualität zu unterscheiden. Das gute und das schlechte Leben, wie man es nannte. Natürlich sind eklektische Erörterungen von Ritualen quer durch Raum und Zeit nicht unbedingt als Rezept zu lesen, aber methodisch kommt er damit um eine Antwort auf die zentrale Frage herum, nämlich die Frage, ob wir das machen sollen (weil’s hilft!), oder nicht (weil ja sowieso schon keiner mehr dran interessiert ist).
Dass Rituale gemeinschaftsstiftend sind, ist durchaus interessant. Dass sie aber sozusagen keinerlei anderen Zweck verfolgen als sich selber, ist sehr fragwürdig. In der Tat bleibt er Antworten schuldig – was natürlich legitim ist, aber die Sache nicht leichter macht.
Seine Abkanzelung »moderner« Rituale als Massen-Events (die natürlich nur wieder dem »neoliberalen Regime« dienlich sind), überzeugt nicht. Man könnte ja immerhin daraus schließen, dass Gemeinschaftserlebnisse durchaus noch gewünscht sind, aber nur anders vollzogen und erlebt werden. Der Rekurs auf den antiken Krieger bringt ja relativ wenig.
Ich hab mir das nicht im Detail bei Han angeschaut, aber ich weiß aus Erfahrung, dass Subjktivität ein Problem ist. Adorno hat sich daran die Zähne ausgebissen, Habermas – ich schulde ihm dafür ewigen Dank, hat das, diese Aporie bei Adorno, klar benannt – auch als systematisches subjektphilosophisches Defizit.
Heidegger, Han und Jünger, aber auch Durocher und Joe Rogan und der ebenfalls Kraftsport treibende Nicholas Taleb machen an dieser Stelle den Shortcut zum Zen und zu den Samurai.
Die richtige – ok – - mittlere – - Lage in dieser Debatte hat sehr früh schon Erich Fromm eingenommen, der verstanden hat, dass via Zen eine genuin körperliche Pforte zur Transzendenz offenbleibt, dass diese offene Pforte aber nicht nötigt, die moderne Vernunft preiszugeben. Er hat diese Kluft mit der Sozialpsychologie gechlossen, also pragmatisch, d. h. auch systematisch genau richtig.
Fromm ist freilich genau wegen solcher Ketzereien aus dem Institut für Sozialforschung von Horkheimer und Adorno hinausgeworfen worden, wie man wird sagen müssen. Unterdessen müsste auch Habermas exkommuniziert werden, weil der sich – breits ab dem Band »Nachmetaphysisches Denken«, und dann immer deutlicher, bis hin zu seinem nächsten Buch, das im September erscheinen wird, ebenfalls für ein Denken ausgesprochen hat, das er nun »postsäkular« nennt, und das den Gottesglauben genau wie Fromm früher schon, nun nicht mehr kategorisch für prämodern (= voraufklärerisch, überholt, oder gar aufklärungsfeindlich=schädlich) ansieht.
Han lässt durchaus auch traditionelle christliche Rituale gelten – und er benennt insbesondere mit Blick auf die Schönheit in »Rituale« auch ein ganz konkretes Defizit, das entsteht, wenn man die Rituale sozusagen ersatzlos streicht, nämlich – - – die öffentliche Pflege der Schönheit – u. a. via schöner Gesten, die die Pfarrer während des Gottesdienstes ausführen. – Schönheit wird so im ganzen Volk verankert und via Beispiel auch mental bei allen Gottesdienstbesuchern eingeübt. Das ist ein Motiv, das sich Han mit – hehe – Peter Handke und mit Marcuse teilt (es gibt einen konkreten Bezug zu Marcuses »Permanenz der Kunst«. Auch Marcuse schreibt da, genau wie Han, ausdrücklich über die Schönheit der Geste – n i c h t als adliges, sondern ausdrücklich als volkstümliches ästhetisches Merkmal, das – den späten (!) – Marcuse Partei ergreifen lässt für – - – das Hippiewesen. Und das Hippiewesen könnte man in der Tat als ein katholisches Derivat ansehen).
Mein nächster Weg führt mich nun ins Konstanzer Münster, daher alles nur ganz kurz- hehe: Gottbefohlen!
Aus der Entfernung kommt mir vieles dieser >neuenschrecklich Neuenneue Generation< von Maschinengattungen, von Strukturen und Marktstrategien fordernd vor ihm steht. Das sentimentale Altern ist demnach mit Riesenschritten vorgerückt. Doch hierbei handelt es sich um eine trügerische, eine künstliche und äußerst hinderlich Erscheinung, weit mehr Stimmungssache als Notwendigkeit, [..]
Wir erkennen gewissermaßen durch die Lupe der Mikroelektronik das Prinzip des rückverbundenen Lebens [..]
Trauern wir als nicht länger der verschollenen Tiefe, der verflüchtigten Höhe nach. [..] Nicht konservieren, im Erhalten erwürgen, sondern auf den Nerv der Großen Verwandlung treffen, dann, meine ich, können wir leben.« (Botho Strauß »Der junge Mann«)
Ich würde gern das Buch lesen, um besser Stellung nehmen zu können, aber das läßt sich derzeit nicht machen. Bisher habe ich Byung-Chul Han auch immer mit einer gewissen Faszination gelesen, aber zugleich mit allerlei Bedenken, und Gregor K.s Lektürebericht gibt dem ambivalenten Gefühl Nahrung. Han nimmt eine ganze Reihe von in den Massenmedien beliebten, mehr oder minder modischen Themen auf und dreht sie durch den philosophischen Fleischwolf, überzieht die Stoffe mit einer Terminologie, die vor allem an Heidegger gebildet ist. Oft schien mir, daß diese Gangart, diese démarche ziemlich oberflächlich ist, trotz dem durch die Terminologie erzeugten Eindruck von Tiefe. Daß er dem Neoliberalismus an allem die Schuld gibt, darauf weist Gregor mit Recht hin. Der Begriff stört mich gar nicht, er wird zwar selten genau definiert und könnte, wenn man sich naiv stellt, irreführend wirken, aber in Wahrheit wissen wir doch alle mehr oder weniger, was damit gemeint ist. Der Begriff hat im Lauf seiner ein paar Jahrzehnte alten Geschichte eben Bedeutung angesetzt. Ich gestehe, daß ich Hans Abneigung gegen den Neoliberalismus teile. Auch ich glaube, daß seine angeblich ideologiefreie Ideologie alles durchdringt und das Unbehagen in der heutigen Gesellschaft auf allen möglichen Ebenen bedingt. Möglicherweise gibt es zu dieser Grundverfassung derzeit und bis auf weiteres aber keine Alternative. Mag sein.
Ceci dit: Han erarbeitet seine Befunde in der Regel nicht nachvollziehbar, er stellt einfach viele Behauptungen in den Raum. Und ich habe zudem den Eindruck, daß er nicht gerade aus einem reichen Erfahrungsschatz schöpft, wie es Schriftsteller zu tun pflegen. Es bleibt ein akademisch-journalistisches Schreiben. So kommt es dann im Konkreten und vor allem aus der Sicht von Leuten, die sich auskennen (so wie ich, wenn es um Japan und noch ein paar andere Themen geht) zu abstrusen Schlußfolgerungen wie denen, daß in der gegenwärtigen japanischen Gesellschaft bestimmte Rituale sinnstiftend wären. Die Teezeremonie, lieber Gregor, ist keine Routine, sie ist Folklore, für einige Leute ein Hobby, davon abgesehen aber Geschichte, spielt in der japanischen Gesellschaft darüber hinaus keine Rolle. Die große Mehrheit der Japaner nimmt an solchen Zeremonien alle paar Jahre einmal Teil, genauso wie an Kabuki-Theateraufführungen (wenn überhaupt je), oder an einer Zeremonie-light-Version, wenn sie als Touristen eine Tempelanlage besuchen. Nein, die Realität ist ganz anders, sie ist in Japan von einer Unzahl von Regeln, Vorschriften, Verboten bestimmt, die einen Dauerstress bewirken und mit der neoliberalen Gesellschaft bestens vereinbar sind. Die kapitalistische Wirtschaft funktioniert durchaus nicht ausschließlich auf der Basis eines egoistischen Individualismus – neben Japan sind da auch China und Südkorea Beispiele, unterschiedliche, die drei unterscheiden sich stark. Zu weiten Teilen ist die japanische Gesellschaft quasi-militärisch organisiert, von der Grundschule an. Die ständige Befolgung einer Unzahl von Regeln, nach deren Sinn nie jemand fragt, nährt hier nicht Leidenschaft, sie ermüdet auf Dauer die Leute.
Wenn Han schon ein Zeremoniebeispiel aus Japan bringen möchte, dann wäre die Kirschblütenfeier besser geeignet. Nach meiner jahrelangen teilnehmenden Beobachtungen ist ihr Hauptzweck ein wenig lockere Gemeinschaftlichkeit, wo man in kleinen Gruppen ißt und trinkt, vor allem Letzteres, die Leute werden beschwingt und beschwipst und der Frühling tut das seine dazu. Das ist schön, dazu braucht es keine Religion, allenfalls ein bißchen Glaube ans Leben an sich. Rituale wie Han sie meint sind das aber kaum, dazu wären dann tatsächlich genauere Regeln vonnöten, vor allem aber ein starker religiöser oder ideologischer Kontext. Und der ist in westlichen Gesellschaften (wie in Japan!) nicht vorhanden, und ihn wiederherstellen zu wollen, wäre ein zumindest fragwürdiges Unterfangen. Ist Han dazu bereit, zu neuer Religion oder Ideologie? Oder will er »nur« ein paar Rituale? Frage an Gregor K.
Ich glaube, daß Han mit haltlosen Betrachtungen wie denen zur Teezeremonie, die sich tatsächlich an Haltlosigkeit mit denen von Roland Barthes messen können (siehe z. B. Barthes über Pachinko), auf Holzwege gerät.
Dabei will ich es im Moment belassen, der Beitrag ist eh schon zu lang. Zu sagen hätte ich noch was zum Thema Krieg, und zu fragen hinsichtlich des Ausdrucks „Einhausung“ – da wird doch das heideggerisch angehauchte Nachkriegsthema vom „unbehausten Menschen“ aufgewärmt und eine Dorfpoesie herbeigesehnt, wie man sie (die Sehnsucht) nicht zuletzt auch von einigen Werken Peter Handkes kennt. »Über die Dörfer« etc.
@Phorkyas
Danke für die Strauß-Zitate. Das Buch ist ja von 1984. Inzwischen stimmt ja auch Strauß in den Chor der Kulturkritiker ein. Und dies immer vehementer und zugleich abgewandter.
@Leopold Federmair
Beim Begriff »Neoliberalismus« stört mich zweierlei. Zum einen ist er missverständlich, weil er ursprünglich für das genaue Gegenteil dessen stand, wozu man ihn heute verwendet. Heutzutage wird er pejorativ für das Primat der Ökonomie gegenüber politisch-gesellschaftlichen Fragen verwendet. »Liberal« wird dabei als »laissez faire« übersetzt – und das ausschließlich im Rahmen der Wirtschafts- und Arbeitswelt. Wer sich als »Liberaler« sieht, wird sofort als Deregulierunshyäne identifiziert.
Was mich bei Han stört, ist weniger dieser fahrlässige Gebrauch des Wortes »neoliberal«, sondern die Verknüpfung mit »Regime«. Als lebten wir in einer postdemokratischen Welt. Jemand, der so stark auf Sprache rekurriert (es gibt eine Eloge auf das Gedicht), weiß, warum er »Regime« sagt.
Die Bedeutung von Ritualen im Öffentlichen Raum würde ich ebenfalls herausstellen. Die säkulare Zeremonie (Zeugnisse, Vereidigung) ist an den Schwellen ausgerichtet, und findet nur zweckbedingt statt. Genauso in den Kirchen bei den Lebensstationen, allerdings gibt es zusätzlich die Jahres- und Wochenrituale.
Die Einrichtung schöner Gesten in der religiösen Sphäre ist oft herausgestellt worden, mir fällt etwa F.X. Kroetz ein, der sie dem derben Leben der Bauern entgegen stellt. Das ist eine andere Wahrnehmung als eine dörfliche Idylle, wie bei Nadas. Überhaupt ist eine Dualität von Kultur und »Natur« (sprich Bauern-Barbarei) ein völlig anderes Konzept als eine Dualität von Idylle und organisiertem Ameisen-Leben (sprich Stadt und Land).
Über die philosophische Methode von Han würde ich noch gerne was sagen: die Behauptungsfreude, das Anfangen-und-Liegen-lassen, die Reminiszenzen der Begriffe, und die »Löchrigkeit der Textur«, sprich die alte Frage, ob die gelungene Formulierung die fehlende Idee ersetzen kann...
Ich bin kein Profi, aber ich bin ein sehr kritischer Leser bei Philosophen. Ich meine, dass die Methode zwar scheinbar zurücktritt, dass aber viele Einwände bereits auf die »Freiheit des Stils« zurückführbar sind. Fehlende Definitionen, Unterscheidungen, Wissen (Japan!), etc.
Die Kritik auf den Punkt gebracht: Methode und Stil sind ein und dasselbe, auch wenn wir das eine der Literatur und das andere der Philosophie zuordnen. Es ist doch im Prinzip nichts gewonnen, wenn wir die Schwäche in der argumentativen Darstellung mit Mitteln der Rhetorik und reichhaltigen Subtexten ausgleichen. Das geht sich gerade mal so aus, würde ich sagen, aber richtig befriedigend ist das nicht, oder?!
@ die_kalte_Sophie
Byung-Chul Han schreibt ausdrücklich Essays. Also keine methodisch strikten Abhandlungen. Das Kennzeichen des Essays ist, dass er in aller Kürze eine direkte Beziehung zum Mikro- wie zum Makrokosmos unterhält. Er ist wesensmässig schnell und riskant.
Zu den modernen Ritualen gehört laut John Updike z. B., einem überaus weltgewandten Mann, auch das Fernsehen.
@ Leopold Federmair
Han zielt mit »Einhausung« nicht aufs ländliche Leben. Ich hab das in der online-Leseprobe bei Ullstein nachgesehen. Er meint das existentiell.
Handke ist auch als (Vor)städter Katholik. Bei ihm ist der öffentlich praktizierte Glaube nicht zuletzt ein Bollwerk gegen die Versuchungen des Irrsinns in seiner selbstgewählten vorstädtischen Einsamkeit. Er spürt und artikuliert, wie stark Einsamkeit wirkt – und wie verbindlichund tröstend das kollektive katholische Ritual. – Ähnliches lässt sich vielleicht auch über Konzerte sagen.
Handke ist auch als (Vor)städter Katholik. Bei ihm ist der öffentlich praktizierte Glaube nicht zuletzt ein Bollwerk gegen die Versuchungen des Irrsinns in seiner selbstgewählten vorstädtischen Einsamkeit. Er spürt und artikuliert, wie stark Einsamkeit wirkt – und wie verbindlichund tröstend das kollektive katholische Ritual.
Das ist Unsinn. Handkes »Beschäftigung« mit Religion ist eher eine Erkundung des Mystischen. Daher kommt er auf z. B. auf Meister Eckhart und – in den letzten Jahren immer mehr – auf die Sufisten im Islam (fundamentalistische Auslegungen lehnt er ab). Am Katholizismus interessiert ihn die Eucharistie, die (Ver)Wandlung. Handke ist – sofern man dies auf eine solche Formel bringen kann – Agnostiker. Mit dem Kirchenapparat hat er wenig bis nichts im Sinn
Han beschäftigt sich kaum mit religiösen Ritualen. Natürlich ist er im Essay »frei«, aber eine gewisse Stringenz muss man schon erwarten dürfen bzw. dessen Fehlen kritisieren. Irgendwann posierte er nur noch im nachgemachten Heidegger-Ton.
Ich möchte hier noch ein Beispiel für einen kulturellen Raum mit Ritualen bringen, eine Art Enklave. Es ist der argentinische Tango, der sich seit den achtziger Jahren auf sagenhafte Weise internationalisiert (globalisiert?) hat, von seinen Ritualen lebt, auf bestimmten Praktiken, menschlichen Beziehungen und einem Ideengebäude fußt, das keine sehr scharfen Konturen hat und kaum zum Dogmatismus neigt. Ich kenne viele Leute, die ihr Leben zu einem großen Teil in diesem Milieu verbringen und Sinn daraus beziehen. Es gibt eine inzwischen ziemlich lange, abwechslungsreiche und interessante Geschichte dieser Bewegung, sowohl was Musik als auch was Tanz betrifft und auch in Hinblick auf Texte. Der wesentliche Ort, an dem gewissermaßen die Messe zelebriert wird, ist die Milonga. (Für eine bestimmte Auffassung von Tango ist es die Bühnenshow und die Nähe zu Stars, also kommerzielle Eventkultur. Ich selbst bin in diesem Fall im Mainstream, bei den Milongueros.) Es gibt große oder umstrittene Figuren in der Geschichte, von Carlos Gardel bis zu Astor Piazzolla, und ebenso in der Gegenwart, da sind es vor allem Tänzer. Ich erinnere mich an Gustavo Naveira, der wie ein Faun auftrat, ein Musik- und Bewegungsgenie, charismatisch, eher kleingewachsen, gedrungen, nicht gerade schön, mit stärkster Anziehung auf Frauen. Es gibt im Tango Rituale, oft sehr alte, die mir teilweise überlebt vorkommen und sich trotzdem halten. Natürlich sind da auch die Regeln beim Tanz selber, und in diesem Rahmen der freie Spielraum, aus dem der Einzelne etwas zu machen hat.
Man könnte auch Fußball als Beispiel nennen, die Fanklubs, die Kirchen und Sekten, mit dieser Neigung zum Kampf, was in Argentinien regelmäßig tödliche Folgen hat. Was ich sagen will: auch die gegenwärtige kapitalistische Gesellschaft ist von Ritualen durchsetzt, von kulturellen, quasi-religiösen oder auch religiösen Enklaven (ich glaube, auch die Kirchen sind inzwischen nur noch Enklaven), in einer Pluralität, wo alles mögliche koexistiert und die in den Enklaven engagierten Personen von den anderen Enklaven meist überhaupt nichts wissen, was auch gar nicht nötig ist. Das ist m. E. die positive Seite der gegenwärtigen Entwicklung der westlichen Gesellschaften. Wenn Byung-Chul Hans Befund lauten sollte, daß das alles verschwunden ist, hat er unrecht. Nur die große, umfassende Dogmatik ist verloren gegangen, die Rituale, die ein ganzes »Volk« (oder was) verbinden, und das ist nicht zu bedauern.
Wahrscheinlich gibt es derzeit zwei Gefahren: eine Retotalisierung mit den entsprechenden Einschließung/Ausschließung-Mechanismen, wie sie die sehr realen neofaschistischen, antiliberalen (auch anti-neoliberalen) Tendenzen betreiben; und eine flächendeckende Kommerzialisierung, wo neben dem kommerziellen Mainstream keine alternativen Räume bleiben oder diese so eng werden, daß die Pluralität der Gesamtgesellschaft mehr oder weniger verloren geht. Zwei Arten von Totalitarismus, der ideologische, wie ihn Hannah Arendt beschrieb und analysierte, und der technisch-ökonomische (Günther Anders).
(Anmerkung: Ich spreche von Gustavo Naveira im Präteritum, aber er lebt noch, tanzt, unterrichtet. Man kann ihn im Film von Sally Potter sehen, Tango Lesson.)
@Dieter Kief
Ist schon klar, daß »Einhausung« nicht einfach ein »Zurück-ins-Dorf«-Ruf ist. Han hat das sicher von Heidegger, speziell »Bauen Wohnen Denken« und generell die Technik-Kritik Heideggers in der Nachkriegszeit. Der Existentialismus eines sich gründenden Daseins inklusive himmlischem Schutzraum (Heidegger wollte die Götter, stets im Plural, also eher griechisch als christlich, geschrieben) hat seine konkrete, lebensweltliche Ausgangserfahrung allerdings doch in einer dörflichen, bäuerlichen Welt, in der Handwerker eine Rolle spielen (siehe »Der Ursprung des Kunstwerks«), aber keine Industrieproduktion und keine Kommunikationstechnologien, schon gar keine digitalen (von denen er noch nichts wußte). Diese Nostalgie scheint mir schon auch bei Han durchzuschlagen, ob als angelesene oder als erfahrene. Heidegger war kein urbaner Philosoph. Aber unsere Welt heute ist, ob man will oder nicht, mehr und mehr urban. Auch die Dörfer haben infolge der erwähnten Kommunikationstechnologien und der Motorisierung etwas Urbanes.
@ Gregor Keuschnig # 15
Ich sage nicht, Peter Handke sei für die Institution Kirche. Ich sage: Peter Handke ist der katholische Gottesdienst als Gemeinhaftserlebnis (als kollektiv erlebtes Ritual) eine Versicherung und ein Trost, gerade weil der Gottesdienst rituell Gemeinschaft stiftet und damit den Einzelgänger Handke mit dieser Gemeinschaft der Gläubigen verbindet und in ihr – temporär! – aufhebt. Handkes Angst davor, in seiner Vorstadt-Klausner-Einsamkeit den Verstand zu verlieren hat er (ok, als Figurenrede) eindringlich beschrieben (oder erzählt – ich erinnere Passagen z. B. in »Ein Jahr in der Niemandsbucht«).
Dass ihm solche Ängste bekannt sind, liegt im übrigen auf der Hand. Denn genau das – den Verstand zu verlieren, – ist die seit seit alters bekannte Krux der Besonderung (Fromm hat das sehr gut verstanden und – bearbeitet – a) monographisch (Die Furcht vor der Freiheit/ Die Kunst des Liebens) wie auch b) therapeutisch).
Dass sich Peter Handkes Glaube mit den mystischen Traditionen verbindet teile ich ausdrücklich, zumal ich selber die Mystik ebenfalls sehr schätze. – Wie Sie sich vielleicht erinnern habe ich vor wenigen Tagen über Heinrich Seuse geschrieben – der ist ein Schüler Meister Eckharts, – der sprachmächstigste und sprach-virtuoseste von denen. Peter Hamm hat den dafür sehr geschätzt. Und Fromm (und Bloch) haben genau diese Tradition hochgehalten – beide mit ausdrücklichem Bezug auf insbesondere Eckhart. Martin Walser mehr mit Bezug auf Seuse... Fromm auch mit (positivem!) Bezug auf – Zen und Sufismus, – - – und – wie Handke – - : Goethe u n d – - – - Heidegger (der mal gesagt hat, sicher nicht unbedacht: Was die Zen-Mönche tun,- – - darum gehe es ihm auch, das sei sozusagen sein ureigenster Bereich).
Der Bezugnahmen von Handke auf Heidegger sind viele. Heidegger schien übrigens tatsächlich in den Fünfzigern den Verstand zu verlieren; er war deshalb in einer Anstalt, nicht weit von hier.
Explizite Heidegger-Motivaufnahme durch Handke z. B. in Der Bildverlust – Kapitel 29. Da geht es – um das Licht, die Landschaft und – die Lichtung. Handke erzählt den Ziviliationspozess anhand des äusseren und inneren Lichts, würde ich meinen. Und das ist im Kern auch – - – die Geschichte der Mystik.
Um noch den Bezug zu Han herzustellen : Mystik impliziert Transzendenz, und manche Rituale halten den Zugang zu diesem Bereich jenseits der Subjektiviät offen. Das eben macht (manche) Rituale in einer sozusagen subjektivitätsvergifteten (=narzisstischen (neurotischen)) Gegenwart so wertvoll. Sie stiften einen Zustand, in dem die an sich selbst irre werdenden vereinzelten ZeitgenossInnen dem (durchaus auch konkurrenzkapitalistisch tingierten) modernen Individualisierungsdruck, der auf ihnen liegt – bitte um Nachsicht – via je persönlicher Teilnahme am Ritual temporär kollektiv zu heilen vermögen. Der medialen »Serialität« (Han), zu der viele Zeitgenossen in dieser Lage Zuflucht nehmen, spricht Han diese heilende Fähigkeit ab. U. a. weil sie kein körperliches (!) Einvernehmen herstellen (und also: buchstäblich – steril sind).
Erlaube mir ebenfalls einen Exkurs, diesmal mit einem Lob für Han:
»Weltveränderung durch Konsum, das wäre das Ende der Revolution.«
Finde ich gut. Zeigt, dass im Essay auch gelungene Intuitionen zu finden sind.
Es ist der faire Handel eine Chimäre ohne gleichen. Zum wiederholten Male wird die »einzige europäische Idee überhaupt«, nämlich die Verborgenheit von Trittbrettfahrer (Kapitalist) und ausgebeuteten Arbeitern in eine internationale Beziehung übersetzt. Es treten auf, der geizige Konsument und der arme aber liebenswerte Kleinbauer.
Volkswirtschaftlich hat der Fair-Trade-Handel keine Bedeutung, und die Idee eines fairen Preises ist wiederum sozialistisch, weil man annimmt, dass der Kunde vollständig Rücksicht auf die Kosten des Erzeugers nehmen kann. Dann brauchen wir keinen Markt, und jeder darf Preise fordern, wie seine Ausgaben es erfordern.
Was aber genau in dem Satz von Han steht: die Revolution scheiterte von Anfang an; die Frage, wer den Kuchen von Marie Antoinette bekommt, und alle künftigen Hof-Zuckerbäckereien, konnte nicht im Handstreich geklärt werden. Sodass die Frage der Gerechtigkeit in den Lauf der Geschichte selbst hinein verlegt werden musste. Incipit Bürgertum! Die Revolution wäre als beendet, im Sinne des erfolgreichen Abschlusses, wenn die Frage der Gerechtigkeit durch den »politisch korrekt bezahlten Konsum« beantwortet wäre.
Die gilet jaunes sollten ja auch von der Möglichkeit des Konsums (Benzin) abgeschnitten werden. Höhere Verbrauchssteuern machen das Leben in den Ballungszentren unbezahlbar. Und schon war der liberale Wendekopf Macron mit seinem Latein am Ende.
Den GRÜNEN steht ein ähnliches Waterloo bevor, wenn sie den Leuten die CO2-intensiven Güter entziehen müssen. Darunter Grundgüter wie Fleisch und Heizmaterial. Politik, die nichts mehr versteht, kann kaum anders als alle Fehler zu wiederholen.
@Sophie
Hat mit Han nicht viel zu tun, aber Macron ist natürlich u. a. auch ein Grüner und es war/ist nur logisch, daß die mehrheitlich wohl doch egoistisch-faschistische Bewegung der Gilets jaunes gegen ihn aufbegehrte.
@Leopold Federmair
»Nur die große, umfassende Dogmatik ist verloren gegangen, die Rituale, die ein ganzes »Volk« (oder was) verbinden, und das ist nicht zu bedauern.«
Aber es ist doch auch so, dass der Einzelne in Verbindung mit solchen Dogmatiken, Ritualen, Ideen, Erzählungen, etc. steht, dass er nicht irgendeiner und ein beliebiger ist, er steht in einer Spannung zu etwas, das, hm, größer (?) als er selbst ist, jedenfalls eine Bezugsetzung erlaubt. Hat nicht das angesprochene Unbehagen eine Ursache darin, dass unser Tun vielfach belanglos zu sein scheint, das es nichts gibt, sondern nimmt, dass jeder klagt, dass er rennt und weiß, dass es nichts bringt und es trotzdem tut? Das Leben wird immer mehr ein Betrieb, weil sich nichts mehr verweigert. Und diese Verweigerung ist dogmatisch. Vielleicht verstehe ich die Diskussion falsch, aber ein Ritual ist ja eine Weigerung etwas anders zu tun und es hat, wie ich meine, einen zwecklosen Kern. Und Verbindlichkeit über den Einzelnen hinaus. Rituale sind keine Systembausteine, sie sind hinsichtlich ihrer Anpassungsfähigkeit weitgehend dysfunktional. Sie haben darin auch eine schützende, festigende Wirkung. Menschen sind ohne Rituale verletzbarer, ausgelieferter, manipulierbarer.
@metepilonema
Ja, ich meinte das so, es braucht einen Kontext, in dem Rituale Sinn haben, ob der nun klein ist oder groß oder allumfassend (vielumfassend). Rituale haben eine Geschichte, da sie nur durch Wiederholung – und wahrscheinlich doch auch Variationen – das sein und werden können, was sie sind. Eine zwingende oder logische Funktionalität werden sie nicht haben, dafür eine kontextuale und gewordene, diachrone.
Man kann sich als Einzelperson heutzutage auch plural einordnen, und genau dafür ist mir Japan ein gutes Beispiel – trotz allem. Ich meine die jahrhundertealte Koexistenz von einheimischer Religion (Shinto) und Buddhismus, der sich zur Universalisierung eignet, anders als der Shintoismus. Sogar eine Aufgabenteilung kann man da beobachten, es läuft auf Leben, Geburt, Heirat (Shinto) und Tod, Jenseits, Wiedergeburt (Buddhismus) hinaus. Das empfinde ich immer noch als zeitgemäß, auch wenn es oft sehr oberflächlich gelebt wird. Eine japanische Christin, etwa fünfzig Jahre alt, beklagte sich unlängst in einer kleinen Gruppe über die christlichen Hochzeiten in Japan, die hier am häufigsten sind. Diese Hochzeiter seien in der Regel keine »richtigen« Christen. Die meisten Japaner, auch in dieser Gruppe, betrachten solches Eifern als unverständlich. Sollen die Leute doch in der Hotelkapelle heiraten, wo es doch eine so schöne, unvergeßliche Zeremonie ist, mit einem Profi-Verheiratungspriester (auch einen solchen hab ich mal kennengelernt, er war früher Arzneimittelvertreter und hat dann bewußt umgesattelt, sein zweiter Beruf gefiel ihm besser).
So kann man sich also einem Fußballklub zuordnen und einer Religion und einer künstlerisch-ästhetischen Praxis oder einem Wanderklub oder was auch immer, und so laufen ja auch viele Leben ab, durchaus mit Sinn, aber ohne den großen, den die Dogmatiken für sich reservieren, die solche Pluralität traditionell schief anschauen oder gar unterbinden (das Christentum tut das heutzutage nicht mehr, zahlt aber dafür seinen Preis). Vor ein paar Jahrzehnten hat man das »Postmoderne« genannt.
Fußball dürfte bei Han unter dem Rubrum »Massen-Events« fallen. Damit kann er wenig anfangen. Dabei birgt der Fußball durchaus Potential für Rituale. Alleine die Kommerzialisierung, das Söldnertum, lassen diese nur noch zu Floskel bzw. Folklore der Anhänger werden. Die »Gemeinschaft« der Fans kann sich immer weniger mit dem Gegenstand, dem Verein, identifizieren. Wie soll das auch gehen, wenn dort Spieler im stetem Wechsel hin- und herwechseln und ihrerseits kaum Bindung an den Verein finden.
Das Beispiel vom Tango finde ich sehr interessant. Ich wundere mich, dass Han auf so etwas nicht gekommen ist.
Im Grunde geht es Han weniger um Rituale als um das Auseinanderfallen von Gemeinschaften. Ich fühlte mich zuweilen an den Kommunitarismus erinnert (Charles Taylor kommt auch bei ihm vor), der in den 70er-90er Jahren kurz recht populär zu werden schien (wobei es nie »den« Kommunitarismus gab). Die Individualisierung ist dabei für ihn nicht Ausdruck von Freiheit, sondern eher einer »langen Leine«, die am Ende nur dazu dient, zu arbeiten, zu konsumieren, zu verbrauchen, usw.
Es ist bezeichnend, dass man solche Ansichten als »vormodern« subsumiert und die großen, umfassenden Gemeinschaftsentwürfe als gefährlich einschätzt. Han sieht in der fortschreitenden Ent-Sozialisierung von Gesellschaft(en) das grössere Gefahrenpotential.
Sport hat die Massenbasis, aber auch die abertausende kleiner Vereine – nicht zu unterschätzen.
Dass die großen Vereine wegen Söldnertum ihre Bindungskraft verlieren würden, ist bis anhin nicht zu sehen.
Der Hauptunterschied des Sports vom Ritual ist, dass der Sport .nicht. per se zweckfrei ist.
Das (christliche oder buddhistische (wohl auch das shintoistische)) Ritual ist dagegen durch zwei Dinge gekennzeichnet: Es braucht keine alltäglichen Zwecke und es transzendiert Subjektivität. Beide Charakteristika machen das Ritual gemeinschaftsfähig und entlastend.
Noch eine Bemerkung zu Zen/Jünger/Heidegger: – - – - In den Spuren von Nietzsche haben Jünger und Heidegger die Schwäche der modernen Subjektivität traktiert. Für Jünger war das bereits als Knabe ein Thema – bald auch mit Bezug zu Militär und Drogen als Gegenwelten zu den offenbaren Schwächen der zivilisierten bürgerlichen Welt. Dass beide ein großes Interesse für Zen haben liegt genau darin begründet: Dass sie erklärte Feinde der modernen Subjektiviät waren. Zen macht radikal Schluss mit der nervösen, neurotischen, sinnsuchenden (ver)zweifelnden, ja auch dekadenten Moderne und ihren (auch individuellen) Dauerkrisen, so schien es ihnen. Fromm schätzte gerade dafür sowohl Nietzsche als auch Heidegger – weil er Freuds »Unbehagen in der Kultur« gut kannte und genau wusste, dass es darauf nicht nur eine Antwort gab.
Hauptaspekt: Via körperlicher Präsenz werden im Zen den modernen Fallgruben des »metaphysisch obdachlosen« Ichs (Georg Lukacs) komplett die Flausen ausgetrieben; auch via körperlicher Disziplin. Die Formel lautet: Körperliche Übung und geistige Askese statt neurotischer Dauerkrisen und ewiger Sinnsuche usw. .
Das körperliche Element übernimmt Han für sein Riten-Plädoyer – und für seine Ablehnung der medialen Serialität (des Fernseh- und Netflix usw – Serien-Konsums) als steril (=unfruchtbar, falsch).
An dieser Körper-Schnittstelle trifft Han sich mit – - – - Lou-Andreas Salomé, Rainer Maria Rilke & – Peter Sloterdijk, der in seiner Abhandlung »Du musst Dein Leben ändern« ebenfalls genau diese Linie zieht (bei Sloterdijk gibt es die Kritik am gleichsam unverkörperten und auch deswegen dubiosen kritischen modernen Geist bereis seit der »Kritik der zynischen Vernunft«).
PS
Die :Verkörperung: der Vernunft war nicht ganz zufällig (ich erinnere an seien Barben-Studien) auch ein Georg Büchner Motiv: »Geht einmal euren Phrasen nach, bis zu dem Punkt, wo sie verköpert werden!« – Das ist ein Büchner-Satz, den auch die Kraftsportler Taleb und Rogan sofort unterschreiben würden...
@Leopold Federmair
Ich habe dieses Jahr zwei Begräbnisse besucht, das eine in einem österreichischen Dorf, das andere in einer kleinen (ebenfalls österreichischen) Stadt. Ein drittes, etwas länger zurückliegendes aus Wien, habe ich noch in Erinnerung. Wenn ich sie miteinander vergleiche, dann waren die Begräbnisse in den Städten Privatveranstaltungen, bei einem der beiden war ein Redner organisiert worden, der in einer Art kitschigen Schauspielerei über einen Toten sprach, den er nie gekannt hatte (in gewisser Weise war dieses wohl das zeitgemäßeste der drei). Bei dem Begräbnis auf dem Dorf waren zwei Dinge anders: Zunächst war es Außenstehenden möglich von der Toten im Beisein der Trauergäste Abschied zu nehmen (und sich auch vis-á-vis der Trauergäste zu setzen). Erst nach einer Zeit von 1–2 Stunden begann das eigentliche Begräbnis. Während dieser »Wartezeit« beteten und sangen einige alte Frauen ähnlichen Jahrgangs wie die Verstorbene im Wechsel, während die Abschiednahme erfolgte. Die ernste wie angemessene Atmosphäre einerseits und die Möglichkeit für Außenstehende Abschied zu nehmen, nahmen dem Begräbnis das rein private und stellten eine übergeordnete Verbindung her. Der Tod ist auch eine Sache der Gemeinschaft, wie die Linderung der Trauer. Ich kenne das Dorf gut genug, um vor Romantisierungen gefeit zu sein; dort leben keine besseren Menschen, aber der Ritus des Begräbnisses war noch ein Stück weit lebendig und sinnvoll (und es war nicht die Messe, die dies stiftete).
@Metepsilonema
Was Sie schreiben, erinnert mich an mein Dorf in Oberösterrreich. Ich nehme an, daß das beschriebene Ritual katholisch ist. Im großen Saal des Dorfgasthaus eines Onkels von mir fanden die »Zehrungen« statt, wo sich die Angehörigen und Freunde zum Essen trafen und den Toten erinnerten. (Dorfgasthaus inzwischen geschlossen, ein erbärmlicher Prozeß der »Säkularisierung« – ich will mich nicht weiter auslassen.) Der Tod, die endgültige Verabschiedung von einem Menschen, das fiel immer in die Zuständigkeit der Religion. Natürlich kann man sich auch ohne eine solche von einem Menschen verabschieden. Vorstellen kann ich es mir nicht. In der Stadt in Österreich, Wien vielleicht, hat es wohl ein nicht-religiöses Ritual gegeben? Wie sieht das aus? Ich kann mir durchaus vorstellen, daß wir, auch die Garnicht-Gläubigen, in solchen Augenblicken den Beistand einer Religion brauchen. Kann mir aber auch sehr gut die Gefühle von Priestern, zum Beispiel, vorstellen, die sich früher oder später sagen: Ja, ein paarmal im Leben brauchen sie uns, bei Heirat und Tod und vielleicht noch Geburt, aber sonst wollen sie nichts von uns wissen, nichts tun für unsere Gemeinschaft usw. Ihre Schilderung, Metepsilonema, macht mir fast ein wenig Lust, in den Schoß der Kirche zurückzukehren. Verwandte von mir sind dort tätig, und sie haben meine Bewunderung.
Ja, es macht keinen Sinn, an einer Beerdigung teilzunehmen, wenn man den Toten nicht gekannt hat. So wird die Zahl der Teilnehmer schon mal sehr übersichtlich, bis hin zu den einsamen Bestattungen, wo nur zwei städtische Bedienstete anwesend sind, weil keine Angehörigen mehr auffindbar waren. Ein Shakespeare könnte daraus noch eine Szene zaubern!
Das sagt einiges über die Moderne, den Grad unserer »Vernetzung«, und die Ungewissheit über verlorene oder nur vorgestellte Beziehungen. Vielleicht ist die Moderne doch nicht neurotisch, sondern hysterisch. Man will uns ja mit der ganzen Menschheit verkuppeln, satirisch gesprochen. Der Alltag bis in die letzten Zeremonien hinein zeugt von einer anderen Realität: wir haben sehr viel Rollen-Kontakte und Anonymität, die zwar zweckhaft aber nicht beziehungs-intensiv daherkommt. Diese permanente Untergewichtung kann nur »hysterisch« kompensiert werden.
Demnach wäre die Hysterie unser Fluch, unsere Unfreiheit, weil die Strukturen genannt Sozialkonstruktion eine Priorität definieren, welche ein zentrales Bedürfnis des Menschen unterläuft. Wie würde Nietzsche sagen: ...nur der Damenfriseur kommt existenziell gesehen auf seine Kosten!
@metepsilonema
Wegen solcher Kommentare mache ich diesen Blog. Danke.
@die_kalte_Sophie
Die These von der »hysterischen« Moderne bzw. Postmoderne ist ja – mit leicht anderen Vokabeln – bei Sloterdijk besonders präsent.
Also zurück zum Refugium?
Kirche ist »ned schleschd« (der Datterich). Ich sage das als einer, der in der Kirche eine kleine Rolle spielt, hie und da.
Begräbnisse ohne krichliche Rituale sind, so sagt meine Erinnerung, nackter und ungeschickter als solche mit. Rituale müssen eben auch gekonnt sein, da hat Han recht, sonst wird das nichts mit der Anmut. Das betrifft nicht nur die Gesten, sondern auch die Stimme und – die Wortwahl. Ich habe im Frühjahr die Begräbnisrede der Pfarrrerin ergänzt bei der Bestattung meines greisen Vaters – kann ich empfehlen, wenn man emotional soweit auf der Höhe ist, dass man das zusammenbringt.
Ich will noch auf einen Aspekt hinweisen, der hier häufiger vorgebracht worden ist: Dass Chyung-Bul Hans Beharren auf funktionierenden Nahbeziehungen (auf persönlichen/körperlichen Beziehungen) und seine Heidegger-Bezüge auf ländliche Praktiken verweisen ist genetisch richtig, aber geltungstechnisch eigentlich unerheblich. Es sei denn, man will alle ländlichen Traditionen abservieren, indem man die Anonymität der Großstadt prinzipiell als kulturell höherstehend auszeichnet. Ich weiß, dass das geschieht, Leopold Federmair. Ihr schöner Dorf-Beitrag zeigt mir aber, dass Sie ebenfalls nicht sagen wollen, dass man diesen Konnex im Namen des Fortschritts unbedingt machen soll, um gleichsam wegen Heidegger das Dorf und die dörflichen Traditionen endgültig zu verabschieden.
Indem die moderne Individualisierung absolut gesetzt wurde, war sie (auch im Hinblick auf ein gelingendes Leben, denke ich) falsch.
Habermas hat das übrigens theoretisch früher in den Griff bekommen als metaphysisch. Ihm war bald klar, dass Individualität gar nicht existieren kann, ohne das Gegenüber von (vielen) Menschen (cf. siehe seine (George-Herbert!) Mead-Bezüge: Wir werden individualisiert, indem wir uns vergemeinschaften, lautet die einschlägige Habermas-Formel mit Blick auf GH Mead (auch die ab »Nachmetaphysische Denken« häufig anzutreffen).
Habermas hat, ich meine bevor er sich explizit zur kulturellen Dignität der Religion bekannte, ausführlich über das merkwürdige Begräbnis von Max Frisch geschrieben. Max Frisch wollte im Zürcher Großmünster verabschiedet werden – er hat das testamentrisch verfügt. Aber – ohne die Sterbesakramente zu empfangen. Habermas beschrieb dieses Begräbnis als offenbare Merkwürdigkeit – und Zwiespältigkeit sogar.
Fällt mir noch ein: Der Missionarssohn und Enzensberger-Freund und Hegel-Editor Karl-Markus Michel liegt in einem anonymen Berliner Armengrab. Seine Beerdigung war extrem karg – und wirkte auf einige ziemlich – verstörend. Ich meine, Michel habe verfügt, dass überhaupt nicht gesprochen werde an seinem Grab.
Noch etwas Aktuelles, was mir gesteern Nacht, korrekter: Heute Nacht, so um 1/2 2 widerfuhr: Direkt hier in einem Dörflein bei Konstanz war gestern ein Erdbeben, das ich – vertieft in meine nächtliche Jean-Paul-Lektüre mitbekam. Das Haus wackelte und bebte, ein erheblicher Schlag von nirgendwo schien es zu treffen, begleitet von eienm Geräusch, wie es ferne Explosionen verursachen – aber das Geräusch schien nicht von Draußen zu kommen, sondern von Drinnen. Unheimlich! Wenn die Natur derlei Seiten zeigt, regen sich des nachts sämtliche Kellergeister. Man kapiert körperlich, wie empfindlichund schutzos man ist, und der Geist erweist sich sofort als – Rohr im Wind. – - – Individualität funktioniert nicht in solchen Momenten und sie trägt auch nicht. Eine der größten (städtisch tingierten!) zeitgenössischen Fehldeutungen dürfte die von einer sozusagen grundsätzlich menschenfreundlichen Natur sein.
Wenn Menschen ihre Nahverhältnisse nicht mehr pflegen, und darin rituellen (!) Halt finden, fangen sie, nach Chesterton an, an »alles mögliche zu glauben« – und sei es daran, dass die Natur an sich freundlich sei. Die in der Tat hysterischen Folgen dieses kollektiven Irrglaubens, die_kalte_Sophie, werden derzeit öffentlich gefeiert: Der Prophetin Greta Thunberg weht allüberall massenahftes Wohlwollen entgegen, selbst da, wo sie zur kollektiven Panik aufruft! – Auch die metaphysische Obdachlosigkeit und der zunehmende kulturelle (=rituelle) Analphabetismus gebiert offenbar seine spezifischen (weiblichen?) Ungeheuer.
Sloterdijk hat die Analyse der Machtverhältnisse auf jeden Fall bereichert, ich vermute, er würde sowohl die neurotisch-kompetitive als auch die hysterisch-rebellische Dimension des Politischen anerkennen. Leider hat er sich neben einer Komplett-Erforschung des Kulturraums auch noch der Erfindung einer Zweitsprache gewidmet, sodass allen Befunden ein ironischer Schimmer aufliegt, der etwas irritiert.
Ich meine, die Hysterie ist ein Modus des Politischen, ebenso natürlich wie unvermeidlich. Sloterdijk spricht von gemeinschaftlichen Aufregungszuständen, kollektiv verordnetem Stress. Warum sollte man teilnehmen, – doch nur, um sich aufregen zu lassen?!
Ich glaube, die Unfreiwilligkeit oder die Nicht-Souveränität ist ein demokratisches Erbmerkmal, wogegen so mancher theoretische Aufstand gewagt wird. Das eigentliche Dasein würde ich daher (mit Heidegger) in die Abwesenheit von Politik und Kultur verlegen; die Kunst verhält sich dazu meistens neutral, die Bühnenhysterie sprich Theater mal außen vor.
Ohne Refugium wird’s schwierig, in der Tat. Dann gewinnen die Einsamkeit oder der Narzissmus.
Man könnte über den ironischen, vielleicht eher sardonischen Unterton bei Sloterdijk lange reden. Lassen wir das. Ich stimme zu, dass dieser Duktus die Ernsthaftigkeit der Argumentation zuweilen etwas blockiert.
Sloterdijks These von der Erregungsgesellschaft ist ja der Versuch, eine Gemeinschaft in Erregungs- bzw. Aufregungszuständen zu konstituieren. Damit ist ja nicht gesagt, dass man dies gutheißt. Wenn man die Meinungsströme auf Twitter zuweilen verfolgt, kann man dies gut beobachten.
@Leopold Federmair
Ja, katholisch. Das Begräbnis in der kleinen Stadt war – auf Wunsch des Verstorbenen – ein Feuerbegräbnis mit einer nicht-religiösen Zeremonie. Man kann spekulieren, ob das Kitschige daran vielleicht damit zu tun hat, dass eine solche Zeremonie einen transzendierenden Angelpunkt vermissen muss: Die Verlockung ist groß, den Verstorbenen zu übersignifizieren (Baudrillard), die symbolische Darstellung »soll« realer sein oder erscheinen als der Lebende zuvor, um ihm noch einmal Präsenz zu gewähren, um ihn in Erinnerung zu behalten. Eine religiöse Zeremonie mag davor bewahren, da ein übernatürliches Wesen sich des Verstorbenen annimmt (wobei es in der Volksreligiosität und Heiligenverehrung natürlich auch Kitsch gibt).
Ich glaube, dass Sie da richtig liegen: Geburt, Eheschließung und Tod, dafür wird die Kirche noch bemüht, geschätzt, ja benötigt und an solchen Tagen sind die Kirchen gut gefüllt (und ich habe dann und wann schon den priesterlichen Nachdruck empfunden, dass – etwa bei einer Taufe – ein Versprechen gegeben werde und man es da nicht mit einem einmaligen Ereignis zu tun hat).
@die_kalte_Sophie
Neurose und Hysterie lassen sich verbinden, hysterisches Verhalten als eine Neurose unserer Gegenwart? — Der Fluch der Moderne: Eine endlose Kette von Zwecken, die zu Mitteln für neue Zwecke werden. Hysterie wäre eher das Phänomen oder Symptom. Wenn ich Sie recht verstehe, dann wäre eine Unterkühlung die Ursache für die Hysterie. Ist es aber nicht eher Unterdrückung, weil das eigene Innere eben nicht (nur) einer Mittel-Zweck-Logik gehorcht (die Lebenswelt einmal außen vor gelassen)?
Es ist schwer, die neurotischen von den hysterischen Anteilen (im öffentlichen Diskurs) zu separieren. Ich würde die Unterdrückung von Bedürfnissen eher der Neurose zuordnen, und die Unterkühlung einem Rollen-Effekt zuschreiben. Diese Selbstbeherrschung wäre erlernt und erwünscht, die Unterdrückung wiederum unerwünscht.
Ich wundere mich oft, wie weit die Freundschaft und die Liebe den Beziehungsraum öffnet, während die gewöhnlichen Kontakte unsere Aktionen eng limitieren. Das ist sehr zweckhaft und praktisch, man will ja auch nicht alles wissen. Aber die nötigen Abstufungen der Offenheit erregen (psychologischer back-draft) auch Misstrauen, d.h. die Hysterie wäre so was wie ein Schleichweg eines zivil-untauglichen Unbewussten.
Berühmtes Beispiel aus Deutschland: über Ängste sprechen. Beachten Sie öffentliche Formulierungen, wie: »Es gibt Befürchtungen von Seiten des Ministeriums...«. Man muss sich nur mal die Schreibe der Journalisten vornehmen, und wird die Fort-Verrückung vom Subjekt sofort entdecken. Gegen diese Verrückung hilft nur die hysterische Wieder-Aneignung der annocierten Subjektivität.
Tut mir leid, ich habe keine Theorie darüber. Nur so ein paar Ideen! Es wird aber immer schlimmer, die Dosis nimmt zu. Immer mehr Emotionen tauchen auf der Informationsebene auf, ohne dass klar wäre, wem sie zugehören...
Ich sehe überall Überhitzung statt Unterkühlung. Gerade das ist das Wesen der Erregung: sich erhitzen, ereifern. Der »kühle Kopf« wird zum »Verharmloser«. Das Schlimme ist, dass diese Überhitzungen nicht nur in den sozialen Medien abgelassen werden, sondern auch Eingang in den öffentlichen Diskurs finden. Es ist eine Anbiederung des »Journalismus« an den Zeitgeist. Ähnlich wie Videoeinspieler in Theateraufführungen. Am Ende nutzlos.
Ja, Überhitzung, Gregor Keuschnig. Freilich, da sind Sie schon wieder bei Sloterdijks Zorn und Zeit. Merkwürdig, nicht wahr?
@ Die_kalte_Spohie: Ich hatte Ihnen was Nettes zu Ihren Sloterdijk-Reminiszenzen geschrieben, aber das hat den Weg zu Ihnen nicht gefunden. Schade.
Hysterie im klassischen psychiatrischen Sinn gibts heute kaum noch. Womit wir es zu tun haben, ist die Bevorzugung des Gefühls, wo analytische Distanz gefragt wäre. Die kollektiv erprobten Formen gehen verloren (cf. Arno Borst). Das ist das Bindestück zu Byung-Chul Hans Erörterungen – wo die Formen (=die Riten) leiden, triumphiert die Emotion (der Zorn usw.).
Karlheinz Bohrer hat das bestimmt hunderfach abgehandelt. Er hat verstanden, dass hier ein zentraler Wunder Punkt der (säkularen) Moderne(n) liegt.
Hysterie wird hier, denke ich, im alltagssprachlichen Sinn und nicht im klinischen verwendet, insofern ist der Hinweis richtig. Das Wort »Überhitzung« verweist schon auf das zu Grunde liegende Phänomen, ein hohes Erregungsniveau der Subjekte, das dann bei der kleinsten Kleinigkeit, dem sprichwörtlichen Tropfen der das Fass zum Überlaufen bringt, die Schwelle nimmt und eine eruptives Verhalten zur Folge hat. Das ist ein Phänomen, zunächst und der Befund, dass dahinter eine Bevorzugung stecke, nämlich dem Gefühl Vorrang vor der Vernunft gegeben wird, legt eine einfache Korrektur nahe: Kühle, Distanz, Analyse, eine Zurückdrängung und Einhegung der irrationalen Anteile. Sieht man genauer hin, dann wird augenfällig, dass es nicht um Gefühle oder Fühlen geht, sondern um Affekte, um nicht integrierte Entladungen. Fühlen impliziert Bewusstsein und Ruhe, es braucht Raum zur Entfaltung, also: Zeit. Das, was wir zu fassen versuchen, ist etwas anderes, es ist unkontrolliert, jäh und dem willentlichen Zugriff insofern entzogen, als dass das Subjekt von den Affekten erfasst wird und diese eben nicht, wie im Fühlen, betrachten, vorüberziehen lassen und integrieren kann. An und für sich ist ein Erfasstwerden von Affekten nichts Schlimmes, es kommt in Ausnahmesituationen, an Tagen von hohen Be- und Überlastungen vor. Wird es aber ein alltägliches Phänomen, noch dazu ein kollektives, dann muss es als Zeichen, als Phänomen hinter dem etwas steht, aufgefasst werden. Moderne bedeutet nicht nur sich fortbewegen zu müssen, sondern auch bewegt zu werden. Das Fortbewegen gerät in einem Konflikt mit allen Ritualen, die Bindung und Wiederholung bedeuten und zugleich eine symbolische Funktion besitzen, es sprengt sie, es lässt sie hinter sich. Das ist keine Abschaffung sämtlicher kulturellen Formen, aber eine Schwächung der tradierten Bestände, die symbolische Praktiken aufweisen, die Lagerstätten und Überführungsmöglichkeiten für Affekte und Emotionen zu entwickeln helfen. Wenn tätig sein, also Ruhelosigkeit ein Phänomen der »analogen« Modern ist, dann ist das Bewegtwerden, im Sinne von Gleichzeitigkeit und Überreizung eines der digitalen. Wer sich von Ohrenstöpseln und Bildschirmen nicht (zeitweise) zu distanzieren vermag und über verkümmerte kulturelle Praktiken verfügt, dem bleibt nichts anders übrig, als sich abzureagieren, zu betäuben und zu beherrschen, damit er am nächsten Tag wieder funktioniert*. Hyperaktive Kinder schütteln über die Motorik ihre Überreizung heraus und hysterische Erwachsene gehen aus vergleichbaren Gründen hoch. Das Irrationale kehrt wieder und es kehrt wieder, weil die Formen fehlen und die Kultur danieder liegt; es beherrschen zu wollen und auf eine Gegnerschaft zu hoffen, wird das Problem bloß weiter verstärken.
*Das scheint mir gut zu der diagnostizierten Herrenlosigkeit der Emotionen zu passen: Herrenlos, weil sie nicht in die Subjekte integriert sind, von ihnen wenig reflektiert und betrachtet werden.
@Gregor
Ich habe noch eine Frage zum Spielbegriff bei Han: Setzt er tatsächlich den spielenden Menschen mit dem Spieler in eins, oder wirkt das nur so?
Die Diagnose passt zu meinen Überlegungen: die Herrenlosigkeit der Emotionen, die nicht integriert sind bzw. unbeachtlich bleiben, weil die kulturellen Praktiken fehlen... Das würde ich in meiner Definition der allgemeinen Hysterie unterbringen.
Von dieser Warte aus kann man die bekannten Rituale als Trainings-Stationen auffassen, da sie bestimmte Emotionen und Empfindungskomplexe konservieren und zur Wiederholung empfehlen. Hier kommt der moderne Mensch mit der Vormoderne in Berührung; ganz klar, der gesamte Kulturraum bis zur jüdischen Religion und den Griechen pflegt diese Praktiken. Die Emotion als spontane Motivation bzw. Motivationswandler verweist auf den Naturzustand; die Emotion als proaktiv spielerische Komponente bewussten Handelns verweist auf den Kulturzustand.
Rituale sind Übungen, um eine freiheitliche Distanz zu möglicherweise tyrannischen Emotions-Komplexen zu behaupten.
Wir haben eine Zweiteilung im modernen Menschen zwischen freien und »unverfügbaren« Emotionen. Dabei ist das »Spiel« mit den Emotionen sehr beliebt, was ich im Umgang so beobachte. Nur die Einsicht in den Sinn von Kultivierungen schwindet...
Ergänzend kann man formulieren, dass die lebensweltlichen Verwerfungen von den rudimentär entwickelten kulturellen Praktiken nicht aufgefangen werden können (möglicherweise ist eine gewisse Abschirmung unumgänglich, wir wären wieder beim Refugium).
Die Vormoderne ist gleichsam in uns selbst vorhanden, die Vernunft (das symbolische Denken) gründet ontogenetisch auf einem intensiven, wechselseitigen emotionalen Spiel (dyadische Interaktion), die Ratio hat eine irrationale Basis. Vielleicht kann man sogar die Interaktion zwischen Mutter (Vater) und Säugling als das ontogenetisch erste Ritual auffassen. Sind Rituale vormodern? Alle? Wenn ein Vierjähriger jeden Tag um etwa dieselbe Zeit schlafen geht: Abendessen, kurzes Herumtollen, Pyjama, Zähneputzen, Buchlesen, Schlaftier, Gutenachtbussi. Das gibt ihm Sicherheit, hilft ihm mit dem Dunkel, dem Ungewissen der Träume, dem Alleinsein im Bett zurechtzukommen. Es ist jedes Mal ungefähr dasselbe und das hilft ihm weil es verlässlich ist, mit der Situation zurecht zu kommen, bis er es alleine schafft. Richtig, da wird Vertrauen konserviert, gepflegt, eingeübt: Die Eltern wünschen eine gute Nacht und sind aus dem Blickfeld, das Kind ist alleine, nun muss es zurecht kommen, ab einem gewissen Alter werden die Eltern nicht mehr am Bett stehen und warten bis es eingeschlafen ist, aber es weiß, dass sie noch da sind und im Notfall zur Stelle sein werden. Ist das vormodern oder einfach vernünftig? Vernünftig im Sinn einer wechselseitigen Bezogenheit von Vernunft und Gefühl?
Ja, die Emotionen verweisen auf den Naturzustand, nicht umsonst sind Kinder fast unglaublich spontan, ja wechselhaft. Diese emotionale Spontanität ist das Grundmoment eines Handels das, als Erwachsener, sich in Übereinstimmung mit sich selbst weiß. Ein Bildungsziel, meine ich, und das Gegenteil der überall eingeforderten Funktionalität. Und noch einmal ja: Rituale führen das Individuum zur Freiheit (oder können es zumindest). Sie stützen es, bis es sie nicht mehr braucht. Und der Tod – s.o. – zeigt, dass es keinen Zeitpunkt gibt, zu dem wir eigentlich keine mehr brauchen. Trotzdem zerfallen sie (oder sind es schon).
Die Spielbewegung ist der Sinn des Spiels, schreibt Gadamer. Kultivierung impliziert eine Spielbewegung, etwa: Singen, Schreiben, Musizieren, Theaterspielen. Dabei wird das was uns unverfügbar belastet in symbolische Formen überführt, es tritt eine Entlastung ein, zeitweise zumindest. Kulturelles Schaffen hat eine Entlastende Funktion und speist sich aus Widerfahrnissen, Verwerfungen, Triebenergien, usw. Gleichzeitig und wird ein Sinnraum aufgespannt, Kultur erschöpft sich nicht im Funktionalen. Alles andere ist Theater, also Emotionen, die die Vernunft aufspießt und gefügig macht, das ist weithin üblich: Wer sich vor einem Gespräch überlegt, wie er aussehen, sitzen und was er sagen muss, damit er in seinem Gegenüber einem bestimmten Effekt auslöst, spielt eigentlich nicht mehr, sonder verfügt über sich, über seine Emotionen. Ich weiß nicht, ob es das ist was Sie mit beliebt meinen, ich verstehe es so. Dieses Vorgehen ist kalkuliert, die Emotionen sin ein Mittel, um einen bestimmten Zweck zu erreichen.
»Wer sich vor einem Gespräch überlegt, wie er aussehen, sitzen und was er sagen muss, damit er in seinem Gegenüber einem bestimmten Effekt auslöst, spielt eigentlich nicht mehr, sonder verfügt über sich, über seine Emotionen.« – Ja, stimmt. Hier beschreiben Sie freilich ein soziales Rollenverhalten, an dem nichts auszusetzen ist, metepsilonema.
Der Witz am Spiel liegt darin, dass es – wie das religiöse Ritual, in einem zweckfreien Raum stattfindet. Das Maß an Freiheit, das das Spiel lt. Schiller gewährt, ist nur dann hoch, wenn das Spiel selber von alltäglichen Zwecken entbunden ist (das ist die Krux des PROFI-Sports). Die Kluft zwischen Spiel und Realität zu überbrücken ist freilich nicht emanziptorisch, sondern destruktiv.
(Gadamer ist Schillerianer – oder Schillerer – oder Tschiller, hehe).
@metepsilonema – zum »Spiel«
Han erwähnt Schiller mit keinem Wort. Er zitiert Bataille – macht die Unterscheidung zwischen »schwachen« und »starkem« Spiel. Im starken Spiel entsteht Todesintensität.
So etwas steht da:
Bataille unterscheidet zwei Arten von Spiel, das starke und das schwache Spiel. Nur das schwache Spiel ist anerkannt in einer Gesellschaft, in der das Nützliche das vorherrschende Prinzip geworden ist. Es fügt sich in die Produktionslogik, denn es dient der Erholung von der Arbeit. Das starke Spiel hingegen lässt sich nicht mit dem Prinzip der Arbeit und Produktion vereinbaren. Es setzt das Leben selbst aufs Spiel. Souveränität zeichnet es aus.
Ich kann damit ... nichts anfangen.
@Dieter Kief
Nein, ich beschreibe kein soziales Rollenverhalten (Mutter, Lehrer, Privatperson,...), sondern wie jemand seine Rolle ausfüllt. Ich unterscheide grob zwischen Redlichkeit und Berechnung.
»Der Witz am Spiel liegt darin, dass es – wie das religiöse Ritual, in einem zweckfreien Raum stattfindet. Das Maß an Freiheit, das das Spiel lt. Schiller gewährt, ist nur dann hoch, wenn das Spiel selber von alltäglichen Zwecken entbunden ist [...].«
Ein zweckfreier Raum impliziert eine Entbundenheit von alltäglichen Zwecken, oder? Schiller schreibt zum Spiel u.a. folgendes: »Diesen Namen rechtfertigt der Sprachgebrauch vollkommen, der alles das, was weder subjektiv noch objektiv zufällig ist und doch weder äußerlich noch innerlich nöthigt, mit dem Wort Spiel zu bezeichnen pflegt.« (Quelle) Mit dem Profisport verhält es sich wie mit Hans starkem Spiel, da wird um etwas gespielt, der Mensch ist dort Spieler, nicht aber Spielender.
Hätten Sie bei Gadamer nachgelesen, ach lassen wir das...
@Gregor
Danke. Nun, das Spiel ist sinnvoll nur in einer Welt, die sich von ihm unterscheidet. — Wohin will Han mit dem starken Spiel?
Wie geschrieben, das »starke Spiel« ist für Han das ritualisierte Duell und der Krieg, der – sozusagen – »zwecklos«, nur als »Spiel« in Ritualen ausgetragen wird. Die modernen Materialschlachten lehnt er natürlich ab; vermutlich auch, weil sie Zwecken dienen.
Wir bräuchten einen Bataille-Experten, denn in Han’s Lesart wirkt die Thanatologie schon sehr absurd.
Ist die Idee vom »starken Spiel« nicht sehr simpel, besteht die Bataille’sche Übertreibung im Hinblick auf Kriege und Duelle nicht einzig und allein in der Aufhebung des Realitätsprinzips?! Man denke an die Surrealisten und Roberto Benigni...
Da der Tod offenbar ein Punkt der Sinnvernichtung ist, jenseits der Religion, kann ja man leicht seinen Nihilismus dort verankern. Das wusste schon Woody Allen. Aber ein besonderer Sinn für Rituale lässt sich daraus nicht ableiten, es wären wiederum »Rituale der Sinnlosigkeit«, Vorspiele der Begegnung mit dem Unvermeidlichen, aber so weit würde Han nicht gehen.
Da passt was überhaupt nicht zusammen, wenn man mich fragt. Des Philosophen kreative Lektüre ist beizeiten sein Untergang.
@ die_kalte_Sophie
Denken sie bei Jünger an seine Abscheu vor der Leere im Auge bürgerlichen Umgangs, wie sie einem Pubertierenden durchaus erscheinen kann – bei Jünger hat sich diese Empfindung bis zum Ekel und dnn der radikalen Flucht vor der bürgerlichen Heidelberger Apothekenwelt seiner Eltern gesteigert. Und denken Sie an die Reinheit des Kampfes. Oder an die Reinheit als Folge z. B. meditativer oder Zen-Kämpferischer Übungen. Hier sind Sie in einem Bereich, der Jünger als einer erschien, der das bürgerliche uneigentliche Gehabe und die Konvention – die scheinhafte subjektive bürgerliche Hülle – sprengt. Das ist eine Nietzsche-Spur, in der auch Han schon lange wandelt. Und in der nämlichen Spur bewegten sich auch Heidegger und Bataille. Man muss das nicht billigen, aber ich finde, man kann das nachvollziehen.
Dann kommt der Sprung zum Ritual, das ebenfalls die Spuren subjektiven Geistes qua Heiligkeit (=Tradition) hinter sich lässt (=tranzendiert). Das ist Hans Klammer. Von Feuerbach und C. G. Jung und Erich Fromm (»Märchen Mythen, Träume«) will er nichts wissen.
Ok metepsilonema, Hans-Georg Gadamer – « Wahrheit und Methode«, wo Gadamer Schillers Ästhetische Briefe resumiert (S. 79) – : »Es ist die Prosa der entfremdeten Wirklichkeit, gegen die die Poesie der ästhetischen Versöhnung ihr eigenes Selbstbewußtsein suchen muss« . Also die Ästhetik als Gegenentwurf zur Prosa der Verhältnisse.
Schiller, metepsilonema, will sowohl a) den »Geschäftsgeist«, von dem er sagt, er sei in »einen einförmigen Kreis von Objekten eingeschlossen«, als auch b) den Geist des »abtstrakt( n) Denkers, der oft »ein kaltes Herz« hat, »weil er die Eindrücke nur zergliedert, die doch nur als Ganzes die Seele rühren«, Schiller, sag’ ich, will beide (notwendigen!) bürgerlichen Formen des Bewußtseins im Spiel erweitern und ergänzen sowie vertiefen. Ergebnis dieser im Medium des »schönen Scheins« im Spiel vollzogenen Übung der (ästhetischen) »Feiheit« ist schließlich die Wiederherstellung (= »Resurrektion«) »des zerstörten Gemeinsinns.« – Das ist Schillers harter Kern.
Also auch hier eine den (funktionalen!) bürgerlichen Realitätssinn transzendierende Sphäre – nämlich die des (Theater)spiels, der Bühenenkunst. So Schiller in den ästhtischen Briefen. Voraussetzung: Dass der ästhetische Schein gewahrt bleibt, dass die Künstler also kein Gleichheitszeichen setzen zwischen ihrer Gestaltungsfreiheit in der Kunst hie und – - – den Handlungssphären von Wissenschaft und Moral da. Zugleich weist Schiller aber zurecht darauf hin, dass alle drei Bereiche in der bürgerlichen Welt ihre segensreiche Kraft entfalten. Sie tun dies freilich nur, wenn sie getrennt bleiben. – Was DaDa, und der Surrealismus und Beuys später aus dieser Ideee machten, geht nicht mehr auf Schillers oder Kants oder – Byung-Chul Hans Konto. Auch Han zielt nicht auf die Vermischung von Ritus und Alltag, wenn ich recht sehe, sondern auf die Notwendigkeit von (innerweltlicher (=ritueller)) Transzendenz. Er ist – horribile dictu – ausdrücklich für »das Gute«, und insofern vollkommen aus unserer zynischen Zeit gefallen. Ein interessanter Außenseiter.
https://www.zeit.de/2013/25/zeit-logik-effizienz-kapital-gabe/seite‑2
Der Zeit-Artikel ist von 2013. Seitdem hat Han nicht viel anderes geschrieben. Redundanzen ohne Ergiebigkeit.
Ja, »innerweltliche Transzendenz« – das wäre mal was. Aber er entwirft ja kein Programm oder auch nur eine Idee. Er kritisiert nur den Status quo. Das ist sein Recht – aber ich muss es nicht mehr haben. Ich weiß das.
@Dieter Kief
Vielleicht war mein Kommentar unklar, ich versuche es noch einmal:
An dies: »Das Maß an Freiheit, das das Spiel lt. Schiller gewährt, ist nur dann hoch, wenn das Spiel selber von alltäglichen Zwecken entbunden ist [...]« kann ich mich bei Schiller nicht erinnern, an eine Abstufung der Freiheit in hoch (und dann notwendig auch niedrig).
Gadamer ist kein Schillerianer, er kritisiert die Subjektivierung des Geschmacksurteils und den von Schiller formulierten Imperativ. Lesen Sie doch noch einmal die Überschriften des Kapitels aus dem Sie zitiert haben: »3. Wiedergewinnung der Frage nach der Wahrheit der Kunst« und dann »a) Die Fragwürdigkeit der ästhetischen Bildung«. Das geht gegen die Schillersche Position. Und dasselbe beim Spielbegriff, auch diesen will Gadamer von der subjektiven Bedeutung bei Kant und Schiller befreien (S 97).
@ Dieter Kief. Erhellend, der Hinweis auf Jünger. Ich habe immer für die Divergenz von Krieg und Zivilisation ein offenes Ohr gehabt. Die Anomalie des Krieges wirkt ja fort in Friedenszeiten; Deleuze geht so weit, die demokratischen Verhandlungen als zeitlose Verlängerung des Nachkriegszustandes zu betrachten. Alle unsere bürgerlichen Debatten wären dann »Friedensverhandlungen«, bei voll erhaltener Ambivalenz, vor dem Hintergrund des möglichen Wieder-Ausbruchs eines Krieges
Eben deshalb wirkt bei Han der Sprung (ganz recht!) zu den Ritualen sehr gewollt. Eine thematische Amalgamierung. Mir scheint, hier liegt eine unsachgemäße Erweiterung vor, der reguläre stilisierte Kampf bietet kaum Raum für Rituale. Ich sehe nur eine Vergleichbarkeit in Sachen Alltags-Sprengkraft. Oscar Wilde hätte vielleicht gesagt: sowohl der Krieg als auch eine anständige Tasse Tee bringen Dich auf vollkommen neue Gedanken! Snobismus meets Surrealismus?!
@Gregor
Noch einmal zum starken Spiel: Wenn Han dafür plädiert, dann doch darum, weil es mit der Gesellschaft – der Herrschaft des Nützlichen – bricht. Um sie zu überwinden? Intensität gibt es auch im kleinen Spiel, der Kampf ist da bei Gott nicht das einzige Mittel. Ich glaube Hans These, dass die Gesellschaft der Nützlichkeit das starke Spiel nicht duldet, stimmt nicht, es kommt nur auf die Form an: Extremsport mit seinen hohen Risiken ist ein Form, die sich sehr gut ins System fügt (auch wenn der »Einsatz Leben« nicht so direkt wie im Duell in Erscheinung tritt).
Ad innerweltliche Transzendenz: Alexander Grau spricht in seinem Essay »Kulturpessimismus« davon, dass der Mensch sich durch kulturelles Schaffen selbst transzendiert (er versucht »symbolisch seine Endlichkeit zu überwinden«).
Das Buch von Grau kenne ich nicht. Lohnt es sich?
Auf Extremsport geht Han nicht ein – vermutlich ist ihm das zu sehr kommerzialisiert. Es ist auch mehr als eine Sehnsucht nach Abenteuer und/oder Risiko. Es ist eher Futurismus als Surrealismus – aber ein Futurismus ohne Zukunftswunsch. Bataille kenne ich ja nicht, aber da ist mir sofort Jünger eingefallen. Es gibt von ihm einen Text in Anlehnung an die »Stahlgewitter«, in dem er den Krieg Mann gegen Mann fast heroisiert. Mir fällt leider der Name nicht mehr ein. Später ist er ruhiger geworden. Seine »subtile Jagd« galt dann den Käfern.
Kann ich noch nicht sagen, ich bin noch nicht weit genug: Grau scheint eine Art Systematik des Kulturpessimismus’ zu versuchen, er sieht unsere Zeit als eine postkulturelle, eine ohne Kultur, d.h. ohne (verbindliche?) symbolische Ordnungsfunktion. Das erscheint mir gewagt, mal sehen ob die These hält bzw. ob er sich da nicht zu sehr auf den Ordnungsaspekt konzentrieren wird (ein typisch konservatives Thema). Er ist – Freud folgend – der Ansicht, dass Kultur auf Verzicht und Triebüberführung ruht; eine Gesellschaft, die grenzenlose Selbstverwirklichung verfolge und alles auf ein erfülltes Diesseits konzentriere, müsse daran scheitern (»[...] ein Irrglaube anzunehmen, Kultur sei mit einer zivilisierten, humanen, sozialen Wohlstandsgesellschaft vereinbar.«). Ich bin mir auch nicht sicher, ob es stilistisch halten wird (mir fehlen da bislang ein paar Differenzierungen, z.B. wo wäre die Kunst zu verorten und wie wären die Entwicklungen einzuschätzen).
Ad Jünger: Du meintest wohl dieses Buch.
@ metepsilonema
Schiller stellt in den »Briefen über die ästhetischen Erziehung des Menschen« das Ideal dem Leben gegenüber – eine uralte Paarung. Das aus heutiger Sicht Frappierendste an Schillers Briefen ist genau das: Dass er die Bedeutung der ästhetischen Sphäre so genau erfasst. Die uralte Frage: Was kann und soll Kunst? – wird von ihm so beantwortet: Kunst soll die Menschen mit ihren Leidenschaften, Gefühlen und Sehnsüchten besser bekannt machen (durchaus auch mit politischen); und dadurch dem »zerstörten Gemeinsinn« wiederaufhelfen. – Emanzipation also durch Kultivierung und Zivilisierung in Ästheticis. Der ewig gültige Punkt ist nach Schiller der: Das Ästhetische ist als solches stark. Beachtet man das nicht, schwächt man die ganze Kunst-Veranstaltung. Es geht also in der Kunst – wie beim Ritual – darum, eine eigene Sphäre zu pflegen. Wo der direkte Zugriff auf die Gegenstände der Kunst versucht wird, nimmt deren befreiende (=emanzipative) Wirkung unweigerlich ab. – Man denke an den Unterschied zwischen Kunst und Propaganda. Selbst der ist bei Schiller schon angelegt.
@ Subjektlosigkeit im Ritus und entsubjektivierende Kraft des Spiels bei Gadamer und Schillers Idee vom Spiel // cf. metepsilonemas #48 Ideen zu Schiller und Gadamer und zu Ihren Bemerkungen zu Graus Idee der Selbsttranszendenz im Spiel #50
Gadamer sagt das da:
„Alles Spielen ist ein Gespieltwerden. Der Reiz des Spieles, die Faszination, die es ausübt, besteht eben darin, daß das Spiel über den Spielenden Herr wird. Auch wenn es sich um Spiele handelt, in denen man selbstgestellte Aufgaben zu erfüllen sucht, ist es das Risiko, ob es ‚geht‘, ob es ‚gelingt‘ und ob es ‚wieder gelingt‘, was den Reiz des Spieles ausübt. Wer so versucht, ist in Wahrheit der Versuchte. Das eigentliche Subjekt des Spieles (das machen gerade solche Erfahrungen evident, in denen es nur einen einzelnen Spielenden gibt) ist nicht der Spieler, sondern das Spiel selbst.“ (GW I, 112; teilw. herv. v. M.F.)
zitiert nach Matthias Flatscher »Gadamer und Wittgenstein« zu finden online hier:
https://core.ac.uk/download/pdf/12237063.pdf
Bei Flatscher finden Sie auch was zu ihrem Gadamer-Problem in #48, metepsilnonema. Gadamer ist gegen die Indienstnahme Schillers für einen positivistischen Wahrheitsbegriff. Das ist was anderes als zu behaupten, Gadamer sei irgendwie gegen Schiller.
Schiller ist für Gadamer sehr wichtig.
Das Zitat oben ist aus dem verlinkten Aufsatz von Matthias Fratscher, einem Wiener Gelehrten.
Es geht .a.u.c.h. bei Gadamer um die entsubjektivierende Kraft beim Spiel, um die es, ich hab’ das hier zugegebenermassen schon öfter betont, auch Han mit Blick auf den Ritus geht. Han ist in der Tat an einem der zentralen Kreuzungspunkte des abendländischen Denkens mit seinen Ritual-Überlegungen. Denn auch das Ritual schafft einen Raum der möglichen Selbsttranszendenz, das sieht Han durchaus richtig. Der Profisport ist kein reines spiel, weil materialle und status-Zwecke mit ihm verknüpft sind. Er ist insofern strukturell (=wesentlich) schwächer als das nichtkommerzialisierte Spiel oder – der Ritus. Diese Schwäche verbindet den Profisport mit dem kommerzialisierten Kunstbetrieb – ob auf dem Theater oder im Film oder in der Galerie oder wo auch immer – s. #24 und #40.
@Dieter Kief
Flatscher arbeitet den Unterschied ja schön heraus: Gadamer unterscheidet sich von Schiller (und Kant) dadurch, dass er die Trennung der Sphären (reale und ästhetisch-ideale) bestreitet. In »Die Aktualität des Schönen. Kunst als Spiel, Symbol und Fest« beschreibt Gadamer das Kunstwerk als symbolische Verdichtung, in ihm zeigt sich etwas konzentrierter als sonst und er zitiert Paul Klee zustimmend mit dem bekannten Satz, dass Kunst sichtbar mache. Damit ist der Schillersche Gegensatz aufgelöst, zumindest bestritten. Schiller mag für Gadamer bedeutend sein, die Positionen sind aber keinesfalls homolog, weil – Gadamer folgend – im Sichtbarwerden, in den Erscheinungen der Kunstwerke, eine Wahrheit liegt (und nicht bloß schöner Schein), die mit der Lebenswelt zu tun hat und diese betrifft, ja (deren Erfahrung) verändert.
Noch eine Bemerkung zu Grau: Ich meine, dass er mit Selbsttranszendenz zu weit geht, jedenfalls dann, wenn das immer gelten soll. Symbole haben auch andere »Funktionen«, sie bewahren etwas auf, verdichten, überhöhen, usw.